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Frei-Raum in der historischen Stadt Informationsdienste Städtebaulicher Denkmalschutz 41

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Impressum Herausgeber Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) Referat SW I 6 · 11055 Berlin E-Mail: SWI6@bmub.bund.de · Internet: www.bmub.bund.de Redaktion BMUB, Referat SW I 6 - Baukultur und Städtebaulicher Denkmalschutz Fachliche Bearbeitung Bundestransferstelle Städtebaulicher Denkmalschutz c/o complan Kommunalberatung GmbH Voltaireweg 4 · 14469 Potsdam Gestaltung Agentur Queißer PR, Berlin Druck Druckerei des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Bonn Bildnachweise Siehe Seite 102 Stand September 2017 Auflage 800 Exemplare Bestellung dieser Publikation Bundestransferstelle Städtebaulicher Denkmalschutz E-Mail: info@staedtebaulicher-denkmalschutz.de Hinweis Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Sie wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt. Gedruckt auf Recyclingpapier

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Inhaltsverzeichnis Zur Einstimmung Frei-Raum in der historischen Stadt 6 Axel Lohrer, lohrer.hochrein landschaftsarchitekten und stadtplaner GmbH

Themenblock I: Die grüne Stadt Die historische Stadt im Klimawandel – Chancen und Perspektiven der Stadtentwicklung 10 Matthias Wangelin und Andreas Fröhlich, Klima- und Energieeffizienz Agentur (KEEA) Altstadt an die Lippe – Freiraumkonzept der Stadt Lippstadt 14 Heinrich Horstmann, Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen der Stadt Lippstadt Bundesgartenschau 2015 – Stadt- und Freiraumentwicklung in Brandenburg an der Havel 20 Andrea Kutzop, Fachbereich Stadtplanung der Stadt Brandenburg an der Havel Bremer Neustadt – Revitalisierung des Hohentorparks als innerstädtischer Grünraum 26 Swantje Berthine Knaut, Bereich Planung und Bau, Referat Planung im Umweltbetrieb Bremen

Zwischenruf I Bedeutung von Grünflächen in historischen Stadtquartieren im Kontext des Klimawandels 33 Sabine Djahanschah, Bundesstiftung Umwelt

Themenblock II: Die bewegte Stadt Mobilität in der historischen Innenstadt Prof. Dr. Herbert Staadt, StaadtPlan Ingenieur GmbH Masterplan Mobilität Konstanz 2020+ Marion Klose, Amt für Stadtplanung und Umwelt der Stadt Konstanz

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Städtebauförderung in Bayern – Ein Leitfaden auf dem Weg zur barrierefreien Gemeinde 48 Armin Keller und Ulrike Mannhart, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr Zeitz – Auf dem Weg zur barrierefreien Kommune 52 Christian Villiers, Fachbereich Technisches Zeitz, Sachgebiet Stadtentwicklung der Stadt Zeitz

Inhalt

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Zwischenruf II Ringanlagen in Sachsen gestern und heute 58 Silke Epple, Dipl.-Ing. Landschaftsarchitektur Prof. Dr. Rosemarie Pohlack, Landesdenkmalpflege Sachsen

Themenblock III: Die gelebte Stadt Der gelebte Raum – Zusammenspiel von Architektur und städtischem Raum 63 Dr. Jörg Heiler, heilergeiger architekten und stadtplaner bda Freiräume für Kinder und Jugendliche Christina Peterburs, Planungsbüro STADTKINDER

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Strategien einer zukunftsorientierten Entwicklung in Monschau 71 Björn Schmitz, Fachbereich Wirtschaft und Tourismus der Stadt Monschau

Zwischenruf III Zwischenruf aus der Programmbegleitung – Kurzdarstellung zum Jahresthema 2015 „Frei-Raum in der historischen Stadt“ 78 Bundestransferstelle Städtebaulicher Denkmalschutz

Zum Ausklang Unterbringung von Flüchtlingen in der Altstadt – Mobilisierung von Altbaubestand Michael Köppl, Städtebau- und EU-Förderung, Sächsisches Staatsministerium des Innern

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Serviceteil Ansprechpartner 97

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Zur Einstimmung

Zur Einstimmung

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Der neu gestaltete Hauptplatz in Landsberg wird seiner historischen Rolle als belebte Mitte der Stadt wieder gerecht.

Frei-Raum in der historischen Stadt Ein Beitrag von Axel Lohrer, lohrer.hochrein landschaftsarchitekten und stadtplaner gmbh

Der öffentliche Raum ist das Gesicht einer Stadt. Der Blick hinter die Fassaden, ein vertiefendes Eintauchen setzt eine besondere Vertrautheit voraus, die uns meist im Alltag verwehrt bleibt. Wir erleben eine Stadt „en passant“, im einfachen Transfer oder bei einfachen Besorgungen wie auch während gezielten Besuchen meist nur durch ihre Freiräume und das gemeinschaftliche Tun, das sich in ihnen abspielt. Es sind die Straßen und Plätze einer Stadt und deren quirliges Leben, die unsere eigenen, inneren Bilder einer Stadt prägen und es sind unsere Erinnerungen an die damit verknüpften Abenteuer, Entdeckungen und Impressionen, die diese Bilder in unserem Innern zum Leben erwecken. Historische Stadträume bieten für diese emotionale Verknüpfung durch ihre immanente wie erlebbare Authentizität und gut herausarbeitbare Identität besonderes Potenzial. Die Sehnsucht nach diesen belebten und beseelten Bildern ist tief in uns verankert. Sie zeigt

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sich beispielsweise in der ungebrochenen Entwicklung des Städtetourismus auch jenseits der schon immer beliebten Metropolen. Sie zeigt sich in der fortwährenden Attraktivität des Innenstadtshoppings und das trotz Internet und peripheren Shoppingmalls. Sie zeigt sich vor allem auch in der aktuell deutlich zu beobachtenden Abkehr der Menschen von der austauschbaren Leere der Vororte und dem Weg zurück in das quirlige, dichte Leben der Innenstädte - eine Bewegung, die neue Ansprüche an die Innenstädte stellt, aber für deren innere Entwicklung jenseits einer musealen Betrachtung dienlich sein kann, sofern sie entsprechend erkannt, gewünscht und zielgerichtet begleitet wird. Denn mit im Umzugsgepäck dieser Rückkehrer finden sich die nun gewohnten Bilder von großzügigem Freiraum, von privaten, direkt dem Wohnraum zugeordneten Gärten bis hin zu gut erreichbaren, offenen wie aneigenbaren Landschaften - Bilder, die insgesamt auch dem aktuellen Trend im Ganzen zu Gärten und


Freiraum entsprechen. So muss sich Stadtplanung zunehmend wieder den Zentren zuwenden - auch zu den doch bisher scheinbar fertig gebauten historischen Bereichen. Neben dem Sicherstellen einer qualitätsvollen Entwicklung des Wohnungsbestandes, sei es durch Sanierung, Umwidmung oder Nachverdichtung, gilt es, auf das geänderte Freiraumbedürfnis der Bevölkerung zu reagieren und tragfähige Konzepte zu entwickeln, die die Vereinbarkeit tradierter Stadträume mit den zeitgemäßen Bedürfnissen und Forderungen in Einklang bringen. Diese Konzepte sind rechtzeitig zu entwickeln um das zarte Pflänzchen dieser neuen Innenstadtentwicklung nicht zu gefährden und um auf Aktivitäten und Forderungen der mündigen Bürgerschaft, die sich ihrer Möglichkeiten zur Einflussnahme durch Beteiligungsprozesse zunehmend bewusst wird, fachlich steuernd und angemessen kompetent reagieren zu können. Mit „erreichbar machen“, „wohnbar machen“ „gemeinschaftlich machen“ und „authentisches erlebbar machen“ konzentrieren sich diese Bemühungen für den innerstädtischen Freiraum im Wesentlichen auf vier Themenbereiche:

„erreichbar machen“ Die derzeit für Personenkraftwagen optimierten Verkehrsflächen sind in Innenstädten, und insbesondere in den historischen Stadträumen, die kaum für diese Art der Mobilität konzipiert waren, die wesentlichen Reserveflächen für die Entwicklung des öffentlichen Raums. Durch Umbau dieser einseitigen Flächenzuordnungen, durch neue Mobilitätskonzepte und optimiertes Zusammenspiel der unterschiedlichen Verkehrsmittel können diese Flächen für das gemeinschaftliche Leben erschlossen werden. Die Innenstadt von Kopenhagen zeigt beispielsweise anschaulich, welch qualitätsvoller öffentlicher Raum durch einen konsequenten wie kontinuierlichen stadtraumverträglichen Umbau der Mobilität entstehen kann, ohne dass dadurch individuelle Mobilität eingeschränkt wird. Neben der Sicherung der Mobilität liegen die Schwerpunkte auf der Reduzierung des Lärms, der Luftreinhaltung, dem Miteinander der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer (shared space) und der Barrierefreiheit. Aufgrund der bestehenden oft vereinheitlichenden Normen und Standards ist bei der Umsetzung in den sensiblen historischen Bereichen eine intensive gestalterische Auseinandersetzung mit Ort, Normen und tatsächlichen Ansprüchen gefordert, um vereinfachende Bilder (zum Beispiel keine Pflasterdecken aufgrund einer überhöhten Belastungsklasse), tech-

nische Dominanz (zum Beispiel reguläre Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs an Stelle einer stadtraumverträglichen individuellen Einpassung) oder dem Ort unangemessene optische Monotonie (zum Beispiel durch allseits gesägte importierte Natursteine an Stelle der lebendigen Nuancen von gebrochenem Material) zu vermeiden und so dem Stadtraum angemessenen individuellen Charakter zu bewahren.

„wohnbar machen“ Zeitgemäßer Wohnraum sollte auch in historisch geprägtem Kontext von direkt zugeordnetem, individuell nutzbarem und gut aneigenbarem Freiraum in gestufter Abfolge ergänzend begleitet werden. Über den bekannten, einfachen angelagerten Balkon hinaus liegen in historischen Städten und deren sensiblen Raumfluchten die Potenziale für die Entwicklung von privaten wie halbprivaten Freiräumen im Blockinnern, in den Höfen, auf den Dächern sowie in den bereits vorhandenen tradierten Freiräumen wie beispielsweise historische Parks oder begrünte Wallanlagen. Behutsam adaptiert, können auch ursprünglich rein für die Betrachtung entwickelte Anlagen und zeitgemäß Individuelle bespielbar entwickelt werden. So gelang es beispielsweise am Gärtnerplatz in München durch marginale Optimierungen und begleitende Moderation, den ruhigen zentralen Schmuckplatz und die Dynamik der nächtlichen Partymeile in Einklang zu bringen. Im wiedererstandenen unteren Garten des Wiener Renaissanceschlosses Neugebäude wurde innerhalb des übergeordneten Gesamtkonzeptes der erforderliche Quartiersspielplatz themengerecht integriert.

In der Altstadt von Eisleben inszeniert ein neuer öffentlicher Garten den Blick auf das Geburtshaus Luthers.

Zur Einstimmung

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„authentisches erlebbar machen“

Durch Neuinterpretation des Lennéschen Entwurfs entstand in Greifswald mit dem Rubenowplatz ein zeitgemäßer Platzraum.

Historische Städte besitzen innerhalb ihrer identitätsbildenden Raumfluchten, Bauten, Lücken und Brüchen eine ihnen eigene Geschichte und narrative Dichte. Das zuvor skizzierte erweiterte und intensivere Bespielen dieser Orte kann daher nur aus der Kenntnis dieses Besonderen und im angemessenen Herausarbeiten, Einbinden, Stärken und Weitererzählen dieses Potenzials entwickelt werden. Das Wohnen zieht es wieder zurück in die Zentren – eine Chance, die es für die Zukunft unserer Städte zu ergreifen und mit geeigneten Konzepten zu begleiten gilt. Denn mit der Rückkehr einer ganztägig lebendigen wie vielfältigen Dichte in historischen innerstädtischen Freiräumen werden diese wieder zu dem, was sie vor einer vorrangig musealen wie touristischen Betrachtung waren: die Bühne des urbanen Lebens, das Herz der Stadt.

„gemeinschaftlich machen“ Neben der privaten Nutzung von Freiraum stellt das lesbare Gemeinschaftliche die besondere Qualität innerstädtischer Freiräume dar. Plätze, Promenaden, Parks – das sind die Bühnen des gemeinschaftlichen Lebens. Durch das Einbinden von bisher kaum nutzbaren Bereichen wie Brachen, Flussufer oder reinen Schmuckplätzen können auch in historischen Stadträumen ergänzende Flächen für gemeinschaftliche Attraktionen generiert werden. So entstand beispielsweise in der City von Bordeaux in rückwärtigen Lagerflächen ein mittlerweile gut besuchter multikultureller Garten, in der Berliner Mitte wird ein öffentliches Spree-Flussbad diskutiert und am Rande der dicht bebauten Altstadt von Antwerpen entwickelte sich um eine ehemalige Straßenbahnhalle witterungsgeschützt ein neuer unprätentiöser aber intensiv genutzter Nukleus städtischen Lebens. Fern von einer eingrenzend dominierenden kommerziellen Bindung sollten gemeinschaftliche Flächen in einer augenzwinkernden Melange von Sicherheit und Lässigkeit flexibel, frei und sicher für alle Bewohner nutzbar sein. Mit temporären Aktionen und saisonalen Angeboten können ergänzend verstärkende Bilder des Gemeinschaftlichen erzeugt und bisher Verschlossenes stimulierend in den mentalen Stadtkarten der Bewohner verankert werden. Es ist beispielsweise erstaunlich, wieviel Neugierde verborgene innerstädtische Gärten erwecken, die kurzzeitig begehbar und dann für den Rest des Jahres nur Erinnerung vor einer umschließenden Wand darstellen.

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Axel Lohrer 1963 in Friedrichshafen geboren. Studium der Landespflege an der Fachhochschule Weihenstephan. Beruflicher Werdegang: Seit 1993 tätig als freier Landschaftsarchitekt und Stadtplaner, als Fachpreisrichter und als Gestaltungsrat. Diverse Lehraufträge unter anderem an der Hochschule München Fachbereich Architektur. Eingetragen als Landschaftsarchitekt und Stadtplaner bei der Bayerischen Architektenkammer sowie der Architektenkammer Sachsen-­Anhalt. Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) und im Bund Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA).


Themenblock I: Die grĂźne Stadt Serviceteil

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Enge, steinerne Raumsituationen, fehlende Vegetation und unzureichende Versickerungsflächen prägen historische Städte.

Die historische Stadt im Klima­ wandel – Chancen und Perspektiven der Stadtentwicklung Ein Beitrag von Matthias Wangelin und Andreas Fröhlich, Klima- und Energieeffizienz Agentur KEEA

Der Klimawandel ist ein komplexes System von natürlichen und menschlichen Einflüssen auf das globale Klima und führt zu einer Temperaturveränderung über lange Zeiträume. Ursachen für natürliche Klimaveränderungen sind unter anderem Schwankungen der Erdrotationen und -neigungen, die ausgestrahlte Sonnenenergie, Vulkanismus und langfristige Veränderungen wie die Kontinentaldrift oder die Veränderung der Meeresströmungen. Die sehr langfristigen Prozesse sorgten über Jahrtausende für Eiszeiten, aber auch für ausgeprägte Hitzeperioden. Der menschliche Einfluss auf den Klimawandel erfolgt durch die Anreicherung der Atmosphäre mit

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sogenannten Treibhausgasen. Diese verändern die Strahlungsbilanz der Erdoberfläche, es wird weniger Strahlung abgegeben, die Erdoberfläche wird erwärmt und trägt zum Klimawandel bei. Bekanntestes Beispiel für ein Treibhausgas ist Kohlendioxid (CO2). Bis vor rund 100 Jahren lag der Anteil in der Atmosphäre bei rund 300 Parts per Million (ppm). In 2015 ist durch die amerikanische Wetterbehörde erstmals ein Anteil von über 400 ppm in der Atmosphäre gemessen worden. Die Verbrennung kohlenstoffhaltiger Energieträger wie Heizöl, Kohle, Benzin, Diesel und Erdgas erhöhen den Anteil von CO2 in der Atmosphäre. Die Reduktion der Emissionen treibhausrelevanter Gase in der Atmosphäre


über die Verminderung der Verbrennung fossiler Energieträger ist daher als Klimaschutz die erste Maßnahme zur Abmilderung des Klimawandels. Der laufende Prozess des Klimawandels führte in den letzten Jahrzehnten zu einem Anstieg der Durchschnittstemperatur, nur was ist in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland zu erwarten? Bei einem weiteren Anstieg der durchschnittlichen Jahrestemperaturen würden die sommerlichen Hitzeperioden häufiger und stärker, die Winter wärmer werden. Die Niederschläge gehen im Sommer zurück, dafür treten sie häufiger im Herbst und Winter mit mehr Regen als Schnee und zunehmender Überschwemmungsgefahr auf1. Gleichzeitig entstehen über den Klimawandel Sonderphänomene, wie besonders strenge Winter, beispielsweise im Jahr 2012. Zusammengefasst wird es nicht nur wärmer, sondern die Temperaturschwankungen und Niederschlagsspitzen nehmen zu. Dies führt zu zunehmenden Wetterextremen mit Hitzewellen, Gewitter, Hagel und Niederschlagsspitzen. Wie sind historische Stadtbereiche und deren Freiräume dagegen gerüstet?

Bereits heute sehen sich Städte mit Extremwettereignissen wie Starkregen, Hitze-, Kältewellen und Sturmböen konfrontiert. Hochwasser, Wärmeinseln oder Verwehungen sind die Folgen mit zumeist nicht zu unterschätzenden Auswirkungen auf Ökonomie, Infrastruktur, Wohlbefinden und menschliche Gesundheit wie zum Beispiel Kreislaufstörungen. Insbesondere in dichtbebauten und gering belüfteten historischen Stadtbereichen kommt Adaptionsstrategien daher eine herausragende Bedeutung zu. Freiräume können dabei einen wesentlichen Beitrag zur Regulierung des Lokalklimas als auch zur Verringerung der Vulnerabilität vorhandener Systeme, Strukturen und Gruppen leisten. Die Einflüsse und Auswirkungen lassen sich wie folgt differenzieren: →→

Auswirkungen auf die Gebäude: Bauschäden durch Hagel, Hochwasser, Wind und extremere Temperaturunterschiede, insbesondere im historischen Gebäudebestand bei baukulturell bedeutsamen Gebäuden. →→ Auswirkungen auf die Freiräume: Schäden an den Freiräumen durch Wetterextreme, aber auch Begünstigung beziehungsweise Verringerung der

Vegetationen unterstützen durch Transpirations- und Filterfunktionen sowie Verschattung die Regulation des Mikroklimas.

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Wetterextreme durch die Art der Freiraumgestaltung. →→ Auswirkungen auf die Bewohner: Gefährdung der Bewohner durch eine geringere Vorbereitung historischer Stadtkerne auf die Wetterextreme über beschädigte Gebäude (zum Beispiel herabfallende Dachpfannen), Hochwasser, hohe Windgeschwindigkeiten, aber auch gesundheitliche Gefahren über Hitzeinseln, überhitzte Gebäude ohne sommerlichen Wärmeschutz und erhöhte Brandgefahr.

Gut gestaltete Freiräume können die Auswirkungen des Klimawandels in der historischen Stadt abschwächen. →→

Das Umgebungsklima wird nicht nur durch die räumliche Ausprägung, Nutzung, Randbebauung, Form, Größe und Ausrichtung der Freiräume geprägt. Ebenso haben Elemente des gestalteten Freiraums Einfluss auf das lokale Mikroklima. Bestimmende Parameter zur Regulation des Mikroklimas sind Material beziehungsweise Art, Form, Farbe, Ausrichtung und Dichte des Stadtmobiliars oder der Vegetation. Ungünstig positioniertes Freiraummobiliar kann Windströmungen verstärken, was unter anderem zu Verwirbelungen führt. Farben begünstigen Adsorptions- und Reflexionseigenschaften von Oberflächen. Dies wiederum kann das Wachstum und die Vegetationsperiode nahestehender Pflanzen beeinflussen. Vegetation kann als Wärmespeicher, Wind- und Strahlungsschutz; Wasserflächen zur Erhöhung der Luftfeuchte

und zu Kühlungszwecken über Verdunstung eingesetzt werden. Retentionsräume bilden Pufferzonen für extreme Niederschläge. Tages- und jahreszeitabhängige Varianzen in den Nutzungen und Funktionen eines Freiraums werden durch die Kombination verschiedener Klimatisierungseffekte begünstigt. Die Verringerung der Vulnerabilität stellt einen positiven Synergieeffekt aus der Zusammenführung von Freiraumgestaltung und Städtebau unter Adaptionsaspekten dar. Die Entsiegelung überbauter Flächen im Altstadtbereich bei gleichzeitiger Begrünung mit Baum- und Strauchbestand sei hier beispielhaft genannt. Innerstädtische Versickerungsflächen verringern die Anfälligkeit von Straßenzügen für Überschwemmungen. Über Vegetation wird das Mikroklima durch Verdunstungsleistung, Transpirationsfunktion und Schattenwurf aufgewertet. Die historische Stadt heizt sich weniger auf. Eine auf die Auswirkungen des Klimawandels flexibel reagierende Stadtentwicklung verlangt daher nach einer vorausschauenden Freiraumentwicklung, welche eine Gestaltung zur Grundlage hat, die mitunter die lokalen klimatischen Bedingungen berücksichtigt und aktiv in ihre Planungen einbezieht. Neben der Entflechtung historischer Stadtkerne durch Gebäuderückbau sollte auch die Schaffung zusätzlicher Grün- und Wasserflächen sowie die Installation temporärer Elemente zur Regulation des Mikroklimata in historischen Kerngebieten angestrebt werden. Freiraumgestaltung und Adaptionsstrategien schließen sich nicht aus, sondern verstehen sich vielmehr als optimale und notwendige Ergänzung. Eckpunkte dabei sind: →→ Robuster Umgang der Freiräume mit Extrem­ wetterereignissen. Berücksichtigung von höheren Niederschlägen, höheren Windgeschwindigkeiten und höheren Temperaturen bei der Freiraumgestaltung zur Vermeidung von Beschädigungen. →→ Die Gestaltung der Freiräume schwächt die Auswirkungen von Extremwetterereignissen auf die historische Stadt ab – ein Beispiel ist die höhere Aufenthaltsqualität bei hohen sommerlichen Temperaturen. Daraus entstehende Synergieeffekte können die Aufenthaltsqualität eines Freiraumes und das Wohlbefinden positiv begünstigen.

Hochwasser werden künftig häufiger erwartet. Umso eher bedarf es einer angepassten Stadtentwicklung.

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M.Sc. Andreas Fröhlich, Jahrgang 1986, Universität Kassel, Abschluss in Umweltplanung und Landschaftsmanagement, 2009 bis 2013 Projektassistenz Universität Kassel; seit 2014 Projektleiter für Klimaschutz- und Quartierskonzepte, KEEA Arbeitsschwerpunkte: Klimaschutz und ­Klimaanpassung auf regionaler und kommunaler Ebene. Veröffentlichungen: Der Beitrag regenerativer Energieträger zur Lebensqualität. In: Energielandschaften gestalten. Leitlinien und Beispiele für Bürgerpartizipation. Bund für Heimat und Umwelt in Deutschland e.V. (Hrsg.).

Dipl.-lng. Matthias Wangelin, Jahrgang 1966, Abschluss Stadtplanung an der Universität Kassel. Beruflicher Werdegang: 1988 Hamburgische Elektrizitätswerke, 1999 Gründung Ingenieur­ büro inpetto, 2007 Kompetenznetzwerk dezentrale Energietechnologien e.V. (deENet), 2009 Gründung Klima- und Energieeffizienzagentur KEEA, 2010 Gründungsmitglied Institut für kybernetisches Planen und Bauen, 2015 Sprecher Arbeitskreis Energie und Klima der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL). Arbeitsschwerpunkte: Räumliche Energieund Klimaschutzkonzepte, vom Quartier bis zur Region; komplexe räumliche Planungsprozesse; räumliche Bilanzierung von Stoffund Energieströmen. Veröffentlichungen: Raumplanung 2/2016: Anforderungen an klimaschutzorientierte Quartierskonzepte, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) 2016: Klimaschutz in der Stadt- und Regionalplanung, Artikel: Dimensionen von Energieströmen in der Kommune - sektorale Strategie

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Deutsche Meteorologische Gesellschaft (2007): Stellungnahme der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft zur Klimaproblematik.

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Freiraumkonzept der Lippstädter Umfluten

Altstadt an die Lippe – Freiraumkonzept der Stadt Lippstadt Ein Interview mit Heinrich Horstmann, Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen der Stadt Lippstadt

Lippstadt ist eine Stadt am Fluss und bezeichnet sich selbst als „Venedig Westfalens“. Welche Bedeutung hat der Verlauf der Lippe für die stadtund freiräumliche Entwicklung der Lippstädter Altstadt? Lippstadt, mit rund 72.000 Einwohnern heute die größte Stadt im Kreis Soest, wurde 1185 an der Lippe gegründet. Besonders die Lage zwischen den Lippeauen, die im Osten und Westen noch heute direkt an die Altstadt grenzen, und die rund acht Kilometer Wasserläufe (Lippe, Historische Umfluten und Kanal) im Altstadtbereich prägen die heutige Stadtstruktur und das Stadtbild. Diese Komponenten sind herausragende Alleinstellungsmerkmale der historischen Stadt.

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Die direkte Lage am Fluss war für Lippstadt in der Historie immer mit Risiken verbunden. So wurde die Altstadt zuletzt im Jahr 1965 komplett überflutet. Im Umgang mit dem Thema Wasser hatte in der Vergangenheit stets der Hochwasserschutz Priorität. Umfangreiche Maßnahmen der letzten Jahre zeigen hier ihren Erfolg. Jetzt wird das Thema Wasser/Wasserläufe und die angrenzenden Freiräume eher als Chance für die Stadtentwicklung generell und die Weiterentwicklung des Stadtbildes, der Funktion als Wohnstandort, touristischer Ziel­ ort und das Stadtklima im Besonderen gesehen. Das Thema „Altstadt am Wasser“ ist ein wichtiger Bestandteil des Leitbildes für die räumliche Ent-


wicklung der Altstadt. Erste Zielformulierungen zu diesem Thema erfolgten mit der Ausarbeitung des „Integrierten Handlungskonzeptes Altstadt“ im Jahr 2011. Mithilfe eines „grünen Rundweges“ entlang der Wasserläufe um die Stadt soll die Qualität der „Altstadt am Wasser“ weiter herausgearbeitet werden.

Im Rahmen der Erarbeitung des Integrierten Handlungskonzepts für die Lippstädter Altstadt im Jahr 2011 wurde auch ein Freiraumkonzept erarbeitet. Was war der Anlass zur Erarbeitung des Konzepts? Zielsetzung des Freiraumkonzeptes war es, die Leitlinien aus dem „Integrierten Handlungskonzept“ weiter zu entwickeln und zu konkretisieren. In räumlich funktionalen Abschnitten sollten Ideen und Ziele, aber auch konkrete Maßnahmen definiert werden. Das Ergebnis ist das durch die politischen Gremien der Stadt Lippstadt beschlossene „Freiraumkonzept der Lippstädter Umfluten“. Diese Freiräume bieten die Chance, Stadträume zu verbinden und neue Qualitäten zu schaffen. Das Freiraumkonzept ist Richtschnur und Handlungsrahmen der nächsten Jahre.

Welche stadt- und insbesondere freiraumgestalterischen Maßnahmen und Schlüsselprojekte sind im Rahmen der freiräumlichen Umgestaltung vorgesehen?

Lippeaue / Grüner Winkel

Nördliche Umflut im historischen Stadtkern

Ein wichtiger Baustein des Freiraumkonzeptes ist das Projekt „Südertor-Park-Ost“. Mit der Vervollständigung der städtebaulichen Entwicklung am Standort „Südertor“ im Süden der Altstadt bot sich die einzigartige Chance, einen bis dahin vernachlässigten Stadtraum zurückzugewinnen und den Kranz der ehemaligen historischen Wallanlage um die Altstadt wieder erlebbar zu machen. Ziel der Freiraumplanung ist in diesem Quartier die Realisierung eines „Stadtteilparks“ nach heutigen Nutzungsansprüchen und mit durchaus modernen Gestaltungselementen. Der historische Aspekt wird in dem Entwurf frei interpretiert, da ein „Nachbau“ der ursprünglichen Anlage auf Grund der Lage und Dimension nicht möglich ist und nicht sinnvoll erscheint. Der Gestaltungsentwurf für diese Flächen zeichnet daher die historischen Grenzen der ursprünglichen Wallanlage nur nach und schafft einen neuen wohnortnahen, abwechslungs-

Nördliche Umflut im historischen Stadtkern

reichen Freiraum mit generationenübergreifenden Angeboten im Übergang zwischen den Siedlungsbereichen der Südstadt zur Altstadt. Die „Südliche Umflut“ soll im Zuge der städtebaulichen Maßnahme zeitgleich ökologisch als auch optisch eine Aufwer-

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Entwurfes für diesen Frei-Raum führt zu einer deutlichen Aufwertung des mit Freiflächen unterversorgten Stadtbereichs. Ein Gewinn für die gesamte Altstadt.

Mit welchen Erfahrungen und Zielsetzungen blicken Sie in die Zukunft der Lippstädter Altstadt?

Grüner Winkel

In den letzten Jahrzehnten hat die Altstadt Lippstadts baulich und funktional vielfältige Veränderungen durchlebt. Hervorzuheben sind insbesondere die Flächensanierung der 1970er und 1980er Jahre in der östlichen Altstadt, einzelne Großbaustellen sowie die bestehenden Baulücken, die heute als sichtbarer Bruch in der historischen Stadtstruktur wahrnehmbar sind. Mit der Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Historische Stadtkerne in Nordrhein-Westfalen soll heute jedoch die besondere Bedeutung der historischen Bezüge in Stadtstruktur und Bebauungstypologie städtebaulich behutsam weiterentwickelt werden. Heute erfährt Lippstadt eine positive Entwicklung. Seit 2009 ist die Stadt auch Hochschulstandort. Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft dynamisch. Dies zeigt sich unter anderem an der steigenden Zahl sozialversicherter Beschäftigter. Insgesamt hat Lippstadt eine positive Bevölkerungsentwicklung, die sich auch in der Altstadt durch eine steigende Nachfrage nach Wohnraum zeigt.

Südliche Umflut im historischen Stadtkern

tung erfahren. Durch beidseitig angelegte Uferrandstreifen und eine doppelte Eschenbaumreihe entlang des gewässerbegleitenden Weges wird die „Südliche Umflut“ als Leitstruktur wiederhergestellt und die kulturhistorische Bedeutung wirkungsvoll betont.

