Der feurige Engel

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DER FEURIGE ENGEL

SERGEJ PROKOFJEW


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DER FEURIGE ENGEL SERGEJ PROKOFJEW (1891 - 1953)

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Das Scheitern der «Drei Orangen» hat mich darauf gebracht, eine neue Oper über den «Feurigen Engel» zu schreiben. Ich habe den Roman nochmals gelesen und nach­gedacht. Man muss die ganze Dramatik und den Horror ein­bringen, darf aber keinen einzigen Teufel und keine einzige Vision zeigen, sonst bricht alles sofort zusammen… Sergej Prokofjew, Tagebuch, 12.12.1919


Das Scheitern der «Drei Orangen» hat mich darauf gebracht, eine neue Oper über den «Feurigen Engel» zu schreiben. Ich habe den Roman nochmals gelesen und nachge­ dacht. Man muss die ganze Dra­ matik und den Horror ein­bringen, darf aber keinen einzigen Teufel und keine einzige Vision zeigen, sonst bricht alles sofort zusammen… Sergej Prokofjew, Tagebuch, 12. 12. 1919


HANDLUNG Erster Akt Ruprecht, gerade von einer langen Reise zurückgekehrt, trifft auf eine junge Frau, die sich von Dämonen verfolgt glaubt und in einem sehr labilen psychi­ schen Zustand ist: Renata. Nachdem es Ruprecht gelungen ist, sie ein wenig zu beruhigen, beginnt Renata, ihm ihre Geschichte zu erzählen: Als Kind war ihr ein Engel aus Licht erschienen, der sich Madiel nannte. Renata fasste Zutrauen zu ihm. Von da an besuchte der Engel sie beinahe jeden Tag; gemeinsam spiel­ ten sie mit Puppen. Dann wurde Renata älter, und mit 16 Jahren bat sie ihren Engel, er möge sich auch körperlich mit ihr vereinigen. Da wurde der Engel sehr zornig, verbrannte ihr die Schultern und verschwand. Renata stürzte in tiefe Verzweiflung. Später glaubte sie, im Grafen Heinrich einer Inkarnation Madiels begegnet zu sein. Doch auch Heinrich verliess sie nach einem Jahr abrupt. Seither ist Renata wie besessen auf der Suche nach Heinrich. Sie bittet Ruprecht um Hilfe. Eine schmerzhafte Reise durch das Labyrinth von Renatas traumatischen Erinnerungen und äusserst widersprüchlichen Gefühlen beginnt.

Zweiter Akt Renata glaubt, durch magische Beschwörungen eine Wiederbegegnung mit Heinrich herbeiführen zu können. Ruprecht ist bereit, sie mit allen Mitteln bei ihrer Suche zu unterstützen, obwohl er sich mittlerweile in Renata verliebt hat – und obwohl Renata für seine Liebesbezeugungen nichts als Verachtung übrig hat. Plötzlich hört Renata ein mysteriöses Klopfen: Ihre Dämonen scheinen die Ankunft Heinrichs anzukündigen. Doch das erweist sich als Täuschung. Renata ist verzweifelt. Ruprecht sucht Hilfe bei Agrippa, einem berühmten Arzt, der auch magi­ sche Kräfte haben soll. Doch Agrippa bestreitet, Ruprecht und Renata helfen zu können.

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Dritter Akt Renata glaubt, Heinrich gesehen zu haben: In ihrer Vision hat er sie voller Abscheu von sich weggestossen. Wie eine Besessene beschwört Renata Rup­ recht, er solle Heinrich für diese Demütigung bestrafen und ihn töten. Ruprecht weigert sich zunächst, ist aber schliesslich dazu bereit. Genau in dem Moment hat Renata erneut eine Vision: Sie meint, ihren Engel zu sehen, und ist plötzlich wieder davon überzeugt, Heinrich sei die Verkörperung Madiels. Sie beteuert, die Erniedrigungen, die Heinrich ihr zugefügt hat, genossen zu haben. Ruprecht soll, so sagt Renata jetzt, lieber selbst sterben, als Heinrich auch nur ein Haar zu krümmen. Ruprecht bricht zusammen. Renata gesteht ihm ihre Liebe.

Vierter Akt Renata will Ruprecht verlassen, um ins Kloster zu gehen. Seine flehentlichen Bitten, ihn zu heiraten, weist sie schroff zurück. Faust und Mephisto erscheinen und beginnen, ein grausames Spiel mit Renata zu treiben. Ruprecht ist gezwungen, dabei zuzuschauen, ohne Renata helfen zu können.

Fünfter Akt Die Äbtissin beschuldigt Renata der Besessenheit: In ihr seien böse Geister, und ihre Vision von einem Engel sei nichts als eine Erscheinung des Teufels in lich­ ter Gestalt. Sie bringe eine bedrohliche Unruhe in die Gemeinschaft. Deshalb soll der Inquisitor einen Exorzismus an ihr durchführen. Die Teufelsaustreibung endet in einer Massenhysterie. Renata bleibt mit ihrem Schmerz allein.

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Manchmal scheint es mir, als ob ich schon tot wäre und von irgendwoher mit schrecklichen Qualen auf mein vergangenes Leben schaute, an dem ich nie wieder teilnehmen werde. Nina Petrowskaja an Walerij Brjusow, 26.11.1908



ZERRISSENE SEELEN Regisseur Calixto Bieito im Gespräch

Calixto Bieito, Sie inszenieren nun zum zweiten Mal am Opernhaus Zürich – nach Zimmermanns Oper Die Soldaten nun Prokofjews Der feurige Engel. War es Ihr Wunsch, dieses aussergewöhnliche Stück auf die Bühne zu bringen? Nein, es war ein Vorschlag der Opernleitung. Aber ich war sofort einver­­ standen, insbesondere, weil wir Ausrine Stundyte als Renata gewinnen konnten. Sie war bereits meine Katerina Ismailo­wa in Lady Macbeth von Mzensk und Judith in meiner Inszenierung von Herzog Blaubarts Burg an der Komischen Oper Berlin. Es ist extrem inspirierend für mich, mit ihr zu arbeiten. Leigh Melrose, unseren Ruprecht, kannte ich ebenfalls bereits aus der Arbeit; er war mein Don Giovanni in London und Escamillo in meiner Carmen-Inszenie­ rung. Im Feurigen Engel geht es um extreme seelische Zustände wie Schizo­ phre­nie, bipolare Störungen, Traumata, Angst­zustände, Depressionen – Phäno­ mene, die sehr häufig sind in unserer Zeit. Mit Ausrine und Leigh ist es möglich, sehr tief in diese Zustände vorzudringen. Wir erforschen gemeinsam Dinge, die sehr schwer zu begreifen sind, wir begeben uns in die uns un­ bekannte Welt seelischer Krankheit. Ausrine und Leigh verstehen auch ohne viele Worte sehr genau, worum es dabei geht. Ich bin kein Regisseur, der gerne viel redet. Renata hat Visionen von einem brennenden Engel und von Dämonen, die sie verfolgen; Sie denken also, diese Visionen sind Ausdruck einer seelischen Krankheit? Ja, ich denke, Renata ist eine völlig verlorene, kranke, zerrissene Seele, die von der kleinen Dorfgemeinschaft, in der sie lebt, nicht verstanden wird. Die Gesellschaft kann, wie wir wissen, sehr grausam sein; sie kann auch sehr viel Macht haben über ein Individuum. Ich denke, dass wir alle heutzutage

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mani­puliert werden, denn wir sind im Grunde sehr schwach und verletzlich. Renata ist eine verführerische, faszinierende Frau; aber ganz sicher nicht die Femme fatale, als die sie oft gezeigt wird. Sie leidet darunter, dass sie hyper­ sensibel ist und nicht in die Gemeinschaft passt, in der sie lebt. Sie ist in der Lage, Dinge zu sehen und zu fühlen, die ausser ihr niemand sehen und fühlen kann. Man bestraft sie dafür, indem man ihr einredet, sie hätte das Böse in sich. Am Ende glaubt sie selbst daran. Ich fühle sehr mit dieser Figur, und ich möchte, dass auch das Publikum mit ihr fühlt. Zu Beginn des Stückes trifft Renata auf Ruprecht, der gerade von einer langen Reise zurückkehrt und zunächst einmal glaubt, mit Renata leichte Beute für eine Nacht zu haben… …auch Ruprecht ist von Beginn an eine verlorene Figur!

Das komplette Programmbuch können Sie auf Er verliebt sich in Renata, verfällt ihr bis fast zur Selbstaufgabe – und das, obwohl Renata ihn immer wieder zurückstösst, ihm beteuert, www.opernhaus.ch/shop sie könne ihn nicht lieben, weil sie all ihre Liebe dem Engel gegeben hat, der ihr damals als Kind erschienen war… oder am im Foyer Ruprecht wird Vorstellungsabend regelrecht süchtig nach Renata, aber nicht nur das: Er wird süchtig danach, von ihr zurückgestossen zu werden. Er ist bereit, alles für Renata zu tunOpernhauses und sein Leben vollkommen dem ihren unterzuordnen. Renata des erwerben glaubt daran, dass der Engel, der ihr damals erschienen war und sie dann verlassen hatte, als sie ihn bat, sich auch körperlich mit ihr zu vereinigen, dass also dieser Engel in menschlicher Gestalt zu ihr zurückgekommen ist; sie glaubt, ihn im Grafen Heinrich wiedererkannt zu haben. Nun soll Ruprecht ihr zunächst helfen, Heinrich zu finden, mit dem sie ein Jahr gelebt hatte, bevor er eines Tages plötzlich verschwand. Als Ruprecht und Renata den Grafen Heinrich dann tatsächlich finden, bittet Renata Ruprecht, Heinrich zu töten, weil er sie verlassen hat. Doch im nächsten Moment hat sie eine Erscheinung: Sie glaubt, den Engel wiederzusehen – und verbietet Ruprecht, Heinrich im Duell zu töten. Ruprecht nimmt auch diese Forderung an, er ist bereit, für Renata in den Tod zu gehen. Das ist auf den ersten Blick viel­ leicht schwer nachzu­vollziehen. Aber Ruprecht hat ebenso wie Renata eine

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verletzte Seele; mit Renata zusammen zu sein, wird eine übermächtige Obsession für ihn, gegen die er sich nicht wehren kann. Er verliert sich immer mehr. Deshalb ist für mich auch die Wunde, die er im Duell mit Heinrich erleidet und an der er beinahe zugrun­de geht, keine körperliche, sondern eine seelische Verwundung. Und deshalb ist auch das Bühnenbild ein Labyrinth, aus dem es für Ruprecht keinen Ausweg gibt. Rebecca Ringst, Ihre Bühnenbild­ne­rin, hat einen mehrstöckigen Kubus auf einer Drehscheibe entworfen, der für Renatas Kopf steht… Schon Freud sagte: Unser Gehirn ist ein Haus mit vielen Zimmern! In Rebeccas fantastischem Bühnenbild sehen wir die verschiedenen Räume in Renatas Kopf, wir durchlaufen ihre Erinnerungs­räume, wir sehen ihre Ängste, ihren Schmerz, das Labyrinth ihrer Seele. Der Kubus wird sich mehr und mehr auf­lösen zum Schluss des Stückes, so wie auch Renatas Gehirn am Ende explodiert oder, anders gesagt, immer stärker dissoziiert, weil Renata schliesslich jede Orientierung und den allerletzten Halt verliert. Ich denke, dass wir zur­zeit in Europa im Zeitalter der psychischen Krankheiten leben, so wie das der koreanische Philosoph Byung-Chul Han beschrieben hat: Es gab eine Zeit der bakteriellen Krankheiten, die mit der Entdeckung der Anti­biotika zuende ging; dann gab es eine Periode der viralen Krankheiten, als man an einer Er­­kältung sterben konnte; auch das scheint, zumindest in Europa, überwun­den. Nun dominieren psychische Krank­hei­ten wie Depres­ sion, Hyper­aktivität, multiple Persönlichkeiten, Schizo­phre­nie. Ich glaube nicht an Engel oder Teufel, Hexen oder Okkultismus, wie er ja in dieser Oper auch vorkommt. Ich denke, all das ist menschengemacht. Die Menschen besitzen eine sehr starke Einbildungskraft! Häufig sind es ja traumatische Erlebnisse, die zu psychischen Störungen führen. Renatas Erzählung von dem Engel, der ihr zum ersten Mal erschienen ist, als sie acht Jahre alt war, lässt sich als ihre Erinnerung an einen Missbrauch oder, allgemeiner, als einen Schock lesen, den sie als Kind erlitten hat. Für Renata ist diese Erinnerung so schrecklich, dass sie sie von sich abgespalten

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und in das Bild eines lichten Engels gefasst hat. Kindesmissbrauch ist ent­setz­ lich brutal und so viel häufiger, als wir wissen! Auch in meinem Heimatland Spanien kommen viele solcher Fälle langsam ans Tageslicht. Ich kenne diese Gemeinschaft, die ich im Feurigen Engel versuche zu zeigen, sehr gut aus meiner eigenen Vergangenheit. Als ich anfing, mich mit der Oper zu beschäftigen, dach­te ich an ein Mädchen, von dem man in meiner Um­gebung damals sagte, sie hätte Sex mit allen, und sie sei verrückt. Sie war sehr hübsch, ich kann mich gut an sie erinnern. Auch andere Figuren dieser Gemeinschaft im Feurigen Engel sind von meiner Ver­gan­gen­heit inspiriert. In letzter Zeit werde ich ständig gefragt, wo ich herkomme. Ich sage dann meistens, ich komme aus Miranda de Ebros, einer kleinen Stadt in Nordspanien, in der Nähe der Grenze zu Frankreich, und später, als ich 16 war, zog ich nach Barcelona, nach Katalonien. Seitdem denke ich auch auf Katalanisch. Mittlerweile arbeite ich in so vielen internationalen Theatern, dass ich gar nicht mehr genau weiss, wo ich eigentlich hingehöre. Aber meine Heimat ist meine Kindheit. Und wenn diese Kindheit verletzt ist, wenn man in der Kindheit traumatisiert wurde, trägt man das sein ganzes Leben mit sich herum.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Renata war wie besessen auf der Suche nach ihrem Engel, bis sie schliesslichdes glaubte, ihn in dem Grafen Heinrich wiedergefunden zu haben. Opernhauses erwerben Missbrauchsopfer tendieren ebenfalls dazu, ihre traumatischen Erlebnisse zu wiederholen. Um das klarer machen, habe ich den Schauspieler Ernst Alisch engagiert. Er ist Heinrich, gleichzeitig aber auch eine ganz neue Figur – vielleicht Renatas Vater, vielleicht ihr Onkel, der Renata missbraucht hat; vielleicht aber auch der reiche Nachbar, der ihr das Fahrrad­fahren beibrachte, als sie ein kleines Mädchen war, und diese Situation dazu ausnutzte, um sie zu berühren. Dass das Fahrradfahren in unserer Inszenierung so eine grosse Bedeutung hat, hängt einerseits mit dem Film Requiem zusammen; dieser Film greift die letzte grosse Teufelsaustreibung im Deutschland der 70er Jahre auf und spielt in einer ähnlich engen, von völlig übersteigerten religiösen Überzeu­ gun­gen geprägten Kleinstadt wie unsere Inszenierung. Annemarie, die junge

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Frau, die sich vom Teufel besessen glaubte und nach den vielen grausamen Exorzismen, die an ihr durchgeführt wurden, an Unterernährung gestorben ist, war oft mit dem Fahrrad unterwegs und hat nur dann eine Art Freiheit erlebt; zugleich spürt man in diesen Momenten auch, dass sie getrieben ist und versucht, vor etwas Unverständlichem zu fliehen, das sie schrecklich quält. Aber auch hier spielen meine persönlichen Erinne­r ungen eine Rolle: Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich im Zu­sam­men­ hang mit dem Fahrradfahren. Ich war als Kind häufig mit meinen Freunden auf dem Fahrrad unterwegs; eines Tages ist einer meiner Freunde schwer gestürzt und hat sich am Kopf verletzt. Es schien aber bis auf den Schock so weit alles in Ordnung zu sein, und er ging anschliessend einfach nach Hause. Am nächsten Tag war er tot. Ich war sehr schockiert damals. Seine Mutter wurde verrückt vor Schmerz und wanderte ziellos in der Stadt umher. Sie zeigen die Beziehung zwischen Renata und ihrem Peiniger sehr ambivalent… Einerseits hasst sie ihn für das, was er ihr angetan hat, andererseits ist sie noch immer abhängig von ihm, kann sich nicht von ihm lösen, nicht ohne ihn leben. Ihre Grausamkeit gegenüber Ruprecht hat ihren Ursprung in dem, was sie selbst erlebt hat; sie wiederholt ihre eige­nen Erfahrungen. Das passiert natürlich nur dann, wenn man keine Waffen gegen das Trauma hat, das man erfahren muss­te, wenn niemand einem hilft, dem Erlebten zu entkommen. Ich liebe dieses Stück zum einen wegen Prokofjews Musik, die sehr lyrisch und expressiv ist, in den bohrenden, unerbittlich kreisenden Ostinati aber auch die schreckliche Ausweglosigkeit zum Ausdruck bringt, der Renata ausgeliefert ist; zum anderen liebe ich das Stück auch wegen dieses Themas, das, wie gesagt, sehr aktuell ist in der heutigen Zeit, in der so viele Menschen unter Neurosen oder Panikattacken leiden. Das Stück erzählt keine lineare Geschichte, es handelt vielmehr von Renatas Zuständen. Für mich ist der feurige Engel Renata selbst. Alles passiert in ihrem Kopf. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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DER ENGEL Tankred Dorst

Mordred Engel! Hast du meinen Namen gerufen? Ich habe deine Stimme nicht gehört. Ich habe deine Flügel nicht rauschen hören. Bist du da? Ruht dein Auge auf mir – ich spüre es nicht in meinem Rücken brennen. Ich müsste es doch spüren wie eine brennende Wunde! Oder bist du die Kälte, die über mich kommt und die mich, je länger ich hier knie und nach einem Gott Ausschau halte, zu dem ich beten könnte, immer mehr ausfüllt bis in eine Tiefe meines Herzens, die ich vorher nicht kannte, in die nie ein Gedanke und ein Gefühl vorher hinabgedrun­ gen ist. Ist das deine Kälte, Engel? Füllst du mich an mit deiner Kälte? Soll ich in deiner Kälte spüren, dass es Gott gibt? Dass ich nicht allein bin mit meinen Taten? Warum zeigst du dich nicht, Engel? Ich liebe dich, ich will dich lieben, ich will, dass du da bist, dass du hinter mir stehst, wenn ich mich plötzlich umdrehe. Ich habe alles nur deinetwegen getan: meinen ersten frommen Gedanken, Engel, habe ich deinetwegen gedacht, in meinem Kinderbett. Du lobtest mich nicht. Ich hörte deinen Flügel nicht rauschen, als ich nachts aufstand und in den Himmel hinaufsah –, ein leerer schwarzer Himmel! Ich lag weinend in meinem Bett, weil du nicht kamst. – Ich wollte leiden für dich, damit du endlich erschei­ nen solltest. Ich habe mir Qualen ausgedacht und habe mir selber Wunden zu­gefügt, denn ich hatte sehnsuchtsvoll die Bilder der Heiligen angesehen, wie sie gemartert wurden, – den heiligen Sebastian, zitternde Pfeile in seinem Fleisch; den heiligen Laurentius, den sie in das kochende Öl gesenkt haben, langsam, nicht schnell, Zentimeter für Zentimeter, und alle die Gemarterten mit den ver­zückten Augen und den geöffneten Mündern: – die sahen dich doch, Engel, während man sie quälte, und sie riefen dich verzückt wie Liebende beim Namen. Ich stiess mir Nadeln unter die Fingernägel, es tat entsetzlich weh, alle meine Finger waren verkrustet von Blut, aber ich sah dich nicht! Ich dachte, es ist nicht

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genug, nicht genug, die Schmerzen müssen rasender sein, ich muss die rasends­ ten Schmerzen leiden für dich, damit ich dich sehe. Hinten in unserem Garten habe ich meinen nackten Fuss in die Spalte zwischen dem Stein und dem eiser­ nen Brunnenrohr gesteckt, und habe mich langsam immer weiter zurückgebeugt, wollte mich so weit zurückbeugen, bis das Fussgelenk brach. Wie entsetzlich weh das getan hat! Ich zog den Fuss aus der Spalte und weinte. Aber ich weinte nicht, weil es weh getan hat, Engel, sondern ich weinte aus Verzweiflung darüber, dass ich nicht fähig war, meine Schmerzen so zu steigern, dass sie dich beein­ druckten und du erscheinen musstest. Alles war wirkungslos. Aber, Engel, wenn mir nun der Gedanke käme, dass es das Böse ist, das dich herbeizwingt? Er­ scheinst du vielleicht eher den Sündern als denen, die sich dir demütig unter­ werfen wollen? Viele Jahre habe ich nicht gewagt, einen bösen Gedanken zu denken. Aber jetzt denke ich ihn. Einen grossen, verbrecherischen Gedanken… Wenn es dich gibt, musst du ihn schon kennen, und du müsstest kommen und ich müsste deinen Flügel rauschen hören, denn ich habe dir ja bewiesen, dass aus meinen Gedanken Taten werden. Ich werde es tun, Engel! Ich werde es tun!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Du kommst nicht, ich sehe dich nicht, ich höre dich nicht, sosehr ich mein oder am Vorstellungsabend im Foyer Ohr anstrenge und horche. Kein Flügelschlag kommt vom Himmel herab. Du hast mich nicht belohnt, du strafst mich nicht. Ich spüre nichts in meinem Herzen –, gibtOpernhauses es dich nicht? Eine kleine Hoffnungerwerben habe ich noch auf dich. Ich des Langes Schweigen.

wende mich nicht um, damit sie nicht enttäuscht wird. Langes Schweigen.

Jetzt wende ich mich um. Er wagt es nicht, sich umzuwenden. Dunkel.

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Und ich habe mir in meinem Wahnsinn vorgestellt, er sei mein Engel... Renata, ÂŤDer feurige EngelÂť, III. Akt



ENGEL UND DÄMONEN Ein Gespräch mit der Bibelforscherin Uta Poplutz

Frau Poplutz, was ist die Funktion von Engeln in der Bibel? Engel sind Zwischenwesen, die zwischen der Sphäre des Göttlichen und der Menschenwelt vermitteln sollen. Engel sind eigentlich unsichtbar, heilig und geschlechtslos, sie sind keine Individuen, sondern Gattungswesen; ihre ganze Personalität gründet in Gott. Deswegen erscheinen sie den Menschen in Visionen oder Auditionen oder – besonders häufig – im Traum oder in sehr gefährlichen Situationen. In den synoptischen Evangelien fungieren Engel als Sprachrohr Gottes und stellen die Geburt, den Tod und die Aufer­stehung Jesu als Erfüllung des Heilsplans Gottes vor. Am bekanntesten ist die Geburtsgeschichte: Hier erscheint der Engel Gabriel der Jungfrau Maria und kündigt die Geburt Jesu an. Zur Erscheinung eines Engels scheint dazu zu gehören, dass der Mensch sich fürchtet. Deshalb sagen Engel immer: «Fürchte dich nicht!». Dann weiss man, es geht um etwas Grosses, und meistens gibt es dann sehr wohl Grund, sich zu fürchten. Wie erscheinen die Engel den Menschen? Immer in menschlicher Gestalt, meistens als junger Mann in einem weissen Gewand mit Lichterscheinungen, die Furcht hervorrufen. Wenn Christus verklärt oder verherrlicht wird, leuchten seine Gewänder weiss. Auch die Namen der Engel sind männlich – Gabriel, Michael, Rafael. Wie kommt der Teufel in der Bibel vor, und wie Dämonen? Man muss da sehr genau in der Terminologie unterscheiden. Satan oder auch der Teufel ist so etwas wie der Oberbefehlshaber der Dämonen. Das Ganze ist sehr militärisch gedacht. Der Teufel ist der wichtigste übernatürliche Widersacher Gottes. Hunderte oder Tausende von Dämonen sind ihm unterstellt.