Welche Erfolge sind bisher bei der Umsetzung des Konzepts erzielt worden? Die Diskussionen über die grundsätzliche Entwicklung und über Entwürfe für den Bereich „Südertor“ sind sehr intensiv und über eine lange Zeit geführt worden. Die Prioritäten für diesen städtebaulich sehr wichtigen Bereich lagen nicht immer in der Entwicklung eines Freiraumes am Wasser nach kulturhistorischen Vorbildern. Letztendlich konnte dann doch der Gesamtentwurf der Freiraumplanung überzeugen, der die Chance bietet, Stadträume zu verbinden und neue Qualitäten zu schaffen. Die jetzt angelaufene Umsetzung des

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Dennoch zeichnen sich auch in Lippstadt und insbesondere im Zentrum der Altstadt Trends und ihre Folgen ab, wie die Konzentration der Handelsflächen, die Steigerung des Filialisierungsgrades und die Dynamik des Online-Handels. Viele Einzelprojekte und Diskussionspunkte auch im Themenfeld der Frei-Räume gaben Anlass dazu, mit einem integrierten Konzept die Einzelthemen zusammenfassend zu betrachten, zu bewerten und mit zentralen Fragestellungen zu verknüpfen. Die Entwicklungsziele für die Lippstädter Altstadt lassen sich folgendermaßen prägnant ausdrücken:

„Altstadt mit Zukunft – Vielfältig, einzigartig, nah und lebenswert“ Altstadt mit Zukunft: Die historischen Wurzeln sind bis heute deutlich ablesbar. Hier liegt ein Alleinstellungsmerkmal, welches bewahrt und erlebbar erhalten werden soll. Aber auch neue Stadt-Bausteine und eine Weiterentwicklung des Bestehenden sind wünschenswert, wenn sie die vorhandenen Strukturen ergänzen.


Vielfältig: Die bestehende Nutzungsvielfalt und die ihr zugrundeliegende Vielfalt der Angebote gilt es zu bewahren und auszubauen.

Einzigartig: Viele Elemente in der Altstadt machen diese zu etwas Unverwechselbarem. Zu nennen sind hier die prägenden Wasserläufe, markante Gebäude und auch Räume wie die Stiftsruine oder kleine Altstadtplätze und nicht zuletzt prägende Grünräume wie der „Grüne Winkel“ (Lippeaue). Diese Einzigartigkeit muss bewahrt werden, um das „Gesicht“ Lippstadts zu schützen.

Dipl.-Ing. Heinrich Horstmann, Jahrgang 1961, Dipl.-Ing. Raumplanung, Studium der Raumplanung in Dortmund. Beruflicher Werdegang: 1990 Stadtplaner bei der Stadt Cuxhaven; seit 1992 tätig bei der Stadt Lippstadt, zunächst in der Stadtplanung. 2002 Fachbereichsleiter Bauen; 2008 Fach­ bereichsleiter Stadtentwicklung und Bauen.

Nah: Der kompakte Stadtkern ist ein großes Potenzial zur Förderung der Nahmobilität. Ein Großteil der Bevölkerung lebt in geringer Entfernung zur Altstadt (60 Prozent in zwei Kilometer Entfernung). Diese Lagegunst ist zu nutzen und weiter zu entwickeln.

Lebenswert: Die Lippstädter Altstadt muss ein qualitätsvoller „Lebensraum“ sein, der hohe Aufenthaltsqualitäten bietet, Nahversorgungsangebote beinhaltet, dem demographischen Wandel Rechnung trägt und neue Entwicklungen zulässt und integriert.

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Steckbrief zur Stadt

Stadt

Lippstadt

Bundesland

Nordrhein-Westfalen

Meilensteine der Stadtgeschichte und Stadtentwicklung

→→ 1185/86: Entscheidende Entwicklung zur Stadt, Anstoß zur Gründung durch Bernhard II. zur Lippe →→ Um 1220: Erstes Lippstädter Stadtrecht →→ Seit ca. 1280: Mitglied der Hanse →→ 1281: Friedrich von Hörde gründet ein Augustiner-Eremiten-Kloster im Lippebogen →→ Um 1300: Spital zum Heiligen Geist →→ 1763: Schleifung der Festungswerke →→ 1830: Lippe bis über Lippstadt hinaus schiffbar →→ 1850: Anschluss an die Eisenbahn →→ 1860: Gründung des Linhoffschen Eisenwerks, aus dem sich die „Westfälische Union“ entwickelt →→ 1890: Hochwasser (Katharinenflut) →→ 1905: Verlegung der „Königlichen Artilleriewerkstatt“ von (Köln-) Deutz nach Lippstadt →→ 1945: Amerikanische Truppen besetzen nach kampfloser Übergabe die Stadt und schließen beim Wasserturm den „Ruhrkessel“ →→ 1965: Letztes schweres Hochwasser →→ 1975: Kommunalreform: Vereinigung Lippstadts mit 16 Nachbargemeinden, Verlust des Kreissitzes

Einwohnerzahl

rund 72.000

Einwohnerentwicklung

positiv!

Gebäudeleerstand

-

Die klassischen Sanierungsmaßnahmen wie Neuordnung von Grund­ stücken, neue Erschließungsmaßnahmen, Sanierungen und neue ­Bebauung sind abgeschlossen.

Städtebauförderungsprogramme und Jahr der Programm­ aufnahme

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Alle vorhandenen Straßen und fast alle Plätze wurden grundlegend erneuert und den Zielen der Sanierung entsprechend verbessert. Große öffentliche Gebäude wurden multifunktionalen Nutzungen zugeführt. Aufenthaltsqualitäten wurden verbessert und neue Freiflächen geschaffen, unter anderem Lippebug, Entree Grüner Winkel und Wege entlang der Wasserläufe. Jetzt stehen ergänzende und fortführende Maßnahmen an, die darauf aufbauend die Altstadt als multifunktionalen Raum stärken. Das „Integrierte Handlungskonzept Altstadt von 2011“ soll sukzessive umgesetzt werden.

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Aktuelle Schwerpunkte der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

→→ Renaturierung der „Südlichen Umflut“ und erstmalige Gestaltung der angrenzenden Grünanlagen →→ Erschließung und Entwicklung des ehemaligen Güterbahnhofgeländes Umsetzung des „Integrierten Mobilitätskonzeptes Altstadt Lippstadt“ von 2014

Zukünftige Herausforderungen der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

→→ Stärkung der positiven Entwicklung „Wohnen in der Altstadt“ →→ Erhalt und Stärkung der Einzelhandelsqualitäten der „Einkaufsstadt Lippstadt“ →→ Fortführung des Freiraumkonzeptes entlang der historischen Umfluten →→ Vernetzung der Altstadt mit den nahe gelegenen Grünzonen →→ Evaluierung der Ziele, Maßnahmen und Erfolge durchgeführter ­Projekte →→ Entgegen früherer Prognosen ist die Bevölkerungsentwicklung Lippstadts derzeit positiv. Es gilt, eine angepasste Siedlungsentwicklung auch unter Einbeziehung alter und attraktiver zu gestaltender Altquartiere zu vollziehen. →→ Stärkung des Technologie- und Hochschulstandortes

Erstellt vom Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen der Stadt Lippstadt

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Blick auf die Jahrtausendbrücke, dahinter das Packhofgelände

Bundesgartenschau 2015 – Stadt- und Freiraumentwicklung in Brandenburg an der Havel Ein Beitrag von Andrea Kutzop, Fachbereich Stadtplanung der Stadt Brandenburg an der Havel

Die Bundesgartenschau 2015 Havelregion war mit ihrer dezentralen und überregionalen Ausrichtung, 80 Kilometer entlang der Havel und unter Einbeziehung der Dome Havelberg und Brandenburg an der Havel, bislang einzigartig in der Geschichte der Gartenschauen. Für die Stadt Brandenburg an der Havel hat dies nicht nur gewaltige Anstrengungen in der Vorbereitungszeit, sondern im Ergebnis vor allem einen eindrucksvollen und nachhaltigen Schub für die Entwicklung der Stadt bedeutet. Die Organisation und Durchführung der Gartenschau selbst lag zwar in den Händen des dafür gegründeten Zweckverbandes, die rechtzeitige Fertigstellung aller

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Baumaßnahmen zur Herstellung und Ertüchtigung der notwendigen Infrastruktur als rein kommunale Aufgabe dagegen allein in der Verantwortung der Stadt. Bereits mit dem Masterplan 2006, dem Integrierten Stadtentwicklungskonzept für Brandenburg an der Havel, hat sich die Stadt nicht nur ihr Leitbild – die Stadt im Fluss – gegeben, sondern auch die gesamtstädtischen Entwicklungsziele formuliert und entsprechende Schlüsselprojekte definiert. Das Schlüsselprojekt Bundesgartenschau ist folgerichtig gemeinsam mit den anderen großen Schlüsselprojekten der nachhaltigen Stadtentwicklung gedacht worden. Dazu gehören die Fortführung der Innenstadtsanierung genauso


wie die Teilnahme der Stadt an der Förderperiode des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) 2007 bis 2013 mit den großen Infrastrukturmaßnahmen Aufwertung des Bahnhofumfeldes, Umgestaltung des Nicolaiplatzes und die Aufwertung des Marienberges zum Bürgerpark des 21. Jahrhunderts. Die Sanierung der historischen Innenstadt hat bereits 1989 im Rahmen eines Modellstadt-Programms begonnen. Die Sanierungsmaßnahmen nach den Grundsätzen des städtebaulichen Denkmalschutzes wirken seither als Impulsgeber für die positive Entwicklung des Stadtzentrums zum attraktiven Standort für Handel, Gastronomie und Wohnen und zum touristischen Anziehungspunkt.

Reihe noch ein wenig vernachlässigt wirkten. Mit den verstärkten baulichen Aktivitäten in Vorbereitung auf die BUGA hat es hier nochmal einen ordentlichen Schwung gegeben, das Quartier rund um die Johanniskirche zeigt dies besonders deutlich: Vor der BUGA war die Johanniskirche eine notgesicherte Ruine, der Johanniskirchplatz eine unbefestigte Freifläche mit intensiver Stellplatznutzung, die Klosterstraße sanierungsbedürftig, das anliegende ehemalige Landratsamt seit Jahren leerstehend und das Gotische Haus als hochrangiges Einzeldenkmal ebenfalls leerstehend und stark sanierungsbedürftig – neben der Johanniskirche ein weiterer klassischer „Dicker Brocken“ Die Idee, in der Johanniskirche für die BUGA eine temporäre

Der Zuschlag für die Ausrichtung der Bundesgartenschau (BUGA) Havelregion ist 2007 erteilt worden. Für die Stadt Brandenburg an der Havel lag damit der Fokus auf drei innerstädtischen Gebietskulissen: das Packhofgelände in der Neustadt, die Johanniskirche in der Altstadt und der Marienberg nördlich der Altstadt als Verbindung zum Stadtteil Nord. Damit bestand eine weitere Chance, die besonderen Qualitäten der Stadt auszubauen und langfristig zu stärken. Die aus den drei mittelalterlichen Kernen Altstadt, Neustadt und Dominsel bestehende Innenstadt ist als Stadtdenkmal von europäischem Rang einzustufen – zu den über 400 Einzeldenkmalen gehören der Brandenburger Dom, das als Archäologisches Landesmuseum genutzte ehemalige Paulikloster, die großen Stadtkirchen und die ältesten Backstein- und Fachwerkhäuser des Bundeslandes. Die Havel prägt mit ihren zahlreichen Verzweigungen, Kanälen und Ausbuchtungen Geschichte und Stadtbild und schafft bis in die historische Innenstadt hinein eine einzigartige Verbindung zwischen Stadt und Landschaft. Die nachhaltige Wirkung der BUGA für die historische Innenstadt zeigt sich besonders eindrücklich im Bereich des Packhofgeländes sowie im Bereich rund um die Johanniskirche. Beides gegenüberliegend und verbunden durch die Jahrtausendbrücke – der Brückenschlag zwischen Altstadt und Neustadt. Zwar konnte die Innenstadt bereits vor 2015 einen Sanierungsgrad von gut 80 Prozent aufweisen, allerdings gab es gleichzeitig Bereiche, die quasi in zweiter

Johanniskirche Westfassade nach der Sanierung

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Johanniskirchplatz vorher

Blumenhalle zu gestalten, schien anfangs geradezu visionär. Im Rückblick hat aber gerade dies maßgeblich dazu beigetragen, eine beispielhafte bauliche Entwicklung für ein ganzes Quartier in Gang zu setzen. Die Sanierung der Klosterstraße und des Johanniskirchplatzes wurde ab 2010 planerisch in Angriff genommen. Nach erwartungsgemäß schwierigen Auseinandersetzungen

konnte die Stellplatznutzung auf der Platzfläche aufgegeben werden und der Johanniskirchplatz präsentiert sich heute – wieder – als kleiner Schmuckplatz. Für die Johanniskirche wurde nach einem Ideen-Auswahlverfahren die Ertüchtigung des Gebäudes vorgenommen. Insbesondere die Wiederherstellung des Daches in seiner ursprünglichen Kubatur und die moderne Westfassade aus einer Stahl-Glas-Konstruktion zur Schließung des beschädigten Baukörpers prägen heute nicht nur das Stadtbild sondern reparieren – zumindest zum Teil – auch die Stadtsilhouette. Beeindruckend zeigt sich auch die Wirkung des ehemaligen Landratsamtes. Nach jahrzehntelangem Leerstand hat ein privater Investor das Gebäude denkmalgerecht saniert und für eine Wohnnutzung umgebaut. Im unmittelbaren Umfeld sind die störenden Garagenbauten entfernt und das Grundstück neu eingefriedet worden.

Johanniskirche Notsicherung vorher

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Beim Packhofgelände handelt es sich um ein ehemaliges Werftgelände der 1886 gegründeten Schiffswerft der Gebrüder Wiemann. Nach 1945 wurden noch bis 1992 Hochseeschiffe, Eisbrecher und Kutter gebaut. Danach ist das Gelände brach gefallen und die Ge-


Johanniskirchplatz nachher

bäude sind sukzessive beräumt worden. Stehengeblieben ist allein die denkmalgeschützte Werfthalle. Nach einer Zwischennutzung der Fläche als öffentliche Grünfläche kam – auch mit Aussicht auf die Bundesgartenschau – Bewegung in ihre Entwicklung. Für die komplette Uferzone begann die Planung zur Anlage einer öffentlichen Fuß- und Radwegeverbindung sowie eines Sportboothafens. Parallel erfolgte die Entscheidung der Stadtwerke, ihren Firmensitz an diese prominente Stelle zu verlegen. Die Werfthalle wurde denkmalgerecht saniert und die Büronutzung in einem ergänzenden Neubau untergebracht. Komplettiert wurde der gesamte Bereich durch die Umgestaltung des Werftvorplatzes, bei allen Vorhaben ist eine durchgängige Barrierefreiheit sichergestellt worden. Betrachtet man die positiven Auswirkungen der BUGA im Zusammenhang mit der Stadtentwicklung sind es neben der klassischen Aufwertung und Herstellung von Infrastruktur aber auch ganz andere Maßnahmen, die einen Mehrwert für Stadt und Stadtgesellschaft geschaffen haben und ohne die BUGA so sicher nicht stattgefunden hätten.

Wie in anderen Städten auch, ist vor dem Hintergrund knapper Haushaltsmittel und finanziellen Minderausstattungen die Grünflächenpflege und Instandhaltung öffentlicher Grünanlagen zum Teil deutlich vernachlässigt worden. Ausgehend von dem Anspruch, dass in der Stadt nicht nur die eintrittspflichtigen Bereiche der BUGA den Besucher ansprechen sollen, sondern die ganze Innenstadt ein Erlebnis sein soll, ist dem öffentlichen Raum eine verstärkte Beachtung geschenkt worden. Schnell war klar, dass auch die vielen Wegeverbindungen durch die Stadt und die öffentlichen Freiräume in einen präsentablen und einladenden Zustand gebracht werden müssen. Dazu ist es gelungen, im städtischen Haushalt insgesamt über eine Million Euro für die Aufwertung von Wegeflächen, Grünflächen und Ausstattungsgegenständen bereitzustellen. Mit diesem Mitteleinsatz konnten kleinere Stadtplätze aufgewertet und Wegeverbindungen entlang der Havel oder auch vom Hauptbahnhof in die Innenstadt überarbeitet und instandgesetzt werden. Korrespondierend dazu ist das Projekt Mitmach-BUGA durchgeführt worden, ein von 2012 bis 2015 extern begleiteter Partizipations-

Themenblock I: Die grüne Stadt

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prozess zur Aktivierung und Bündelung bürgerschaftlichen Engagements. Viele Ideen für den öffentlichen Raum sind von der Stadtgesellschaft formuliert und auch durchgeführt worden. Anwohner, Schulklassen, Sport- und Jugendclubs haben Pflanzmaßnahmen initiiert und künstlerische Graffittiprojekte umgesetzt. Für die Gestaltung der neuen Spielplätze auf dem Marienberg und auf dem Packhofgelände ist eine umfassende Kinder- und Jugendbeteiligung erfolgt. Besonders hervorzuheben ist das Projekt Bank-Sponsoring, initiiert vom Beirat für Senioren und dem Beirat für Menschen mit Behinderung. Im Ergebnis konnten nicht nur zusätzliche Bänke und Stehhilfen im Wert von über 11.000 Euro für die Innenstadt eingeworben werden, es gibt auch heute noch nach der BUGA Anfragen zu Spendemöglichkeiten. Mit Auswertung der Bundesgartenschau ist festzustellen, dass es gelungen ist, den schon vorher weit vorangeschrittenen Sanierungsprozess für die historischen Stadtkerne der Innenstadt noch einmal massiv zu beschleunigen. Insbesondere die erfolgreiche In-Wertsetzung gleich zwei „Dicker Brocken“ in Verbindung mit einer quasi flächenhaften Quartiersaufwertung und die weitere Aufwertung der innerstädtischen Uferbereiche waren in dieser Geschwindigkeit nicht zu erwarten.

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Dipl.-Ing. Andrea Kutzop, Jahrgang 1966. Dipl.-Ing. Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin. Mitglied bei der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e.V. (SRL) und Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL). Seit 2009 Stadtverwaltung Brandenburg an der Havel, Fachbereichsleitung Stadtplanung.


Steckbrief zur Stadt

Stadt

Brandenburg an der Havel

Bundesland

Brandenburg

Meilensteine der Stadtgeschichte und Stadtentwicklung

→→ 1948: erste urkundliche Erwähnung im Zusammenhang mit der Stiftung des Bistums Brandenburg durch Otto I. →→ 12. Jahrhundert: Baubeginn Dom, Entstehung Alt- und Neustadt →→ 1314/15: Beitritt zur Hanse →→ 1521: „Chur- und Hauptstadt der Mark Brandenburg“ →→ Ab 1820: Industrialisierung →→ 1950: Wiederaufbau des Stahl- und Walzwerkes, Brandenburg wird zum wichtigsten Zentrum der Stahlindustrie, Bau der Wohngebiete Nord und Hohenstücken →→ Ab 1990: Sanierung des historischen Stadtkernes, anfangs im Rahmen des Modellstadt-Programms →→ 1992: Errichtung Fachhochschule Brandenburg →→ 2008: Eröffnung Archäologisches Landesmuseum im Paulikloster →→ 2015: Austragungsort der Bundesgartenschau (BUGA) Havelregion (mit Rathenow, Premnitz, Amt Rhinow, Havelberg)

Einwohnerzahl

71.822 Einwohner (Stand Januar 2016)

Einwohnerentwicklung

aktuell Stabilisierung der Einwohnerzahlen, Bevölkerungsrückgang aufgehalten, positive Zuzugsentwicklung

Gebäudeleerstand

Wohnungsleerstand 10,8 Prozent bezogen auf die Gesamtstadt

Städtebauförderungsprogramme und Jahr der Programmaufnahme

→→ Modellstadtprogramm und Städtebaulicher Denkmalschutz 1990 →→ Stadtumbau Ost 2002 →→ Soziale Stadt 2002

Aktuelle Schwerpunkte der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

Fortsetzung Sanierung Innenstadt und Stadtumbau in Hohenstücken und Nord, Altbauaktivierung und Akteursmobilisierung in der Kernstadt

Zukünftige Herausforderungen der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

→→ Bedarfs- und nachfragegerechte Anpassung des Wohnungsbestandes →→ Fortsetzung Aufwertung Altbaubestände und öffentlicher Raum →→ Fortsetzung Brachflächenentwicklung in der Kernstadt

Erstellt vom Fachbereich Stadtplanung der Stadt Brandenburg an der Havel

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Wallanlagenring mit dem Hohentorspark

Bremer Neustadt – Revitalisierung des Hohentorsparks als innerstädtischer Grünraum Ein Beitrag von Swantje Berthine Knaut, Bereich Planung und Bau, Referat Planung, im Umweltbetrieb Bremen

Der Hohentorspark, Teilstück der geschichtsträchtigen Bremer Wallanlagen, ist ein wichtiger Baustein innerhalb des Sanierungsgebietes Hohentor. Neben seiner Funktion als Naherholungsraum für die umliegenden Quartiere kommt ihm sowohl ­städtebaulich als auch historisch eine besondere Bedeutung zu. Bei der Sanierung spielte die Entstehungsgeschichte der Parkanlage daher eine wichtige Rolle.

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Lage des Hohentorsparks Das Zentrum Bremens setzt sich aus der Altstadt „rechts der Weser“ und der Neustadt „links der Weser“ zusammen. Beide Teile sind von den Wallanlagen eingefasst, die den sogenannten „Inneren Grünring“ um den Bremer Stadtkern bilden. Die Grünanlage erfüllt somit zwei wichtige Funktionen für die Stadt Bremen: Zum einen ist sie der Grün- und Erholungsring im Stadtzentrum, zum anderen bildet sie einen wesentlichen Bestandteil der grünen Lunge Bremens. Entsprechend ihrer Lage wird bei den Wallanlagen


zwischen den „Altstadtswallanlagen“ und den „Neustadtswallanlagen“ unterschieden. Der Hohentorspark bildet einen Teilbereich der Neustadtswallanlagen.

Jahrhundertwende wurde dieser Hohentorshafen verkürzt. Dadurch entstand an der künftigen Stelle des Hohentorsparks das erste Mal eine öffentliche Freifläche. Diese wurde als Markt- und Kirmesfläche genutzt und diente während des Krieges als Exerzierfeld.

Geschichte des Hohentorsparks Die heutigen Wallanlagen folgen zum großen Teil den früheren Befestigungsanlagen. Diese entstanden im 17. Jahrhundert und umschlossen sowohl die bestehende Altstadt als auch die Flächen für die geplante Neustadt. Nach fast 200 Jahren waren die Befestigungsanlagen jedoch marode und entsprachen nicht mehr den militärischen Anforderungen. Sie wurden geschleift und zu einer Parkanlage umgestaltet. Auf der Altstadtseite entstand damit in Bremen die erste von einem Parlament beschlossene öffentliche Grünanlage Deutschlands. Anders in der Neustadt: Dort blieb lediglich der Stadtgraben mit einem parallel verlaufenden Promenadenweg übrig. Nach und nach wurde der Stadtgraben der Neustadtswallanlagen verfüllt und das entstehende Land verschiedenen Nutzungen zugeführt. Der im westlichen Bereich verbleibende Gewässerabschnitt wurde als Hafen genutzt. Um die

Bremens Grüne Krone Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand im Gartenbauamt unter der Leitung des Gartenbaudirektors Erich Ahlers die Idee, auch die Neustadtswallanlagen zu einem Parkband umzugestalten und so im Einklang mit den Altstadtswallanlagen einen grünen Ring um das gesamte Zentrum Bremens zu schaffen. Dieses für die damalige Zeit besondere Konzept des Grünflächenamtes wird bis heute weiter verfolgt und Stück für Stück umgesetzt. Den Anfang bildete damals die Gestaltung des Hohentorsparks. Um diese Teilfläche der Neustadtswallanlagen dauerhaft vor Spekulationen und Bebauung zu sichern, wurde der Park besonders aufwändig im typischen Stil der Zeit angelegt. Der Senkgar-

Haupteingangsbereich nach der Sanierung

Themenblock I: Die grüne Stadt

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gelegten Hohentorspark ein Stück heile Welt. In der Stadt war nur wenig Wohnraum vorhanden, was zu beengten Wohnverhältnissen führte. Der Park bot mit seinen vielen Nischen einen willkommenen Aufenthaltsraum. Die Nischen gaben – und geben noch heute – dem Besucher das Gefühl von einem geborgenen Raum, in dem man auch seine Zweisamkeit ungestört genießen kann. Fotos aus den 1950er Jahren belegen, dass der Park von Beginn an sehr gut angenommen wurde und auch Kindern Raum zum Spielen bot.

Sanierung Nach circa 60 Jahren der Nutzung hatte die Parkanlage einen hohen Sanierungsbedarf. Die Eingänge waren zugewachsen und auch in anderen Teilen der Anlage waren die Strukturen durch zu dichten Bewuchs nicht mehr zu erkennen. Die Sandsteinmauern aus Bremer Schuttsteinen zeigten deutliche Spuren des Zerfalls. Anhand aktueller Luftaufnahmen und der Gegenüberstellung der Pläne aus den 1950er Jahren wurde deutlich, dass der Park damals fast eins zu eins angelegt worden war und die Strukturen bis heute erhalten geblieben sind. Grundriss des Hohentorspark von 2012

Obwohl die Anlage nicht unter Denkmalschutz steht, war es bei der Sanierung von zentraler Bedeutung, sie im Sinne eines Denkmals zu behandeln. Insbesondere der Senkgarten mit seinen Natursteinmauern ist sehr behutsam restauriert worden: Die ursprünglichen Strukturen der Parkanlage wurden durch vorsichtiges Auslichten wieder in den Vordergrund geholt und somit für die Besucher erlebbarer gemacht.

1950er Jahre

Unscharf war auch die Abgrenzung der Parkanlage zu dem benachbarten Güldenhausquartier. Dieses direkt an den Park angrenzende Wohngebiet wird geprägt durch hohen Leerstand und halbverfallene Gebäude. Langfristig ist von der Stadt Bremen geplant, das Güldenhausquartier neu zu gestalten und wiederzubeleben. Wünschenswert war es, bei der neuen Definition der Außengrenze des Parks eine Umwegung des Senkgartens zu ermöglichen und gleichzeitig für die Neugestaltung des angrenzenden Güldenhausquartiers möglichst wenig neue Vorgaben zu schaffen. Beides ließ sich durch eine klare gerade Grenze zwischen den Geländen erreichen.

In der Zeit, in der die Parkanlage entstand, lag die Stadt zu großen Teilen in Trümmern. Viele Gebäude waren zerstört und mittendrin entstand mit dem neuan-

Ein weiterer zentraler Punkt der Planung war die Öffnung aller Eingangsbereiche zu den angrenzenden Flächen. Ein Beispiel hierfür ist der Haupteingang. Vor der

Senkgartenbereich in den 1950er Jahren

ten mit seinen fortwährend blühenden Staudenrabatten war und ist das Herzstück der Anlage.

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Umgestaltung konnte man den Park dahinter kaum erahnen. Der zugewachsene Eingangsbereich wurde offener gestaltet und zwei Figuren aus dem hinteren Teil der Parkanlage dienen nun als adressbildendes Element der Parkanlage. Diese Öffnung schafft darüber hinaus eine optische Verbindung zu dem anschließenden Teil der Wallanlagen, mit dem Effekt, dass sich die gesamte historische Grünanlage wieder sichtbar und erlebbar zu einer Einheit zusammenschließt.

Entwicklung und Ausblick

Swantje Berthine Knaut, Studium der Landschafts- und Freiraumplanung an der Universität Hannover, Diplom 2002.

Diesen Ringschluss verfolgt die Stadt Bremen seit den 1950er Jahren. Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde mit einer umfangreichen Sanierung der Neustadtswallanlagen begonnen. Der zentrale Bereich wurde unter Leitung von Stadtgrün als erster Teil zu einem modernen, lebendigen Stadtpark umgestaltet. Sukzessive folgten die anderen Teile der Neustadtswallanlagen. In den Jahren 1998 bis 2002 schloss sich zum 200-jährigen Jubiläum der Altstadtswallanlagen eine umfangreiche Sanierung der Parkanlage auf der Altstadtseite an.

Beruflicher Werdegang: 2003 bis 2009 Mitarbeiterin bei verschiedenen europäischen Landschaftsarchitekturbüros (u.a. Rheims+Partner in Krefeld, HYL in Paris und West 8 in Rotterdam). Seit 2009 Landschaftsarchitektin im Bereich Planung und Bau von Grün und Freianlagen beim Umweltbetrieb Bremen.

2012 erfolgte dann die Modernisierung des in die Jahre gekommenen Hohentorsparks, sowie 2013 der Bau eines neuen Wohngebietes auf dem Stadtwerder, einer kleinen Halbinsel zwischen Kleiner Weser und Weser, in dessen Zuge eine Parkanlage im Verlauf der ehemaligen Wallanlagen zurückgewonnen werden konnte. 2017 wird voraussichtlich der letzte Teilabschnitt zwischen Altstadts- und Neustadtswallanlagen, der sogenannte Friesenwerder, überarbeitet und als Grünverbindung gestaltet. Um eine durchgängig fußläufige Erreichbarkeit durch den Grüngürtel zu schaffen, wären Wegeverbindungen über die Weser und über die Kleine Weser zum Stadtwerder wünschenswert. Durch die kontinuierlichen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, den grünen Wallring zu erhalten, verfügt die Hansestadt Bremen heute über ein einzigartiges und stadtbildprägendes Element. Mit der Sanierung des Hohentorsparks wurde ein weiterer bedeutender Schritt getan, den grünen Ring um Bremens Stadtkern wieder zu schließen und mit neuem Leben zu füllen.

Veröffentlichungen: In der Zeitschrift Stadtund Raum vom April 2015 „Behutsame Wiederbelebung für den Hohentorspark in der Bremer Neustadt“.

Arbeitsschwerpunkt: Objektbezogene Freiraumplanung für die Stadtgemeinde Bremen.