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Die Idee eines Teufels oder Satans hat sich erst entwickelt, als der Monotheis­ mus immer stärker wurde. Gott hat nach der Bibel die Welt mit Gut und Böse erschaffen, also auch Satan und die Engel. Je mehr man das reflektierte und je strenger dieser Monotheismus wurde, desto mehr muss­te Gott ent­lastet werden. Daraus entstand die Idee, dass Luzifer, der ursprünglich auch ein Engel war, sich nicht vernünftig verhalten hat und deshalb gestürzt ist. Das verbindet man mit der Vision Jesu in Lukas 1, 18. Da heisst es: «Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.» Luzifer bedeutet ja auch «der Lichtträger». Er wurde dann zum Gegenspieler Gottes auf der Erde. Dadurch ist Gott zum Teil entlastet, denn für das Böse ist jemand anderes zuständig.

Das komplette Programmbuch Die Dämonen sind also die Helfershelfer des Teufels? Der Teufel kommt zwar im Neuen Testament vor, aber viel wichtiger sind die können Sie auf Dämonen oder auch bösen oder unreinen Geister; es gibt da viele ver­schie­ dene Bezeichnungen. Ursprünglich ist die Bedeutung des Wortes «daimon» im www.opernhaus.ch/shop Griechischen völlig neutral – es meint etwas, was ich nicht kenne, was ich rational nicht erklären kann. Im antiken Volksglauben sind Dämonen geistige oder am im Foyer Wesen, die wie Vorstellungsabend Engel zwischen Götter- und Menschenwelt angesiedelt sind und Einfluss auf das Leben ausüben können. Wenn mir Schaden zugefügt wirddes durch Dinge, die ich nicht verstehe, sage ich,erwerben das sind Dämonen, die Opernhauses das bewirken. Deshalb kommen Dämonen oft in Verbindung mit Krankheits­ bildern vor. Dämonen sind körperlos; man erkennt sie an ihrer Wirkung, nicht an ihrer Gestalt. Ich glaube, dass die Vorstellung von Dämonen etwas ganz Existenzielles ist, das in der Unberechenbarkeit und in der Gefährdung des menschlichen Lebens gründet. Denn so kann man das Unerklärliche, das Schädigende benennen und auch bekämpfen – durch Magie, durch Zauberei, durch Beschwörung oder eben Exorzismus. Das macht die Psycho­ analyse nicht anders. Ängste, die diffus sind, kann ich nicht bekämpfen. In dem Moment, in dem ich ihnen einen Namen gebe und benennen kann, was mich ängstigt, habe ich die Möglichkeit, dagegen anzugehen. Und die Dämonen haben genau so eine Funktion: Etwas, was man nicht erklären kann, bekommt eine Gestalt, und dann kann es bekämpft werden. Ich glaube,

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dass es um innere Dinge geht, die nach aussen getragen werden. Die Gefahr dabei ist, dass ich in einer total dämonischen Welt lebe: Das Böse kommt von aussen wieder auf mich zu, wenn ich es von innen nach aussen kehre. Kommen in der Bibel Geschichten von Besessenheit und Dämonenaustreibung vor? Ja, es gibt viele Geschichten über Dämonenaustreibung im Neuen Testament. Man nimmt an, dass der historische Jesus nicht nur Krankheiten geheilt, sondern auch Dämonen ausgetrieben hat. Diese Geschichten folgen immer dem gleichen Muster: Ein Dämon fährt durch die Körperöffnungen wie Mund, Nase, Ohren in einen Menschen ein und übernimmt die Kontrolle über diesen Menschen. Das äussert sich zum Beispiel darin, dass der Mensch zuckt, Schaum vor dem Mund hat, zu Boden fällt, ohnmächtig wird, herumschreit, sich und andere verletzt. Dann kommt Jesus, der grosse und mächtige Exorzist, und herrscht den Dämon an – nicht den Menschen, der ist nur noch die Hülle. Dann gibt es ein festes Ritual, mit dem der Dämon gebunden wird. Anschliessend befiehlt Jesus dem Dämon, auszufahren. In der Antike gibt es sehr anschauliche Darstellungen davon, wie die Dämonen aus den Körperöffnungen ausfahren. Dabei ist der Mensch sehr gefährdet, er kann dabei auch sterben. Wenn der Dämon aus dem Menschen ausge­ fahren ist, muss er sich einen anderen Wirt suchen. In Markus 5 erlaubt Jesus den 5000 Dämonen, also einer ganzen Legion, die er aus einem jungen Mann ausgetrieben hat, in eine Schweineherde zu fahren, und diese Schweine stürzen sich daraufhin ins Meer und ertrinken. Auch die Vorstellung von der Existenz der Dämonen hat eine Entlastungsfunktion: Alles, was mich bedroht, was mich schädigt, kann ich dann bekämpfen – wenn jemand mir beisteht, der die Macht dazu besitzt. Offenbar hat in den letzten Jahren die Zahl von Menschen, die sich vom Teufel besessen fühlen, zugenommen; aus Deutschland kommen Menschen in die Schweiz, weil Exorzismen hier häufiger durchgeführt werden. Womit könnte es zusammenhängen, dass der Teufel so aktuell ist zurzeit?

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Zur Zeit Jesu gab es sehr viele Besessenheitserfahrungen und auch sehr viele Exorzismen, nicht nur Jesus selbst hat sie durchgeführt, sondern auch andere. Es gibt die These, dass das damals etwas mit der Erfahrung von Unterdrü­ ckung und Fremdherrschaft zu tun hatte. Israel war von den Römern beherrscht, und solche Geschichten könnten ein Ausdruck für das Bemühen sein, damit klar zu kommen. Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, dass Frauen häufiger solche Phänomene zeigen als Männer: Sie haben öfter das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. In den biblischen Geschichten sind es noch vorwiegend Männer, die von Dämonen besessen sind. Aber in der Geschichte des Christentums vor allem im Mittelalter sind es natürlich hauptsächlich Frauen, denken Sie an den «Hexenhammer», Heinrich Kramers Werk aus dem 15. Jahrhundert zur Legitimierung der Hexenverfolgung. Hier spielt die Teufelsbuhlschaft, also der Beischlaf mit dem Teufel, eine ganz grosse Rolle. Im Hexenhammer heisst es: «Die Hauptursache der Schlechtigkeit der Frau liegt in ihrer unersättlichen sexuellen Begierde. Die kann nur der Teufel befriedigen.» Die Unterdrückung der Frau wegen ihrer Sinnlichkeit wird zur grossen Perversion; die Frau wurde in enger Nähe zum Sündigen, zur Natur, zur Materie gesehen. Auch Thomas von Aquin sagt, dass das Geistige der Materie überlegen ist. Das hat nichts mit der Bibel zu tun, sondern mit der Theologiegeschichte.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Ein ganz krasser Fall von Exorzismus hat sich ja noch Mitte der 70er Jahre in Bayern ereignet; die junge Frau, Anneliese Michel, die als vom Teufel besessen galt, ist damals an den Folgen der exorzistischen Rituale gestorben. Ja, diese Frau war Epileptikerin. Weil sie aus einem frömmelnden, sehr einfachen Elternhaus kam, hat man ihr eine Therapie verweigert; die Eltern und der Exorzist kamen dann später auch vor Gericht und wurden zu Bewährungs­strafen verurteilt. Daraufhin haben sich die deutschen katholischen Bischöfe von Exorzismen distanziert. Eigentlich hat jedes katholische Bistum einen Exorzisten. Die Nachfrage nach Exorzismen ist in letzter Zeit allerdings tatsächlich wieder stark angestiegen, sie ist so gross wie nie zuvor. Im Vatikan gibt es eine Exorzistenausbildung, die sehr gefragt ist. Es ist

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erstaunlich – wir leben in einer so rationalen, säkularisierten Welt, und genau da kommt dieser völlig unaufgeklärte Teufelsglaube und der Wunsch nach Exorzismus wieder auf. Wo sehen Sie da den Zusammenhang? Es wäre zu überlegen, ob das Gefühl der Fremdherrschaft, von dem wir vorhin sprachen, nicht eine Grunderfahrung ist, die gerade heute sehr viele Menschen teilen. Viele Teile unseres Lebens sind so wenig verständlich – im politischen ebenso wie im sozialen und persönlichen Bereich erfahren wir, dass es das Böse oder das Schädigende gibt, dass wir nicht wirklich selbst­ bestimmt leben können. Jeden Tag benutzen wir Technik, die wir im Grunde nicht verstehen. Vielleicht bringt das Diffuse, Unverständliche unserer Welt den Wunsch hervor, unsere Ängste nach aussen zu tragen und materiali­ sieren zu können, ihnen einen Namen zu geben und sie dadurch in den Griff zu bekommen. Wenn Religion oder Kirche oder Kultur so ein Deutungs­ muster anbieten, gibt es auch Menschen, die sich darin wiederfinden. Es ist ein archaisches System, Dämonen gibt es schon in der Antike. Und dass in der Bibel etwas vom Teufel und seinen Dämonen steht, erhöht die Plausi­ bilität solcher Vorstellungen. Im Kern geht es um die Erfahrungswirklichkeit des Ausgeliefertseins. Auch die Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit kann ein solches Gefühl des Ausgeliefertseins hervorrufen. Solche Erfahrungen führen nicht selten zu einer Art Abspaltung dessen, was einen innerlich zu zerstören droht. Da kann es helfen, das nach aussen zu tragen, vielleicht sogar zu materialisieren in Figuren wie dem Teufel oder Dämonen, denn dann gibt es auch ein ganz einfaches Gegenmittel, nämlich den Exorzismus: Ich habe dann etwas in der Hand, alt, erprobt, was ich anwenden kann, und muss das nicht mehr nur innerlich austragen, weil es mich kaputt macht. Bräuchten Menschen, die Opfer von sexuellem Missbrauch waren, nicht eher einen guten Psychiater?

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Der katholische Ritus, die Liturgie des Exorzismus macht keinen Schnitt zwischen ärztlicher, therapeutischer Hilfe und Exorzismus; das sind zwei Seiten, das eine ersetzt das andere nicht. Aber mittlerweile – auch nach dem Fall Anneliese Michel – muss in Deutschland zu einem Exorzismus immer auch ein Arzt hinzugezogen werden, die katholische Kirche ist da inzwischen ziemlich reflektiert. Viel schlimmer ist es in den Pfingstkirchen und den evangelikalen Kirchen – zum Beispiel in Südamerika –, die diesbezüglich ein unkritisches Reflexionsniveau haben und die Bibel wörtlich nehmen. Wo ist denn der Ritus für den Exorzismus festgeschrieben? Der Ritus fusst auf dem Trienter Konzil aus dem 16. Jahrhundert und war jahrhundertelang in Gebrauch. Erst seit 1999 gibt es eine Neugestaltung des Grossen Exorzismus. Das Rituale Romanum ist ein liturgisches Handbuch, wie wir es auch für die Durchführung der Eucharistie, der Taufe und so weiter haben. Die deutschen Bischöfe hatten nach dem Fall Anneliese Michel etwas anderes vorgeschlagen, eine Art Feier zur Befreiung von dem Bösen. Das wurde nicht aufgenommen, der Vatikan hat sich darüber hinweggesetzt. Diese Feier hat meines Erachtens das Problem, dass sie in einen Dialog mit dem Teufel tritt und ihn – wie im Mittelalter – als Person behandelt und beschimpft. Liturgische Feiern können sich immer nur an Gott richten. Man kann mit einem Menschen beten, aber nicht über ihn hinweg. Ich meine, die Kirche muss andere Möglichkeiten haben, mit der Erfahrung des Bösen umzugehen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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EXORZISMUS HEUTE Teufelsaustreibungen in der Schweiz sind gefragter denn je

Rund 1300 Personen lassen sich jährlich in der Schweiz den Teufel austreiben. Gemäss Recherchen der Sendung «Rundschau» des Schweizer Fernsehens neh­ men Anfragen für Exorzismen zu. Eine Umfrage der Sendung «Rundschau» bei allen katholischen Bistümern der Schweiz zeigt: 2016 erbaten Gläubige mindestens 420 Mal eine Teufelsaus­ treibung durch einen Exorzisten. Im Bistum Lugano meldeten sich rund 200 Personen. In Freiburg, Lausanne und Genf gingen rund 80 Anfragen ein, und in den Diözesen Basel und Chur gab es je 79 Fälle. Auch bei den Evangelikalen stehen die Teufelsaustreibungen hoch im Kurs. Gemäss der evangelischen Heilsarmee gehen jährlich rund 900 Anfragen zu diesem Thema ein. Die Dunkelziffer von Menschen, die sich besessen fühlen, ist laut der «Rundschau» allerdings gross. Betroffene melden sich oft direkt beim Pfarrer ihrer Gemeinde. «Deshalb können die exakten Exorzismus-Wünsche nur schwer abgeschätzt werden», schreibt SRF. Die Anfragen zum Thema hätten sich in den vergangenen fünf Jahren ver­dreifacht, sagt Georg Schmid von der evangelischen Beratungsstelle Relinfo gegenüber der «Rundschau». Schmid ist Anlaufstelle für Personen, die sich informieren wollen oder eine schlechte Erfahrung mit Exorzismen gemacht haben. Teufelsaustreibungen würden heute in allen religiösen Richtungen zuneh­ men, sagt Schmid: «Chur ist das Eldorado des Exorzismus im deutschsprachigen Raum. Es ist geradezu ein Pilgerort für Menschen, die Exorzismen suchen.» Quelle: Ref.ch, 30. März 2017


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«ES BRENNT!» Anneliese Michel und die letzte Teufelsaustreibung in Deutschland Rekonstruiert aus Gesprächen mit Familienangehörigen und Tonbandaufnahmen von Uwe Wolff

Pfarrer Alt hat die bischöfliche Erlaubnis, den so genannten kleinen Exorzismus vom 18. Mai 1890 nach Papst Leo XIII. zu beten. Dieser «Exorzismus gegen den Satan und die abtrünnigen Engel» wird mit einem Gebet zum Erzengel Michael eröffnet. Dann folgt der Angriff auf den Teufel, ein Psalmengebet (Psalm 68) mit erneuter Beschwörung, Gebet und einer abschliessenden Be­ sprengung des Ortes mit Weihwasser. Vorschriftsmässig beginnt Pfarrer Alt in Anwesenheit von Annelieses Eltern mit dem Gebet zum Erzengel Michael. Den Text hält er in der Hand: «Ergreife den Drachen, die alte Schlange, nämlich den Teufel, den Satan, und stürze ihn gefesselt in die Hölle, damit er nicht weiter das Menschengeschlecht verführe!» Anneliese beginnt zu wimmern und zu stöhnen. Pfarrer Alt eröffnet die Be­schwörung: «Im Namen Jesu Christi, unseres Gottes und Herrn, und durch die Fürsprache der Unbefleckten Jungfrau und Gottesmutter Maria, des heiligen Erzengels Michael,

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der heiligen Apostel Petrus und Paulus und aller Heiligen und gestützt auf die heilige Gewalt unseres Amtes, unternehmen wir voll Zuversicht den Kampf gegen die Angriffe des arglistigen Teufels.» Wieder knurrt Anneliese und ruft: «Hören Sie auf! Es brennt!» «Wo brennt es?» «Im Rücken, auf den Armen!» Pfarrer Alt zitiert Psalm 68 und hebt anschliessend ein Kreuz in die Höhe. «Seht das Kreuz des Herrn! Fliehet, ihr feindlichen Mächte!» «Gesiegt hat der Löwe vom Stamm Juda, der Spross Davids», stimmt die kleine Hausgemeinde ein. «Deine Barmherzigkeit komme über uns, o Herr!», bittet Pfarrer Alt. «So wie wir auf dich gehofft haben», antwortet die Gemeinde. Dann hebt Pfarrer Alt wieder zur Beschwörung an. An den angegebenen Stellen macht er vorschriftsmässig das Kreuzzeichen: «Im Namen und in der Kraft unseres Herrn Jesus † Christus, beschwöre ich dich, unreiner Geist, wer immer du bist, jede satanische Macht, jeden höllischen Feind, jede teuflische Legion, Schar und Rotte; reiss dich los und entferne dich von der Kirche Gottes und von den Seelen, die nach Gottes Ebenbild erschaffen und durch dein kostbares Blut erlöst wurden. † Du listige Schlange, wage nicht weiterhin, das Menschengeschlecht zu betrügen,

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die Kirche Gottes zu verfolgen und die von Gott Auserwählten zu schütteln und zu sieben, wie man den Weizen siebt. † » Das Gebet reizt Anneliese immer stärker zum Widerstand. Sie geht auf den Geist­lichen los und will ihm den Text aus der Hand schlagen. Doch Pfarrer Alt betet weiter. Da ruft Anneliese inmitten des Gebets: «Ich bin frei!» Das Gefühl der Be­ freiung hält nur einen Augenblick, dann tobt sie weiter. Pfarrer Alt führt das Gebet zu Ende, besprengt vorschriftsmässig den Raum und sieht sich nach zwei Stunden in der Annahme bestätigt, dass Anneliese eindeutig besessen sei. Nach dem Besuch in Klingenberg informiert er Bischof Stangl schriftlich von der Durch­ führung des Exorzismus und fährt eine Woche später nach Italien in Urlaub. In Klingenberg aber herrscht der Ausnahmezustand. Anneliese rennt durch das Haus und ruft: «Ich brenne!», «Ich muss Fliegen essen!», «Ich bin stolz!», «Ich habe ein versteinertes Herz!». Immer wieder fällt sie auf die Knie und bittet ihren Vater um Vergebung. Sie hat das Gefühl, in der Hölle zu sitzen, des­­halb warnt sie ihren Freund Peter: «Nimm dich in acht vor mir. Ich ziehe dich in die Hölle!» In ihrer schwankenden Seelenstimmung wechseln die Gefühle des Erwähltund Verworfenseins. Mal sieht sie sich als Heilige, dann wieder als Verdammte. Dann geht sie auf ihren Vater los, küsst, beisst und ohrfeigt ihn. Anschlies­ send schlägt sie sich selbst. Die Nacht zum Freitag, dem 8. August 1975, verbringt Anneliese auf dem Dachboden. Mehrfach steigt sie jedoch die Treppe hinunter, geht ins Schlafzim­ mer ihrer Eltern und rüttelt ihren Vater wach. Von den zahlreichen Stürzen und Selbstverletzungen ist Annelieses Körper voller Blutergüsse, die Knie sind stark geschwollen. Mit verzerrtem Gesicht springt sie wie ein Geissbock durchs Haus. Dann entkleidet sie sich und behauptet: «Die Muttergottes hat es so an­ge­ordnet!» Nahrung nimmt sie keine mehr zu sich.

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Das Buch von Uwe Wolff war die Vorlage für den Film «Requiem» von Hans-Christian Schmid

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TRAUMA UND DISSOZIATION Bessel van der Kolk

Als die Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts anfing, sich gründlicher mit psychischen Problemen auseinanderzusetzen, stand das Wesen traumatischer Erinnerung im Mittelpunkt dieser Bemühungen. In Frankreich und England erschien damals eine grosse Zahl von Artikeln über ein Syndrom, das man «railway spine» nannte, eine Bezeichnung für eine psychische Nachwirkung von Eisenbahnunfällen, die unter anderem in Form von Gedächtnisverlust zum Ausdruck kam. Die grössten Fortschritte bei der Erforschung psychischer Pro­ bleme ergaben sich jedoch aus dem Studium der Hysterie, einer psychischen Störung, die mit starken Emotionsausbrüchen, Anfälligkeit für Suggestionen sowie Muskelkontraktionen und -lähmungen einherging, wobei letztere sich nicht allein anatomisch erklären liessen. Die Hysterie, die man lange für ein Leiden instabiler oder hypochondrisch ver­anlagter Frauen gehalten hatte (der Bezeichnung liegt das griechische Wort für «Mutterschoss» zugrunde), wurde nun zu einem Fenster, das Einblicke in die Geheimnisse des Geistes und des Körpers ermöglichte. Mit der Entdeckung, dass die Wurzel der Hysterie ein Trau­ma ist, und zwar speziell das Trauma eines in der Kindheit erlebten sexuel­len Missbrauchs, sind die Namen einiger der grössten Wegbereiter der Neuro­logie und Psychiatrie, darunter Jean-Martin Charcot, Pierre Janet und Sigmund Freud, verbunden. Diese Pioniere bezeichne­ ten Erinnerungen an Traumata als «pathogene Geheimnisse» oder als eine Art psychischer Parasiten, weil die Leidenden das Erlebte zwar nur zu gern ver­gessen hätten, die Erinnerung daran sich aber immer wieder in ihr Bewusstsein dräng­ te und sie in einer sich ständig erneuernden Gegenwart existentiellen Entsetzens gefangen hielt. Jean-Martin Charcot, der weithin als Vater der Neurologie ange­ sehen wird, glaubte, seine Untersuchung über die Hysterie liefere eine wissen­ schaft­liche Erklärung für Phänomene wie Besessenheit durch Dämonen, Zaube­

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rei, Exorzismus und religiöse Ekstase. Pierre Janet, der Charcot half, ein For­schungslabor aufzubauen, dessen Arbeit sich auf die Erforschung der Hysterie konzentrierte, veröffentlichte im Jahre 1889 Janet die erste wissenschaftliche Abhandlung in Buchform über traumatischen Stress: Vautomatisme psychologi­ que. Er vertrat darin die These, dass der Ursprung dessen, was wir heute Post­ traumatische Belastungsstörung nennen, das Erleben «starker Emotionen» oder starker emotionaler Erregung sei. Seine Abhandlung erklärte, dass Menschen nach einer Traumatisierung automatisch bestimmte mit dem Trauma zusammen­ hängende Handlungen, Emotionen und Empfindungen wiederholen.
Und im Gegensatz zu Charcot, der sich hauptsächlich für die Messung und Dokumen­ tation der körperlichen Symptome seiner Patienten interessierte, redete Janet unzählige Stunden lang mit ihnen, weil er so herauszufinden hoffte, was in ihrem Geist vor sich ging. Janet führte zur Bezeichnung der Abspaltung und Isolation von Gedächtnis­ spuren, die er bei seinen Patienten erkannte, den Begriff «Dissoziation» ein. Dissoziation verhindert die Integration eines Traumas in das autobiografische Gedächtnis mit seinen sich ständig verändernden Inhalten, und das bedeutet im Grunde, dass durch die Traumatisierung ein duales Gedächtnissystem ent­ steht. Das normale Gedächtnis integriert die Elemente jedes Erlebnisses mittels eines komplexen Assoziationsprozesses in den kontinuierlichen Fluss des Selbst­ erlebens; man stelle sich ein dichtes, aber flexibles Netzwerk vor, in dem jedes Element auf viele andere einen subtilen Einfluss ausübt. Bei Patienten mit Post­ traumatischer Belastungsstörung jedoch waren die Empfindungen, Gedanken und Emotionen, die sich auf das Trauma bezogen, separat als starre und kaum noch zu verstehende Fragmente gespeichert. Dieses Phänomen konnte durch Untersuchungen in unserer Zeit verifiziert werden.