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Steckbrief zur Stadt

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Stadt

Bremen

Bundesland

Bremen

Meilensteine der Stadtgeschichte und Stadtentwicklung

→→ 780: Karl der Große entsendet den angelsächsischen Missionar Willehad nach Bremen. 782 wird Bremen zum ersten Mal urkundlich erwähnt. →→ 1358: Mitgliedschaft in der Hanse: Bremer Kaufleute betreiben regen Handel mit Flandern, England und Skandinavien und gewinnen zunehmend wirtschaftliche und politische Macht. →→ 1404/1405: Symbole der städtischen Freiheit und Selbstbestimmung: Errichtung des steinernen Rolands und Baubeginn des gotischen Rathauses. →→ 1827: Die Versandung der Weser beeinträchtigt den Schiffsverkehr und damit den Seehandel Bremens. Bremen erwirbt deshalb ein Gelände an der weiter nördlich gelegenen Geestemündung und gründet Bremerhaven. →→ 1888: Anschluss an das Deutsche Zollgebiet und Eröffnung des Freihafen I (später Europahafen). „Weserkorrektion“ ermöglicht Seeschiffen wieder den Zugang bis in die Stadt. Die Anlage weiterer Hafenbecken (Überseehafen, Industrie- und Handelshäfen) folgt. →→ 1944: Die Stadt Bremen, insbesondere die Häfen, wird im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe stark zerstört. Beim schwersten Angriff am 18./19. August 1944 sterben über 1.000 Menschen und ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes wird zerstört. →→ 1945: Die US-Militärregierung setzt Wilhelm Kaisen (SPD) als Bürgermeister und Präsident des Bremer Senats ein. In dieser Position prägt er in den folgenden 20 Jahren den Wiederaufbau der Stadt. →→ 1975: Baubeginn der „Neuen Vahr“, mit fast 12.000 Wohneinheiten das seinerzeit größte Wohnbauprojekt in Deutschland. →→ 1998: Mit der Verfüllung und Überbauung des Überseehafenbeckens beginnt die Umstrukturierung der Hafengebiete zu einem modernen Stadtviertel, der Überseestadt. →→ 2004: Das Bremer Rathaus und der Roland auf dem Marktplatz werden in die UNESCO-Liste des Welterbes der Menschheit aufgenommen.1

Einwohnerzahl

unter 1 Prozent

Einwohnerentwicklung

„Bremen verzeichnet seit dem Jahr 2010 kontinuierlich steigende Einwohnerzahlen. Parallel zu der sich abzeichnenden positiven Entwicklung Bremens als wachsende Stadt hat die in den Jahren 2014/2015 einsetzende Flüchtlingszuwanderung zu einem abrupten, unvorhersehbaren Anstieg der Einwohnerzahl Bremens geführt.“2

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Gebäudeleerstand

Nicht bezifferbar

Städtebauförderungsprogramme und Jahr der Programm­ aufnahme

Stadtumbau West 2004; Dorfentwicklungsprogramm 2012; Städtebauliche Sanierung Stadtbahnhof und -umfeld 2004; Städtebauliche Sanierung Niederhone 2007

Aktuelle Schwerpunkte der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

Umsetzung der Stadtumbauprojekte; Bauen im Bestand; Qualifizierung des öffentlichen Raums; Sanierung der gründerzeitlichen Bausubstanz im Stadtbahnhofbereich; Modernisierung des Gebäude­ bestandes

Zukünftige Herausforderungen der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

→→ Leerfallende Gewerbegebiete, die nicht mehr den heutigen Anforderungen gerecht werden, weiterzuentwickeln →→ Unterbringung von Flüchtlingen, Studenten und Geringverdienern, das heißt verstärkter Wohnungsbau →→ Aufbau von vernetzten und attraktiven Bildungslandschaften

Erstellt vom Bereich Planung und Bau, Referat Planung, des Umweltbetriebs Bremens

1

Statistisches Landesamt Bremen, Bremen in Zahlen 2015, http://www.statistik.bremen.de/de1/detail.php?gsid=bremen65.c.2056.de

2

Vorlage für die Sitzung des Senats am 22. März 2016; Aktualisierung der Bevölkerungsvorausschätzung für das Land Bremen im Lichte der Flüchtlingszuwanderung

Themenblock I: Die grüne Stadt

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Zwischenruf I

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Der Görlitzer Brückenpark dient im Rahmen seiner Freizeitfunktion als Kommunikationsstandort und Begegnungsstätte.

Bedeutung von Grünflächen in historischen Stadtquartieren im Kontext des Klimawandels Ein Beitrag von Sabine Djahanschah, Bundesstiftung Umwelt

Grünflächen stellen wertvolle Bestandteile historischer Stadtquartiere dar. Sie bieten Erholungsmöglichkeiten, haben stadtgestalterische Qualitäten und nicht zuletzt eine Klimatisierungsfunktion für die Stadt. Historische Grünanlagen und Parks sind nicht nur bei Schlössern und Burgen Ausdruck des damaligen Umgangs mit Grünanlagen, sondern auch im städtischen Kontext kaum wegzudenken. Ein renommiertes Beispiel ist die Luisenstadt in Berlin, bei der der ehemalige Luisenstädtische Kanal mit dem Engelbecken als innerstädtischer Freiraum reaktiviert wurde. Der von 1848 bis 1926 bestehende Luisenstädter Kanal wurde von 1926 bis 1945 als

öffentliche Grünfläche umgebaut und genutzt. Während nach 1945 diese Fläche zunehmend verwahrlost war, erfolgte ab 1990 eine Rückführung in eine Grünfläche nach historischem Vorbild, in die auch teilweise durch Ausgrabungen freigelegte Originalbauteile, wie Brunnen und Einfassungen, integriert werden konnten. Während weitgehend in der Grünflächengestaltung als Vorbild die von 1927 bis 1945 entwickelte öffentliche Grünfläche wieder aufgegriffen wurde, konnte für das Engelbecken eine Wasserfläche nach den historischen Vorbildern umgesetzt werden. Neben dem unbestreitbar historischen Wert dieser Grünflächen und der von der Bevölkerung allgemein begrüßten Freizeitfunktion haben solche

Zwischenruf I

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insbesondere städtische Grün- und Wasserflächen zu nennen, die auch als Kalt- und Frischluftschneisen aus dem Umland kühlere Luft in die Stadt transportieren und somit einer Überhitzung des Stadtgebietes wirksam entgegenwirken können. Vor diesem Hintergrund werden Kalt- und/oder Frischluftleitbahnen und ihre Entstehungsgebiete im Städtebau an Bedeutung zunehmen. Die höheren sommerlichen Temperaturen werden verstärkt Kühlungs- und Klimatisierungsmaßnahmen nach sich ziehen und die künftig zu erwartenden Überschwemmungsbereiche werden Nutzungseinschränkungen und substantielle Schäden erwarten lassen.

Historische Parks – wie der Hohentorspark in Bremen – besitzen neben stadtgestalterischen, auch stadtklimatische Qualitäten.

Grünflächen darüber hinaus, gerade in Zeiten des Klimawandels, auch stadtklimatische Bedeutungen. Gerade in den Sommermonaten ist auf Grund des Klimawandels mit einem Anstieg von Hitzeperioden zu rechnen. Die Versiegelungsintensität des Bodens in Großstädten bringt jetzt schon gegenüber dem Land deutlich erhöhte Temperaturen mit sich. Die Folgen des prognostizierten Klimawandels werden sowohl zunehmender Hagel als auch Starkregenereignisse und Hitzeperioden mit sich bringen. In diesem Kontext können Grünflächen wesentliche Ausgleichsfunktionen übernehmen. Gerade in Großstädten wird der Klimawandel zu einer weiteren Verschlechterung des Kleinklimas und hohen sommerlichen Temperaturen führen. Für Köln wurde eine Stadt/Land-Temperaturdifferenz von 10 Grad Celsius durch den Deutschen Wetterdienst festgestellt. Weiterhin wird mit einer deutlichen Zunahme von Sommertagen bis 2050 von 30 bis 70 Prozent und von heißen Tagen um 50 Prozent gerechnet.1 Auch in Hannover werden sich die Sommertage mit über 25 Grad Celsius und die Hitzetage mit über 30 Grad Celsius zum Ende des Jahrhunderts in etwa verdreifachen.2 Hierdurch werden umfangreiche gesundheitliche Auswirkungen gerade für ältere oder geschwächte Personenkreise erwartet, die im Extremfall zu einer Steigerung der Hitzetoten führen können. Der Klimawandel wird Städte vor große Herausforderungen stellen und Risiken für Bewohner, die kommunale Infrastruktur oder das Stadtgrün durch hochsommerliche Extremtemperaturen, Dürreperioden, Stürme und starke Niederschläge mit sich bringen. Für das Stadtklima sind die Kalt- und Frischluft-Produktionsflächen und Austauschbahnen innerhalb des Stadtgebietes von großer Bedeutung. Hier sind

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Stürme und Dürreperioden werden sich auf den Baumbestand auswirken. Die Zuwanderung von Arten wird durch die Temperaturerhöhung verstärkt werden. Im Weiteren wird ein Trockenstress für Straßen, Bäume und Gehölzbestände in Parkanlagen erwartet, aber auch grundwasserferne Waldbestände werden von längeren Trockenperioden in Mitleidenschaft gezogen. Insofern ist es sinnvoll die innerstädtischen Grün- und Freiflächen als Biotop-Verbindung an das Umland anzukoppeln und Grün- und Freiflächen zu erhalten und zu erweitern, um die Kaltluftzufuhr und die Entstehung zu sichern und weiter zu steigern. Auch neue Parkanlagen können das lokale Kleinklima im Stadtquartier verbessern und Freizeitflächen für die Bewohner schaffen. Eine Entsiegelung und Begrünung von großflächig versiegelten Flächen sollte verstärkt geprüft und umgesetzt werden. Eine Sicherung des innerstädtischen Baumbestandes und eine Ausweitung von Baumbestand an Straßenzügen sollte angestrebt werden. Hiermit wird zusätzlich Verschattung und Kühlung der versiegelten Flächen geschaffen. Auch Dach- und Fassadenbegrünungen können einen Beitrag zur Regenwasserrückhaltung und zur Kühlung und Sauerstoffproduktion sowie Staubfilterung leisten. Da in einigen Städten der Wohnflächenbedarf deutlich zunehmen wird, ist grundsätzlich eine Nachverdichtung im Bestand anzustreben, bevor die Siedlungsflächen zu Lasten der Grün- und Freiräume ausgeweitet werden, falls dies stadtklimatisch unbedenklich realisiert werden kann. Auch hier ist darauf zu achten, dass Frischluftund Kaltluftschneisen nicht zugebaut werden und die stadtklimatisch notwendigen Grünflächen eher ausgeweitet werden. Diese Flächenkonkurrenz gilt es im Sinne des Klimaschutzes zu lösen und abzuwägen. Da auch die intensiveren und häufigeren Hochwasserereignisse insbesondere im Winter, sowie die extremeren Starkregenereignisse Folgen für Fließgewässer haben, sind hier Handlungskonzepte und Strategien


zum Umgang mit Hochwasser erforderlich. Aber auch sommerliches Niedrigwasser oder sogar Trockenfallen belasten einerseits die Gewässer, sowie Fauna und Flora und andererseits die Klimatisierungsfunktion des Wassers. Bei Stillgewässern und Quellen kann die zunehmende Erwärmung sogar zur Verschlechterung der Wassergüte und einer Erhöhung des Pflegeaufwands führen. Auch bei Grundwasserständen wird mit größeren Schwankungen im Jahresgang gerechnet. Hier kann durch öffentliche Grünflächen und die Schaffung von zusätzlichen Versickerungsflächen, zum Beispiel auch in Dachbegrünungen oder durch die Verwendung von wassergebundenen Belägen, ein Beitrag eines verzögerten Wasserzuflusses zu den Kanälen und eine deutliche Entlastungsfunktion realisiert werden.

Städtische Grün- und Wasserflächen werden künftig als Kaltund Frischluftschneisen an Bedeutung gewinnen.

Weiterhin führen Grünanlagen grundsätzlich auf Grund der geringeren Aufheizung im Gegensatz zu versiegelten Flächen zu einer Kühlung des Stadtklimas neben den weiteren positiven Effekten der Verschattung, der Sauerstoffproduktion sowie der Staubbindung und Luftfilterung. Zusätzlich sind natürlich die Entspannung der Stadtbevölkerung in Freianlagen und die Bewegungsmöglichkeiten im Zuge der vielfältigen Sport- und Freizeitaktivitäten von hoher Relevanz für eine lebenswerte Stadt. Nicht zuletzt können aufgrund des Klimawandels empfindliche Biotope geschädigt sein und bestimmte Tierund Pflanzenarten allein schon aus klimatischen Gründen keine geeigneten Lebensbedingungen mehr finden. Gerade im städtischen Umfeld werden durch das wärmere Mikroklima diese Prozesse noch beschleunigt. Hier kann auch städtisches Grün einen wichtigen Beitrag durch den ohnehin betriebenen Pflegeaufwand und den bewussten Einsatz von bestimmten Pflanzen und damit zusammenhängenden Tierarten leisten. Das Thema Starkregenereignisse hat zu einem Paradigmenwechsel in der Siedlungsentwässerung geführt. Es wird insbesondere auf einen oberflächlichen Rückhalt des Regenwassers gesetzt sowie eine Speicherung auf Freiflächen und ein Rückhalt in der Siedlungsfläche durch urbane Retentionsräume angestrebt. In diesem Kontext leisten auch historische Parks und Grünflächen einen wichtigen Beitrag zu Klimaanpassungsmaßnahmen. Qualitätsvolle Stadtentwicklung 1

wird immer daran gemessen werden, dass die Vielzahl der Anforderungen an unsere Städte als moderne und zukunftsfähige, aber auch nachhaltige Lebensräume erhalten bleiben und entwickelt werden können.

Sabine Djahanschah, Jahrgang 1964. Seit 1996 Leiterin des Referats für Architektur und Bauwesen der Deutschen Bundesstiftung Umwelt DBU. Architekturstudium in Aachen. Beruflicher Werdegang: Freie Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros; staatlich anerkannte Sachverständige für Schall- und Wärmeschutz; Mitglied des International Advisory Boards der Uni Stuttgart, des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur und des Kuratoriums des Fraunhofer Institut für Bauphysik. Seit 2012 Mitglied der Expertengruppe Städte­baulicher Denkmalschutz.

LANDESAMT FÜR NATUR; UMWELT UND VERBRAUCHERSCHUTZ NRW, 2013 , Klimagerechte Metropole Köln Abschlussbericht, LANUV-Fachbericht 50, Recklinghausen, S. 69, S.72.

2

LANDESAMT FÜR BERGBAU; ENERGIE UND GEOLOGIE, GeoBerichte 18, 2011, Klimafolgenmanagement in der Metropolregion Hannover – Braunschweig – Göttingen, Hannover, S. 12.

Zwischenruf I

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Themenblock II: Die bewegte Stadt 36

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Ortsdurchfahrt in Templin: Mittelstreifen als linear wirksame Querungshilfe

Mobilität in der historischen Innenstadt Ein Beitrag von Prof. Dr. Herbert Staadt, StaadtPlan Ingenieur GmbH

Einführung In der Stadt- und Verkehrsplanung wird unter dem Begriff „Mobilität“ die Summe aller Ortsveränderungen verstanden, die Personen im öffentlichen Raum durchführen. Die Gewährleistung dieser Mobilität stellt eine unverzichtbare Voraussetzung für die Bewältigung des Alltags dar, da viele unserer Aktivitäten wie zum Beispiel das Arbeiten, das Einkaufen oder die Ausbildung nicht mehr im privaten Umfeld erledigt werden können. Neben dieser Zweck- oder Zwangsmobilität kann auch das Unterwegssein der Zweck der Mobilität sein, beispielsweise beim Spazierengehen. Während die zuerst genannte Form der Mobilität eher dem Alltagsverkehr zuzuordnen ist, gehört die zweite Form eher

in den Bereich des Freizeitverkehrs. In historischen Innenstädten sind beide Mobilitätsformen von Bedeutung. Die Alltagsmobilität wird maßgeblich durch Art, Umfang und Lage der Nutzungen in einer Stadt bestimmt. Mobilität kann somit maßgeblich durch die Stadtentwicklungsplanung beeinflusst werden. Kurze Distanzen zwischen den Nutzungen ermöglichen höhere Anteile von Fuß- und Radverkehr am Gesamtverkehrsaufkommen, da diese beiden Verkehrsarten insbesondere bei geringen Entfernungen Vorteile gegenüber anderen Verkehrsarten aufweisen. Die Länge der Entfernungen zur Erledigung der Alltagsaktivitäten hängt entscheidend von der Nutzungsmischung in einem Stadtgebiet ab. Stadtentwicklungsplanung ist deshalb unverzichtbarer Bestandteil der Mobilitätsplanung und umgekehrt. Freizeitverkehr wird bestimmt von der Qualität des öffentlichen Raumes,

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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in dem er stattfindet. Straßen sind nicht nur Verkehrsanlagen, die Verbindungs- und Erschließungsfunktionen erfüllen müssen. Sie sind gleichzeitig auch ein Identifikationsraum, der eine möglichst hohe Aufenthaltsqualität gewährleisten sollte.

Problemstellung Die Ansprüche der Verbindungsfunktion einerseits und der Aufenthaltsfunktion andererseits an die Gestaltung eines Straßenraumes widersprechen sich in vielen Fällen. Die Mobilität im öffentlichen (Straßen-)Raum tritt in Form von unterschiedlichen Verkehrsarten auf: dem motorisierten Individualverkehr (MIV), dem kollektiven öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sowie dem Rad- und Fußverkehr als nicht motorisiertem Individualverkehr (NMIV). Neben ökonomischen und umwelttechnischen Aspekten unterscheiden sich die genannten Verkehrsarten vor allem im Hinblick auf ihren Flächenanspruch. Der MIV erzeugt sowohl im fließenden als auch im ruhenden Verkehr die höchsten Flächenansprüche. Da in historischen Stadtkernen die verfügbaren Flächen häufig begrenzt sind, leitet sich daraus die Forderung ab, den Anteil des MIV an der Gesamtmobilität möglichst gering zu halten. Allerdings darf die Einschränkung des MIV nicht dazu führen, dass wichtige Nutzungen für die Funktionsfähigkeit der Stadtkerne verdrängt werden. Die geringsten Flächenansprüche haben Rad- und Fußverkehr. Ihre Anteile an der Gesamtmobilität sind im Bereich der kurzen Wege (Nahmobilität) besonders hoch. Hier schließt sich wieder der Kreis zur Stadtentwicklungsplanung, die mit einer Förderung einer kleinteiligen Nutzungsmischung den Anteil der Nahmobilität erhöhen kann. Hierfür bieten historische Stadtkerne häufig gute Voraussetzungen. Der angestrebten Nutzungsmischung stehen allerdings zum Teil planungsrechtliche, bauordnungsrechtliche und umwelttechnische Regulierungen entgegen. Eine kritische Überprüfung dieser Regelungen wäre hilfreich.

Instrumente zur Beeinflussung des MIV-Anteils an der Gesamtmobilität Neben der Stadtentwicklungsplanung als langfristigem Instrument steht den Kommunen die Regulierung des öffentlich zugänglichen Stellplatzangebotes als wirkungsvolles und kurzfristig einsetzbares Instrument zur Verfügung, um den Anteil des MIV an der Gesamtmobilität zu beeinflussen. Da jeder private Personen-

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kraftwagen (PKW) im Durchschnitt nur rund eine Stunde pro Tag bewegt wird, ist die Fläche zum Abstellen dieser Fahrzeuge eine wichtige Voraussetzung für den MIV. In historischen Stadtkernen können die erforderlichen Stellplätze häufig auf den privaten Grundstücken nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung gestellt werden. Das Bewohnerparken ermöglicht die bevorzugte Bereitstellung von öffentlichen Stellplätzen, um die Ansprüche dieser Nutzergruppe zu erfüllen. Mit dieser Maßnahme kann das Wohnen als wichtige Funktion der historischen Stadtkerne gestärkt werden. Die zeitlich beschränkte Nutzung oder die kostenpflichtige Bewirtschaftung von öffentlichen Stellplätzen kann dazu beitragen, die dauerhafte Belegung dieser Stellplätze zum Beispiel durch Beschäftigte zu vermeiden und die dadurch frei werdenden Stellplätze den Besuchern beziehungsweise Kunden zur Verfügung zu stellen. Mit einer Staffelung von Parkgebühren für zentral gelegene Stellplätze (hohe Gebühren) und für peripher gelegene Stellplätze (niedrige Gebühren oder kostenlose Benutzung) lassen sich eine gleichmäßigere Auslastung erreichen, Parksuchverkehr vermeiden und sensible Kerngebiete von unerwünschtem MIV entlasten. Das Parkraummanagement stellt ein vielseitig einsetzbares Instrument zur Beeinflussung des MIV dar und hat gleichzeitig den Vorteil, dass die Kommunen es in eigener Verantwortung anwenden und umsetzen können.

Betriebliche und bauliche Neuordnung der Verkehrsanlagen Zusätzlich bleiben die klassischen Instrumente der betrieblichen und baulichen Neuordnung der Verkehrs­ anlagen. Bei den betrieblichen Maßnahmen steht die Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit des MIV im Vordergrund. Leider schreibt die Straßenverkehrsordnung (StVO) noch immer 50 Kilometer pro Stunde als „Regelgeschwindigkeit“ vor. Eine Beschränkung der Geschwindigkeit auf einen geringeren Wert bedarf der Zustimmung und der Anordnung der Straßenverkehrsbehörde. Die Absenkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 Kilometer pro Stunde als Regelgeschwindigkeit ist überfällig und sollte mit einer Umkehrung der Beweislast verbunden werden Im deutschen Straßenverkehrsrecht fehlt noch immer eine Regelung für einen verkehrsberuhigten Bereich in Innenstädten – nach dem Muster der Begegnungszone in der Schweiz – als Ersatz für die halbherzige Zonenregelung des verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches. In der Praxis haben inzwischen ausgeführte Beispiele


jedoch gezeigt, dass die bauliche Gestaltung dieser Bereiche maßgebend ist und die verkehrsrechtliche Regelung nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Gut gestaltete Straßen und Plätze funktionieren als selbsterklärende Verkehrsanlagen auch ohne Beschilderung.

Verkehrsberuhigung durch einstreifige Fahrbahnabschnitte Einbahnstraßenregelungen in historischen Stadtkernen sind grundsätzlich zu überprüfen. Sie erzeugen im Vergleich zum Zweirichtungsverkehr nachweislich höhere Fahrleistungen im MIV verbunden mit höheren Luftschadstoff- und Lärmemissionen. Obwohl der Radverkehr inzwischen in Einbahnstraßen entgegen der für den MIV vorgeschriebenen Fahrtrichtung zugelassen werden darf, stellen sie eine psychologische Barriere im Radwegenetz dar. In Einbahnstraßen wird im MIV wegen des fehlenden Gegenverkehrs in der Tendenz unaufmerksamer und schneller gefahren. Mangelnde Fahrbahnbreiten sind als Argument für Einbahnstraßenregelungen nur selten gerechtfertigt. Einstreifig befahrbare Fahrbahnabschnitte sind bei

geringen bis mittleren Belastungen im MIV unproblematisch, wenn aus beiden Fahrtrichtungen ausreichende Sichtbedingungen gegeben sind. In der Fachliteratur wird immer wieder eine Länge von 50 Meter als Grenz­ wert für einstreifige Fahrbahnabschnitte genannt. Die Praxis hat gezeigt, dass der in der Fachliteratur genannte Grenzwert für die Länge von einstreifigen Fahrbahnabschnitten innerorts deutlich überschritten werden kann. Die einstreifigen Fahrbahnabschnitte können zur Verkehrsberuhigung im MIV beitragen.

Fußgängerfreundliche Straßenraumentwürfe Eine hohe Aufenthaltsqualität setzt voraus, dass dem Fußverkehr ausreichend dimensionierte Verkehrsflächen zur Verfügung stehen und dass die Trennwirkung von Fahrbahnen oder anderen Verkehrstrassen minimiert werden. Mit der Einführung der „Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06)“ hat für den Straßenraumentwurf ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Während der Straßenentwurf früher von einer erforderlichen Fahrbahnbreite ausging, die die Breite der verbleibenden Restflächen im Seitenraum

?????

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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bestimmte, beginnt der Straßenentwurf heute mit den Ansprüchen des Fußverkehrs im Seitenraum. Erst danach wird geprüft, welche Flächen für die Fahrbahn verbleiben. Auch die Empfehlung von Proportionen von 60 Prozent für die Seitenräume und 40 Prozent für die Fahrbahn ist für die städtebauliche Gestaltung von Straßenräumen hilfreich und sollte genutzt werden. Die Trennwirkung von Fahrbahnen hängt maßgeblich von der Verkehrsstärke und von der Geschwindigkeit des MIV ab. Auf die Möglichkeiten der Entschleunigung des MIV wurde bereits eigegangen. Zusätzlich können punktuell oder linienhaft wirksame Maßnahmen eingesetzt werden. Punktuell wirksame Maßnahmen (Mittelinsel, Fußgängerüberweg, Lichtsignalanlage) sind nur dann sinnvoll, wenn der Querungsbedarf des Fußverkehrs gebündelt an der betreffenden Stelle besteht. Hauptgeschäftsstraßen in historischen Stadtkernen erzeugen eher einen linienhaften oder flächenhaften Querungsbedarf. Hier haben sich Mittelstreifen als bauliche Maßnahme bewährt, wenn die Straßenbreite die Anlage zulässt. Ansonsten kommen als betriebliche Maßnahmen die Gestaltung kurzer Straßenabschnitte nach dem Shared-Space-Prinzip oder die Verringerung der Belastungen im MIV durch verkehrslenkende Maßnahmen in Frage. Die Funktionsfähigkeit dieser Bereiche wird maßgeblich durch ein ausgewogenes Mengenverhältnis zwischen NMIV und MIV bestimmt.

Prof. Dr. Herbert Staadt, geboren 1947 in Wiesbaden, 1966 bis 1972 Studium des Bauingenieurwesens an der Technischen Hochschule (TU) Darmstadt, 1972 Diplom mit der Vertiefungsrichtung Eisenbahn-, Straßenund Verkehrswesen. Beruflicher Werdegang: 1973 bis 1978 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der TU Darmstadt bei Univ.-Prof. Dr.- Ing. Hans-Georg Retzko; 1978 Gründung des Ingenieurbüros StaadtPlan und Beginn der selbstständigen Tätigkeit als Beratender Ingenieur für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik; 1979 Promotion an der TU Darmstadt; 1994 bis 2012 Professur für Verkehrswesen an der Fachhochschule Potsdam; seit April 2012 Fortsetzung der Tätigkeit als Beratender Ingenieur.

Ausblick Auch in Zukunft wird die Mobilität in historischen Stadtkernen maßgebend durch den MIV geprägt sein. Elektroantrieb und Carsharing werden diesen Sachverhalt nicht entscheidend ändern. Mobilitätskonzepte sollten deshalb darauf ausgerichtet sein, den Anteil des MIV an der Gesamtmobilität auf das erforderliche Maß zu beschränken und gleichzeitig die Verkehrsarten des Umweltverbundes (ÖPNV, Rad- und Fußverkehr) zu fördern. Dabei sollten nicht nur Maßnahmen ergriffen werden, die den MIV einschränken sondern die auch sinnvolle Alternativen anbieten. Veränderungen der Mobilität sind langfristig zu erlangen. Die gewünschten Ziele lassen sich nicht mit der einen richtigen Maßnahme erreichen sondern nur durch eine Kombination von Maßnahmen aus unterschiedlichen Bereichen. Mobilitätsstrategien sollten als integrierter Bestandteil der Kommunalpolitik aufgefasst werden und stellen eine Daueraufgabe dar. Die Umsetzung und Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen benötigen als wichtige Voraussetzung die Akzeptanz der Betroffenen. Das erfordert die Vorbereitung und die Begleitung durch eine intensive Bürgerbeteiligung.

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Arbeitsschwerpunkte: Erarbeitung von zahl­ reichen Studien, Konzepten und Gutachten für Klein- und Mittelstädte im Bereich der Verkehrsentwicklungsplanung, häufig in Zu­ sammenarbeit mit Stadtplanern; Mitwirkung in Wettbewerben als Teilnehmer und als Preisrichter. Mitglied der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V., der Ingenieurkammer des Landes Brandenburg und der Vereinigung der Straßen- und Verkehrsingenieure Berlin-Brandenburg, Mitglied im Konvent der Bundestiftung Baukultur für das Land Brandenburg.


Transportrad- Initiative

Masterplan Mobilität Konstanz 2020+ Ein Beitrag von Marion Klose, Amt für Stadtplanung und Umwelt der Stadt Konstanz

Ausgangslage Die Stadt Konstanz als größte Stadt am Bodensee mit rund 84.000 Einwohnern zeichnet sich durch wirtschaftliche Dynamik, kulturellen Reichtum und einen hohen Freizeitwert aus.

Konstanz wächst. Die Prognosen des Landes Baden-Württemberg gehen für die Stadt Konstanz auch weiterhin von einem Bevölkerungswachstum aus. Der Zuwachs erfolgt in erster Linie durch Zuwanderung – und einer konstanten Zunahme der Studierendenzahlen der Universität Konstanz und der HTWG.

Sie ist als lebendige Touristen- und Einkaufsstadt mit einem historisch geprägten Stadtzentrum ein Besuchermagnet für Gäste aus Nah und Fern. Konstanz ist Hochschulstandort mit einer Exzellenzuniversität sowie einer Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung (HTWG). Sie ist wirtschaftliches Oberzentrum in der Region Hochrhein-Bodensee. Die Konstanzer Altstadt ist in den Kriegen des letzten Jahrhunderts vor Zerstörungen verschont geblieben, das gesamte Ensemble der Altstadt steht komplett unter Denkmalschutz.

Durch eine prosperierende Stadtentwicklung und den verstärkten Verflechtungen innerhalb des Grenzraumes zur Schweiz hat auch das Verkehrswachstum stetig zugenommen, insbesondere im Kraftfahrzeug (Kfz)-Verkehr. Die räumliche Entwicklung folgt auch zukünftig konsequent dem Leitbild der Stadt der kurzen Wege mit der Zielsetzung, die Stadtteilzentren zu stärken, Entwicklungen entlang der Achsen des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) zu gestalten, das Radverkehrsnetz auszubauen und den Um-

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Luftbild Konstanz

weltverbund zu fördern.1 Die mit der demografischen Entwicklung verbundenen Anforderungen im Hinblick auf die fußläufige Erreichbarkeit und die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raums und der Verkehrssysteme sind auch zukünftig notwendige Aufgaben.

Integriertes Verkehrskonzept Konstanz hat in der Vergangenheit gute Erfahrungen mit einer Verkehrspolitik gemacht, die attraktive Verkehrsangebote für alle Verkehrsarten anbietet. Mit dem Masterplan Mobilität Konstanz 2020+ soll dieser strategische Grundgedanke der Wahlfreiheit der Verkehrsmittel fortgeführt werden. In einem Integrierten Verkehrskonzept werden die formulierten Ziele sowie die Konzepte und Maßnahmen aus den Handlungsfeldern auf die konkrete räumliche Ebene und die einzelnen Verkehrsträger heruntergebrochen. Das Integrierte Verkehrskonzept entsteht durch Überlagerung von Einzelkonzepten für den Fußverkehr, den

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Radverkehr, den Öffentlichen Personennahverkehr und den Motorisierten Individualverkehr (MIV) und zeigt die Zielkonflikte auf. Entsprechend der Aufgabe des Masterplans Mobilität Konstanz 2020+, einen Rahmen für die Verkehrsentwicklung im nächsten Jahrzehnt zu setzen, trifft das Integrierte Verkehrskonzept Aussagen zu den grundlegenden Netzen und Infrastruktureinrichtungen für alle Verkehrsarten und zu den Qualitätsstandards bei der Umsetzung. Zwölf Handlungsfelder beinhalten Konzepte und Maßnahmen, mit denen die angestrebten Ziele erreicht werden sollen. Dazu gehören Maßnahmen für den Fußverkehr, den Radverkehr, den öffentlichen Verkehr, den Schiffsverkehr und den fließenden und ruhenden motorisierten Individualverkehr, ergänzt um Maßnahmen in den Bereichen Siedlung, Städtebau und Gestaltung, die in unterschiedlichen Zusammenhängen ihre Wirkungen entfalten und sich gegenseitig positiv beeinflussen sollen. Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur stößt in Konstanz an Grenzen. Eine weitere Zunahme von Kfz-Verkehrsbelastungen ist kaum mehr verträglich abzuwickeln.


Verkehrliche Oberziele für den Masterplan Mobilität2

OZ 1

Förderung eines umweltbewussten Verkehrsverhaltens bei Stärkung der Multimodalität

OZ 2

Stärkung des Umweltverbunds (ÖPNV, Fuß- und Radverkehr, Fährverkehr) beim Ausbau des Verkehrssystems

OZ 3

Verbesserung des Verkehrsablaufs im verbleibenden Motorisierten ­Individualverkehr

OZ 4

Reduzierung der verkehrsbedingten Emissionen und CO2-Belastungen

OZ 5

Erhöhung der Verkehrssicherheit

OZ 6

Anpassung des Verkehrssystems und seiner Infrastruktur an den ­demografischen Wandel

OZ 7

Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für eine „Stadt der kurzen Wege“

OZ 8

Stärkung des Agglomerationsraums Konstanz / Kreuzlingen und ­Förderung einer stadtverträglichen, grenzüberschreitenden Mobilität

OZ 9

Aufwertung des öffentlichen Straßenraums bei Stärkung der Aufenthaltsfunktion

OZ 10

Ausbau der Partizipation / Einbeziehung der Bevölkerung in die Ausgestaltung des Verkehrssystems und seiner Entwicklung

Der Masterplan Mobilität Konstanz 2020+ setzt daher konsequent auf eine Push-and-Pull-Strategie durch Schaffung alternativer Mobilitätsangebote zur Kfz-Nutzung und Förderung von Maßnahmen zur Reduzierung der Kfz-Nutzung, um die Bürgerinnen und Bürger beim Umstieg zu unterstützen beziehungsweise diesen zu fördern (pull).3

Maßnahme eine Neuordnung des Innenstadtverkehrs unter Bevorrechtigung des ÖPNV. Der Gemeinderat der Stadt hat mit dem sogenannten „C-Konzept“ eine Neuordnung des Altstadtrings beschlossen. Durch eine Verlagerung des Kfz-Verkehrs können die zentralen Stadträume Altstadt – Bahnhof – Marktstätte – Fischmarkt – Bodensee besser verknüpft und insbesondere für Fußgänger attraktiv gestaltet werden.

Neuordnung des Innenstadtverkehrs – Das „C-Konzept“

An Verknüpfungspunkten zwischen Schienen und Busverkehr sollen attraktive Voraussetzungen für den barrierefreien Umstieg geschaffen werden. Zudem wird die Radverkehrsführung auf dem gesamten Altstadtring deutlich verbessert.

Die hohe Zunahme insbesondere an grenzüberschreitendem Einkaufsverkehr erfordert als dringlichste

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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Handlungsprogramm Radverkehr In diesem Jahr wurden mit dem Handlungsprogramm Radverkehr4 die strategischen Ziele des Masterplan Mobilität 2020+ auf die konkrete Maßnahmenebene überführt. Damit wurde ein wichtiger Grundstein gelegt zur Qualifizierung und Stärkung des Radverkehrs in Konstanz. Die Stadt kann mit einer gut ausgebauten Radverkehrsinfrastruktur in erheblichem Maße zur Entlastung des Gesamtverkehrsaufkommens beitragen. In Konstanz soll das Radfahren noch attraktiver, sicherer und komfortabler werden. Neben der Weiterentwicklung der Handlungsfelder des Masterplans Mobilität wurden eine Vielzahl an Sofortmaßnahmen bereits umgesetzt. Die Stadt hat verschiedene ambitionierte Modellprojekte auf den Weg gebracht, die für eine nachhaltige Mobilität stehen.

wirtschaft werden bei dem Transportradmietsystem als Partner dabei sein oder bereits bestehende Modellprojekte um eigene Mietsysteme ergänzen.

Parkraumbewirtschaftung Paradies Der Masterplan Mobilität Konstanz 2020+ verfolgt die Zielsetzung das Bewohnerparken in Bereichen mit Nutzungskonkurrenzen zu stärken und das Parkleitsystem, mit Hinweisen auf „Park and Ride“ (P+R) auszubauen. Im letzten Jahr wurde mit der Parkraumbewirtschaftung Paradies die Neuordnung der Park­ raumbewirtschaftung im linksrheinischen Stadtteil Paradies zur Vermeidung von Parksuchverkehren beschlossen und in diesem Jahr bereits umgesetzt.

Stärkung des ÖPNV Aktuell wird mit TINK, die Transportrad-Initiative nachhaltiger Kommunen, ein integriertes Konzept zur gemeinschaftlichen Nutzung von Transporträdern und Fahrradanhängern entwickelt und erprobt. Mehrere Partner aus Wirtschaft, Einzelhandel und Wohnungs-

Eine Stärkung des Stadtbussystems durch eine konsequente Bevorrechtigung des ÖPNV bildet auch zukünftig einen wichtigen Baustein im Gesamtverkehrssystem. Mit dem neuen Nah-

Mobilitätsmanagement Vernetzung mit der Region / Fernmobilität

1

3 2

4

6

Umweltverbund

Verkehrssteuerung

Nahmobilität 7

Tourismus 10

8

Siedlung und Verkehr

5

Parken

Stadtverträgliche Straßenraumgestaltung 9 Spitzentage

Handlungsfelder im Masterplan Mobilität 2020+

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Vernetzung der Verkehrsträger

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11

Logistik

12 Alternative Antriebe


verkehrsplan soll auch zukünftig ein Angebot geschaffen werden, dass eine gute Erschließung der Gesamtstadt genauso gewährleistet wie ein attraktives Umsteigen vom MIV auf den ÖPNV. Die Bushaltestellen werden im Rahmen eines Qualifizierungsprogrammes sukzessive barrierefrei umgebaut. Durch den Bau von Mobilpunkten soll an wichtigen Knotenpunkten der Umstieg deutlich verbessert und die Multimodalität erweitert werden. Als mittel- bis langfristige Perspektive wird in der Agglomeration Konstanz-Kreuzlingen die Entwicklung eines grenzüberschreitenden S-Bahnsystems überprüft, das die Städte und Gemeinden im Agglomerationsraum besser vernetzt. Zudem wird mit Blick auf die weitere Wohnungsbauentwicklung und der Entwicklung eines ganz neuen Stadtteils in Ergänzung zum Bussystem ein neues öffentliches Verkehrssystem überprüft. Neben klassischen Systemen wie einer Stadtbahn könnte aufgrund der begrenzten Flächenverfügbarkeit im Straßenraum ein urbanes Seilbahnsystem eine gute Alternative darstellen.

Dipl.- Ing. Stadtbaudirektorin Marion Klose, Jahrgang 1975, Studium der Architektur an der Leibniz Universität Hannover. Beruflicher Werdegang: Referendariat, Schwerpunkt Städtebau, bei der Stadt Wolfsburg, tätig als Stadtplanerin in Wolfsburg und Hannover Leiterin des Stadtplanungsamtes in Friedrichshafen; seit 2012 Leiterin des Amtes für Stadtplanung und Umwelt in Konstanz.

Ausblick Eine zukunftsfähige Stadtentwicklung erfordert ein tragfähiges Mobilitätskonzept, das weiterentwickelt werden kann, das die einzelnen Verkehrsträger integriert betrachtet und die Zielkonflikte herausarbeitet. Gerade die große Bedeutung der Altstadt erfordert eine behutsame und verantwortungsbewusste Stadt- und Verkehrsentwicklung. Der Straßenraum bestimmt entscheidend die historische Struktur der Altstadt, er prägt das Zentrum und Stadtbild und bietet Orientierung. Ein verantwortungsbewusster Umgang mit dem Verkehrsraum erfordert neben der Betrachtung der verkehrsgerechten Funktion die Betrachtung aller Nutzungsansprüche und Funktionen im öffentlichen Raum.

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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Steckbrief zur Stadt

Stadt

Konstanz

Bundesland

Baden-Württemberg →→ →→ →→ →→

→→ →→

→→

Meilensteine der Stadtgeschichte und Stadtentwicklung

→→ →→ →→ →→ →→ →→ →→ →→ →→ →→ →→ →→

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Keltische und römische Ursprünge auf linksrheinischen Münsterhügel Um 300 nach Christus: Bau des spätrömischen Kastells Constantia Um 600: Gründung des Bischofssitzes Im 10. Jahrhundert: Ausbau zur ottonischen Bischofsstadt mit Befestigung der Niederburg und Bischofsburg sowie Anlage eines Kirchenkranzes um die Bischofskirche Im 10./11. Jahrhundert: Jahrhundert Ausbau zum bürgerlichen Markt rund um die Stephanskirche Ab dem späten 11. Jahrhundert: Stadterweiterungen nach Norden Richtung Rhein, nach Osten Richtung Bodensee und nach Süden Richtung Thurgau, dabei etappenweise Auffschüttung der Flachwasserzone; Entwicklung zur Reichstadt und zur Handelsstadt des Bürgertums, zugleich Ausbau zum geistlichen Zentrum durch Ansiedelung zahlreicher Klöster Im 14./15. Jahrhundert: Einbeziehung der Vorstädte und Vollendung der spätmittelalterlichen Stadtmauer mit neuer Hafenmole vor dem 1391 vollendeten Kaufhaus 1414-1418: Konstanzer Konzil 1526: Einführung der Reformation mit Verlagerung der bischöfichen Hofhaltung nach Meersburg Ab 1548: vorderösterreichisch, Rekatholisierung und Rückkehr des Domkapitels 1604: Gründung des Jesuitenkollegs als Hort der Gegenreformation Ab 1785: Aufhebung der Klöster, im mittleren 19. Jahrhundert weit­ gehender Abbruch der Stadtbefestigung Ab ca. 1860 links- und rechtsrheinische Stadterweiterungen, Ansiedlung von Textil- und chemischer Industrie am Seerheinufer Nach 1918: weitere Stadterweiterungen mit Fokus auf genossenschaftlichen Wohnungsbau Nach 1945: weiterer Ausbau der Stadt vorrangig rechtsrheinisch mit Ausbau der Gewerbegebiete beiderseits der Reichenaustraße, 1966 Gründung der Universität Ab 1969: Anlage des Campus auf dem Giesberg Ab 1980: Altstadtsanierung Ab 1990: Konversion der Industrie am Seerhein und generelle Attraktivierung der Uferbereiche

Einwohnerzahl

84.290 Einwohner (Stand: 31. Dezember 2015)

Einwohnerentwicklung

+ 11 Prozent (in 10 Jahren)

Gebäudeleerstand

-

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Städtebauförderungsprogramme und Jahr der Programm­ aufnahme

Aktuelle Schwerpunkte der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

Zukünftige Herausforderungen der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

Stadtumbau West Bahnhof Petershausen(2004) Aktive Stadt- und Ortsteilzentren Altstadt mit Niederburg und Erweiterungen (2012) Stadtsanierung: →→ 1. Stadtumbau West Bahnhof Petershausen: Konversion der Bahnbrache mit Neuordnung der sich anschließenden Bereiche. →→ 2. Aktive Stadt- und Ortsteilzentren Altstadt mit Niederburg und Erweiterungen Sanierung der Altstadt →→ Umsetzung C Konzept Stadtentwicklung: →→ Handlungsprogramm Wohnen mit 5300 Wohneinheiten bis 2030 →→ Umsetzung der Beschlüsse zur Quantität und Qualität/Sozialen Stabilität →→ Fortschreibung Gewerbeflächen- und Einzelhandelskonzept →→ Agglomerationsprogramm Konstanz Kreuzlingen

Fortschreibung Handlungsprogramm Wohnen auf der Grundlage weiter steigender Prognosen für Konstanz.

Erstellt durch das Amt für Stadtplanung und Umwelt der Stadt Konstanz

1

Masterplan Mobilität Konstanz 2020+, Endbericht, StetePlanung Darmstadt, 2013.

2

Ebenda.

3

Ebenda.

4

Handlungsprogramm Radverkehr, Konstanz 2016, Stadt- und Verkehrsplanungsbüro Kaulen.

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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Hauptplatz Landsberg am Lech

Städtebauförderung in Bayern – Ein Leitfaden auf dem Weg zur barrierefreien Gemeinde Ein Beitrag von Armin Keller und Ulrike Mannhart, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr

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Barrierefreiheit im öffentlichen Raum erleichtert die alltägliche Mobilität und erhöht die Lebensqualität für alle, unabhängig von Alter, Art und Umfang einer etwaigen Beeinträchtigung. Eine Stadtgestaltung ohne bauliche Hindernisse ermöglicht allen Menschen, den öffentlichen Raum selbstbestimmt und selbstständig nutzen zu können und am öffentlichen Leben teilzunehmen.

dar. Hier sind auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung oder Mobilitätseinschränkungen mit den Belangen des Denkmalschutzes in Einklang zu bringen. Da die Belange von Menschen mit Behinderung konkret im bayerischen Denkmalschutzgesetz (DSchG Artikel 6 Absatz 4) benannt sind, kommt ihnen beim Erlaubnisverfahren nach Artikel 6 DSchG (Maßnahmen an Baudenkmälern) eine besondere Bedeutung zu.

Im historischen Ensemble und bei erhaltenswerter historischer Bausubstanz stellt die Gewährleistung der Barrierefreiheit eine besondere Herausforderung

In der Städtebauförderung sind die Belange von Menschen mit Behinderung und die Barrierefreiheit in allen rechtlichen Grundlagen enthalten. Sie sind

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als Querschnittsaufgabe in der Verwaltungsvereinbarung Städtebauförderung und den Bayerischen Städtebauförderungsrichtlinien verankert. Städte und Gemeinden werden beim Abbau von Barrieren beraten und finanziell unterstützt. Insbesondere im Bund-Länder-Städtebauförderungsprogramm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ können bau- und kulturhistorisch bedeutende Stadt- und Ortszentren für Einheimische wie Besucher alltagstauglich gestaltet und zukunftsweisend weiterentwickelt werden. Ein besonders gelungenes Beispiel für den Umbau eines öffentlichen Raums in einem denkmalgeschützten Ensemble kann in Landsberg am Lech besichtigt werden. Hier wurde mit Mitteln der Städtebauförderung der identifikationsstiftende Hauptplatz vorbildlich umgestaltet, Barrieren wurden abgebaut und die stark frequentierte Fahrstraße verlagert. „Das Herz der Stadt“ wurde nach den Wünschen der Bürgerinnen und Bürger umgestaltet, ohne die historischen Wurzeln des Hauptplatzes aus den Augen zu verlieren. Die beispielhafte Sanierung des Hauptplatzes wurde mit einem bayerischen Landespreis ausgezeichnet. Entscheidend für Erfolg und Akzeptanz eines Projekts sind ein guter

Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern, Planern, Experten, Behindertenbeiräten und -verbänden. Denn mitunter lässt sich eine Barrierefreiheit im denkmalgeschützten Bereich nur mit Einschränkungen realisieren. Für die Planung von barrierefreien öffentlichen Räumen gibt es kein Patentrezept. Lösungen müssen individuell vor Ort erarbeitet werden. Dennoch gibt es Herausforderungen, die sich in vielen Kommunen wiederfinden. Um den bayerischen Städten und Gemeinden bei der Planung der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum eine Hilfestellung zu geben, hat die Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr im Jahr 2014 im Rahmen des von Herrn Ministerpräsident Seehofer initiierten Programms „Bayern barrierefrei 2023“ das Modellvorhaben „Die barrierefreie Gemeinde“ gestartet. Sechzehn bayerische Städte und Gemeinden unterschiedlicher Größe, mit regionalen Besonderheiten und spezifischen örtlichen Herausforderungen wie starke Höhenunterschiede oder unter Ensembleschutz stehende Altstädte wurden hierfür ausgewählt. Zudem werden alle sechszehn Städte und Gemeinden im Rahmen der Städtebauförderung unterstützt.

Stadtaufgang Günzburg

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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Die Modellgemeinden erarbeiteten in rund sechs Monaten sogenannte „gemeindliche Aktionspläne“. Dieser Aktionsplan bildet den örtlichen Handlungs­ bedarf ab, definiert barrierefreie Wegeketten und priorisiert die Maßnahmen. Als städtebauliches Konzept dient er den Städten und Gemeinden als „roter Faden“ für die Realisierung der Barrierefreiheit und stellt sicher, dass alle Projekte sinnvoll ineinander greifen. Im bestehenden öffentlichen Raum können sich die Städte und Gemeinden nur schrittweise der Barrierefreiheit annähern. Der Aktionsplan ermöglicht eine systematische Vorgehensweise und bildet vor Ort eine Planungs- und Entscheidungsbasis für die zukünftige Umsetzung der Barrierefreiheit.

zu realisieren. Mit dem Leitfaden „Die barrierefreie Gemeinde“ wird den bayerischen Städten und Gemeinden eine Planungshilfe zur Verfügung gestellt für den langen, jedoch lohnenden Weg zur Barrierefreiheit. Der gemeindliche Aktionsplan „Barrierefreiheit“ ergänzt die Planungsinstrumente der städtebaulichen Erneuerung. Als städtebauliches Konzept trägt er dazu bei, den Abbau von Barrieren im Planungsalltag zu festigen und so dem Ziel der Barrierefreiheit näher zu kommen. Die Schaffung von Barrierefreiheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nur schrittweise umgesetzt werden kann. Im Sinne einer nachhaltigen Stadterneuerung stellt sie eine Investition in die Zukunft der Städte und Gemeinden dar. Denn sie erhöht die Attraktivität der Stadt- und Ortszentren und trägt dazu bei, dass historische Bausubstanz mit Leben erfüllt ist.

Die Modellphase wurde mit Hilfe einer Begleitforschung durch das Planungsbüro Professor Dr. Franz Pesch (pesch partner architekten I stadtplaner, Dortmund / Stuttgart) wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Die Ergebnisse der Modellgemeinden sind in einem Leitfaden zusammengefasst, der bereits an alle bayerischen Städte und Gemeinden versandt wurde. Der Leitfaden gibt Tipps für eine strukturierte Herangehensweise, zeigt Planungsinstrumente auf, stellt Alternativen dar und beleuchtet übertragbare Lösungsansätze für häufige Problemstellungen. Praktische Übersichten und Schaubilder fassen die wichtigsten Schritte zusammen. Der Leitfaden hilft den Städten und Gemeinden, den Weg zu einer barrierefreien Gemeinde zu organisieren und im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern, Planern, Vertretern von Verbänden, Dienstleistern und Gewerbetreibenden einen Aktionsplan zu entwickeln, der auf die ortsspezifischen Herausforderungen und verfügbaren Haushaltsmittel eingeht. In einem weiteren Schritt wurden die einzelnen Aktionspläne mit ihren individuellen Besonderheiten und Schwerpunktsetzungen in einem Werkbericht veröffentlicht. Über das Broschüren-Bestellportal der Bayerischen Staatsregierung kann der Leitfaden bezogen werden. Auf den Seiten des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr steht zudem eine barrierefreie Version des Leitfadens zum Download bereit.

Titel „Die barrierefreie Gemeinde - Ein Leitfaden“

Fazit Besonders im historisch wertvollen Bestand bedarf es für die Umsetzung der Barrierefreiheit planerisches Einfühlungsvermögen und Kreativität um individuelle Lösungen zu entwickeln, zu diskutieren und

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Armin Keller, seit Dezember 2006 Leiter des Sachgebiets Städtebauförderung an der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern für Bau und Verkehr; Architekturstudium an der Technischen Universität München. Beruflicher Werdegang: Tätigkeit in Architekturbüros, 2. Staatsprüfung (Regierungsbaumeister), Ortsplanungsstelle für Schwaben, Oberste Baubehörde, 2001 bis 2006 Leiter des Sachgebiets Städtebau an der Regierung von Oberbayern.

Ulrike Mannhart, seit Dezember 2012 Referentin im Sachgebiet Städtebauförderung an der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern für Bau und Verkehr; Studium der Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart, in Chicago und Straßburg. Beruflicher Werdegang: Tätigkeit in Architekturbüros, 2. Staatsprüfung (Regierungsbaumeister), Vermögen und Bau Baden-Württemberg; Absolventin der Führungsakademie Baden-Württemberg; Referentin im Ministerium für Finanzen und Wirtschaft, Baden-Württemberg.

Zum Weiterlesen http://www.stmi.bayern.de/assets/stmi/sug/die_barrierefreie_gemeinde_barrierefrei.pdf Quellen: Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr: Bayerischer Landeswettbewerb 2014 „Modellhafte Stadt- und Ortssanierung: Lebensräume für die Bürger“, Dokumentation der Wettbewerbsergebnisse Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr: Die barrierefreie Gemeinde - Ein Leitfaden (2015) Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr: Die barrierefreie Gemeinde - Ein Werkbericht (2015) Verwaltungsvereinbarung Städtebauförderung 2015 über die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes an die Länder nach Artikel 104 b des Grundgesetzes zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen vom 18. Dezember 2014 / 18. April 2015. Richtlinien zur Förderung städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen (Städtebauförderungsrichtlinien – StBauFR) vom 8. Dezember 2006, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 9. November 2015

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Moritzburg mit neuem Eingang zur barrierefreien Erschließung, Rampe und Schlossparkgelände

Zeitz auf dem Weg zur barrierefreien Kommune Ein Beitrag von Christian Villiers, Fachbereich Technisches Zeitz, Sachgebiet Stadtentwicklung der Stadt Zeitz

Die Städte Zeitz, Naumburg und Magdeburg sind 2011 als Preisträger aus dem fünften Landeswettbewerb „Auf dem Weg zur barrierefreien Kommune“ des Ministeriums für Landesentwicklung und Verkehr Sachsen-Anhalt hervorgegangen. Die Stadt Zeitz errang den ersten Preis und somit den Anspruch auf eine bevorzugte Bewilligung von Fördermitteln aus dem Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ in Höhe von 500.000 Euro. Bei der Preisverleihung in Magdeburg würdigte Thomas Webel, Minister für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt, die vielfältigen Bemühungen der Wettbewerbsteilnehmer, die Belange von Menschen mit Behinderung zu einem festen Bestandteil der städtebaulichen Entwicklung zu machen.

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Barrierefreiheit für Alle Das Ziel der Stadt Zeitz ist mobilitätseingeschränkte Menschen in ein barrierefreies Wohn- und Lebensumfeld zu integrieren. Bei allen Investitionsvorhaben werden bereits im Rahmen der Bauplanung Vorkehrungen getroffen, um gehandicapten und allen sonstigen bewegungs- oder sinneswahrnehmungseingeschränkten Personen die Benutzung des öffentlichen Raumes und der öffentlich zugänglichen Gebäude angemessen zu ermöglichen und ihnen damit das Leben in der Gemeinschaft zu erleichtern. Darüber hinaus wird das Thema einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht, denn „Barrierefreiheit für Alle“ bezieht auch diejenigen mit ein, die mit Kinderwagen unterwegs


oder nur vorübergehend – bedingt durch Krankheit oder Unfall – in ihrer Bewegung eingeschränkt sind. Hierzu gehört sowohl die Verknüpfung zwischen öffentlichen und individuellen Verkehrsträgern im Zusammenhang mit der Komplettierung der weit vorangeschrittenen Ausweisung von Stellplätzen für Behinderte, als auch das Beseitigen von baulichen Barrieren wie Eingangsschwellen in Gebäuden oder die Ergänzung von Treppen durch Rampenanlagen im öffentlichen Freiraum. Gerade letzteres stellt in der Stadt Zeitz eine enorme Herausforderung dar, da es im Siedlungsgebiet zwischen Unter- und Oberstadt eine Höhendifferenz von 30 bis 50 Metern gibt. In diesem Zusammenhang kann die Stadt Zeitz auf eine seit Jahren sehr intensive Zusammenarbeit mit dem Behindertenbeirat des Burgenlandkreises, der Regionalgruppe Zeitz sowie der Regionalgruppe Zeitz des Blindenund Sehbehindertenverbandes Sachsen-Anhalt e. V. zurückgreifen. Auf dieser Grundlage wurden in der Vergangenheit Maßnahmen durchgeführt, die auf eine barrierefreie Umwelt abgestimmt wurden. Auch im öffentlichen Raum sind bereits in der Vergangenheit barrierefreie Erschließungsanlagen unterschiedlichster Art realisiert worden. Herauszustellen ist dabei das Gelände der Landesgartenschau Sachsen-Anhalts 2004, welches als zentraler Veranstaltungs- und Verweilbereich in der Stadt mit seiner barrierefreien Anlage eine behindertengerechte Zugangs- und Bewegungsfreiheit bietet. Heute ist der Schlosspark Kernbestandteil des landesweiten Tourismusprojektes „Gartenträume“. Mit seiner barocken Orangerie und einem klassizistischen Badehäuschen sind hier verschiedene Themengärten, Spielplätze sowie weitere Anziehungspunkte zu entdecken. Es konnte im Zuge von öffentlichen Baumaßnahmen fast der gesamte Weg vom Bahnhof bis zur Moritzburg barrierefrei gestaltet werden. Hier sorgen Bordabsenkungen, ein Leitsystem aus taktilen Bodenplatten – in Form von Noppen- und Rillenplatten – sowie die akustische Ausstattung der Ampeln für eine ungehinderte und gefahrenreduzierte Mobilität. Dies ermöglicht es mit dem Zug in Zeitz anzukommen und nahezu barrierefrei zum Schlossparkgelände mit der Moritzburg zu gelangen.

Wettbewerbsbeitrag „Auf Messers Schneide. Zeitz 2014 – Barrierefreier Stadtrundgang zur Lutherdekade“ Seit Ende der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts spielte das Naumburger Bistum mit der Zeitzer Residenz

Neuer Eingangsbereich für die Austellungen in der Moritzburg

der Bischöfe für den Fortgang der Reformation eine herausragende Rolle. Entscheidenden Anteil daran hatten die beiden letzten Naumburger Bischöfe, der Protestant Nikolaus von Amsdorf und der Katholik Julius von Pflug. Resultierend ist es für die Stadt Zeitz und die vereinigten Domstifter eine unvergleichliche Möglichkeit, die kulturelle Bedeutung der Stadt in Mitteldeutschland – dem Kernland der Reformation im 16. Jahrhundert – herauszuarbeiten und im Stadtgebiet durchgängig barrierefrei erlebbar werden zu lassen. Im Wettbewerbsbeitrag der Stadt Zeitz geht es darum, mit den geförderten Maßnahmen einen barrierefreien Stadtrundgang zu den Sehenswürdigkeiten und Ausstellungsorten zu organisieren, bei welchem ergänzend zu den bereits bestehenden barrierefreien Standards entlang dieses Weges Maßnahmen durch die Stadt Zeitz realisiert werden sollen, die diesem Anspruch gerecht werden können. Angeboten werden soll eine barrierefreie Wegeführung vom Bahnhof über das Schloss Moritzburg und den Dom sowie die Zeitzer Stiftsbibliothek im Torhaus der Moritzburg zur Michaeliskirche und dem Franziskanerkloster. Weiter soll dieser Weg über den Bereich des Marktes und die Fußgängerzone sowie den Wendischen Berg zurück zum

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Lage der Stadt nicht eine barrierefreie Erschließung um jeden Preis. Vielmehr ist die Orientierung auf eine angemessene und situationsentsprechende Bereitstellung der Möglichkeit gemeinsamer Teilhabe in Bezug auf die Erreichbarkeit der genannten Ausstellungsorte sowie den weiteren, am Rundweg befindlichen Kulminationspunkten öffentlichen Lebens bedeutend.

Schloss Moritzburg, Zeitz. Neu verlegter Gehwegbelag im Innenhof, Planung: Ingenieurbüro TBV GmbH, Bauzeit: 2014/2015.

Zeitz, Moritzburg: Einbau des neuen Treppenhauses und Aufzuges, Planung: Mara Pinardi Architekten, Bauzeit: 2013 bis 2014.