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Erscheine mir, wie du mir in meiner Kindheit erschienen bist! Renata, ÂŤDer feurige EngelÂť, 3. Akt



VERRÜCKT UND GEFÄHRLICH Dirigent Gianandrea Noseda im Gespräch

Gianandrea Noseda, Sie haben eine Zeit lang in St. Petersburg gelebt und sprechen fliessend Russisch. Sicher haben Sie auch zur russischen Musik eine besondere Beziehung? Ja, das habe ich. Ich war ja in Russland nicht als Tourist unterwegs, sondern arbeitete am Mariinsky Theater als Assistent von Valery Gergiev. Und ich wohnte im «Haus der Künstler», direkt gegenüber dem Mariinsky Theater – nicht besonders komfortabel, aber sehr praktisch für jemanden wie mich, der gerne zu spät dran ist! Ausserdem hatte ich dadurch viel Kontakt zu den dort lebenden russischen Musikern, Sängern und Tänzern. Am Mariinsky Theater war ich zwar vor allem für das italie­nische Repertoire verantwortlich, aber schliesslich hat mir Gergiev auch einige russische Nationalheiligtümer ange­bo­ten, Mussorgskis Boris Godunow zum Beispiel, den ich in einer Woche lernen musste, später Tschaikowskis Pique Dame und schliesslich auch zwei Opern von Prokofjew, Die Verlobung im Kloster und Krieg und Frieden. Haben Sie auch den Feurigen Engel schon einmal dirigiert? Nein, aber Prokofjews Dritte Sinfonie. In dieser Sinfonie gibt es sehr viel Musik aus dem Feurigen Engel, der ja zu Prokofjews Lebzeiten nicht auf­ge­ führt wurde. Deshalb hat Prokofjew einige Themen und Motive daraus zu einer Sinfonie verarbeitet. Die Oper zu lernen, war für mich wie die Brücken zu finden, die die Musikstücke aus der Dritten Sinfonie zu einem für mich neuen Ganzen verbinden. Ich schätze diese Oper sehr und habe sie auch am Opernhaus in Turin programmiert, wo ich Chefdirigent bin, und Valery Gergiev als musikalischen Leiter für diese Produktion eingeladen.

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Der feurige Engel sticht aus Prokofjews Werk heraus, weil er so ganz anders klingt als der Prokofjew der Symphonie classique, des Balletts Romeo und Julia oder der Klavier­kon­zerte. Was ist Ihrer Meinung nach das Besondere an diesem Werk? Seine Verrücktheit! Die Schizophrenie, die Hysterie, die einen von der ersten Minute an gefangen nimmt. Renata erzählt von diesem Engel, Madiel, in den sie sich verliebt hat und der sich später in Feuer verwandelt hat; sie lebt nur noch für ihn, seit er ihr im Alter von acht Jahren zum ersten Mal er­ schienen ist. Diese Erscheinung hat ihr Leben geprägt, und wie eine Besessene sucht sie seitdem nach der Liebe – oder nach dem, was sie für die Liebe hält. Wenn sie Ruprecht von ihrem Engel Madiel erzählt, erleben wir eine kranke, zerrissene Seele. Nach dem Duell zwischen Ruprecht und Heinrich, in das Ruprecht von Renata getrieben und schliesslich schwer verletzt wurde, ist Renatas Musik sehr süss, und Prokofjew hat das sehr subtil, sehr dolce instrumentiert; aber gleichzeitig ist es so geschrieben, dass man versteht: Hier stimmt etwas nicht, das ist zu süss, um wahr zu sein. Und doch ist Ruprecht bis zur Selbstaufgabe in Renata verliebt. Unglaublich, wie diese Verrücktheit, diese seelische Verletztheit, dieses Abweichen von der Normalität Menschen anziehen kann! Alles in dieser Oper wird von Renatas Krankheit angetrieben. Wenn am Ende der Inquisitor kommt und beginnt, an Renata seinen grau­samen Exorzismus durchzuführen, breitet sich Renatas Besessenheit, ihre Ver­rückt­heit unter den Nonnen aus. Am Schluss soll Renata als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Feuer, Blut, Mysterien, dunkle Ge­heimnisse – all das ist verbunden mit einer anderen Art von Leben, von Liebe, von Sex, von Freund­schaft, einer anderen Art der Beziehung zu Gott. Der feurige Engel ist eine Oper über eine andere Welt. Es gibt tatsächlich sehr viel Uner­klärliches, Übernatürliches in dieser Geschichte. Renata hat nicht nur En­gels­visionen, sondern fühlt sich auch von kleinen Dämonen verfolgt. Welche Art von Musik hat Prokofjew hierfür geschrieben? Prokofjew war sehr gut darin, mit ei­nigen wenigen Noten eine Atmosphäre zu erzeugen. Er braucht dafür nicht zwei Phrasen, sondern einen, ja vielleicht

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sogar nur einen halben Takt, schon ist man in der Situation. Auch wenn man kein Russisch versteht, nimmt einen die Musik sofort gefangen. Es ist eine grausame Oper, aber man kann sich ihrer verführerischen Macht nicht entziehen. Für mich ist es deshalb auch eine gefähr­liche Oper. Ich spüre, dass ich bei diesem Stück während der Arbeit mehr Pausen brauche als bei anderen. Das Böse kann unglaublich reizvoll und verführerisch sein! Prokof­ jews musikalische Darstellung des Übernatürlichen ist so stark, dass man irgendwann das Gefühl hat, es sei real. Der feurige Engel ist eine sehr extreme Oper. Seltsam, irri­tierend, streckenweise sogar unangenehm und zugleich äusserst anziehend. Warum hat Prokofjew einen Stoff ausgewählt, der im Original im deutschen Mittelalter angesiedelt ist und vom Kampf zwischen Gut und Böse, Engel und Dämonen handelt? Weil er anders sein wollte. Zu Beginn sei­ner Karriere galt er in Russland als «enfant terrible», als arrogant und aggres­siv, zu dissonant und brutal in sei­ner Musik, denken Sie an seine Sky­thische Suite. Deshalb schrieb er seine Symphonie classique, um zu zeigen: Schaut, das kann ich auch! Danach schrieb er seine Zweite Sinfonie, eines seiner rätselhaftesten Stücke überhaupt, sehr lärmig, motorisch, fast bruitistisch, wie ein Schlag in den Bauch. Im Feurigen Engel konnte er zeigen, dass er zwar überhaupt kein religiöser, sondern ein extrem rationalistischer Mensch ist, aber doch in der Lage, eine Oper zu schreiben, die sich mit dem Übernatürlichen beschäftigt – vielleicht in einer ironischen, sarkastischen Art. Prokofjew liebte es, alles aus seinem eigenen Blickwinkel darzustellen. Möglicherweise hat er nach dem Feurigen Engel realisiert, dass diese Oper zu extrem ist. Deshalb hat er eine Sinfonie daraus gemacht. Von der Met in New York, wo Pro­kof­jew damals lebte, wurde die Oper mit der Begründung abgelehnt, niemand könne die Partie der Renata singen. Renata ist eine der anspruchsvollsten Partien, die überhaupt je für Sopran geschrieben wurden, und bis heute gibt es wenige Sopranistinnen, die sie singen

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können. Ohne eine Sängerin wie Ausrine Stundyte, die jedes Wort durch­ dringt und jeder Phrase Bedeutung verleiht, ist es nicht möglich, dieses Stück aufzuführen. Und die Partie ist nicht nur sängerisch anspruchsvoll, sie verlangt auch emotional sehr viel. Man kann sie nicht mit halber Kraft singen, kann sich nicht schonen. Man muss alles geben, in jedem einzelnen Moment. Sonst funktioniert das Stück nicht. Auch Ruprecht versteht man sonst nicht. Er verfällt Renata, und das ist nur dann glaubwürdig, wenn die Figur Renata ihn vom ersten Moment an so packt, dass er sich ihr einfach nicht entziehen kann. Diese extreme Oper wird vielleicht auch für das heutige Publikum noch schockierend sein. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass der ein oder andere nicht schlafen kann nach dieser Aufführung! Prokofjew hat seine Oper nie erlebt, es gab zu seinen Lebzeiten nur eine konzertante Aufführung von Teilen aus dem zweiten Akt, 1928 in Paris, mit der er nicht sehr zufrieden war. Die Uraufführung fand erst 1955 statt. Hätte Prokofjew möglicherweise weiter an der Partitur gearbeitet, wenn er das Stück einmal ganz auf der Bühne erlebt hätte? Das ist sehr schwer zu sagen. Sicher ist die Partitur zum Teil sehr dick ins­­tru­mentiert, und die Stimmen könnten zugedeckt werden. Aber man sollte ruhig auch ein bisschen Vertrauen zu den Dirigenten haben. Wenn man gut auf die Balance achtet, ist das Stück nicht lauter und nicht massiver als Salome oder Elektra. Mir ist es lieber, eine Oper zu dirigieren, die komplett vom Komponisten selbst stammt, dafür aber vielleicht nicht in allen Feinheiten der Instrumentation genau abgestimmt ist, als Werke wie Mahlers Zehnte Sinfonie, die von anderen vollendet wurden. Man versteht sehr genau, was Prokofjew mit dem Feurigen Engel sagen wollte. Der Beginn des fünften Akts ist ein Wunder der Instrumentation! So transparent, so subtil – das klingt wie etwas, das man sagen möchte, das aber nicht erlaubt ist auszu­sprechen. Vielleicht könnte man einwenden, dass die Oper zu sinfonisch gedacht ist. Die Liebe zu den drei Orangen oder Krieg und Frieden sind opern­­hafter. Deshalb war es auch so leicht für Prokofjew, aus dem musikalischen Material eine Sinfonie zu komponieren. Der feurige Engel ist eine Sinfonie mit Stimmen.