Moritzburg mit neuem Eingang zur barrierefreien Erschließung, Rampe und Schlossparkgelände

Bahnhof verlaufen. Die hierzu erforderlichen Maßnahmen bedeuten jedoch mit Blick auf die topografische

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Im Bereich Domherrenstraße/Rahnestraße und somit zwischen den Bushaltestellen Brühlcenter und Michaeliskirche wird somit im Taktverkehr auf das Beförderungsangebot des öffentlichen Personennahverkehrs in seiner barrierefreien Zugänglichkeitsform zurückgegriffen. Gleiches ist auf dem letzten Teil des Rundweges von der Haltestelle Schützenstraße über den Wendischen Berg, die Donaliesstraße zur Baenschstraße und damit zurück zum Bahnhof vorgesehen. Zwischen diesen beiden Bustransfers ist der barrierefreie Ausbau im städtischen Kontext bereits gegeben beziehungsweise wird dieser durch entsprechende Anpassungsmaßnahmen noch ergänzt.Kernstück des Wettbewerbsbeitrages ist der Einbau des Aufzuges mit angelagertem Treppenhaus an der Nordwestecke des Schlosses, der die barrierefreie Erschließung der Ausstellungsbereiche und des Festsaales im Schlosskomplex sowohl vom Schlosshof als auch vom Schlosspark – dem ehemaligen Landesgartenschaugelände – ermöglicht. Durch diesen Aufzug im Torhaus der Moritzburg besteht die Möglichkeit die Stiftsbibliothek der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz sowie die Lutheridenbibliothek und damit unter anderem die herausragende Büchersammlung Julius von Pflugs (1500 bis 1564), einem von 1547 bis 1564 in Zeitz residierenden Bischoff von Naumburg und Wegbereiter des Augsburgers Religionsfriedens, zu erreichen. Neben dieser wissenschaftlichen Spezialbibliothek befindet sich im Torhaus, dem östlichen Zugang zur barocken Schlossanlage, das kunst- und museumspädagogische Zentrum „Johannes Lebek“ und eine offene Druckerwerkstatt. Auch diese Bereiche können über den vorhandenen Aufzug barrierefrei erreicht werden. So können alle interessierten Kinder, Erwachsene, Studierende und Künstler sich hier in museumspädagogischen Projekten, Grafikworkshops und Holzschnittkursen erproben. Neben einer denkmalgerechten Einordnung der Aufzugsanlage in die Bausubstanz des Schlosses ist der Einbau einer neuen Treppenanlage erforderlich, welche – vom neu geschaffenen Zugang von der Bastion – das Erdgeschoss und darüber hinaus die weiteren Geschossebenen erschließt und mit einem neu gestalteten Haupteingangsbereich im Schlosshof in unmittelbarer Verbindung steht. Im


Zusammenhang mit dieser Neuordnung der Haupterschließungssituation für die Besucher der Moritzburg wurde im Bereich des Schlosshofes und der Bastion das vorhandene Natursteinpflaster in Teilbereichen durch Fugenverguss aufgearbeitet und durch einen Gehweg mit Plattenbelag ergänzt –bewegungsfähig eingeschränkten oder sehbehinderten Besuchern wird so eine einfachere Begeh- und Befahrbarkeit ermöglicht. Die Neugestaltung der Haupteingangssituation durch Verlagerung in die nordwestliche Ecke des Schlosshofes bewirkt die Abkehr vom vorher nicht barrierefrei erreichbaren Besucherempfang mit der dreistufigen Außentreppe. Gleiches gilt für die übrigen Geschosse des Schlossbaus, welche nur über eine in den frühen 1980er Jahren hergestellte Treppen- und Podestanlage sowie die repräsentative Haupttreppe besucht werden konnte. Der Eingriff in die Gebäudesubstanz der Moritzburg geschah durch Abgrabung und Einbau einer neuen Bodenplatte auf Sockelhöhe, in Verbindung mit einem Durchbruch der Gründungs- und Kellermauern des Schlosses. Der neue Zugang ist circa drei Meter unter dem Niveau des bestehenden Erdgeschossfußbodens des Schlosses. In diesem Zugangsbereich befindet sich neben dem Aufzug auch der Beginn der Treppenanlage zum Erdgeschoss, welche alternativ zum Hauptzugang über das Schlossportal von der Seite des Schlossparks begangen werden kann. Vom Erdgeschoss mit dem neuen Besucherempfang verläuft die Treppenanlage im Bereich des Aufzuges weiter über die Ausstellungsebenen im ersten und zweiten Obergeschoss. Der Einbau des Aufzuges, welcher auf Grund der begrenzten Platzund Höhenverhältnisse ein maschinenraumloser Seilaufzug ist, ist in seiner Transparenz auch mit Rücksicht auf die historische Bausubstanz des Schlossbaukörpers angelegt, um einen möglichst geringen optischen Eingriff zu bewirken. Die Aufzugskabine erfüllt die Anforderungen an eine rollstuhlgerechte Aufzugsanlage. Um mit ihm alle notwendigerweise zu erschließenden Ebenen des Schlosses zu erreichen sind fünf Haltepunkte erforderlich. Über diese sind neben der Dauerausstellung „Kinderwagen – Kinderjahre“, welche die Geschichte der Zeitzer Kinderwagenindustrie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart dokumentiert, zahlreiche wechselnde Sonderausstellungen sowie Präsentationen zeitgenössischer Künstler als Angebot des hier etablierten Zeitzer Museums zu erreichen. In zahlreichen Sammlungen befinden sich derzeit mehr als 200.000 Sachzeugen der Industrie- und Stadtgeschichte, Ur- und Frühgeschichte, Kunstgeschichte, Ethnografie, Fotografie und Naturkunde.

Dipl. - Ing. Christian Villiers, Jahrgang 1960, Leitung des Stadtplanungsamtes der Stadt Zeitz; Studium der Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin. Beruflicher Werdegang: Projekt- und Büro­ leiter bei der Planungsgruppe IKOS, Berlin. Projektleiter für Städtebau und Stadtsanierung bei der Sachsen-Anhaltinischen Landes­ entwicklungsgesellschaft (SALEG), Halle/ Saale. Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr (heute: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt) Berlin; Abteilung III: Betreuung des Potsdamer- und Leipziger-Platz-Projektes, Bezirksamt Schöneberg, Abteilung Bau- und Wohnungswesen - Stadtplanungsamt. Arbeitsschwerpunkte: Bebauungspläne, Flächennutzungsplanung, städtebauliche Wettbewerbe, Städtebauförderung. Veröffentlichungen, unter anderem: Fazit der Modellstadt Zeitz, in: Modellvorhaben zur energetischen Stadterneuerung in Städten der Bundesländer Brandenburg und Sachsen-­Anhalt, herausgegeben: BBSR - Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Bonn, Mai 2011. „Intelligentes Verkehrskonzept spart Kilometer in der Stadt Zeitz“, in: Erfolge kommunalen Klimaschutzes in ­Sachsen-Anhalt, Beispielhafte Projekte, herausgegeben vom Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt des Landes Sachsen-­ Anhalt, Magdeburg, September 2014.

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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Steckbrief zur Stadt

Stadt

Zeitz

Bundesland

Sachsen-Anhalt

Einwohnerzahl

29.284

Einwohnerentwicklung

1831: 9.769 1875: 16.480 1925: 34.590 1939: 36.229 1960: 45.142 1995: 36.195 2006: 28.117 2011: 31.021

Gebäudeleerstand

ca. 15 Prozent

Städtebauförderungsprogramme und Jahr der Programm­ aufnahme

Stadtsanierung Städtebaulicher Denkmalschutz Stadtumbau Ost Aktive Ortsteilzentren Soziale Stadt, 2002

Aktuelle Schwerpunkte der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

Zukünftige Herausforderungen der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

→→ →→ →→ →→

Stadtumbau: Leerstandsbeseitigung Innenentwicklung Gewerbeansiedlung auf Brachflächen Teilnahme am Operationellen Programm für den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung des Landes Sachsen-Anhalt 2014 bis 2020 in Verbindung mit Stadtumbaumaßnahmen Programmbereich Aufwertung

→→ →→ →→ →→

Stadtumbau Klimaschutz Innenentwicklung Anpassung an den demographischen Wandel / barrierefreies Planen und Bauen

Erstellt vom Fachbereich Technisches Zeitz, Sachgebiet Stadtentwicklung der Stadt Zeitz

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Zwischenruf II

Themenblock II: Die bewegte Stadt

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Luftbild der Stadt Zwickau. Der Dr.-Friedrichs-Ring markiert deutlich den Verlauf der ehemaligen Stadtbefestigungsanlagen und die Grenzen der mittelalterlichen Stadt.

Ringanlagen in Sachsen gestern und heute Ein Beitrag von Silke Epple, Dipl.-Ing. Landschaftsarchitektur

Als grüne Bänder durchziehen sie unsere Städte, umschließen ringförmig die mittelalterlichen Innenstadtkerne und laden zum ausgiebigen Spaziergang um die ganze Stadt ein. Hier kann inmitten der Hektik der Urbanität gestaltete Natur erlebt werden. Ihre besondere Form erlaubt dem Spaziergänger das Abschweifen auf gewundenen Parkwegen und dem Eiligen das schnelle Durchqueren. Ringanlagen sind Zeugnisse der ehemaligen Stadtbefestigungsanlagen, die aufgrund ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit als Verteidigungsanlagen der Erholungsnutzung weichen mussten. Sie stehen für das Repräsentationsbedürfnis einer selbstbewussten Bürgerschaft und der Sehnsucht nach mehr Grün in unseren Städten.

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Die meisten Städte Deutschlands waren im Verlauf des Stadtentstehungsprozesses zu ihrer Verteidigung befestigt worden. Dienten ursprünglich oft Erdwälle, Holz- und Flechtzäune zur Sicherung der Siedlungen, wurden diese seit dem hohen Mittelalter durch von Gräben geschützte Steinmauern mit Bastionen und Zwingermauern abgelöst. Ab dem 15./16. Jahrhundert, in dem sich mit der Verwendung von Schießpulver der Gebrauch von Geschützen einbürgerte, etablierten sich in immer stärkerem Maße aufwendige bastionäre Befestigungssysteme.1 Ende des 18. Jahrhunderts verloren die Stadtbefestigungsanlagen immer mehr an Bedeutung. Durch die stark anwachsende Stadtbevölkerung, die beginnende Industrialisierung und den damit verbundenen Flächenmangel drängte die Stadtent-


wicklung immer mehr nach außerhalb der Stadtmauern. Hinzu kam die wachsende Erkenntnis, dass die Befestigungswerke mit der ständig fortschreitenden Belagerungs- und Kriegstechnik nicht mehr Schritt halten konnten, und man begann in einer Vielzahl von Städten mit deren Abtragung. Waren bisher neu gewonnene Flächen vor allem für die Überbauung genutzt worden, kam nun – wohl auch aufgrund der Verdichtung – der Wunsch nach öffentlichen Grünanlagen in der Bürgerschaft auf. In einigen wohlhabenden sächsischen Städten, wie zum Beispiel Pirna, Löbau, Zittau oder Bautzen, nutzte man die Schleifung der Stadtbefestigung, um großzügige Parkanlagen zu schaffen. Die reiche Handelsstadt Leipzig nahm hierbei eine Vorreiterrolle ein. Dort begann man bereits 1777 mit dem Rückbau der Befestigungsanlagen und schuf mit dem Promenadenring den ältesten städtischen Landschaftspark Deutschlands und ein bedeutendes Gartenkunstwerk, das internationale Bekanntheit erlangte.2 Anderenorts legte man Promenierwege an und begnügte sich mit der Ausgestaltung einiger besonderer Plätze. So wurde in Annaberg ab 1827 eine Allee aus Rosskastanien und Linden gepflanzt, die die gesamte Stadt umschloss. Bis Ende des 19. Jahrhunderts schuf man in verschiedenen Bereichen des ehemaligen Stadtgrabens kleine Grünanlagen, um die Promenade aufzuwerten. Ähnlich ging man in Grimma vor, wo man 1878 die von Linden bestandene Promenade durch den Schwanenteichpark ergänzte. In Zwickau wählte man einen anderen Weg. Hier war das neu gewonnene Gelände mit der Maßgabe, auf diesen Flächen Gärten anzulegen, an Private verkauft worden. Auch in anderen Städten Sachsens hatte man auf einem Teil der Grundstücke Privatgärten angelegt, so zum Beispiel in Dippoldiswalde, Geithain, Oschatz und Pegau. Doch nur in Zwickau wurde dieser Weg in größter Konsequenz umgesetzt. Die Gärten bildeten einen geschlossenen Ring um die Innenstadt, der wiederum mit einer angrenzenden Baumreihe eine optische Einheit bildete. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden diese privaten Anlagen in öffentliche Grünanlagen umgewidmet und teilweise umgestaltet. 3 Die Entfestigung der Residenzstadt Dresden begann 1809, vermutlich auf Veranlassung Napoleons I. Es gab zwar auch in Dresden Forderungen, öffentliche Promenaden für die Bürger zu schaffen, doch bei der Umset-

zung begnügten sich die Einwohner Dresdens mit relativ kleinen Anlagen. So entstand hier keine geschlosse Ringanlage, wurden der Öffentlichkeit aber zwei der bekanntesten Dresdener Grünanlagen gewidmet: Die Brühlsche Terrasse war die erste Grünanlage, die im Rahmen der Entfestigung zwar nicht neu geschaffen, 1814/15 aber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Die Zweite entstand ab 1823 nach Entwürfen des königlichen Hofbaumeisters Gottlob Friedrich Thormeyer: die wunderbare, vielgenutzte Gartenanlage im Bereich des Wallgrabens am Zwinger.4 Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich das rasante Bevölkerungswachstum in den Städten nochmals. Den Städten boten die Flächen der ehemaligen Fortifikationsanlagen auch willkommenen Platz für neue öffentliche Repräsentationsbauten. Verkehrsmäßig gut erreichbar und mit Nähe zur Innenstadt waren sie nahezu ideal für Theater, Opernhäuser, Bibliotheken, Museen, Schulen und Kirchen. Das bekannteste Beispiel und vielerorts Vorbild für die Errichtung repräsentativer öffentlicher Bauten im Bereich der ehemaligen Stadtbefestigung ist die 1862 angelegte Wiener Ringstraße.5 Für Sachsen ist wiederum Leipzig mit der Bebauung des Promenadenringes als prägend zu bezeichnen. Dort entstanden schon ab 1830 der Hauptbau der Universität (Augusteum, 1830), das Bildermuseum (1856/58), das Neue Theater (1864) und das Neue Rathaus (1905). Leipzig kann hinsichtlich seiner Promenaden-Konzipierung als das älteste Beispiel in Europa bezeichnet werden, musste aber im zweiten Weltkrieg gravierende Verluste hinnehmen.6 Die Ringanlagen prägen das Erscheinungsbild der Städte also in vielerlei Hinsicht. Die Festungsanlagen bildeten einst das Zwischenglied zwischen der bebauten Stadt und der freien Landschaft. Heute haben das Wachstum der Städte und die ständig weiter schreitende Bildung neuer Vorstädte diese Nahtstellen zwischen Stadt und Land verwischt. Nur die Ringanlagen machen dem vom Stadtrand Kommenden deutlich, dass er diese grünen Gürtel durchquerend die Altstadt betritt. Aufgrund ihrer geschichtlichen, städtebaulichen und auch gartenkünstlerischen Bedeutung sind Ringanlagen Objekte des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege. In Sachsen sind zwanzig dieser Anlagen in ihrer Gesamtheit oder in Teilen erhalten geblieben und die meisten von ihnen stehen unter Denkmalschutz.

Zwischenruf II

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Gartenanlage am Zwinger in Dresden

Aufgrund ihres Zeugniswertes und ihrer Seltenheit steht ihre Erhaltung im Interesse der Öffentlichkeit. Trotz ihrer großen Bedeutung, die sich auch in wertsteigernden Einflüssen auf die umliegenden Stadtgebiete ausdrücken, sind die Ringanlagen in den letzten Jahrzehnten immer mehr unter Nutzungsdruck geraten. Begehrlichkeiten, diese wertvollen noch unbebauten Flächen für die Erweiterung von Verkehrsflächen oder die Errichtung von Immobilien in Anspruch zu nehmen, können oft nur mit Mühe abgewehrt werden. Doch auch die Nutzung der Grünfläche als solche, zum Beispiel für Sportveranstaltungen, Parkfeste, Gastronomie oder als Kulisse für Kunstevents, stellt eine nicht unerhebliche Belastung für unsere Grünanlagen dar. Die Zahl der temporären Nutzungen steigt seit Jahren, so dass eine Übernutzung keine Seltenheit darstellt. Die historischen Grünanlagen werden durch unangemessenen Gebrauch abgenutzt und beschädigt, für die Regeneration bleibt keine Zeit. Auch die schrumpfenden Budgets der Grünflächenämter erfüllen mit Sorge, ist doch die Folge, dass die

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notwendige Pflege, ohne die historische Grünanlagen nicht erhalten werden können, auf ein Minimum reduziert wird oder ganz ausbleibt. Dabei ist es Zeit, sich mit den Folgen des Klimawandels auf unsere Grünanlagen zu beschäftigen und auf die sich wandelnden Umweltbedingungen Antworten zu finden. Ansteigende Temperaturen und lange Trockenheitsphasen belasten die wertvollen Altgehölzbestände, die oft deutliche Stresssymptome zeigen. Sich schnell verändernden Bedingungen stehen die langen Entwicklungszeiten der Pflanzungen entgegen, so dass großer Handlungsbedarf besteht. Denkmalschutz und Denkmalpflege mit ihrem bewahrenden Anspruch stehen hier Aufgaben gegenüber, die manches Mal dem Kampf gegen Windmühlenflügel gleicht.


Dipl.-Ing. Silke Epple, Jahrgang 1977. 1996 bis 2002 Studium der Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität (TU) Dresden.

Brühlsche Terrasse in Dresden

Promenadenring Leipzig: Bürgermeister-Müller-Denkmal

Beruflicher Werdegang: 2003 bis 2006 wissen­schaftliches Volontariat im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen; seit 2007 freiberufliche Tätigkeit als Gartendenkmalpflegerin; 2009 bis 2013 Anstellung im Büro für Bauforschung und Architektur A.+A. Kern in Dresden; 2013 bis 2015 Anstellung als Gartenerfasserin im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Veröffentlichungen: Alter Katholischer Friedhof, Dresden (Aufsatz). In: Bund Heimat und Umwelt (BHU) (Hrsg.): Historische Friedhöfe in Deutschland. Bonn 2007. Bürgerwiese, Dresden (Aufsatz). In: Bund Heimat und Umwelt (BHU) (Hrsg.): Weißbuch der historischen Gärten und Parks in den neuen Bundesländern. Bonn 2005. Barockgarten Großsedlitz, Heidenau (Aufsatz). In: Bund Heimat und Umwelt (BHU) (Hrsg.): Weißbuch der historischen Gärten und Parks in den neuen Bundesländern. Bonn 2005.

1

Bernatzky, Alois (1960): Von der mittelalterlichen Stadtbefestigung zu den Wallgrünflächen von heute. Sarstedt. S. 7.

2

Franz, Kathrin (2004): Der grüne Promenadenring. Hrsg: Stadt Leipzig, Grünflächenamt. Leipzig. S. 2.

4

Epple, Silke (2008): Denkmalpflegerische Rahmenzielstellung für die Ringanlage Dr.-Friedrichs-Ring Zwickau. Dresden (unveröffentlicht). S. 45-48.

4

Butenschön, Sylvia (2007): Geschichte des Dresdner Stadtgrüns. Berlin. S. 95-133.

5

Bernatzky, Alois (1960): Von der mittelalterlichen Stadtbefestigung zu den Wallgrünflächen von heute. Sarstedt. S. 23ff.

6

Franz, Kathrin (2004): Der grüne Promenadenring. Hrsg: Stadt Leipzig, Grünflächenamt. Leipzig. S. 14.

Zwischenruf II

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Themenblock III: Die gelebte Stadt 62

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Architektur aktiviert gelebten, städtischen Raum

Der gelebte Raum – Zusammenspiel von Architektur und städtischem Raum Ein Beitrag von Dr. Jörg Heiler, heilergeiger architekten und stadtplaner bda

Raum in der Stadt(landschaft) Historische Städte sind heute Teil der polyzentrischen, europäischen Stadtlandschaften. Das Bild der europäischen Stadt bezieht sich allerdings immer noch auf die Altstadt, obwohl diese nur noch von einem Fünftel der Bevölkerung bewohnt wird und der Stadt-Land-Gegensatz aufgehoben ist. Lefebvres Metapher von den „Trümmern der historischen Stadt“1, die weit hinausgeschleudert neue Stadtformen entstehen ließen, macht das anschaulich. Städtischer Raum ist also in Verbindung mit den neuen Stadtlandschaftsstrukturen zu betrachten. Nicht zu ver-

gessen ist auch, dass historische Städte unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstanden sind.

Bild? Raum! Daher stellt sich die Frage, ob die Altstädte heute noch Orte für Interaktion und Inklusion oder erstarrtes Postkarten-Bild und konservierte Kulisse sind? Dazu gehört auch die Frage, ob eine der zentralen Ideen der Moderne und der industriellen Epoche – die Funktionalisierung von Raum und Trennung von Unterschiedlichem – auch die historische Stadt prägt?

Themenblock III: Die gelebte Stadt

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Es gibt jedoch gute Gründe, nach wie vor zu behaupten, dass Städte, insbesondere historische, das Vermögen haben, vielfältige Beziehungen, Handlungen und Unterschiedliches gleichzeitig zu ermöglichen. Gefragt ist hierfür eine andere Kultur des Raumes.

Gelebter Raum: Ein erweitertes Raum­ verständnis und Potenzial Beim gelebten Raum geht es um ein über Bild, Objekt und physischen Behälter hinausgehendes Raumverständnis. Raum wird hier vielmehr als Beziehung zwischen Mensch und Welt interpretiert. „Wir hätten es in der Architektur also nicht mit Bauwerken einerseits und mit deren Benutzern andererseits zu tun, sondern mit komplexen ‚räumlichen Situationen‘.“2 Die Perspektive des gelebten Raumes ermöglicht, die Komplexität und das Zusammenspiel von Architektur und städtischem Raum wahrnehmen und entwerfen zu können. Protagonisten des gelebten Raumes sind Henri Lefebvre und Karlfried von Dürckheim, die jeweils unterschiedlich dessen Potenziale erforscht haben. Lefebvre sieht als Soziologe, Philosoph und politischer Aktivist den Raum der Stadt als Produkt gesellschaftlicher Prozesse. Als etwas, das ständig neu von den Menschen geschaffen wird. Dürckheims psychologischer und phänomenologischer Ansatz untersucht dahingegen die vielschichtige, räumliche Beziehung zwischen dem individuellen Menschen und der leiblich-sinnlich und psychisch erfahrenen Welt. Beide Denker verbindet, dass Raum eng mit dem Handeln und der Interaktion der Menschen verbunden ist. Auf Basis dieses Raumverständnisses sollen hier Handlungsraum, Leib und Raum und differentieller Raum als Potenziale vorgestellt werden. Potenziale, die gerade Architektur und Städtebau als Plattformen städtischen Lebens auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen verstärken können. Raum wird durch Handlung und in der Situation erfahren und entsteht hierdurch. Im Umkehrschluss kann eine städtebauliche Konstellation oder Architektur Plattform und Auslöser für alltägliche Situationen sein. Das bedeutet, dass Raum „in einem Handlungsfeld erst existent wird – und im Gegenzug seine Verhältnisse die Handlungen mitsteuern.“3 Diese situative Qualität ist grundlegend, wenn bei der architektonischen und städtebaulichen Arbeit der Sprung vom physischen Objekt bzw. vom Behälterraum zum gelebten Raum erreicht werden soll.

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Raum wird zum anderen durch den Leib erfahren und geschaffen. Wir erfahren Raum immer in Bewegung. Mit Leib ist die untrennbare Verbindung zwischen Körper und Geist bei der Erfahrung von Welt gemeint. „Im Leib ist der Mensch im Raum“4 drin, mit all seinen Sinnen, Bewegungen, Gefühlen und Erinnerungen. Das Leibliche wartet auf seine Wiederentdeckung in einer digitalen Zeit der Smartphones, des Online-Shoppings und anderer virtueller Welten. Ein weiteres Potenzial in einer von einseitigen funktionalen und ökonomischen Zwängen bestimmten Welt ist der differentielle Raum.5 Raum, der Unterschiedliches gleichzeitig ermöglicht und Differenzen als Potenzial für Interaktion und Inklusion sieht. Er fügt das zusammen, was der moderne, industrielle, funktionalisierte Raum trennt. Durch Differenz kann eine höhere Komplexität und damit Urbanität befördert werden. Ohne Differenz ist Urbanität als Qualität einer Stadt nicht erreichbar. Diese gilt es zu stärken oder zu generieren anstatt weiterhin funktionale, soziale, aber auch ästhetisch-sinnliche Glättungen und Homogenisierungen voranzutreiben. Stadt als gelebter Raum. Wie sieht es nun in der Praxis damit aus?

Gelebter Raum in der Stadt und Stadtlandschaft Hierbei werden nicht nur die vermeintlich „klassische“ gebaute Intervention, sondern auch Minimalintervention und temporäre Aktion ins Spiel gebracht. Aktivierung brachliegender Möglichkeiten im historischen, städtischen Kontext und das Arbeiten mit dem Vorgefundenen sind Qualitäten der neuen Markthalle in Gent6 der Architekten Robbrecht und Daem und Marie-José van Hee.7 Anstelle eines unwirtlichen Parkplatzes birgt ein neues, großes Dach einen allseitig offenen und für jeden und jederzeit zugänglichen Raum. Durch das große Dach wird eine neue Plattform im Herz der Stadt geschaffen, die funktional uncodiert ist und deswegen vielfältige Handlungen im Alltag und bei Festen auslösen kann. Die Raumanreicherung gelingt auch deswegen, weil die Architektur in ihrer starken Gestalt und Materialität eine sinnlich-leiblich spürbare Atmosphäre bewirkt. Durch ihre der benachbarten Dachlandschaft entlehnte, gefaltete Decke aus Eichenholz, die von kleinen, den Himmel spürbar machenden und funkelnden Lichtausschnitten durchbrochen wird, entfaltet die Halle in spannender Ambivalenz zu ihrer Offenheit die innenräumliche Wirkung eines großen Saales, die die Bedeutung städtischen, öffentlichen Lebens und seines Werts für Gent an dieser Stelle betont. Ortswechsel. Von der historischen


Architektur aktiviert gelebten, städtischen Raum

Stadt in die Peripherie und deren Infrastruktur, die als „Nicht-Orte“8 im öffentlichen Bewusstsein abgestempelt und aufgegeben sind. Unter einer Autobahnbrücke in London wurde von der Gruppe Assemble das Potenzial für öffentliches Leben erkannt und mit der Minimalintervention „Folly for a Flyover“ aktiviert.9 Dabei wurde ein Folly in Gestalt eines Londoner Reihenhauses unter die Brücke gestellt und eine breite Sitztribüne daran angedockt. Temporär entstand so Platz für ein vielfältiges Programm mit Filmvorführungen, Performances und Theater. Im Alltag diente der Folly als Café, Ausgangspunkt für Boottrips auf dem Fluss unter der Brücke und als Treffpunkt für den Stadtteil an einem bisher ungeliebten Ort. Verändert hat sich durch den nicht konformen Eingriff aber auch die Wahrnehmung der Autofahrer auf der Brücke. Hier spitzt nämlich das Dach des Folly über die Fahrbahn hinaus und macht auf widerborstige Weise auf den Raum unter der Brücke und das vom Verkehr bedrängte ­Leben aufmerksam. Gerade vermeintlich technische Zweckbauten und Verkehrsinfrastruktur können so für die Aktivierung städtischen Raums bearbeitet werden. Ein noch brach liegendes Potenzial.

Minimalinterventionen in der Tradition von Lucius Burckhardts „geringstmöglichem Eingriff“10 und temporäre Aktionen11, wie die des nächsten Beispiels im Kontext der Stadtlandschaft, können neben den dargestellten Potenzialen als neue Form der Partizipation einen geplanten, größeren baulichen Eingriff testen, bevor dieser „zementiert“ wird. Ebenso kann durch geringe finanzielle Mittel vernachlässigter städtischer Raum für die Gesellschaft nutzbar gemacht und atmosphärisch angereichert werden. Temporäre Aktionen kamen auch bei KEMPTEN TRACKS12 an unterschiedlichen Stadtlandschafts-Orten zum Einsatz. Beispielsweise in einem ehemaligen bäuerlichen Straßendorf, das heute in erster Linie ein Wohnort für Pendler ist. Prägende, historische Gebäude wurden abgebrochen und ein „Dorfplatz“ als Bild einer ländlichen Idylle und als Wunsch nach einer „Mitte“ in den 1990er Jahren erbaut. Der Platz ist im Alltag aber leer, das gesellschaftliche Leben findet woanders statt. Die Aktion sollte helfen, diese Prozesse offen zu legen und Perspektiven aufzuzeigen. Dafür wurden temporäre Wände aus Strohballen errichtet, die den „Dorfplatz“ fassten und die Straße umschlossen, für die nur minimale Öffnungen blieben. Dieses

Themenblock III: Die gelebte Stadt

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„Wohnzimmer“ war ein Angebot an die Bewohner, den neu geschaffenen Handlungsraum zu bespielen. Die Aufenthaltsqualität wurde durch den Geruch des Strohs und die den Schall dämpfenden, von den Sonnenstrahlen aufgewärmten Strohballen aufgewertet. Die Integration der Straße in den öffentlichen Raum sollte neue Wege der „Verkehrsberuhigung“ testen. Natürlich störten die Strohwände den einseitigen „Zweckraum“ des Durchfahrens und schufen für diese Zeit einen differentiellen Raum, der die Dominanz des Verkehrs in Frage stellte. Wie ein Lackmuspapier offenbarte die Aktion die am Ort wirkenden Kräfte des Verkehrs und einiger Anwohner, die den öffentlichen Platz als ihren Raum betrachteten. Dies half, den leeren Raum des „Dorfplatzes“ zu verstehen.

Gelebter Raum: Eine Kultur des Raumes Unabhängig von der gewählten Methode ist die Anreicherung des gelebten Raumes das Ziel. Sowohl in den historischen Städten als auch in den zeitgenössischen Stadtlandschaften. Gefragt ist deswegen eine Kultur des Raumes als entscheidende Kultur der Städte. Eine ureigene Stärke von Architektur und Städtebau. Daran mit einer generalistischen Herangehensweise, interdisziplinär, im offenen Prozess und mit Teilhabe aller gesellschaftlichen Akteure zu arbeiten, ist eine große Chance für unsere Städte. Auch weil diese das Talent und die Tradition einer Kultur des Raumes besitzen. Städte hatten immer die Fähigkeit zu integrieren und Raum menschlicher Interaktion zu sein. Allein aus existentiellen Gründen. Gerade Städte können mit ihrer Geschichte und Erfahrung in der europäischen Stadtlandschaft Wegbereiter und Labor für den gelebten Raum als Zusammenspiel von Architektur und städtischem Raum sein. Und das als Kern ihrer Kultur.

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Dr.-Ing Jörg Heiler, Jahrgang 1969. Architekturstudium an der Technischen Universität (TU) München und Architectural Association (AA) in London; 1995 Diplom an der AA; 2000 Berufung in den Bund Deutscher Architekten (BDA). Beruflicher Werdegang: Seit 2005 heilergeiger architekten und stadtplaner bda. 2011 Promotion am Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung der TU München bei Professorin Sophie Wolfrum und Professor Dr. Karl Ganser. Seit 2011 Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Städtebau und Landesplanung der Bayerischen Architektenkammer. Seit 2014 Lehrauftrag an der Hochschule Nürnberg für Städtebau und Entwerfen. Auszeichnungen beim thomaswechspreis 2012 und 2015, baupreis allgäu 2013. Arbeitsschwerpunkte: Hochbau und Städtebau für die öffentliche Hand, sowie Qualifizierung suburbaner Stadtlandschaften. Basis hierfür ist die Perspektive des gelebten Raumes. Veröffentlichungen: Gelebter Raum Stadtlandschaft (2013). Bielefeld; Ein gesamtheitlicher Weg (2013). In: Energielandschaft Allgäu. Landschaftsarchitektur Regionaler Freiräume Technische Universität München (LAREG TUM) Professor Dr. Sören Schöbel. Grimma; Architektur und gelebter Raum (2005). In: P001 - P058. Architektur im Allgäu 19902005. Lindenberg.


1

Ronneberger, Klaus (2014): Die Revolution der Städte wieder lesen. In: Henri Lefebvre (1970/ 2014): La Révolution urbaine.

Die Revolution der Städte. Hamburg, S. V. 2

Janson, Alban (2005): Einführung in den Beitrag von Graf Karlfried von Dürckheim aus der Perspektive der Architektur. Ein

Scherzo in Zitronenholz. In: Jürgen Hasse u.a. (2005): Graf Karlfried von Dürckheim. Untersuchungen zum gelebten Raum. Frankfurt/ Main, S. 153. 3

Wolfrum, Sophie (2003): Haben Städte eine Seele?. Dok. in: www.janson-wolfrum.de/seele.htm, abgerufen 09/2004, S. 7.

4

Heiler, Jörg (2013): Gelebter Raum Stadtlandschaft. Taktiken für Interventionen an suburbanen Orten. Bielefeld, S. 61.

5

Lefebvre, Henri (1974/ 1991): La production de l’espace. The Production of Space. Oxford, S. 352 ff..

6

Hinweis in: Wolfrum, Sophie; Frhr. v. Brandis, Nikolai (2015): Performative Urbanism. Berlin, S. 183.

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Informationen zur Markthalle Gent: www.robbrechtendaem.com/projects/urban/market-hall.

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Auge, Marc (1995): Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity. London

9

Informationen zu „Folly for a Flyover“: www.assemblestudio.co.uk/?page_id=5.

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Burckhardt, Lucius (2013): Der kleinstmögliche Eingriff. Berlin.

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Heiler, Jörg (2013): Gelebter Raum Stadtlandschaft. Taktiken für Interventionen an suburbanen Orten. Bielefeld, S.78.

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KEMPTEN TRACKS (2007): Veranstalter: architekturforum kempten e.V in Kooperation mit dem Kulturamt der Stadt Kempten.

Projektleitung und wissenschaftliche Begleitung: Jörg Heiler. Informationen in: Gelebter Raum Stadtlandschaft.

Themenblock III: Die gelebte Stadt

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Spielmöglichkeiten nahe gastronomischer Angebote

Freiräume für Kinder und Jugendliche Ein Interview mit Christina Peterburs, Planungsbüro STADTKINDER

Wie hat sich aus Ihrer Sicht das Verhältnis von Kindern und Jugendlichen zum öffentlichen Raum in der Stadt in den letzten Jahren gewandelt? Aus meiner Sicht müsste die Frage eher lauten: Wie hat sich der öffentliche Raum für Kinder und Jugendliche in den letzten Jahren gewandelt? Denn es geht nicht nur darum, warum Computer so spannend sind, sondern vor allem um die Frage nach den Möglichkeiten zum Spielen. Viele Orte werden nicht mehr als Spielraum wahrgenommen oder stehen nicht mehr zur Verfügung. Die Studie „Raum für Kinderspiel!“1, die im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerks erstellt wurde, zeigt, dass Kinder deutlich länger draußen spielen, je höher die Aktionsraumqualität des Wohnumfeldes ist. Als Stadtplaner haben wir somit eine

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Informationsdienste Städtebaulicher Denkmalschutz 41

große Verantwortung. Unsere Aufgabe ist es, einen öffentlichen Raum zu planen und zu bauen, der allen Generationen gerecht wird. Der öffentliche Raum muss nutzbar sein und nicht nur schön aussehen. Belebte Straßen und Plätze, wo Menschen sich treffen und Generationen zusammen kommen, zeugen von der Lebensqualität einer Stadt. Gerade in Zeiten, in denen Kinderspielplätze geschlossen werden, um Pflegekosten einzusparen oder neues Bauland auszuweisen, müssen Kinder andere Spielorte nutzen dürfen. Mit der Kampagne „Mehr Freiraum für Kinder – Ein Gewinn für alle!“2 wird in Nordrhein-Westfalen ein Fokus auf Spielbereiche wie die Straße gelegt. Straßenspiel war früher eine Selbstverständlichkeit, heute ist es nahezu undenkbar. Wir müssen Kindern und Jugendlichen mehr und qualitätsvollen Raum zum Spielen und Bewegen geben. Das müssen nicht immer durchde-


signte Flächen sein: Brachen, Waldflächen, Wiesen, Rückzugsorte, an denen man sich treffen, frei und kreativ spielen oder einfach ungestört sein kann, sind unendlich wichtig für die Entwicklung von Kindern.

Welche Rolle nehmen Kinder und Jugendliche bei der Belebung und Gestaltung historischer Altstädte in der Praxis ein? Kinder und Jugendliche sind aktive Stadtnutzer und bewegen sich viel im öffentlichen Raum. Natürlich variiert dies je nach Alter: Kinder haben andere Aktionsradien als Jugendliche, deren Mobilitätsverhalten auch anders ist. Historische Altstädte bieten zahlreiche Spiel- und Bewegungsräume für Kinder und Jugendliche. Nur sind es eben nicht die klassischen Spielplätze sondern urbane Räume. Häufig sind historische Altstädte Wohnstandort von Familien. Somit sind Fußgängerzonen oder Stadtplätze das direkte Wohnumfeld von Kindern. Verwinkelte Gassen bieten den Vorteil, dass sie meist autofrei sind. Freies Spiel ist hier manchmal besser möglich als an Hauptverkehrsstraßen. Stadtplätze, vielleicht sogar mit Cafés und Restaurants, sind die perfekte Bühne für Jugendliche. Jugendliche wollen sich präsentieren, „sehen und gesehen werden“ ist das Motto. Aber auch für Eltern bietet sich häufig die Chance, zu Verweilen. Spiel- oder Bewegungsmöglichkeiten in der Nähe der Gastronomie sind daher immer gut.

Bespielbare Stadtgestaltung

Streifzug mit Kindern durch ihre Freiräume

Wie beziehen Sie im Rahmen Ihrer Arbeit im Planungsbüro STADTKINDER Kinder und Jugendliche in die Freiraumplanung mit ein? Wir nehmen Kinder und Jugendliche als ernstzunehmende Experten im Rahmen der Planung wahr. Sie verfügen über ein großes Wissen und können ganz genau formulieren, was ihnen fehlt, wo es Probleme gibt, was gut ist oder wo sie Verbesserungsvorschläge haben. Kinder sind kreative Köpfe, die gern innovativ und quer denken und somit erwachsene Planer immer wieder überraschen. Der Respekt gegenüber Kindern und Jugendlichen sowie ihre Wertschätzung sind eine ganz wichtige Basis unserer Arbeit. Ganz praktisch bedeutet dies, dass wir in Partizipationsprozessen passgenaue Methoden und Ansprachen verwenden. Einen Sechsjährigen beziehe ich ganz anders ein als eine achtzehnjährige Person. Außerdem ist das Setting wichtig. Kinder kann ich nicht um 19.00 Uhr in den Ratssaal zu einer Informationsveranstaltung einladen. Wir gehen dorthin, wo die Kinder sind: in ihre vertraute Umge-

bung, wo sie sich auskennen. Grundsätzlich beziehen wir Kinder und Jugendliche auf ganz vielen verschiedenen Ebenen ein: auf konzeptioneller Ebene z.B. im Rahmen eines Spielflächenbedarfsplans oder auf Projektebene, wenn es um die Gestaltung eines ganz konkreten Spielplatzes geht. Überall dort, wo Planungen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben, müssen sie beteiligt werden. Dies gilt nicht nur für Spielplätze, sondern für den gesamten städtischen Raum.

Wie gestalten Sie innerstädtische Freiräume für Kinder und Jugendliche, die gern von ihnen genutzt und bespielt werden? Vor allem nie ohne Kinder und Jugendliche! Für uns ist es wichtig, Freiräume zu schaffen, die für Kinder und Jugendliche attraktiv sind und die von ihnen genutzt werden. Wir müssen wissen, was den Kindern und

Themenblock III: Die gelebte Stadt

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Jugendlichen fehlt beziehungsweise welche Aktivitäten sie gern ausüben möchten. Es geht meist gar nicht um das tollste Klettergerüst, sondern darum, sich neuen Herausforderungen zu stellen, seine Fähigkeiten zu erweitern und zu zeigen, was man kann. Das sind für uns die wichtigen Aspekte, die wir für unsere Arbeit brauchen. Unsere Hauptaufgabe ist es, den jungen Menschen zuzuhören und ihre Belange ernst zu nehmen. Mit diesem Wissen gehen wir an die Entwurfsarbeit. Wir übertragen die Ideen der Kinder und Jugendlichen in Gestaltungsentwürfe, die sich in die Örtlichkeit einfügen. Planen und Gestalten für Kinder heißt nicht immer automatisch bunt. Viele Bewegungsanreize oder Elemente mit Aufforderungscharakter fließen harmonisch in die Stadtgestaltung mit ein ohne dass sie als Spielelement wahrgenommen werden. Brunnen, Wasserläufe, Treppenanlagen, Mäuerchen, Pflanzbeete, Straßenpflaster – es gibt viele Dinge im innerstädtischen Raum, die zum Spielen oder Bewegen genutzt werden können. Eine bespielbare Stadtgestaltung oder Kunst im öffentlichen Raum stehen daher in innerstädtischen Freiräumen im Vordergrund. An diesen Aspekten orientieren wir unsere Arbeit.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen, aber auch die größten Gewinne, die die Stadtraumplanung mit Kindern und Jugendlichen nach sich zieht? Sicherlich gehört dazu die Nachhaltigkeit, die erfolgreiche Beteiligungsprozesse erzeugen. Gut umgesetzte Beteiligungsergebnisse binden die Bevölkerung an ihren Wohnort. Die Menschen fühlen sich ernst genommen und eingebunden in die Gestaltung ihres Lebensumfeldes. Das betrifft alle Generationen. Kinder und Jugendliche erlernen demokratische Prozesse und lernen frühzeitig Verantwortung zu übernehmen. Der inhaltliche Gewinn für die räumliche Planung ist enorm: Kinder- und Jugendbeteiligung muss als fachlicher Bestandteil räumlicher Planungen wahrgenommen und gelebt werden. Dies ist sicherlich auch eine der größten Herausforderungen. Beteiligungsprozesse brauchen Zeit. Und ich muss bereit sein, mich auf neue Sichtweisen und buchstäblich auf eine andere Augenhöhe einzulassen. Dies ist häufig ein Hemmnis. An dieser Stelle sind strategische Partner gefragt. Außerdem

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darf keine Alibi-Beteiligung durchgeführt werden. Den Mehrwert, den Kinder- und Jugendbeteiligung mit sich bringt, gilt es verstärkt für die räumliche Planung auf allen Ebenen zu nutzen. Kinder- und Jugendfreundlichkeit ist eine Strategie, um neue Qualitäten in der Stadtgestaltung umzusetzen. Innerstädtische Räume werden belebt und von allen Generationen genutzt. Somit ist Kinder- und Jugendfreundlichkeit ein zentraler Baustein für mehr Lebensqualität in den Innenstädten.

Dipl.-Ing. Christina Peterburs, Jahrgang 1984, Stadtplanerin AKNW Architektenkammer Nordrhein-Westfalen. Studium der Raumplanung an der Technische Universität Dortmund, Abschluss als Dipl.-Ing. Beruflicher Werdegang: Seit 2009 im Planungsbüro STADTKINDER; seit 2012 Teamleiterin Familienfreundliche Stadtplanung. Arbeitsschwerpunkte: Partizipationsprozesse mit Kindern und Jugendlichen sowie generationenübergreifende Dialoge; Spielleitplanung; Spielplatzbedarfspläne; Moderation; Mediation; Beratung von Kommunen. Veröffentlichungen: Zutrauen und Zuhören. Veröffentlicht in: Deutsches Architektenblatt 04/2015: Schwerpunkt quer. Düsseldorf – Artikel über die Arbeit des Planungsbüro STADTKINDER und den Mehrwert von Beteiligungsprozessen.

BALDO BLINKERT, PETER HÖFFLIN, ALEXANDRA SCHMIDER, JÜRGEN SPIEGEL (2015): Raum für Kinderspiel. Eine Studie im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerkes über Aktionsräume von Kindern in Ludwigsburg, Offenburg, Pforzheim, Schwäbisch Hall und Sindelfingen. FIFAS-Schriftenreihe.

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www.mehr-freiraum-fuer-kinder.de

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Rotes Haus an der Rur

Strategien einer zukunftsorientierten Entwicklung in Monschau Björn Schmitz, Fachbereich Wirtschaft und Tourismus der Stadt Monschau

Vorwort Landschaftlich reizvoll an der Rur gelegen, fasziniert das unter Ensembleschutz stehende historische Stadtbild Monschaus jährlich über anderthalb Millionen Besucher. Die Burg Monschau, gastronomische und kulturelle Angebote, der Eifelsteig, das Hohe Venn, die Nähe zum Nationalpark Eifel oder der Vennbahnradweg sind Monschaus besondere Anziehungspunkte. Die Altstadt selbst steht jedoch vor grundlegenden raumfunktionalen Aufgaben. Vor allem die engen baulichen Strukturen genügen nicht den heutigen Maßstäben an Handel und Wohnen. Erhalt und Sicherung des historischen Erbes der Altstadt sowie die Schaffung moderner Rahmenbedingungen für heutige Nutzungen sind das Ziel des aktuellen Stadtentwicklungsprojekts und zugleich eine dauerhafte

Herausforderung. Der Stadterneuerungsprozess soll gemeinsam mit den Akteuren vor Ort eine funktionale Ausrichtung und Lebendigkeit der Altstadt auch jenseits touristischer Zeiten erreichen. Das Projekt erfüllt maßgeblich die Vorgaben des Bund-Länder-Programms Städtebaulicher Denkmalschutz, eine Sicherung und dennoch zeitgemäße Weiterentwicklung des wertvollen Erbes der Stadt zu ermöglichen.

Ein Blick zurück: Wohnen und Arbeiten prägten die Entwicklung in der Vergangenheit Die Geschichte Monschaus beginnt mit dem Bau einer Burg Ende des 12. Jahrhunderts. Es entstand an ihrem Fuß eine Siedlung mit Stadtmauer. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die Stadt fast vollständig

Themenblock III: Die gelebte Stadt

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Von den über 3.000 Menschen Anfang des 19. Jahrhunderts verblieben in der Altstadt nach dem Wegbrechen der Textilindustrie bis in die 1930er Jahre noch rund ein Drittel. Dies führte zu einer ersten Verbesserung der Wohnverhältnisse und reichte zu einer gesunden Sozialstruktur und einem starken Vereinsleben.

Klassik-Aufführung auf der Burg

zerstört, woraufhin sich die Bebauung nachfolgend über die Stadtmauer entlang der Rur ausdehnte und den Charakter einer Stadt annahm. Stadt und Umland wurden weitgehend von den Zerstörungen und Ausplünderungen des Dreißigjährigen Krieges und den Folgekriegen verschont. In der durch die Tuchherstellung beeinflussten, stadtbildprägenden Entwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts standen angenehme Wohnverhältnisse nie im Fokus. Monschau war ein Ort der Arbeit und der Textilproduktion. Dem musste sich das Wohnen kompromisslos anpassen. Bebaubare Flächen waren in der engen Tallage stets ein knappes Gut. Die Häuser standen zwangsläufig eng beieinander, waren schmal, ragten dadurch hoch empor und mussten neben der geringen Wohnfläche und dem Viehstall im Untergeschoss vor allem Platz für die Lagerung von Tuchen und Torf sowie für die Unterbringung der Produktionsanlagen bieten. Ein Standort am kalkarmen Wasser war von existenzieller Bedeutung, da es zum Antrieb der Walkmühlen und Maschinen und zum Spülen der gefärbten Tuche benötigt wurde. Die intensive bauliche Raumnutzung führte zu engen Straßen und ließ kaum Freiflächen zu. Es blieb den Bewohnern zur Eigenversorgung nur übrig, kleine Gärten auf den umliegenden Hängen anzulegen, die nicht zur Trocknung von Tuchen auf den für Monschau typischen Natursteinterrassen genutzt wurden. Von Monschau aus gingen Tuche in alle Welt. Die zunehmende Technisierung führte zu einem schleichenden Strukturwandel in der Textilbranche. Die Fabrikationsanlagen wanderten aufgrund des hohen Platzbedarfs an den Stadtrand. Der Kern selbst veränderte sich bis heute kaum, da die Altstadt Monschaus von Kriegsschäden aufgrund der geschützten Tallagen im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont blieb.

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Nach der Blüte der Textilindustrie behielt Monschau dann auch nach der Jahrhundertwende als damalige Kreisstadt weiterhin die Aufgabe der Nahversorgung für die umliegenden, überwiegend landwirtschaftlich geprägten Dörfer. Bei schwacher Mobilität der Bevölkerung war sie neben dem Verwaltungssitz auch kulturelles Zentrum, Standort der weiterführenden Schulen und starker Wohnort. Hier setzte dann in den 1970er Jahren ein weiterer Wandel ein, der sich in der Bevölkerungsstruktur nachteilig bemerkbar machte. Das Wegbrechen der ortsnahen Arbeitsplätze, die sich verbessernde Mobilität der Einwohner und vor allen Dingen auch steigende finanzielle Möglichkeiten der Menschen führten im weiteren Verlauf zu einer verstärkten Abwanderung, die nicht mehr ausgeglichen wurde. Umliegende und landschaftlich attraktive Dörfer mit viel Raum, neuen Arbeitsplätzen, größerflächigem Einzelhandel und das gut erreichbare Oberzentren Aachen wurden als attraktiver wahrgenommen.

Was treibt die Entwicklung in der historischen Altstadt heute an? Die weitgehend unveränderte Bausubstanz des historischen Stadtbilds genügt modernen Ansprüchen an angenehme Wohnverhältnisse heutzutage nicht. Die geringen Hausbreiten und Deckenhöhen verhindern ein modernes Wohnen; auch kleine Fenster, steile enge Treppen, fehlende Trennungen zwischen Ladenlokal und darüber liegender Wohnung und mangelnde Dämmung entsprechen nicht dem wohnungswirtschaftlichen „Mainstream“. Wenig Sonneneinstrahlung in der Tallage, fehlende Parkplätze und schlechte Erreichbarkeit tun ihr Übriges. Die stetig zunehmende Mobilität der Menschen, fehlende Einzelhandelsangebote und die demografischen Fakten lassen nicht erwarten, dass sich an dieser Einschätzung etwas ändert. Wie also können die Entwicklungsziele aussehen? Ein wichtiger Faktor ist der Tourismus, der seit über 150 Jahren einen Wachstumsfaktor für Monschau darstellt und die Wahrnehmung von außen dominiert. Es ist wichtig herauszufinden, was die Besucher an


Monschau schätzen und wie man diese Erkenntnisse nachhaltig nutzen kann. Die historische Bausubstanz wird als Zeitfenster in die Vergangenheit wahrgenommen. Je weniger sich Generationen noch vorstellen können, dass in diesen Häusern Menschen lebten und arbeiteten, desto interessanter wirkt die Stadt. Aber reine Kulisse zu sein, reicht nicht aus, um eine lebendige Stadt zu sein: Authentizität und „alltägliches Treiben“ ist wichtig. Daher gilt es, einen passenden Mix aus Geschichte, Baukultur und Tradition sowie Gastronomie, Einzelhandel und Wohnen zu finden, der in seiner Gesamtschau authentisch wirkt. Alles zusammen soll Monschau für neue, vielleicht auch spezielle Zielgruppen als Wohn- und Lebensort interessant machen.

er Wohnumfeldprogramm“. Dank der umfassenden und standortangepassten Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) als Fördermittelgeber werden seit vielen Jahren in Monschau Private bei Erhalt und Aufwertung der zumeist historischen Bausubstanz unterstützt. Ohne diese Förderung wäre es für viele Eigentümer nicht möglich, die Anforderungen der Gestaltungssatzung und die Auflagen der Denkmalpflege umzusetzen und damit das Stadtbild zu erhalten. Ohne diese Förderaussicht wäre es der Stadt Monschau und dem Projektmanagement für das Projekt Stadterneuerung Monschau auch nicht möglich, so viele Eigentümer zu mobilisieren. Durch-

Anspruchsvolle Kunst im Öffentlichen Raum, „streetart“ und Kulturevents sollen Besucherkreise ansprechen, die es kommerziellen Nutzern der Ladenlokale ermöglichen, auch auf kleinen Flächen höherpreisigere Produkte und Dienstleistungen anzubieten und davon leben zu können. Beispielgebend sind Aktionen wie „Umwelt-Akzente“, die „Trash People“ von HA Schult, Ausstellungen namhafter Künstler im KuK Kunstund Kulturzentrum, aber auch besondere Aktionen wie „Dîner en blanc“ und musikalische Highlights wie die Monschau-Klassik und „Montjoie Musicale“. Dabei ist es wichtig, die verbliebenen Einwohner nicht überzustrapazieren. Es bleibt der Anspruch, Wohn- UND Aufenthaltsqualität zu vereinbaren.

Charakter wahren, authentisch bleiben „Stärken zu stärken“ ist ein ganz wichtiges Ziel im Stadterneuerungsprojekt und der Strategieentwicklung. Mit mehr „Klasse statt Masse“ soll der Wohnstandort Altstadt mit den kulturellen und sozialen Angeboten in Einklang gebracht werden. Qualität und Vielfalt bekommen in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Das Ziel ist, mit einem breiten Spektrum an Impulsen neue Entwicklungschancen zu eröffnen. Die Stadt Monschau geht dabei mit gutem Beispiel voran und hat in der jüngeren Vergangenheit zwei historische Stadthäuser an zentraler Stelle erworben, denkmalgerecht saniert und hier thematisch passend ein Haus der Geschichte mit historischem Stadtarchiv eingerichtet. Zunehmend zeigen sich auch Entwicklungen in der Altstadt, die Hoffnung machen. So eröffnen hochwertige Einzelhandelsgeschäfte und trendige Cafés; auch Künstler entdecken Monschau als neuen Wirkungsort.Ein wesentlicher Bestandteil der Stadterneuerung ist das „MonschauMarktplatz an der Rur

Zwischenruf III

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Stadt im Tal

schnittlich sanieren jährlich 15 bis 20 Eigentümer mit der Hilfe von Stadt und Land ihre Immobilien.

Öffentlicher Frei-Raum in der Monschauer Altstadt Da die Monschauer Altstadt durch eine dichte und verwinkelte Baustruktur im Tal wie auch an den Hanglagen geprägt ist, sind die Straßen, Gassen und Treppen zumeist eng und selten gradlinig, so dass sich interessante Raumabfolgen und Blickbeziehungen ergeben. Dabei macht das Zusammenspiel zwischen der Materialität und Farbigkeit der historischen Bausubstanz in Kombination mit dem vorherrschenden Pflaster aus Grauwacke den Charme des Stadtraums aus. Der Marktplatz ist in der Altstadt die einzige größere Freifläche, die für Veranstaltungen, Märkte oder Feste genutzt werden kann. Daher spielt auch die Inszenierung der Brücken für die Freiflächennutzung eine große Rolle. An vielen Stellen wird der begrenzte öffentliche Raum von Außengastronomie und Warenauslagen genutzt, so dass ein buntes, lebendiges Bild der historischen Altstadt gegeben ist.

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Durch die Topografie und die daraus resultierenden Geländesprünge und Versatze sind vielerorts Restflächen am Straßenrand vorhanden, die mit Sitzgelegenheiten zum Verweilen einladen und Ausblicke über die Rur oder in die Straßenzüge hinein bieten. Der öffentliche Raum soll in den kommenden Jahren einer grundlegenden Prüfung unterzogen werden. Dabei geht es darum, die Altstadt zeitgemäß und dennoch authentisch aufzuwerten und mit einer Verbesserung der Beleuchtung die Straßen und Plätze ins rechte Licht zu rücken. Aspekte wie Barrierefreiheit, Aufenthaltsqualität und Ambiente spielen dabei ebenso eine große Rolle. Zudem ist es vorgesehen, die Freiflächen an der Burg Monschau, die als Jugendherberge und Festspielort der Monschau-Klassik dient, zu optimieren. Im Vordergrund steht die Optimierung der Zugänglichkeit und der Möglichkeiten der kulturellen Nutzung. Die größte finanzielle Herausforderung bleibt der dauerhafte Erhalt der Natursteinmauern, meist in Trockenbauweise, die wichtige Stützfunktionen an Straßen, typischen „Treppchen“, Freiflächen und besonders entlang des Flusses Rur und seiner Zuflüsse haben.


Bereits in den neunziger Jahren wurde Konsenz erzielt, den motorisierten Verkehr aus der Altstadt durch ein automatisiertes Leitsystem herauszuhalten. Dies hat sich bis heute bewährt. Durch mangelnde Individualparkplätze stellt sich die Frage auch nicht mehr, hieran etwas zu ändern. Wer in Monschau leben möchte, kann nur akzeptieren, dass das Auto normalerweise im Parkhaus am Rande abzustellen ist.

Der Weg Die große Aufgabe und die Projekte des Stadtentwicklungskonzepts haben das Land NRW dazu bewegt, die Altstadt von Monschau in das Bund-Länder-Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ aufzunehmen. Dieses Programm bietet für Monschau ein vielfältiges Instrumentarium zur Erreichung der städtebaulichen Ziele. Mit der Erstellung des integrierten Stadtentwicklungskonzepts sind bei Informations- und Beteiligungsveranstaltungen Ziele, Projekte und Umsetzungsschritte in der Öffentlichkeit beraten worden. Dabei stand die Mitwirkungsbereitschaft der Eigentümer und Akteure vor Ort immer im Vordergrund.

Björn Schmitz, Jahrgang 1970, Fachbereichsleitung Wirtschaft, Tourismus, Stadtentwicklung, Bauen - Untere Denkmal­behörde. Abschluss an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Abteilung Köln.

Die Stadt Monschau hat das Büro Stadt- und Regionalplanung Dr. Jansen GmbH aus Köln nach der Erstellung des Stadtentwicklungskonzepts auch damit beauftragt, die Einzelprojekte zu begleiten. Eine wichtige Voraussetzung für die notwendige Akzeptanz der Veränderungsprozesse ist eine weitergehende Beteiligung und Mobilisierung von Eigentümern. Dazu initiiert das Büro den Aufbau einer Immobilien- und Standortgemeinschaft (ISG). Bei ersten Veranstaltungen konnte das Engagement der Akteure geweckt werden. Im nächsten Schritt gilt es zu klären, in welcher Form eine Immobilien- und Standortgemeinschaft oder ein vergleichbarer Interessensverbund geschaffen werden kann. Ein Verfügungsfonds soll den Anschub zur Qualitätsverbesserung des Wohn- und Geschäftsumfelds, für Werbeanlagen und Schaufensterdekorationen bewirken und ein privates Immobilienmanagement ermöglichen. Unter dem Titel „Zukunft mit Geschichte“ wird diese Qualitätsoffensive auch medial über Printprodukte, Veranstaltungen und einen Webauftritt präsentiert. Für die Stadt Monschau ist die direkte, offene und dauerhafte Kommunikation mit den Bewohnern, Eigentümern und Aktiven ein entscheidender Erfolgsfaktor. Denn gerade durch und nur mit deren Mitgestaltung wird die Herausforderung nachhaltig gemeistert!

Themenblock III: Die gelebte Stadt

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Steckbrief zur Stadt

Stadt

Monschau

Bundesland

Nordrhein-Westfalen

Meilensteine der Stadtgeschichte und Stadtentwicklung

→→ Bau einer Burg Ende des 12. Jahrhunderts durch die Herzöge von Limburg, Eroberung im Geldernschen Krieg 1543 durch kaiserliche Truppen, fast vollständige Zerstörung. →→ Im Jülicher Erbfolgestreit 1609 zunächst brandenburgisch besetzt. Eroberung von Stadt und Burg durch Spanier 1622; Übernahme der Herrschaft durch den Pfalz-Neuburger Wolfgang Wilhelm; Aufstieg zu städtischen Qualitäten. →→ Kaum Zerstörungen und Ausplünderungen im Dreißigjährigen Krieg oder Folgekriegen. Durch die Tuchherstellung beeinflusste, stadtbildprägende Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bau des Roten Hauses (Patriziervilla) 1752. →→ Preußische Rheinprovinz, Verwaltungssitz, Kreisstadt bis 1971.

Einwohnerzahl

12.500

Einwohnerentwicklung

1985 ca. 11.000 2000 ca. 13.000 2015 ca. 12.500

Gebäudeleerstand

keine laufende Erhebung

Städtebauförderungsprogramme und Jahr der Programmaufnahme

Städtebaulicher Denkmalschutz 2014

Aktuelle Schwerpunkte der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

→→ Erhalt der als Ensemble unter Denkmalschutz stehenden Altstadt; Sicherung, Sanierung und (Um-)Nutzung der historischen, denkmalgeschützten Bausubstanz →→ Profilbildung für die Altstadt als zeitgemäßen Standort für ein innovatives Handels-, Dienstleistungs- und Tourismusangebot →→ Stärkung des Wohnstandortes Altstadt →→ Aktivierung der Eigentümer, Gewerbetreibenden und weitere Akteure der Altstadtentwicklung →→ Ausbau des Außenimages, Weiterentwicklung des besonderen Profils

Zukünftige Herausforderungen der Stadtsanierung und Stadtentwicklung

Fortführung der aktuellen Schwerpunkte der Stadtsanierung und Stadtenwicklung (s.o.)

Erstellt vom Fachbereich I.3 - Wirtschaft - der Stadt Monschau

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Zwischenruf III

Serviceteil

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Parkgestaltung in Bremen

Zwischenruf aus der Programm­ begleitung – Kurzdarstellung zum Jahresthema 2015 „Frei-Raum in der historischen Stadt“ Ein Beitrag der Bundestransferstelle Städtebaulicher Denkmalschutz

Ausgangssituation Die europäische Stadt ist historisch gewachsen und vor dem Hintergrund sich verändernder Anforderungen an Wohnen, Arbeiten, Handel, Kultur und Freizeit in einem ständigen Wandel. Ziel im Programm Städtebaulicher Denkmalschutz ist die Stärkung historischer Altstädte und Stadtbereiche. Sie sollen sich zu lebendigen Orten entwickeln, die für die unterschiedlichsten Funktionen und Bereiche des Lebens sowie für Bewohner und Besucher attraktiv sind – neben

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dem Fokus auf die historische Gebäudesubstanz liegt das Augenmerk dabei gleichermaßen auch auf der Gestaltung und Qualität von Grünräumen, Straßen und Plätzen, unbebauten Flächen und Möglichkeitsräumen. Seit jeher ist die europäische Stadt durch ein komplexes Gefüge aus privaten, öffentlichen und halböffentlichen Freiräumen gekennzeichnet. Nach den Nachkriegsplanungen, die die autogerechte Stadt und Funktionstrennung in den Mittelpunkt stellten, fand in der darauf folgenden Phase der behutsamen Stadterneuerung ein Bewusstseinswandel und damit


eine Hinwendung zu den Qualitäten der historischen, meist mittelalterlichen Stadt statt. So gelten historische Quartiere und Altstadtzentren heute als erfolgreiches Raum-, Sozial- und Wertesystem mit kompakter Bebauung, kurzen Wegen und innenorientierter Entwicklung. Insbesondere den Freiräumen mit ihren Potenzialen zur Funktions- und Nutzungsvielfalt wird hierbei eine besondere Bedeutung zugeschrieben.