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Das Libretto hat Prokofjew selbst geschrieben nach dem gleichnamigen Roman von Walerij Brjusow. Er war aber nicht sehr zufrieden damit und wurde auch häufig dafür kritisiert. Aus diesem Stoff ein stringentes Lib­ret­to zu formen, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit! Aber manchmal wächst man ja mit solchen Herausforde­ rungen über sich hinaus. Warum wurde diese Oper zu Prokofjews Lebzeiten nicht aufgeführt? Waren es die anspruchsvollen Ge­sangs­­partien oder das ungewöhnliche Thema des Stücks? Ich denke, es war eine Kombination aus mehreren Dingen. Zu den genannten Gründen kam sicherlich, dass man viele Proben brauchte, die kosten Geld. In den zwanziger Jahren kam es sehr oft vor, dass Uraufführungen ange­ kündigt und dann verschoben oder abgesagt wur­den. Oft waren Künstler eben ihrer Zeit voraus, denken Sie an Paganinis Capricen, Beethovens Streich­ quartette oder seine Missa solemnis. Die Be­deutung all dieser Werke wurde erst viel später erkannt. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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EINE LEIDENSGESCHICHTE Zur Entstehung von Prokofjews Oper «Der feurige Engel» Beate Breidenbach

1918 hat Sergej Prokofjew die Sowjetunion verlassen, 1936 kehrte er – nach einigen Konzertreisen, die triumphale Erfolge für ihn waren – endgültig in sein Heimatland zurück. Viel ist darüber spekuliert worden, was die Gründe dafür gewesen sein könnten, dass Prokofjew freiwillig in ein Land zurückging, in dem die inspirierende Aufbruchsstimmung der 10er Jahre längst vorbei und die künstlerische Freiheit der dort lebenden Komponisten, Schriftsteller, Regis­seure, Autoren sehr stark eingeschränkt war. Ausgerechnet im Jahr des Artikels «Chaos statt Musik», der Schostakowitschs kurz zuvor uraufgeführte Oper Lady Mac­ beth von Mzensk diffamierte und ihrem Komponisten – im Auftrag Stalins – einen existentiellen Schlag versetzte, entschied sich Prokofjew, mit seiner Fami­lie fort­ an wieder in der Sowjetunion zu leben. Dass er mit dem Feurigen Engel, der ihn während der 18 Jahre seiner Emigration immer wieder beschäftigt, ja ge­ quält hatte, im westlichen Ausland als Opernkomponist gescheitert war, hat zu dieser Entscheidung massgeblich beigetragen. Ein Jahr nach seiner Ausreise aus Russland, während er versuchte, in den USA als Pianist und Komponist Fuss zu fassen, stiess Prokofjew auf den Roman Der feurige Engel von Walerij Brjusow. Eben noch hatte er in seinem Tagebuch notiert, dass er schon lange nichts mehr auf Russisch gelesen habe, da fiel ihm in New York der 1907/8 in Moskau entstandene Roman über eine junge, hoch­ sensible Frau in die Hände, der als Kind ein feuriger Engel erschienen war. Wie besessen sucht Renata, die Hauptfigur des Romans, der im mittelalterlichen Deutschland spielt, seither mit Hilfe von Ruprecht diesen lichten Engel; Rup­ recht hat sich in Renata verliebt und ist bereit, sich ihretwegen sogar der verbo­ tenen schwarzen Magie hinzugeben. Am Schluss des Romans wird Renata von

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der Inquisition beschuldigt, vom Teufel besessen zu sein, und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Obwohl die geplante Uraufführung seiner Oper Die Liebe zu den drei Orangen in Chicago verschoben worden war und Prokofjew zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, ob sie je wirklich stattfinden würde, war er von dem gerade entdeckten Stoff hell begeistert und stürzte sich ins nächste Opern­projekt, bevor das vorhergehende uraufgeführt war. Ob ihn das genuin Russische des Stoffes reizte oder ob sich Prokofjew tatsächlich (wie einige Auto­ ren nahelegen) mit Ruprecht identifizierte, der nach langer Reise durch Ame­ ri­­ka auf dem Weg zurück nach Hause Renata begegnet und ihr mit Haut und Haaren verfällt – Prokofjew selbst hatte gerade seine spätere Frau, die spanische Sängerin Lina Llubera, kennengelernt –, bleibe dahingestellt; in jedem Fall war er, wie er seinem Tagebuch anvertraute, vollkommen überzeugt davon, dass dieser Stoff ein überaus wirkungsvoller und erfolgversprechender Opernstoff war.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Hexensabbat in Ettal www.opernhaus.ch/shop Die Gestaltung des Librettos, das Prokofjew selbst schrieb, erwies sich allerdings als nicht ganz einfach. Der Roman, der aus der subjektiven Perspektive Ruprechts oder am Vorstellungsabend imundFoyer erzählt wird, musste in bühnenwirksame Szenen umgeformt werden; mit einigen statischen Momenten besonders im ersten Akt sollte Prokofjew bis zum Schluss nicht zufrieden sein. Zwar hatte er versucht, einige Momente für die des Opernhauses erwerben Bühne lebendiger zu gestalten, indem er zusätzliche Figuren erfand (wie zum Beispiel den Knecht, der der Wirtin wie ein Papagei im ersten Akt alles nach­ plappert, oder die drei sprechenden Skelette in der Szene, in der Ruprecht den Magier Agrippa nach seinen Verbindungen zur schwarzen Magie befragt). Aber die Handlung blieb auf Renata, die in der Oper zur Hauptfigur geworden war, und ihre Zustände zwischen Hysterie und Besessenheit, zwischen Hoffnung und Verzweiflung fixiert. Die Musik zum Feurigen Engel entstand parallel zum Libretto, und bereits 1920 präsentierte Prokofjew dem Direktor der New Yorker Metropolitan Ope­ ra Ausschnitte aus dem neuen Werk; doch dieses stiess wegen der enormen Schwierigkeiten für die Interpreten der beiden Hauptpartien auf wenig Begeis­ terung, eine Uraufführung wurde abgelehnt.

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1921 wurden die Drei Orangen in New York endlich uraufgeführt, aber von der Presse einhellig zerrissen. Zum ausbleibenden künstlerischen Erfolg Prokofjews in den USA kamen akute finanzielle Schwierigkeiten hinzu, und Pro­kofjew siedelte im April desselben Jahres nach Paris über. Dort allerdings hatte bereits ein anderer russischer Emigrant – Igor Strawinsky – einige Jahre zuvor mit der Uraufführung von Le Sacre du printemps für einen der grössten Skandale der Musikgeschichte gesorgt und alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen; dazu kam, dass das Ballett im allgemeinen und die Ballets russes im Beson­deren im dama­ ligen Paris sehr viel populärer waren als die Oper. Die Aussichten auf eine baldige Uraufführung von Prokofjews neuer Oper schienen gering. Doch der Feurige Engel liess Prokofjew nicht los. 1922 zog er sich mit Lina ins bayerische Ettal zurück und wohnte direkt neben einem Hügel, auf dem, wie er in seinem Tagebuch notierte, die Hexen aus Brjusows Roman ihren Sabbat hätten feiern können. (Ausgerechnet diese Szene, die sehr bühnenwirk­ sam hätte werden können, übernahm Prokofjew dann allerdings nicht in die Oper.) Die Umgebung sowie die in der Nähe stattfindenden Oberammergauer Pas­sions­spiele inspirierten den Komponisten sehr, und eine erste Fassung der Oper war im März 1923 im Klavierauszug abgeschlossen. Zufrieden war Prokof­ jew allerdings nicht, denn das Problem der vielen statischen Szenen war nach wie vor nicht befriedigend gelöst, und die Hilfe seines Freundes, des Schrift­ stel­­lers Boris Demtschinsky, der schon am Libretto des Igrok (Der Spieler) mitgearbeitet hatte, liess auf sich warten. Zudem war vorerst auch weit und breit kein Opern­haus in Sicht, das sich für Prokofjews neue Oper ernsthaft in­ teressiert hätte. Von der noch nicht einmal begonnenen Instrumentation ganz zu schweigen.

«Wenig Göttliches, viel Orgiastisches» Zurück in Paris und mittlerweile mit Lina verheiratet, wandte sich Prokofjew deshalb an den Dirigenten und Förderer russischer Musik Serge Koussewitzky. Durch dessen Vermittlung und finanzielle Unterstützung rückte eine Urauffüh­ rung des Feurigen Engels am Théâtre des Champs Elysées in greifbare Nähe, und Prokofjew arbeitete wie besessen an der Instrumentation der Partitur. Doch

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seine Hoffnungen wurden bitter enttäuscht: Wegen einer skandal­träch­ti­gen Affäre des für die Uraufführung vorgesehenen Dirigenten mit einer Sängerin und einem amerikanischen Bankier wurde auch die Uraufführung des Feurigen Engels abgesagt. 1927 meldeten Bruno Walter und die Städtische Oper Charlottenburg in Berlin Interesse an Prokofjews neuer Oper an – für den Komponisten ein Anlass, das Stück gründlich zu überarbeiten. Seit seiner Mitgliedschaft in der Pariser Sektion von Christian Science – einer 1875 in Boston von Mary Baker Eddy gegründeten Glaubensgemeinschaft – wurde Prokofjew immer wieder von Zweifeln geplagt, ob das Sujet des Feurigen Engels, das nach seiner eigenen Aussage «wenig Göttliches, aber viel Orgiastisches» enthielt, mit den Grund­ gedanken dieser Glaubensgemeinschaft vereinbar war – so wie sich Prokofjew überhaupt in den 20er Jahren hin und hergerissen fühlte zwischen seinem Glau­ ben an die reine christliche Lehre, Ratio und Wissenschaft einerseits und der Faszination für das Dämonische, Irrationale, Mystische andererseits, darin seiner männlichen Hauptfigur Ruprecht im Feurigen Engel tatsächlich nicht unähnlich. Aufgeben konnte er den Feurigen Engel aber nicht; da er nun einmal so viel Arbeit in diese neue Oper gesteckt hatte, wollte er auch die Früchte dieser Arbeit ernten. Demtschinsky liess ihn weiterhin im Stich, also machte sich Prokofjew selbst an die Überarbeitung des Librettos. Dabei entfernte er sich immer weiter von der Romanvorlage. Aus Graf Heinrich – den Renata für ihren mensch­ gewordenen Engel Madiel hält – wird eine stumme Rolle; in der ersten Fassung der Oper war Heinrich noch eine Tenorpartie. Durch diese Änderung erhält die Figur eine deutlich weniger starke Präsenz und kann auf der Bühne ambi­ valenter gezeigt werden; wir erfahren letztlich nicht, ob Heinrich tatsächlich die Verkörperung Madiels ist, oder ob diese Verbindung nur Renatas Imagination entspringt. Eine weitere Änderung betraf den Schluss der Oper: Statt wie im Roman mit Renatas stillem Tod in der Klosterzelle endete das Stück nun mit einem sich geradezu ekstatisch steigernden, vom Inquisitor im Kloster vollzo­ genen Exorzismus und Renatas Verurteilung zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Dieser Schluss ist umso wirkungsvoller, als an dieser Stelle die Frage kulminiert, ob es nun ein Engel war, der Renata erschienen ist, oder doch der Teufel in lich­ter Gestalt – ob es sich also um eine Vision göttlicher Liebe handelte oder

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um die Denunziation der Liebe als satanischer Lust. Dass Prokofjew – im Ge­ gensatz zu Brjusow – keine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt, macht den Reiz dieser Oper aus. Prokofjews Arbeit am Feurigen Engel wurde 1927 durch eine Konzert­ tournee durch die Sowjetunion unterbrochen, während der Prokofjew auf eine Art und Weise gefeiert wurde, die er weder in Westeuropa noch in den USA je erlebt hatte. Umso schwerer traf ihn dann nach seiner Rückkehr die Nachricht, dass die Uraufführung des Feurigen Engels auch diesmal nicht zustande kommen würde: Die Orchesterstimmen waren zu spät in Berlin eingetroffen, eine qualita­ tiv hochstehende musikalische Einstudierung konnte nicht mehr garantiert werden. Bruno Walter sagte die Uraufführung ab. Um überhaupt einen klanglichen Eindruck von seiner Partitur zu bekom­ men, schlug Prokofjew Koussewitzky eine konzertante Aufführung des Feurigen Engels vor. Diese Idee stiess bei Koussewitzky zunächst auf wenig Begeisterung, doch schliesslich kam es 1928 in Paris dann wenigstens zur konzertanten Auf­ führung von Ausschnitten aus dem zweiten Akt der Oper – unter der musikali­ schen Leitung von Serge Koussewitzky. Gesungen wurde auf Französisch. Weil der russische Text für diese Aufführung in der ganzen Partitur überklebt worden war, hielt man ihn lange Zeit für verloren. Erst 1977 wurde er in London wieder­ entdeckt. Dieses Konzert sollte der einzige Höreindruck bleiben, den Prokofjew je vom Feurigen Engel haben sollte.

Zweifel am Stoff Die Aufführung rief gemischte Reaktionen hervor. Ein vernichtendes Urteil fällte Serge Diaghilew: Er bezeichnete Prokofjews Musik als «unmodern schon beim ersten Erklingen». Auch Prokofjew selbst war nicht zufrieden; das zu massiv instrumentierte Orchester deckte die Singstimmen zu, und die Büh­nen­ wirksamkeit des Stückes liess sich anhand einer konzertanten Aufführung kaum beurteilen. Da nach wie vor kein Opernhaus an einer szenischen Uraufführung interessiert war und Prokofjews Zweifel am Sujet der Oper sich in den letzten Jahren verstärkt hatten, beschloss er, das vorhandene musikalische Material zu einem Instrumentalwerk umzuarbeiten – Prokofjews Dritte Sinfonie entstand.