Freiräume sind →→ →→

→→ →→

→→

in Form von Stadtgrün und Grünstrukturen wichtig für ein gesundes Stadtklima; langfristig oder temporär und bieten so Verdichtungspotenziale und Möglichkeiten für unterschiedliche (Zwischen-)Nutzungen; eine Bühne für gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Aktivitäten; der gemeinsame Begegnungs- und Aushandlungsort für die Stadtgesellschaft und damit unverzichtbar für die innerstädtische Lebensqualität und Umgang mit Vielfalt sowie ständig in Bewegung und müssen daher unterschiedlichen Mobilitätsanforderungen – von verschiedenen Verkehrsträgern bis hin zu mobilitätseingeschränkten Nutzern – gerecht werden..

Themenschwerpunkte und Ergebnisse Das Thema „Frei-Raum in der historischen Stadt“ wurde bei der Jahrestagung der Expertengruppe Städtebaulicher Denkmalschutz im Januar 2015 aufgrund seiner Aktualität in der Stadtentwicklung und für die Umsetzung des Programms Städtebaulicher Denkmalschutz als Jahresthema festgelegt. Die Expertengruppe beschäftigte sich im Rahmen ihrer Vor-Ort-Monitorings 2015 in den Städten Eutin (Schleswig-Holstein), Bad Karlshafen (Hessen), Lippstadt (Nordrhein-Westfalen) und der Hansestadt Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern) intensiv mit unterschiedlichen Aspekten und Funktionen von Freiräumen in historischen Quartieren. Gleichzeitig wurde das Thema „Frei-Raum in der historischen Stadt“ beim 23. Kongress Städtebaulicher Denkmalschutz, der im August 2015 stattfand, vertieft. Insgesamt konnten so zahlreiche kommunale Beispiele untersucht und fachliche Expertise zu diesem Themenfeld eingeholt werden.

Straßensituation in Lippstadt

Freiraum für… Stadtgestaltung und Stadtklima Historische Stadträume sind meist von einer hohen Bebauungsdichte, proportionierten Straßen- und Platzräumen und überwiegend steinernen Oberflächen geprägt. Gleichzeitig sind sie durch Grünflächen u.a. Park- und Wallanlagen sowie häufig durch die Lage an Seen und Flüssen gekennzeichnet. Die Vielfalt an Oberflächen, Bebauungsstrukturen und Funktionen von Freiräumen wirkt – jahreszeiten- und witterungsbedingt – unterschiedlich auf das Stadtklima. Durch eine bewusste Oberflächengestaltung, Entsiegelung und die Unterstützung von Durchlüftung und Zirkulation kann das städtische Mikroklima positiv beeinflusst werden. Insbesondere vor den Herausforderungen des Klimawandels ist daher Stadtgrün in Freiräumen zu integrieren. Darüber hinaus ist die Authentizität der historischen Stadt zu bewahren. Das beinhaltet eine den jeweiligen Nutzungsanforderungen angepasste Stadtgestaltung, die sich – beispielsweise in Form von Materialien und Elementen – an regionalen Traditionen orientiert. In dem Zusammenhang sind stadtgestalterische Maßnahmen der vergangenen Jahrzehnte kritisch zu bewerten, die betrifft neben der Stadtmöblierung insbesondere die Verwendung von ortsuntypischen Materialien. Es ist zu überprüfen, ob diese Freiräume an die heutigen Anforderungen anzupassen sind.

Ergebnisse Nachfolgend werden die Themen, die sich bei der Auseinandersetzung mit „Frei-Raum in der historischen Stadt“ herauskristallisiert haben, erläutert, der anstehende Handlungsbedarf aufgezeigt, die Ergebnisse zusammengefasst sowie eine Einschätzung dazu gegeben.

Bei den Vor-Ort-Monitorings setzte sich die Expertengruppe intensiv mit der Oberflächengestaltung und Verwendung von Materialien auseinander. Gerade in Städten in den westlichen Ländern wie in Eutin und

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Sammelstellplatz in Eutin

Lippstadt, in denen nach 1971 im Rahmen der Städtebauförderung Sanierungsmaßnahmen durchgeführt wurden, spiegelt sich das damalige Verständnis von Stadterneuerung und Stadtgestaltung in öffentlichen Räumen wider. Zeugnisse dessen sind neben inner­ städtischen Sammelstellplätzen für Personenkraft­ wägen (PKW) in attraktiver Lage häufig auch eine heute in die Jahre gekommene Stadtmöblierung und ein Materialmix bei der Oberflächengestaltung. Hier ist nach Einschätzung der Expertengruppe zukünftig eine zurückhaltende Gestaltung der öffentlichen Räume unter Einsatz regionaler Baumaterialien anzustreben. Dies unterstützt eine bessere optische Wirkung der historischen Gebäude. Eine ruhige, angemessene Gestaltung der öffentlichen Räume kann außerdem helfen, Vernetzungsdefizite zu verringern und bessere Blickbeziehungen herzustellen. Gerade für Besucher einer Stadt ist es wichtig, über die Freiraumgestaltung eine gute Orientierung zu erhalten. Ein Beispiel hierfür ist die geplante Umgestaltung des Bahnhofsvorplatzes und -umfeldes in Eutin, wo im Vorfeld der Landesgartenschau 2016 eine intuitive Wegeführung geschaffen werden soll.

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Im Rahmen des 23. Kongresses Städtebaulicher Denkmalschutz wurden mehrere Beispiele für die Wiederherstellung von historischen Grünstrukturen vorgestellt. Die Rekonstruktion des Luisenstädtischen Kanals in Berlin unter starker Einbeziehung der Landesdenkmalpflege ist ein Beispiel für einen wiedergewonnenen innerstädtischen Freiraum, der positive Auswirkungen auf das Stadtklima und eine hohe Aufenthaltsqualität hat. Letzteres bringt ein hohes Identifikationspotenzial für die Bevölkerung vor Ort mit sich. Ähnliches gilt für den Hohentorpark in der Bremer Neustadt. Das Beispiel Andernach, wo Obst und Gemüse zum Selbstpflücken im historischen Zentrum angebaut werden, zeigt, dass mit Hilfe einer unkonventionellen Vorgehensweise verschiedene Ziele erreicht werden können. Neben der Anpflanzung von historischen Kulturpflanzen, die der Bevölkerung nähergebracht werden können, wird zudem das Stadtgrün erheblich aufgewertet. Qualitätsverbesserungen im Bestand und eine Steigerung des Grünanteils wirken sich dauerhaft positiv auf das Stadtklima aus.


Kurzeinschätzung zu den Ergebnissen Bei der Fokussierung auf die Aspekte Stadtklima und Stadtgestaltung zeigt sich, dass zahlreiche städtische Freiräume an derzeitige Anforderungen anzupassen sind. Das historische Erscheinungsbild bietet dabei gute Anknüpfungspunkte. Die im Rahmen des Vor-Ort-Monitorings besuchten Städte sind Beispiele für die hohe Qualität von Uferlagen und gestalteten Grünräumen hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit und ihrer Bedeutung als Orte des Wohlfühlens und der Identifikation. Zusätzlich haben unbebaute Freiräume mit einer natürlichen Oberflächenbeschaffenheit – wie Wasserflächen und Stadtgrün – positive Auswirkungen auf das Stadtklima. Öffentliche Freiräume am Wasser in Stralsund

Zu den stadtklimatischen Auswirkungen verschiedener Materialien und Freiraumgestaltungen konnte im Rahmen des Vor-Monitorings keine intensive Auseinandersetzung stattfinden. Das Thema wurde im Rahmen der beim Kongress vorgestellten Beispiele nur angerissen. Ein Grund hierfür sind fehlende kommunale Beispiele, die die klimaverbessernden Wirkungen von Stadtgrün in der historischen Stadt belegen. Wünschenswert sind diesbezüglich Bewertungsmaßstäbe und in der kommunalen Praxis handhabbare Kriterien zur Einschätzung der Wirkungen von freiraumplanerischen Maßnahmen auf das städtische Mikroklima. Dies betrifft beispielsweise die Begrünung von Blockinnenbereichen, die Wiederherstellung von Wallanlagen, Maßnahmen zur Entsiegelung, eine bewusste Oberflächengestaltung oder auch die bessere Zirkulation durch Frischluftschneisen. Gerade im Zusammenhang mit den aktuellen Herausforderungen des Klimawandels sollte eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld auf kommunaler Ebene angeregt werden. Dem Thema Gestaltung und Vernetzung von Freiräumen widmete sich die Expertengruppe detailliert im Rahmen ihrer Vor-Ort-Monitorings. So tragen eine zurückhaltende Gestaltung der Freiräume und der Einsatz regionaler Baumaterialien maßgeblich zur Qualität der historischen Stadt bei und fördern die Orientierung und Vernetzung. Regionale Bautypen, verwendete Materialien sowie die Farb- und Formgebung können durch eine schlichte Formsprache besser zur Geltung kommen. Es zeigte sich, dass gerade Kommunen in den alten Bundesländern durch die Stadtsanierung in den 1970er und 1980er Jahren Gestaltungsdefizite im Freiraum aufweisen. Deren Reparatur ist in vielen Kommunen ein Schwerpunkt bei der Programmumsetzung. Daher sollte die vertiefte Betrachtung der stadtindividuellen Potenziale von „Grün“ und „Blau“ fester Bestandteil in integrierten Handlungskonzepten für historische Stadtquartiere sein.

Touristisch attraktive Freiräume mit maritimem Flair in Stralsund

Freiraum für… Mobilität und Barrierefreiheit Historische Stadträume müssen unterschiedlichste Ansprüche und Funktionen miteinander vereinbaren: Sie sind einerseits Treffpunkte, Orte zum Verweilen und Wohlfühlen, andererseits sind sie Funktionsraum für verschiedene Mobilitätsformen und -ansprüche. Mit ihrer kompakten Stadtstruktur und kurzen Wegen bringen historische Stadtbereiche ideale Grundvoraussetzungen für den nicht-motorisierten Individualverkehr mit sich. In der Praxis werden sie bislang häufig von einem hohen Aufkommen an fließendem und ruhendem motorisierten Individualverkehr geprägt, der für Fußgänger und Fahrradfahrer mit Einschränkungen verbunden ist und die Aufenthaltsqualität mindert. Neben ästhetisch-gestalterischen Kriterien müssen also auch Funktionalität und Nutzerfreundlichkeit verschiedener Nutzer- und Altersgruppen unter Einbeziehung von Strategien zur Barrierefreiheit und Barrierearmut berücksichtigt werden.

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Ergebnisse Insbesondere im Zusammenhang mit den Defiziten der Stadtsanierung der 1970er und 1980er Jahre spielt das Thema Mobilität eine große Rolle für die Freiraumgestaltung und wurde seitens der Expertengruppe Städtebaulicher Denkmalschutz im Rahmen des Vor-Ort-Monitorings in mehreren Städten diskutiert. Große Straßenquerschnitte, wie in Lippstadt und Bad Karlshafen, stellen Barrieren im historischen Stadtraum dar und tragen zu einer mangelhaften Aufenthaltsqualität im umgebenden Stadtraum bei. Gleichzeitig ergeben sich aus dem hohen Verkehrsaufkommen negative Auswirkungen für die Gebäudesubstanz und Lebensqualität – die Konsequenz ist häufig ein erhöhter Leerstand in angrenzenden Gebäuden. Gerade Wohneinheiten in den oberen Etagen von Geschäftshäusern entlang der Hauptverkehrsstraßen sind besonders betroffen. Viele historische Stadtkerne sind darüber hinaus stark vom ruhenden Verkehr geprägt. So sind in Eutin und Lippstadt die großen Sammelstellplätze in zentraler innerstädtischer Lage kritisch zu betrachten. Sie erhöhen den Such- und Zielverkehr und nehmen viel Platz in Anspruch, der anderenfalls für andere Nutzungen zur Verfügung stehen könnte. Gleichzeitig äußern die Akteure vor Ort aber, dass die Parkmöglichkeiten zum einen einzelhandelsfördernd und als Bewohnerparkplätze der Bevölkerung unverzichtbar sind. Einen innovativen Ansatz stellt das integrierte Mobilitätskonzept für die Altstadt von Lippstadt dar, das alle Verkehrsträger berücksichtigt. Ziel ist die Einführung eines flächendeckenden Tempolimits von Tempo 30 sowie die Verkleinerung der Verkehrsflächen für den motorisierten Verkehr. Im Gegenzug sollen die Bewegungs- und Aufenthaltsbereiche für nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer ausgebaut werden. Die Anforderungen an eine barrierearme Gestaltung sind häufig schwer mit den historischen Bodenbelägen zu vereinbaren. In einigen Städten wurden neue Lösungswege gesucht, indem beispielsweise das historische Kopfsteinpflaster abgeschliffen wurde, um eine ebene Fläche zu erzeugen. Die Expertengruppe begrüßt diese Vorgehensweise, weil so die historische Authentizität bewahrt werden kann und gleichzeitig bestandsorientierte Verbesserungen für mobilitätseingeschränkte Personen erreicht werden. Im Rahmen des 23. Kongress Städtebaulicher Denkmalschutz wurde der Aspekt der Barriere-

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freiheit und -armut ebenfalls vertieft. Am Beispiel des Herderplatzes in Weimar wurde deutlich, dass die Herausforderung in der Zusammenführung unterschiedlicher Interessen liegt. Hier war eine umfangreiche Beteiligung der betroffenen mobilitätseingeschränkten Personengruppen notwendig, um eine praxistaugliche Lösung zu erzielen. Deutlich wurde auch, dass eine vollständig barrierefreie Gestaltung der historischen Stadtbereiche nur schwer zu realisieren und daher eine barrierearme Stadtgestaltung zu verfolgen ist. Die Stadt Glückstadt hat es sich zum Beispiel auf Grundlage eines Konzepts zur Aufgabe gemacht, barrierearme Wegeketten zwischen wichtigen Einrichtungen des täglichen Lebens einzurichten.

Kurzeinschätzung zu den Ergebnissen Die Auseinandersetzung mit Mobilität und Barrierefreiheit zeigt, wie selbstverständlich die Dominanz des motorisierten Verkehrs in historischen Stadtkernen ist. Der Beitrag aus Dänemark im Rahmen des 23. Kongresses Städtebaulicher Denkmalschutz, der die Aufenthaltsqualität der Menschen in den Mittelpunkt stellte, machte deutlich, dass ein radikales Umdenken im Umgang mit dem Fahrzeugverkehr neue Qualitäten schaffen kann. Nur eine Annäherung ohne Denkverbote schafft wirklich Raum für neue Lösungsansätze. Wie sich Mobilität in der historischen Stadt ausdifferenziert, hängt von der jeweiligen städtischen Ausgangssituation ab – dies zeigt sich in den Städten der Vor-Ort-Monitorings. Themen waren hier die Reduzierung der Verkehrsflächen und des motorisierten Verkehrs zugunsten einer fußgänger- und fahrradfreundlichen Gestaltung sowie der Umgang mit innerstädtischen Stellplatzflächen. Dabei sind die Ansprüche der unterschiedlichen Verkehrsträger sowie Maßnahmen für eine barrierearme Gestaltung in Einklang mit der historischen Authentizität des jeweiligen Stadtquartiers zu bringen. Im Hinblick auf eine zukunftsfähige Gestaltung von Freiräumen ist eine Betrachtung von Mobilität und Barrierefreiheit als Querschnittsthema notwendig – wie sich Menschen in der Stadt bewegen, steht im direkten Zusammenhang mit der Gestaltung und Wahrnehmung historischer Stadtbereiche als Ganzes. Der Leitfaden „Die barrierefreie Gemeinde“ des Freistaates Bayern im Rahmen des Modellvorhaben „Bayern barrierefrei 2023“ zeigt eine Reihe an Handlungsoptionen auf.


Marktplatz von Eutin

Freiraum für… Zwischennutzung und Nach­ verdichtung Baulücken und Brachen in der historischen Stadtstruktur ermöglichen verschiedene Nutzungen, sowohl temporär als auch dauerhaft. Gerade in prosperierenden beziehungsweise wirtschaftlich stabilen Regionen, wo historische Stadtquartiere attraktive Standorte für Wohnen, Handel, öffentliche und private Dienstleistungen darstellen, sind sie prädestiniert für zeitgenössische bauliche Ergänzungen, die sich im Hinblick auf Größe, Kubatur und Materialität in das historische Stadtbild einfügen. Mit Neubauprojekten wird gezielt Nutzungsvielfalt initiiert und es können neue Nutzungsansprüche Berücksichtigung finden. In nachfrageschwachen Regionen können mit Hilfe von Zwischennutzungen der Bevölkerung Möglichkeiten künftiger und alternativer Nutzungen aufgezeigt werden. Baulücken und Brachflächen werden so Attraktionen auf Zeit und machen für denkbare Weiternutzungen auf sich aufmerksam.

Ergebnisse Neubauten in historischen Stadtquartieren stellen aus Sicht der Expertengruppe Städtebaulicher Denkmalschutz eine große Chance dar, bestehende Lagen zu stärken. Mit der Bebauung von Baulücken und Brachen können neue Wohn- und Einzelhandelsflächen geschaffen werden, die von den baulichen Voraussetzungen her aktuellen Anforderungen und Bedürfnissen genügen. Hierbei ist es wichtig, zunächst die zentralen Lagen in den historischen Stadtkernen zu stärken und nicht über die Bebauung von Hinterhofflächen oder ähnliches eine Konkurrenzsituation zum bestehenden Angebot in den Haupteinkaufsstraßen entstehen zu lassen. Im Rahmen des 23. Kongresses Städtebaulicher Denkmalschutz wurde das Kunst- und Kulturquartier in Göttingen vorgestellt. Vorgesehen sind die Sanierung historischer Bausubstanz sowie ein ergänzender Neubau in der südlichen Innenstadt. Über einen Nutzungsmix soll ein attraktiver Anziehungspunkt über das Quartier hinaus entstehen.

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Neubau im historischen Stadtkern von Norden

Wichtig ist, dass bei der Ansiedlung von neuen Nutzungen mit überregionaler Strahlkraft – wie dem Kunst- und Kulturquartier – die Auswirkungen auf das umgebende Stadtquartier bereits im Planungsprozess berücksichtigt werden. Aus aktuellem Anlass wurde das Thema der Flüchtlingsunterbringung, deren Wohnversorgung und Integration vertieft. Hier gibt es derzeit und zukünftig einen großen Nutzungsdruck. In Sachsen werden Ansätze zur dauerhaften Flüchtlingsunterbringung in historischen Stadtquartieren verfolgt. Durch die Nutzung leerstehender Gebäude als Wohnraum für Flüchtlinge werden diese einer neuen – dringend benötigten – Nutzung zugeführt und tragen so auch zur Belebung der Stadtzentren bei. Gleichzeitig bieten historische Stadtkerne mit ihren öffentlichen und sozialen Einrichtungen sowie der Einzelhandelsund Dienstleistungsinfrastruktur gute gesellschaftliche und räumliche Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Integration. Die Wohnversorgung und gesellschaftliche Teilhabe von Flüchtlingen ist somit ein wichtiges Thema im Rahmen der integrierten Stadtentwicklung. Dabei ist die Herangehensweise in Sachsen exemplarisch für einen guten und möglichen Umgang mit den aktuellen Herausforderungen. Ein

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Beispiel gelungener Integration in Niedersachsen ist die Stadt Norden, in der Bewohner, die einst als Flüchtlinge kamen, mittlerweile Eigentum erworben haben und so in denkmalgeschützte Altbauten investieren. Insbesondere im Rahmen des Vor-Ort-Monitorings in der Hansestadt Stralsund setzte sich die Expertengruppe Städtebaulicher Denkmalschutz intensiv mit den Herausforderungen an die Freiraumentwicklung im Zusammenhang von Investitions- und Nutzungsdruck auseinander. Dabei wurde festgestellt, dass bei der Neugestaltung und -bebauung (temporärer) Freiräume die historische städtebauliche Situation zu berücksichtigen ist und Städte die Rahmenbedingungen hinsichtlich Art und Maß der baulichen Nutzung vorgeben müssen. Des Weiteren sollte besonderes Augenmerk auf den Erhalt des historischen Stadtbildes und die regionalen Bautraditionen gelegt werden. Beim Einfügen von Neubauten ist ein sorgsamer Umgang mit Details und Farben notwendig, um eine hohe städtebauliche Qualität zu erzielen. Anzustreben ist eine behutsame Entwicklung bestehender Brachen, die nicht abschließend sein


Kurpromade von Bad Karlshafen an der Weser

muss und so auch Weiterentwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft bereiten halten kann.

Kurzeinschätzung zu den Ergebnissen Die im Rahmen des Vor-Ort-Monitorings und des 23. Kongresses Städtebaulicher Denkmalschutz untersuchten Beispiele zeigen, dass der räumliche Schwerpunkt bei Zwischennutzungen und Nach­ verdichtungen auf zentrale Lagen im historischen Stadtkern zu legen ist. So wird die historische Stadt insgesamt in ihren zentralen Funktionen – Wohnen, Arbeiten und Handel – gestärkt. Ein Schwerpunkt der Betrachtung lag auf der Steuerung von Investitions- und Nutzungsdruck in Verbindung mit Nachverdichtung in historischen Stadtkernen und -bereichen, die eine dynamische Entwicklung aufweisen. So ist die Steuerung einer qualitativ hochwertigen Nachverdichtung eine besondere Herausforderung auf kommunaler Ebene. Ziel muss ein passgenaues Einfügen im Hinblick auf das historische Stadtbild und regionale

Bautraditionen sein – hierfür sind seitens der Kommunen klare Rahmenbedingungen hinsichtlich Art und Maß der baulichen Nutzung vorzugeben. Eine besondere Situation gibt es in historisch geprägten Kurorten und Seebädern, in denen sich die starke Entwicklungsdynamik bereits durch städtebauliche Konsequenzen und soziostrukturelle Veränderungen äußert. Eine Vertiefung dessen ist im Rahmen eines eigenständigen Veranstaltungsformates im Jahr 2017 vorgesehen. In strukturschwachen, schrumpfenden Kommunen werden umso mehr neue Impulse zur Stärkung der historischen Stadtkerne und -bereiche benötigt. Zwischennutzungen sind hierbei ein gutes Mittel, um Aufmerksamkeit zu schaffen, zu beleben und Folgenutzungen zu initiieren. Die Integration von Flüchtlingen mit Bleibeperspektive im Rahmen der integrierten Stadtentwicklung stellt dabei eine Chance für die Stabilität der Kommunen dar. Der Freistaat Sachsen erprobt hierzu Mittel und Wege einer möglichen Umsetzung.

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Historisches Hafenbecken von Bad Karlshafen

Freiraum für… Nutzungen und Bespielung, ­Belebung und Begegnungen Stadt- und Marktplätze, Parkanlagen, Uferbereiche und weitere Freiräume in historischen Stadtquartieren sind das ganze Jahr über lebendige Aufenthaltsbereiche. Sie dienen als Treffpunkte, Aktionsräume, Identifikationsorte, Eventflächen oder Attraktionen. Neben den Bürgern einer Stadt werden unterschiedliche Besuchergruppen zu verschiedenen Zeiten angezogen. Deren Ansprüche an den öffentlichen Raum stehen häufig im Widerspruch zu den Bedürfnissen der Bürger und Anwohner. In dem Zusammenhang sind auch die Grenzen von Nutzungen zu ermitteln und der Freiraum vor Übernutzung zu schützen. Zudem geben Formate, wie Landes- und Bundesgartenschauen sowie Bauausstellungen, Möglichkeiten der Bündelung baulicher und gestalterischer Maßnahmen, die die Entwicklung der Stadt beschleunigen und stärken können. Eine weitere Chance für eine erfolgreiche Freiraumentwicklung und neue Denkansätze liegt in der Stadtgesellschaft: So interessieren sich die Bevölkerung und verschiedene Interessensvertreter für

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ihre historischen Stadtquartiere und möchten deren Zukunft mitgestalten und mitentscheiden.

Ergebnisse Welche Chancen die Freiraum- und Stadtentwicklung im Rahmen von Events mit sich bringen, zeigt das Beispiel Eutin. Die Stadt hatte durch die Ausrichtung der Landesgartenschau die Möglichkeit, in kurzer Zeit mit einer guten finanziellen Ausstattung eine Vielzahl von Maßnahmen im öffentlichen Raum zu realisieren. Die Bündelung der finanziellen und personellen Kapazitäten wäre ohne die Ausrichtung der Landesgartenschau in der Kürze der Zeit nicht realisierbar. Landesgartenschauen und ähnliche Formate mit Eventcharakter können entsprechend als Motor für die Stadtentwicklung fungieren und so einen positiven Impuls geben. Mit der Ausrichtung der Landesgartenschau gibt es für die Stadt Eutin die Möglichkeit, ihre wassernahen Freiräume in Wert zu setzen und in dem Zusammenhang auch neue Nutzungen am Wasser zu realisieren. Die 2015 von der Expertengruppe besuchten Städte


verfügen nach Einschätzung der Expertengruppe grundsätzlich über wassernahe Freiräume mit Potenzial. Während in Lippstadt entlang der Lippe im nördlichen Bereich bereits umfangreiche Aufwertungsmaßnahmen, die die Zugänglichkeit zum Wasser verbesserten, stattgefunden haben, befindet sich Bad Karlshafen am Beginn der Umsetzungsphase. Die laufende Sanierung des Hafenbeckens und die geplante Verknüpfung mit den Wasserläufen Weser und Diemel sind eine große Chance für die Stadtentwicklung. So kann die Öffnung des Hafenbeckens für die Sport- und Freizeitschifffahrt zur Belebung des Hafenbereiches beitragen. Eine attraktive Freiraumgestaltung entlang der innerstädtischen Wasserflächen verbessert außerdem die Lebensqualität der Anwohner und kann in Verbindung mit attraktiven Wohnangeboten potenzielle neue Bewohner anziehen. Gerade aufgrund der großen Entwicklungschancen ist im Rahmen der touristischen Entwicklung ein stadt- und denkmalgerechter und somit ein behutsamer Tourismus anzustreben. Eine mögliche Übernutzung soll von vornherein vermieden werden. Das Vor-Ort-Monitoring zeigte, dass wassernahe Freiräume ein besonderes Potenzial für Bewohner und Besucher darstellen – ein öffentlicher Zugang zu den Wasserkanten ist daher stets zu ermöglichen. Es bietet sich eine zurückhaltende, am historischen Bestand orientierte Gestaltung der Uferzonen an, die Freiräume der Nutzung lässt. Gerade in saisonal touristisch geprägten Regionen sollte auf eine Gestaltung wert gelegt werden, die sich sowohl für eine hohe und eine niedrige Nutzungsintensität eignet. Im Jahr 2015 wurden für das Programm Städtebaulicher Denkmalschutz vier Fallstudien durchgeführt, unter anderem für das Sanierungsgebiet „Innenstadt Ost/ Brückenpark“ in Görlitz. Eine der zentralen Maßnahmen innerhalb dieses Gebietes ist die Entstehung des über zwei Kilometer langen Parks entlang der Neiße. Der Brückenpark und seine Umgebung bilden einen zentralen Kommunikationsstandort für die Bewohner der Europastadt Görlitz/Zgorzelec und leisten einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der Grenze. Die Qualität dieses öffentlichen Freiraumes liegt heute in den neugestalteten Uferseiten: der Griechische Boulevard auf polnischer Seite und der Uferpark auf deutscher Seite der Neiße. Der neu entstandene Freiraum ist heute eine beliebte Begegnungsstätte der beiden Nationen, bei der die

gemeinsamen Maßnahmen zur Kultur, Bildung und Kommunikation im Mittelpunkt stehen. Beim 23. Kongress Städtebaulicher Denkmalschutz wurde mit der Bundesgartenschau 2015 (BUGA) in der Havelregion ein weiteres Beispiel für den möglichen Impuls durch Gartenschauen vorgestellt. So bot die stadt- und bundesländerübergreifende Bundesgartenschau die Möglichkeit der verbesserten interkommunalen Kooperation und Vernetzung; gleichzeitig erhielten die beteiligten Städte einen positiven Entwicklungsschub durch die Qualifizierung innerstädtischer Freiräume. Das Beispiel Illingen mit einer Ideenwerkstatt für die Bürger zur Aufwertung des Marktplatzes und auch die Kinder- und Jugendbeteiligung zeigen, dass die Gestaltung von Freiräumen in historischen Stadtquartieren die Stadtbevölkerung aller Altersgruppen interessiert und zur Teilhabe motiviert. Es wird deutlich, dass die Einbeziehung der Bevölkerung in der Planungsphase immer einen Mehrwert für die spätere Nutzung darstellt. Schlussendlich können so mit Unterstützung der Bürger Freiräume entwickelt werden, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen und so die Voraussetzung erfüllen, als akzeptierte und gut genutzte Orte funktionierende, identitätsstiftende Stadträume zu werden.

Kurzeinschätzung zu den Ergebnissen Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Themenaspekten Nutzungen, Bespielung, Belebung und Begegnung wurde deutlich, dass sich der Stellenwert und damit die Wahrnehmung des Freiraums in der historischen Stadt stark gewandelt haben. Während öffentliche Plätze und Straßen früher notwendige Räume für Handel und Austausch waren, hat sich dies im Zuge der Digitalisierung zum Teil ins Internet verlagert. Innerstädtische Freiräume sind darüber hinaus heute Freiräume zum Wohlfühlen, zum Aufhalten und zum Erholen – daraus resultieren neue Nutzungen und Nutzungsansprüche. Um die historische Authentizität, die die Attraktivität der historischen Quartiere maßgeblich ausmacht, zu bewahren, sind die Interessen der Bevölkerung und Besucher in Einklang zu bringen. Gerade historische Stadtbereiche, die wie Bad Karlshafen mit seiner einzigartigen Stadtanlage und der Lage an Weser und Diemel punkten können, bergen ein hohes touristi-

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Kunst- und Kulturquartier in Göttingen

sches Potenzial. Um Konflikte zu vermeiden und die Ursprünglichkeit der Stadtquartiere zu sichern, ist ein behutsamer Tourismus von hoher Bedeutung. Stark frequentierte Stadtzentren, die wie die Hansestadt Stralsund naturräumlich attraktiv gelegen sind und durch das UNESCO-Welterbe erhöhte Aufmerksamkeit erfahren, sind vor (saisonaler) Übernutzung zu schützen. Es empfiehlt sich daher ein umsichtiges Vorgehen mit (temporären) Freiräumen, um auch zukünftig Nutzungsvielfalt zu sichern und zu ermöglichen. Insbesondere durch das Vor-Ort-Monitoring der Expertengruppe in Eutin sowie die Auseinandersetzung mit der Bundesgartenschau (BUGA) in der Havelregion im Rahmen des Kongresses wurden die Chancen für die Stadtentwicklung durch Formate mit Eventcharakter behandelt. So ermöglichen beispielsweise Bundes- und Landesgartenschauen die Bündelung verschiedener Maßnahmen in einem kurzen Zeitraum mit erhöhten finanziellen und personellen Kapazitäten. Events dieser Art können somit eine Impulswirkung für die Stadtentwicklung darstellen und – während ihrer Durchführung und im Idealfall auch darüber hinaus – verstärkt Besucher anlocken, die die historische Stadt beleben.

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Fazit Die intensive Bearbeitung des Jahresthemas 2015 „Frei-Raum in der historischen Stadt“ verdeutlicht den Facettenreichtum innerstädtischer Frei-Räume und ihren stetigen Weiterentwicklungsbedarf aufgrund des ständigen Wandels von Stadt und Gesellschaft. Ihre Anpassung an zeitgemäße Anforderungen unter Berücksichtigung historischer Anknüpfungspunkte ist ein wesentliches Ziel im Rahmen der Programmumsetzung Städtebaulicher Denkmalschutz. Gut gestaltet und genutzt tragen Freiräume in der historischen Stadt zum Wohlfühlempfinden von Bewohnern und Besuchern bei – diese bringen Erwartungen und Nutzungsansprüche mit sich, denen historische Stadtkerne und -bereiche gerecht werden müssen. Dabei haben sich die Ansprüche an den Freiraum in der historischen Stadt gewandelt – heute ist dieser zunehmend Erholungs- und Wohlfühlraum. Wichtige Elemente dafür sind attraktive Nutzungen und Angebote sowie stadtbildprägende historische Gebäude, Uferlagen und gepflegte Grünflächen. Neben der emotionalen identitätsstiftenden Wirkung, die die historische Stadt


Nachverdichtung im historischen Stadtgrundriss von Stralsund

damit aufweist, birgt sie verschiedene Potenziale und Weiterentwicklungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Themen Stadtgestaltung und Stadtklima, Mobilität und Barrierefreiheit, Zwischennutzungen und Nachverdichtung sowie Nutzungen, Belebung und Bespielung. Freiraumentwicklung sollte sich an dem Gebäudebestand der historischen Stadt orientieren. Eine zurückhaltende Gestaltung des öffentlichen Raums und die Verwendung regionaler Materialien bei der Oberflächengestaltung tragen dazu bei, die Qualität der Bebauung zu unterstreichen. Hier besteht gerade in den alten Bundesländern Sanierungsbedarf, da die Umsetzungsergebnisse der Stadtsanierung aus den 1970er und 1980er Jahren nicht mehr aktuellen Anforderungen entsprechen. Hinzu kommen Grünräume und Wasserflächen, die in den häufig sonst so steinernen historischen Stadtkernen und -bereichen neben ihrem gestalterischen Mehrwert auch ein Potenzial für das Stadtklima darstellen. Dass eine bewusste Oberflächengestaltung, Entsiegelung und Steigerung des Grünanteils positive Auswirkungen haben kann, gilt als unstrittig. Umso wichtiger sind

daher handhabbare Kriterien zur Einschätzung von Potenzialen und Wirkungen von „Grün und Blau“ auf das Stadtklima.Die historische Stadt bietet mit kurzen Wegen und einer alltagstauglichen Funktionsmischung gute Grundvoraussetzungen für eine nicht-motorisierte Form von Mobilität. Dennoch gehören Kraftfahrzeuge noch immer wie selbstverständlich zum täglichen Bild in der historischen Stadt. Die jeweils unterschiedliche städtische Ausgangssituation trägt wesentlich zum Mobilitätsverhalten ihrer Bewohner und Besucher bei. Hinzu kommen die einzelnen Ansprüche unterschiedlicher Verkehrsträger und Anforderungen an eine barrierearme Gestaltung. Letzteres wird im Zuge des demografischen Wandels immer dringlicher. Im Hinblick auf eine zukunftsfähige Weiterentwicklung von Freiräumen im Sinne einer verbesserten Aufenthaltsqualität sollte eine „autoarme“ historische Stadt fokussiert werden. Beispiele aus anderen Ländern wie Dänemark zeigen, dass die menschlichen Bedürfnisse viel stärker in den Mittelpunkt zu stellen sind, als es aktuell häufig der Fall ist. Um eine spürbare Steigerung der Aufenthaltsqualität in der historischen Stadt zu erreichen, sind ohne Denkverbote Lösungsansätze zu erarbeiten. Je stärker in bestehende Strukturen und ge-

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sellschaftliche Gewohnheiten eingegriffen wird, desto wichtiger ist die Vermittlung der neuen Qualitäten und die Beteiligung der Bevölkerung an Planungsprozessen. In schrumpfenden und wachsenden Städten werden unterschiedliche Strategien und Vorgehensweisen in der Stadtentwicklung benötigt – beide Entwicklungstendenzen haben große Auswirkungen auf Frei-Räume in der historischen Stadt. So ist die Steuerung von Investitions- und Nutzungsdruck eine besondere Herausforderung für prosperierende Kommunen. Von Bedeutung sind hier klare Regelungen hinsichtlich Art und Maß der baulichen Nutzung, um eine hochwertige Nachverdichtung im Einklang mit dem umgebenden historischen Stadtbild zu erreichen. Um betroffenen Kommunen – wie beispielsweise historisch geprägten Kurorten und Seebädern, in denen bereits sowohl städtebauliche als auch soziostrukturelle Veränderungen spürbar sind – Lösungsmöglichkeiten aufzeigen zu können, ist eine systematische Erfassung von Instrumenten und Strategien zum Umgang mit Investitionsdruck anzustreben. Gleichzeitig bedürfen strukturschwache, schrumpfende Städte Möglichkeiten und Impulse zur Unterstützung ihrer Kreativität im

Wittenberg???

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Umgang mit Brachen und Leerstand. Chancen liegen auch in dem Zuzug von Flüchtlingen mit Bleibeperspektive, die als neue Bewohner historischer Stadtkerne in die Stadtgesellschaft zu integrieren sind. Die Auseinandersetzung mit Frei-Raum in der historischen Stadt anhand der kommunalen Beispiele aus dem Vor-Ort-Monitoring sowie fachlicher Expertisen hat gezeigt, dass Frei-Räume einen großen Stellenwert bei der Programmumsetzung im Städtebaulichen Denkmalschutz besitzen. Hinsichtlich passgenauer Lösungsansätze, die langfristig Bestand haben, gibt es häufig Beratungsbedarf. Sinnvoll wäre daher die systematische Aufbereitung möglicher Instrumente und Strategien zum Umgang mit Frei-Raum, die als Unterstützung für die kommunale Praxis dienen kann. Dabei ist hervorzuheben, dass durch die sich ständig wandelnden Anforderungen an die historische Stadt zwar eine ständige Weiterentwicklung und Anpassung fokussiert werden sollte, nicht aber ein „Fertigbauen“ von Freiräumen. Schließlich ermöglichen Freiräume als Potenzialflächen und Möglichkeitsräume sowie als Frei-Räume zum Denken auch in Zukunft Frei-Räume für Veränderung.


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Gartenfassade eines Wohnhauses in der Chemnitzer Straße in Frankenberg

Unterbringung von Flüchtlingen in der Altstadt – Mobilisierung von Altbaubestand Michael Köppl, Städtebau- und EU-Förderung, Sächsisches Staatsministerium des Inneren

Im August 2015 tagte in Lippstadt der 23. Kongress Städtebaulicher Denkmalschutz unter dem Motto „Frei-Raum in der historischen Stadt“. Dort hatte ich die Gelegenheit, den seit Anfang 2015 verfolgten ­stadtentwicklungsorientierten Ansatz zur Unterbringung von Flüchtlingen in leerstehenden Wohn­ gebäuden in Sachsen vorzustellen. Er findet seinen Niederschlag in der „Richtlinie Flüchtlingswohnungen“1, den Fördermöglichkeiten im Rahmen der begleitenden Förderung nach der Richtlinie „Nachhaltige soziale Stadtentwicklung Europäischer Sozialfonds (ESF) 2014-2020“2 und seit Oktober 2015 auch in der Richtlinie zur Förderung von Belegungsrechten3.

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Ausgangslage Asylrechtlich gilt, dass die Flüchtlinge zunächst in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden und nach spätestens sechs Monaten, ehemals drei Monate, an die Landkreise und kreisfreien Städte weitergeleitet werden. Bis zur Entscheidung über ein Bleiberecht sollen sie heimähnlich untergebracht werden. Die Akzeptanz in der Bevölkerung für Flüchtlingsheime ist allerdings sehr niedrig. Eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften über längere Zeit ist für die Flüchtlinge selbst problematisch und bringt insgesamt auch für die Umgebung soziale Probleme mit sich. Eine Integration kann dort nicht geleistet werden.


Leerstehende Wohnung in der Chemnitzer Straße in Frankenberg

Demgegenüber betrug die Leerstandsquote laut Gebäude- und Wohnraumzählung 2011 9,9 Prozent, das heißt rund 221.000 Wohnungen standen leer. Insbesondere zahlreiche große Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern waren überdurchschnittlich von Leerstand betroffen4. Dies trotz weitgehend guter und moderner Infrastruktur. Trotz der seit über 25 Jahren von Bund und Land erfolgreich über die Städtebauförderung eingesetzten Finanzhilfen, insbesondere auch über das Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“, existieren vielerorts in den historischen Innenstädten noch Gebäude, die auf eine Sanierung warten.

Idee Die Flüchtlinge werden zwar als Asylbewerber geführt. Die Berechtigung zum Bleiben ergibt sich in der Regel aus verschiedenen Rechtsgrundlagen und grundsätzlich auch nur auf begrenzte Zeit. Das heißt eine dauerhafte Integration im Sinne einer Mitbürgerschaft stellt sich damit zunächst nicht.Ausgehend von der schwierigen sozialen Situation in den Gemeinschaftsunterkünften und deren negativer Auswirkung

auch auf die Stadtgesellschaft und anknüpfend an den hohen Wohnungsleerstand, besteht einerseits die Chance, Flüchtlingen mit guter Bleibeprognose frühzeitig geeigneten Wohnraum zur Verfügung zu stellen, zum anderen, der durch Bevölkerungsrückgang und Überalterung gekennzeichneten Entwicklung in vielen Regionen perspektivisch entgegenzutreten. Eine Belebung und Stärkung der Innenstädte, die vielerorts unter Ladenleerstand und zunehmender Verödung leiden, könnte mittel- bis langfristig durch integrationswillige Flüchtlinge erfolgen. Derzeit leerstehender Altbaubestand in innerörtlicher Lage, der ansonsten von Verfall bedroht ist, soll hierzu mobilisiert werden. Bisher mangelte es Kommunen und Privaten oft an finanziellen Ressourcen zur Sanierung beziehungsweise die Nachfrage war nicht vorhanden. Die Städte als maßgeblicher Ort für eine gelingende Integration sind jedoch gefragt. „Nur in den Städten und Gemeinden kann Integration gelingen, hier können Menschen unterschiedlicher Herkunft einander kennenlernen, sich austauschen und miteinander leben“5. Aus meiner Sicht ist neben beruflichen

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Wohngebäude in der Äußeren Bautzner Straße 25-29 in Löbau

Perspektiven, das Vorhandensein einer finanzierbaren Wohnung in integrierter Lage und angemessener familiengerechter Größe als Lebensmittelpunkt von Bedeutung. Hier setzen die Richtlinie (RL) Flüchtlingswohnungen und die RL Förderung Belegungsrechte an.

hiermit die seltene Gelegenheit, schwer aktivierbare Gebäude ohne kommunalen Eigenanteil wieder auf den Markt zu bringen. Sofern die Wohnungen nicht mehr für Flüchtlinge benötigt werden, sind sie für Empfänger von Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB II und XII) nutzbar.

Richtlinie Flüchtlingswohnungen

Asylbewerber können nach Erhalt eines Bleiberechts in Einverständnis mit dem Vermieter und dem Landkreis beziehungsweise der Stadt in den Mietvertrag eintreten beziehungsweise neu vereinbaren. Gerade für Familien mit mehreren Kindern ist dies eine sinnvolle Lösung, denn sie müssten dann nicht mehr umziehen.

Die RL Flüchtlingswohnungen finanziert den Städten und Gemeinden den ansonsten erforderlichen kommunalen Eigenanteil im Rahmen der laufenden Programme der Bund-Länder-Städtebauförderung, sofern die Kommune oder ein Dritter die Fördermittel zur Sanierung und Modernisierung von Gebäuden einsetzt und damit dezentrale Wohnungen primär für Asylbewerber schafft. Mit den Landkreisen und kreisfreien Städten werden im Vorfeld die Wohnungen zur Anmietung für Flüchtlinge abgesprochen. Die vor dem Hintergrund der besonderen gesellschaftlichen Herausforderung ausgereichte Sonderförderung aus Landesmitteln ist an eine zehnjährige Belegungsbindung geknüpft. Den Kommunen bietet sich

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Zur Vermeidung einer im Hinblick auf das Integrationsziel nicht zweckmäßigen ausschließlichen Belegung der Gebäude durch Flüchtlinge ist vorgesehen, dass die Eigentümer mit Einverständnis der Kommune einen Teil der Belegungsbindung auf geeignete Wohnungen in integrierter innerstädtischer Lage auch außerhalb von städtebaulichen Fördergebieten übertragen dürfen. Gerade den Wohnungsgesellschaften, die über das Stadtgebiet verteilte Bestände verfügen, bieten sich damit flexible Lösungen. Zudem kann der benötigte


Wohnraum schnell unter Anrechnung auf die zehnjährige Belegungsbindung noch vor Fertigstellung des zu sanierenden Gebäudes bereitgestellt werden. Wichtig ist: Es geht um Wohnen und Wohnqualitäten, nicht um eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, das heißt heimähnliche Unterbringungen. Das bedeutet auf jeden Fall auch im Anerkennungsverfahren mehr Fläche als nach den Flüchtlingsaufnahmegesetzen. Und es bedeutet abgeschlossene Rückzugsräume insbesondere für nichtverwandte Personen, statt Gemeinschaftsräume.Die Richtlinie bot Gelegenheit zur Antragstellung bis zum 31. Dezember 2015. 38 Anträge wurden gestellt. Darunter sind zahlreiche Anträge für Gebäude in Fördergebieten des Städtebaulichen Denkmalschutzes und Bauwerke unter Denkmalschutz. Das Bewilligungsverfahren läuft noch.

Richtlinie Förderung Belegungsrechte Die RL Förderung Belegungsrechte will neben der Unterstützung der Landkreise und kreisfreien Städte Unterbringungsbehörden einen Beitrag zur Aktivierung leerstehender Wohnungen privater natürlicher und juristischer Personen leisten. Die Richtlinie entstand nicht zuletzt, weil seitens der Gemeinden kritisiert wurde, dass die Förderung nach der RL Flüchtlingswohnungen zu kurz greife – zum einen profitierten mangels Aufnahme in die Bund-Land-Städtebauförderung nicht alle Gemeinden im Freistaat von dieser, zum anderen gäbe es auch außerhalb der Fördergebiete ge-

Die Durchführungszeiträume für die Baumaßnahmen sind bis Ende 2017 eingeplant. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass es für die Art und Weise der Herangehensweise zur Durchführung der Fördermaßnahmen von Bedeutung ist, wo organisationsrechtlich in der Kommune die Aufgabe der „Unterbringung“ der Asylbewerber angesiedelt ist. Die Interessen einer Ordnungsabteilung sind naturgemäß andere, als die eines Sozial- oder Stadtplanungsamtes. Die Auslegung der Zielrichtung und Schwerpunktsetzung der RL Flüchtlingswohnungen war demgemäß auf kommunaler Ebene zunächst unterschiedlich. Seitens des Referates Städtebau- und Europäische Union (EU)-Förderung wurde daher in diversen Runden die stadtentwicklungsrelevante Zielrichtung betont – eine Sonderförderung über die Städte­ bauförderung ist nur dann zu rechtfertigen. Eine heimähnliche Unterbringung wird staatlicher­ seits anderweitig finanziert. Die Richtlinie lässt den Städten als Motor der Stadtentwicklung viele Spielräume – es ist an der Kommune, diese in ihrem Sinne geschickt zu nutzen. Aufgrund der nicht erforderlichen Eigenanteilerbringung der Kommune bringt die Förderung indirekt auch einen unüblich hoch ausgereichten Kostenerstattungsbetrag nach Paragraph 177 Baugesetzbuch (BauGB) mit sich. Daher ist besonderes Augenmerk auf ein im Rahmen bleibendes Sanierungsprojekt zu legen. Über eine Neuauflage der Förderung ist noch nicht entschieden.

Straßenfassade der Wohnhäuser in der Chemnitzer Straße 43 und 47 in Frankenberg

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eignete leerstehende Wohnimmobilien, deren Nutzung für Flüchtlinge sinnvoll wäre. Die Richtlinie fördert Landkreise und kreisfreie Städte zum Erwerb von fünfjährigen Belegungsrechten von Privaten an leerstehenden geeigneten Wohnungen gegen ein einmaliges Entgelt zwischen 3.000 Euro und 5.000 Euro, abgestuft nach Wohnungsgröße, zu Gunsten von Flüchtlingen. Mit dieser Richtlinie sollten insbesondere auch Kleinvermieter mit leeren Wohnungen ermutigt werden, diese für Flüchtlinge bereitzustellen. Gegebenenfalls vorab erforderliche Renovierungsaufwendungen können mit diesem Entgelt finanziert werden. Durch eine Anmietung über den Landkreis besteht kein Mietzahlungsrisiko. Auch hier hat sich die Wohnungsbelegung am sozialrechtlichen Standard zu orientieren. Auch hier besteht die Möglichkeit, dass der Flüchtling nach Anerkennung in den Mietvertrag eintritt. Es ist geplant, die Richtlinie in 2016 erneut, eventuell modifiziert, aufzulegen.

Michael Köppl, Jahrgang 1953, Studium der Rechtswissenschaften. 1982 bis 1986 Regierungspräsidium Gießen; 1986 bis 1994 Landkreis Marburg-Biedenkopf - Amt für Umwelt und Abfallwirtschaft; 1995 bis 2000 Sächsisches Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft; 2000 bis 2008 Sächsisches Staatsministerium des Innern, Abteilung Baurecht, Bauplanung; 2009 - heute Sächsisches Staatsministerium des Innern, Referatsleiter Städtebau- und EU-Förderung

Richtlinie Nachhaltige soziale Stadtentwicklung ESF 2014 – 2020 Die Richtlinie Nachhaltige soziale Stadtentwicklung ESF 2014 – 2020 stellt in bestimmten Gebieten flankierend EU-Mittel für die soziale Eingliederung und Integration in Beschäftigung von Menschen in sozial benachteiligten Stadtgebieten bereit. Dazu gehören Bereiche wie informelle Kinder- und Jugendbildung, lebenslanges Lernen/Bürgerbildung sowie soziale Eingliederung/Integration in Beschäftigung. Darüber kann auch die Integration von Flüchtlingen zum Beispiel mittels Sport, Freizeitgestaltung, Familienangeboten, Orientierungshilfen für Migranten, Nachbarschaftshilfen, Stadtteilgärten und offenen Werkstätten gefördert werden. Abzuwarten bleibt, wie sich die kürzlich geschaffenen rechtlichen Änderungen zur Beschleunigung der Anerkennungsverfahren auf die Notwendigkeiten in der Aufnahmeeinrichtung, den Gemeinschaftsunterkünften und in der dezentralen Unterbringung vor Ort auswirken. 1

Richtlinie des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zur Unterstützung der Städte und Gemeinden bei der Unterbringung von Asylbewerbern und anderen ausländischen Flüchtlingen im Rahmen der Programme der Städtebaulichen Erneuerung vom 30. März 2015, SächsABl. S. 502, geändert durch Richtlinie vom 30. Juni 2015, (SächsABl. S. 1010).

2

Richtlinie Nachhaltige soziale Stadtentwicklung ESF 2014–2020 vom 9. März 2015 (SächsABl. S. 402), die durch die Richtlinie vom 11. Januar 2016 (SächsABl. S. 79) geändert worden ist.

3

Richtlinie des Sächsischen Staatsministeriums des Innern über die Förderung der Begründung von Belegungsrechten vom 6. Oktober 2015 (SächsABl. S. 1450).

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4

Sonderbericht Zensus 2011, Teil 2, Seite 6 ff.

5

Die Präsidentin des Deutschen Städtetags und Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen, Eva Lohse, in: Städtetag aktuell, 2/16, S. 1.

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Ansprechpartner Bund

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Referat SW I 6 - Baukultur und Städtebaulicher Denkmalschutz Krausenstraße 17-20 10117 Berlin Ansprechpartnerin: Anke Michaelis-Winter Tel. +49 (0)30 / 183 056 163

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Referat I 7 - Baukultur und Städtebaulicher Denkmalschutz Deichmanns Aue 31-37 53179 Bonn Ansprechpartnerin: Lena Hatzelhoffer Tel. +49 (0)228 / 994 011 225

Bundestransferstelle Städtebaulicher Denkmalschutz c/o complan Kommunalberatung GmbH Voltaireweg 4 14469 Potsdam Ansprechpartner: Hathumar Drost, Jana Breßler Tel. +49 (0)331 / 20 15 122

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Länder

Land Baden-Württemberg Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg Abteilung 6 Fachkräftesicherung und Quartierspolitik ­Referat 65 - Städtebauliche Erneuerung Theodor-Heuss-Strasse 4 70174 Stuttgart Ansprechpartner: LMR Ralph König Tel.: +49 (0)711 / 12 32 084

Freistaat Bayern Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr Abteilung IIC Sachgebiet Städtebauförderung Lazarettstraße 67 80636 München Ansprechpartner: Armin Keller Tel. +49 (0)89 / 21 92 34 78

Land Berlin Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Abteilung IV - Wohnungswesen, Wohnungsneubau, Stadterneuerung, Soziale Stadt Referat IV C Städtebauförderung/Stadterneuerung Württembergische Straße 6 10707 Berlin Ansprechpartnerin: Maria Berning Tel. +49 (0)30 / 901 394 900

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Informationsdienste Städtebaulicher Denkmalschutz 41

Land Brandenburg Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung Abteilung II Stadtentwicklung & Wohnungswesen Referat 21 Städtebau- und Wohnraumförderung Henning-von-Tresckow-Straße 2-8 14467 Potsdam Ansprechpartnerin: Rita Werneke Tel. +49 (0)331 / 86 68 120

Freie Hansestadt Bremen Der Senator für Umwelt, Bau und Verkehr Abteilung Bau und Stadtentwicklung Referat 72 Stadtumbau Contrescarpe 72 28195 Bremen

Freie und Hansestadt Hamburg Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen Amt für Wohnen, Stadterneuerung und Bodenordnung Neuenfelder Straße 19 21109 Hamburg Ansprechpartnerin: Dorothea Haubold Tel.: +49 (0)421 / 36 11 09 65

Land Hessen Hessisches Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Abteilung IV Referat IV 6 Städtebau und Städtebauförderung Mainzer Straße 80 65189 Wiesbaden Ansprechpartnerin: Dr. Helga Jäger Tel. +49 (0)611 / 81 51 820


Land Mecklenburg-Vorpommern Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung Mecklenburg-Vorpommern Referat 530 - Stadtentwicklung und Städtebauförderung Johannes-Stelling-Straße 14 19053 Schwerin Ansprechpartnerin: Ansvera Scharenberg Tel. +49 (0)385 / 58 85 530

Land Rheinland-Pfalz Ministerium des Innern und für Sport Abteilung 8 Kommunalentwicklung und Streitkräfte Referat 383 Städtebauförderung Schillerplatz 3-5 55116 Mainz Ansprechpartner: Walter Greuloch Tel. +49 (0)6131 / 16 34 19

Land Niedersachsen Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Abteilung 5 Städtebau und Wohnen Referat 501 Recht und Förderung des Städtebaus Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 2 30159 Hannover Ansprechpartnerin: MR’in Dr. Frohmute Burgdorf Tel. +49 (0)511 / 12 03 103

Land Saarland Ministerium für Inneres und Sport Abteilung C Kommunale Angelegenheiten und Städtebauförderung Referat C 6 - Stadtentwicklung, Städtebauförderung, EU-Fonds Talstraße 43-51 66119 Saarbrücken Ansprechpartner: Hans-Joachim Schu Tel. +49 (0)681 / 50 14 620

Land Nordrhein-Westfalen Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen Abteilung V Stadtentwicklung und Denkmalpflege Gruppe V A Integrierte Stadterneuerung, Städtebauförderung Jürgensplatz 1 40219 Düsseldorf Ansprechpartner: LMR Karl Jasper Tel. +49 (0)211 / 38 43 52 02

Freistaat Sachsen Sächsisches Staatsministerium des Innern Abteilung 5 Stadtentwicklung, Bau- und Wohnungswesen Referat 54 Städtebau- und EU-Förderung Wilhelm-Buck-Straße 4 01097 Dresden Ansprechpartner: Michael Köppl Tel. +49 (0)351 / 56 43 540

Land Sachsen-Anhalt Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Abteilung 2 Städtebau und Bauaufsicht, ­Landesentwicklung­ Referat 22 Städtebauförderung, Architektur Turmschanzenstraße 30 39114 Magdeburg Ansprechpartner: Maik Grawenhoff Tel. +49 (0)391 / 56 77 467

Serviceteil

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Land Schleswig-Holstein Ministerium für Inneres, ländliche Räume und Integration des Landes Schleswig-Holstein Abteilung IV 5 Bauen und Wohnen Referat 25 Städtebauförderung, Besonderes Städtebaurecht, Baukultur Düsternbrooker Weg 92 24105 Kiel Ansprechpartnerin: Sabine Kling Tel. +49 (0)431 / 98 83 231

Freistaat Thüringen Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft Abteilung 2 Städte- und Wohnungsbau, Staatlicher Hochbau Referat 25 Städtebau, Städtebauund Schulbauförderung Steigerstraße 24 D-99096 Erfurt Ansprechpartnerin: Kerstin Ackermann Tel. +49 (0)361 / 37 91 251

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Bildnachweise Titelbild: Erik-Jan Ouwerkerk Seite 6: Boris Storz I Fotograf, für lohrer.hochrein landschaftsarchitekten und stadtplaner gmbh Seite 7: Hans-Wulf Kunze I Fotograf, für lohrer.hochrein landschaftsarchitekten und stadtplaner gmbh Seite 8: Hans-Wulf Kunze I Fotograf, für lohrer.hochrein landschaftsarchitekten und stadtplaner gmbh Seite 10: Fröhlich, A. (2011): Altstadt in Quedlinburg Seite 11: Fröhlich, A. (2015): Uferpromenade in Basel Seite 12: Fröhlich, A. (2013): Hochwasser an der Losse in Kaufungen Seite 14: Stadt Lippstadt – Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen Seite 15: Stadt Lippstadt – Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen Seite 15: Stadt Lippstadt – Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen Seite 16: Archiv Bezirksregierung Arnsberg Seite 16: Stadt Lippstadt – Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen Seite 16: Stadt Lippstadt – Fachbereich Stadtentwicklung und Bauen Seite 20: Stadt Brandenburg an der Havel, Fachbereich Stadtplanung Seite 21: Stadt Brandenburg an der Havel, Fachbereich Stadtplanung Seite 22: Stadt Brandenburg an der Havel, Fachbereich Stadtplanung Seite 22: Stadt Brandenburg an der Havel, Fachbereich Stadtplanung Seite 23: Stadt Brandenburg an der Havel, Fachbereich Stadtplanung Seite 26: Graphik: Vakant Design-Agentur Seite 27: Tristan Vankann Seite 28: Gartenbauamt Bremen Seite 28: Graphik: Umweltbetrieb Bremen Seite 33: complan Kommunalberatung GmbH Seite 35: complan Kommunalberatung GmbH Seite 35: complan Kommunalberatung GmbH Seite 37: Herr Jenek, Stadtverwaltung Templin, Mai 2016 Seite 41: Stadt Konstanz, Oliver Hanser Seite 42: Stadt Konstanz, Amt für Liegenschaften und Geoinformation, 2016 Seite 44: StetePlanung: Masterplan Mobilität Konstanz

2020+, 2014 Seite 48: Lohrer-Hochrein Landschaftsarchitekten / Thorsten Joachim Seite 49: Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, München Seite 50: Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, München Seite 52: Christian Villiers, Stadt Zeitz Seite 53: Christian Villiers, Stadt Zeitz Seite 54: Christian Villiers, Stadt Zeitz Seite 54: Christian Villiers, Stadt Zeitz Seite 60: Stadtverwaltung Zwickau, Fotosammlung Seite 61: Silke Epple, Mai 2016 Seite 61: Silke Epple, April 2015 Seite 61: Mathis Nitzsche, Leipzig Seite 64: Jörg Heiler Seite 66: Jörg Heiler Seite 69: Planungsbüro STADTKINDER, Dortmund; www.stadt-kinder.de Seite 70: Planungsbüro STADTKINDER, Dortmund; www.stadt-kinder.de Seite 70: Planungsbüro STADTKINDER, Dortmund; www.stadt-kinder.de Seite 72: Yvonne Kirch / Studio B23 Seite 73: Heike Becker Seite 73: Yvonne Kirch / Studio B23 Seite 74: Yvonne Kirch / Studio B23 Seite 79: complan Kommunalberatung GmbH Seite 80: complan Kommunalberatung GmbH Seite 81: complan Kommunalberatung GmbH Seite 82: complan Kommunalberatung GmbH Seite 82: complan Kommunalberatung GmbH Seite 84: complan Kommunalberatung GmbH Seite 85: complan Kommunalberatung GmbH Seite 86: complan Kommunalberatung GmbH Seite 87: complan Kommunalberatung GmbH Seite 89: complan Kommunalberatung GmbH Seite 93: WGF Frankenberg/Sa. „Chemnitzer Straße 43/47“ Seite 94: WGF Frankenberg/Sa. „Chemnitzer Straße 43/47“ Seite 95: Wohnungsverwaltung und Bau GmbH Löbau Seite 96: WGF Frankenberg/Sa. „Chemnitzer Straße 43/47“

Serviceteil

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