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Dass es überhaupt möglich war, die musikalischen Gedanken von den szenischen Inhalten zu lösen, hatte sicher auch damit zu tun, dass die von Prokofjew ver­ wendeten musikalischen Motive zum Teil bereits vor seiner Arbeit am Feurigen Engel komponiert worden waren; das weit ausschwingende, Madiel zugeord­ nete Motiv zum Beispiel hatte Prokofjew ursprünglich als Seitenthema für den ersten Satz eines Streichquartetts vorgesehen, und dessen Hauptthema entspricht dem Motiv, das in der Oper zu Beginn des fünften Aktes die Kloster­atmosphäre evoziert. 1930 meldete die Metropolitan Opera in New York überraschend Inter­ esse an der Uraufführung des Feurigen Engels an – unter der Bedingung, dass Prokofjew die Oper ein weiteres Mal überarbeitete. Doch die Änderungsvor­ schläge Prokofjews überzeugten die Leitung der Met nicht, die dritte Fassung des Feurigen Engels blieb unvollendet. So kam die Uraufführung auch diesmal nicht zustande, und Prokofjew verlor endgültig den Glauben daran, dass ihm im Westen jemals die Anerkennung als Opernkomponist zuteil werden würde, die er sich erträumt hatte. Nach Prokofjews Rückkehr in die Sowjetunion war an eine Uraufführung dieser Oper, die den Komponisten in den 18 Jahren seiner Emigration so in­ tensiv beschäftigt hatte, erst recht nicht mehr zu denken. Renatas Besessenheit, schwarze Magie und Okkultismus waren ebenso wenig mit den offiziellen Leit­ linien der sowjetischen Kulturpolitik zu vereinbaren wie Prokofjews kontrast­ reiche, mal äusserst lyrische, mal sich ekstatisch steigernde Musik. Der Misser­ folg des Feurigen Engels mag mit dazu beigetragen haben, dass Prokofjew sich in seiner Musiksprache der sogenannten neuen Einfachheit zuwandte, was sei­ ne Eingliederung in die Sowjetunion und die herrschende Kunstdoktrin zu­ nächst erleichterte. Trotz der stürmischen Begeisterung, die Prokofjews Rück­ kehr auslöste, war er jedoch keineswegs unangreifbar. 1938 durfte er zum letzten Mal ins Ausland reisen, und von der Formalismusdebatte 1948, die viele namhafte Komponisten in der Sowjetunion zu mehr «Volkstümlichkeit» aufforderte, ihre Werke verbot und Schostakowitsch, Mjaskowski, Chatschatu­ rian zu öffentlichen Schuldeingeständnissen zwang, blieb auch Prokofjew nicht verschont. Bereits 1941 hatte er seine Familie verlassen und Mira Mendels­sohn geheiratet. Die Ehe mit Lina Llubera zu annullieren war nicht schwierig – Ehen

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mit Ausländern waren in der damaligen Sowjetunion praktisch ungültig. Lina verlor den Schutz des berühmten Namens und wurde zu 20 Jahren Arbeits­lager verurteilt. Prokofjew starb am 5. März 1953, am gleichen Tag wie Stalin. Blumen waren in ganz Moskau keine mehr aufzutreiben, und der Weg zur Beisetzung Prokofjews war von Trauerkundgebungen für den Diktator versperrt. Der feuri­ ge Engel ist zu Lebzeiten des Komponisten nicht aufgeführt worden; er sollte die grösste künstlerische Enttäuschung in Prokofjews Lebens bleiben. Zu einer konzertanten Uraufführung der Oper kam es erst 1954, wieder­ um in Paris und in französischer Sprache, die szenische Uraufführung folgte 1955 in Venedig auf Italienisch. Der Versuch des Chefregisseurs des Moskauer Bolschoj Theaters Boris Pokrowski, den Feurigen Engel dort auf die Bühne zu bringen, scheiterte; Pokrowski inszenierte die von ihm ausserordentlich ge­ schätzte Oper stattdessen 1981 in Prag. In der Sowjetunion war Der feurige Engel erstmals 1983 in gekürzter Fassung in Perm zu sehen, eine ungekürzte Version folgte im Jahr darauf in noch grösserer Entfernung zu den Metropolen Moskau und St. Petersburg – in Taschkent. So ist die Entstehungsgeschichte der gewagtesten und radikalsten Oper Prokofjews, deren Bedeutung in den letzten Jahren von immer mehr Opern­ häusern erkannt wird, eine Geschichte der Zerrissenheit zwischen Ost und West und zugleich eine Geschichte der Besessenheit, der Leidenschaft und des Schmerzes – der Hauptfigur Renata ebenso wie ihres Schöpfers Prokofjew.

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Wie wundervoll war es, als er mich verfluchte, mich schlagen wollte! Soll er mich ruhig mit Füssen treten! Renata, «Der feurige Engel», III. Akt


ZUR ANATOMIE DER MUSEN Die Geschichte von Nina Petrowskaja, Muse Walerij Brjusows und Vorbild für Renata Michail Schischkin

«Nina Petrowskaja kannte ich 26 Jahre lang, ich erlebte sie gutmütig und böswil­ lig, nachgiebig und störrisch, feige und mutig, folgsam und eigensinnig, ehr­lich und verlogen. Eines aber blieb immer gleich: Ob im Guten oder im Bösen, in der Wahrheit oder in der Lüge – immer ging sie ihren Weg bis ans Ende, sie ging bis an die Grenze, sie ging aufs Ganze, und von den anderen forderte sie das Glei­­che. Alles oder nichts hätte ihre Devise sein können. Daran ging sie zugrunde.» So schrieb der Dichter und Kritiker Wladislaw Chodassewitsch über die Muse des Silbernen Zeitalters nach ihrem Selbstmord in Paris 1928. Nina Petrowskaja war keineswegs eine Frau von verhängnisvoller Schön­ heit – darin sind sich alle ihre Biografen einig. Aber für eine Muse ist eine an­ dere Qualität entscheidend: Sie muss ein Feuer sein, sie muss selbst verbrennen und den Geliebten entflammen. Ist es Geschenk oder Fluch, als Muse geboren zu werden? Sie stammte aus einer Beamtenfamilie. Besuchte Kurse in Zahnheilkunde. Heiratete einen angesehenen Juristen. Für andere junge Frauen wäre das ein erfolgreiches Leben gewesen. Nicht für Nina Petrowskaja. In ihren Memoiren schreibt sie über diese Zeit: «Meine Tage vergingen wie unter einer Glaskuppel, aus der man langsam die Luft heraussog.» Ihr ganzes Leben mit den faulen Zähnen anderer Leute zu vertrödeln war nichts für sie. Die Angst vor der Banalität des Alltags trieb die junge Seele in den mystischen Kreis Auserwählter, die sich für etwas Grösseres opferten. Solche Naturen schlugen sich in jenen Tagen häufig auf die Seite der Revolution und wurden zu Terroristinnen, die voller Freude das Schafott bestiegen. Die Revolu­ tion war jedoch nichts für Nina Petrowskaja, es zog sie in die Welt der Kunst, zur Moskauer Bohème.

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Die Gedichte aller führenden Poeten der Zeit konnte sie auswendig – Balmont, Belyj, Brjusow, Blok. Aber wie Einlass finden in die Gemächer dieser «Be­wohner höherer Sphären»? Nina Petrowskaja macht auch hier keine halben Sachen: Zu­sammen mit ihrem Mann, dem bekannten Moskauer Anwalt Sergej Sokolow (identisch mit dem nicht besonders talentierten Dichter Kretschetow), gründet sie den Verlag Grif (Greif), der symbolistische Poesie herausgibt, und wird Gast­ geberin eines literarischen Salons. Ein neues Leben beginnt, erfüllt vom Dienst am Werk und seinen Schöpfern. In ihren Memoiren, die sie in der Emigration in Berlin schreibt, beginnt sie die Erzählung ihres Lebens nicht mit ihrer Kind­ heit, sondern mit dem Moment, in dem man ihr 1903 Zutritt ge­währ­te zum Kreis der Symbolisten. In der Tat ist das der Beginn ihres wirklichen Lebens. Nina erinnert sich an die erste Begegnung mit einem ihrer Idole: «‹Ich bin Balmont!›, sagte er und warf schnell seinen Mantel ab. (…) Er trat ein, sein unruhiger Blick huschte über die Wände, dann musterte er mich von Kopf bis Fuss und sagte: ‹Sie gefallen mir, ich möchte Ihnen Gedichte vor­tragen. Warten Sie… ziehen Sie die Vorhänge zu… machen Sie das Licht aus…› Ich zog die Vorhänge zu, machte das Licht aus. ‹Nun bringen Sie Cognac…› Ich brachte Cognac. ‹Jetzt schliessen Sie die Tür ab.› Ich schloss die Tür nicht ab, sondern machte sie fest zu. ‹Nun… (er setzte sich in den Sessel) gehen Sie auf die Knie und hören Sie zu…› Ich war wie hypnotisiert. Es war seltsam, auch irgendwie peinlich, aber ich ging auf die Knie.» Bald darauf trat Andrej Belyj in ihr Leben. Ein weiteres Genie der Epoche liest ihr Gedichte vor, sucht aber in ihr weniger die Frau als die Mondsichel­ madonna der biblischen Apokalypse. «Es war, als ob seine Anwesenheit alles veränderte», erinnert Nina sich an die Ereignisse des Jahres 1904, «alle waren in ihn verliebt, unabhängig vom Ge­­schlecht. Ich erinnere mich an einen Abend; die Kohlen verglühten im Kamin. Das schwermütige Gesicht Belyjs zeichnete sich im Halbdunkel ab. Er sagte: Bald schon werden prachtvolle Tage anbrechen, Tage der Harmonie. Ich fragte flüsternd: Wo wird das sein? Wann? Er antwortete nicht. Ich schwieg. In meiner Vorstellung sah ich kühle weisse Säle, weisse Blumen, reine, weisse Tränen wei­ nen­de Kerzen. Das Mysterium der Hingabe an den neuen Christus. Ja, viele hielten Belyj damals für den neuen Christus und waren entzückt von seinen

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Predigten. Ich war ihm ebenfalls verfallen. Er war ein Prophet für mich. Ein Pro­phet, der mich aus dem Dunkel ins Licht führte, der sich schrecklichen mys­ tischen Geheimnissen geweiht hatte.» Ihre gemeinsame Hingabe an das «Ungesagte» und «Unsagbare» dauerte nicht lange. Der Prophet der mystischen, brüderlichen Liebe erlebte eine tiefe Erschütterung, als die «Mondsichelmadonna» sich, wie ein Werwolf, in eine Frau aus Fleisch und Blut verwandelte. In seiner Vorstellung hatte seine Muse einen Fauxpas begangen. In ihrer Vorstellung dagegen konnte sie nicht nur «ein bisschen» Muse sein. Alles oder nichts. Den von den Symbolisten geforderten Kult der Besessenheit nahm sie ernst – und war besessen. «Zerrissen, krank, vom Leben gequält, psychopathisch, verfiel sie nicht selten in religiöse Exaltiertheit», schrieb der Geliebte später über Nina. «Traurig, zärtlich, gutgläubig gab sie sich vollkommen den Worten hin, die sie hörte.» Belyj verliess Nina und floh aus Moskau. «Wenn er sie einfach nur nicht mehr geliebt oder sie betrogen hätte», schrieb Chodassewitsch in Renatas Ende, «doch er floh vor der Verlockung, weil er fürchtete, sein Ideal, seine geheimen mystischen Erfahrungen zu beflecken, mit der allzu irdischen Liebe seine reinen Gewänder zu beschmutzen.» Und er fügt hinzu: «Er floh vor ihr, um vor einer anderen in noch hellerem Licht zu erstrahlen.» Petrowskaja wurde von ihrem «Propheten, der mich aus dem Dunkel ins Licht führte» wegen der Frau eines anderen grossen Dichters des Silbernen Zeit­alters – Alexander Blok – verlassen, die dieser in seinem berühmten Zyklus Ge­dichte über eine wunderbare Dame besungen hat. In ihr erblickte Belyj nun die Menschwerdung der heiligen Sophie. Der Kampf der Dichter wurde mit allen Mitteln geführt, nicht einmal die Muse des Konkurrenten war tabu. Nina gab nicht auf und schickte verzweifelte Briefe: «Sie haben mich zu­ rückgestossen, mich aufgegeben, sind von mir weggegangen, aber meine Lie­be ist nicht für einen Moment schwächer geworden, meine grenzenlose Liebe, die mein ganzes Leben dauern wird, für immer, bis zur allerletzten Stunde, wenn ich immer noch von Ihnen und für Sie singen werde. (…) Schauen Sie mir in die Augen, hören Sie auf meine Seele – es gibt dort nicht einen verborgenen, sündhaften Wunsch, nur das ewige Gelübde, welche Qualen auch immer mein

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Weg für mich bereithält. Ich kenne und spüre mich nicht mehr. In mir ist nur Ihr Wille, Ihr Leben und das Leiden ohne Sie.» Das Wesen dieser Verbindung erfasste Nina erst später. In ihren Erinne­ rungen schreibt sie: «A. Belyj schickte mir lange Briefe (häufig, wie sich später herausstellte, Auszüge aus Artikeln, die er für den Druck vorbereitete). Ich habe jedoch keinen einzigen aufgehoben. Nach unserem Bruch, im Frühling 1905, band ich mit Brjusow einen Stein an diese Briefe, und wir versenkten sie auf dem Grund des finnischen Sees Saimaa. Brjusow wollte es so.» Eine Muse kann nicht allein bleiben – sonst ist sie keine Muse mehr. Natür­ lich spielte in der plötzlich aufflammenden Leidenschaft zu einem anderen be­ rühmten Dichter auch Ninas Wunsch nach Rache an dem Mann eine Rolle, der sie fallengelassen hatte, ebenso wie die Notwendigkeit, sich zu trösten, die sich auftuende Leere möglichst schnell auszufüllen; zuallererst jedoch empfand sie eine höhere Berufung.

«Um sie herum war eine Atmosphäre von Gefahr, Untergang, Schicksal» Als Nina Petrowskaja noch Gymnasiastin war, schallte der Name des «Dekaden­ ten» Brjusow schon durch ganz Russland. 1895 machte ihn der einzige Einzeiler der russischen Poesie bekannt: «O schliesse deine blassen Beine.» Manche waren von den neuen Dichtern begeis­ tert, manche verdammten sie, wieder andere machten sich über sie lustig. Aus den Erinnerungen Iwan Bunins: «‹Es gibt keine Dekadenten und hat nie welche gegeben›, belehrte mich Tschechow. ‹Woher haben Sie das? Gauner sind sie, aber keine Dekadenten. Glauben Sie ihnen nicht. Und ihre Beine sind mitnich­ ten blass, sondern genau so, wie die von allen anderen auch: behaart. (…) Was sollen das für Dekadente sein!›, sagte er. ‹Das sind bärenstarke Kerle, die müss­ te man in die Arbeitskompanie stecken – Strassen bauen!›» Der «Hohepriester der Dekadenz» beschäftigte sich mit Okkultismus und hielt sich selbst für einen Magier. Und vielleicht war er das auch. Einer seiner Biogra­fen erinnert sich, wie er am Stadtpark vorbeilief und plötzlich die Not­ wendigkeit fühlte, von seinem Weg abzuweichen – eine unbestimmte Kraft zog

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ihn irgendwo hin. «Ich biege in die Allee ein, und da ist Brjusow. Sitzt auf einer Bank und lächelt. Fragt: ‹Nun, was führt Sie her?›» Chodassewitsch, einer der Hauptzeugen des Silbernen Zeitalters und selbst ein unmittelbarer Teil davon, beschrieb die besondere Atmosphäre der Zeit so: «Die Symbolisten wollten den Schriftsteller nicht vom Menschen trennen, die literarische Biografie nicht von der künstlerischen. Der Symbolismus wollte nicht nur eine künstlerische Schule sein, eine literarische Strömung; er versuchte viel­ mehr, eine Lebens- und Schaffensmethode zu sein, und darin lag seine tiefe, viel­leicht unerfüllbare Wahrheit; zu dieser Wahrheit strebte seine ganze Ge­ schich­te. Es gab eine Reihe teilweise heldenhafter Versuche, ein Amalgam aus Leben und Werk herzustellen – den künstlerischen Stein der Weisen. Der Sym­ bo­lismus suchte in seiner Mitte hartnäckig ein Genie, das in der Lage war, Leben und Werk gänzlich miteinander zu verschmelzen.» Brjusow hielt sich zweifellos für dieses Genie. Der Dichter hatte bereits den Feurigen Engel im Sinn, einen Roman über eine mittelalterliche Teufelei, als das Schicksal ihn mit der vom Leid zerrissenen, vom Geliebten verlassenen Nina Petrowskaja zusammenführte. Belyj schreibt in seinen Erinnerungen: «Um sie herum war eine Atmosphäre von Gefahr, Unter­gang, Schicksal.» Petrowskaja war das ideale Vorbild für Renata. Brjusow brauchte eine Hexe. Er traf Nina. Dieser Roman ist wahrscheinlich der wichtigste Text seines Lebens. Die Richtung gab er selbst vor: «Eine wahre Geschichte, in der vom Teufel erzählt wird, der einem Mädchen in Gestalt des Lichts erschien und sie zu sündhaftem Verhalten verführte.» Es wird gemeinhin angenommen, dass Brjusow in der Figur der Renata, die um die Liebe des Grafen Heinrich kämpft, Nina porträtier­ te, der Graf Heinrich ist Andrej Belyj, und der Renata verfallene Ruprecht ist er selbst. Aber es besteht kein Zweifel, dass diese Interpretation Ruprechts einem Täuschungsmanöver des Autors aufsitzt: Sich selbst nämlich behielt der Autor die Rolle des Teufels vor, und es scheint, als hätte er diese Rolle genossen – sie ermöglichte es ihm, seine Helden auf den Seiten seines Romans ebenso wie im realen Leben auf die Probe zu stellen. Den Roman widmete Brjusow seiner Muse. «Um deinen Roman zu schrei­ ben», versicherte er Nina in einem Brief, «reicht es, mich an dich zu erinnern,

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an dich zu glauben, dich zu lieben. Die Liebe ebenso wie die Arbeit an einem Prosawerk sind für mich zwei ganz neue Welten», gab er zu. «In der einen hast du mich mitgerissen in märchenhafte Länder, ich habe unberührten Boden betreten. Und ebenso wird es in der anderen Welt sein.» Was empfindet eine Frau, wenn sie diese Zeilen liest? Nicht nur die Muse kann dem Poeten Glück schenken; auch der Poet weiss, wie er seine Muse glücklich machen kann.

«Etwas Unglaubliches geht vor. In meiner Wohnung höre ich ein Klopfen, Flüstern, manchmal Schüsse...» Nina empfand den Roman als die Geschichte ihres Lebens. Sie wurde zu Rena­ ta – zu einer Hexe, die eine Verbindung mit dem Teufel eingeht, die Grenze zwischen der Realität und einer jenseitigen Welt verwischend, nach dem Leben lechzend, den Tod liebend. So sehr steigerte sie sich in die Rolle ihrer Heldin hinein, dass sie bereit war, zu sterben, um Brjusow die Möglichkeit zu geben, den Tod Renatas anhand ihres Vorbilds zu beschreiben und somit zum Modell zu werden «für das wunderbare letzte Kapitel». Renata musste die Liebe Heinrichs, der sie verlassen hatte, zurückgewinnen. Nina Petrowskaja überhäufte Andrej Belyj mit ihren Briefen. Brjusow veran­stal­ tet spiritistische Sitzungen, um seiner Geliebten durch Geisterbeschwörung zu helfen, ihren ehemaligen Liebhaber zurückzuerobern. Zwischen Belyj und Brju­ sow beginnt ein «mystisches Duell». Ihre Beziehung ist äusserst angespannt. Belyj erfährt die Macht des Schwarzmagiers. An einen Bekannten schreibt er: «Etwas Unglaubliches geht vor. Ich spüre seinen Einfluss. In meiner Woh­ nung geht mal das Licht aus, mal höre ich ein Klopfen, Flüstern, manchmal sogar Schüsse. Meine Beziehung zu Brjusow ist kalt und schrecklich geworden. Zuweilen scheint es mir, als stünde ich am Abgrund, die Tür, die mich von der Unterwelt trennt, ist weit aufgerissen, zwischen mir und der Hölle ist ein Korri­ dor entstanden, und ich sehe, wie jemand durch diesen Korridor auf mich zu kommt. Ich fühle, es ist ein Feind. Der Feind ist Brjusow! Das, was zwischen uns vorgeht, ist ein mystisches Duell, ein mystisches Gedankenfechten. Brjusows

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wütenden Angriff auf die Grundfesten meiner moralischen Welt beantworte ich mit dem Fehdehandschuh, den ich ihm hingeworfen habe. Wir fordern uns heraus zu einem gedanklichen Duell, und wir werden kämpfen.» Der Schlagabtausch der beiden Dichter findet zwar zunächst in ihren Ge­ dichten statt, doch beinahe wäre es auch zu einem realen Duell gekommen. Im Februar 1905 äussert sich Brjusow in Gegenwart Belyjs wenig schmei­ chelhaft über das Schriftstellerehepaar Dmitri Mereschkowski und Sinaida Gip­ pius. Belyj empfand das als Beleidigung seiner Freunde und schreibt an Brjusow: «Die Mereschkowskis stehen mir nah und bedeuten mir sehr viel. Ich sehe mich gezwungen, Sie zu warnen, Walerij Jakowlewitsch, dass ich von nun an Worte, ähnlich denen, die Sie mir heute gesagt haben, als persönliche Beleidigung auf­ fassen werde…» Brjusow antwortet scharf, fast mit einer Forderung zum Duell: «Falls Sie der Meinung sein sollten, dass ich Ihre Worte nicht richtig verstanden habe, bestehe ich darauf, dass Sie sie schriftlich dementieren, und ich werde mir das Recht herausnehmen, über dieses Dementi alle diejenigen aus unserem ge­ meinsamen Bekanntenkreis zu unterrichten, bei denen ich das für nötig halte. Im gegenteiligen Fall beauftragen Sie einen Ihrer Freunde, über die Folgen Ihrer Worte mit S. A. Poljakow zu verhandeln, dem ich alle Einzelheiten dessen, was zwischen uns vorgefallen ist, übergeben werde.» Das symbolistische Prinzip der Einheit von Leben und Kunst wird in die Praxis umgesetzt, die Grenze zwischen Text und Realität ausradiert. Die reale Duell-Forderung spiegelt den Kampf der beiden männlichen Hauptfiguren im Roman. Belyj hat bereits seine Freunde Lev Kobylinsky und Sergej Solowjow da­r um gebeten, ihm als Sekundanten zur Seite zu stehen, da kommt von Brju­ sow im letzten Moment ein versöhnlicher Brief, und der Kampf der Protagonis­ ten wird auf den Seiten des Feurigen Engels fortgesetzt. Im selben Jahr schreibt Brjusow in dem Artikel Das heilige Opfer, der für den Symbolismus programmatische Bedeutung hatte: «Wir fordern vom Dichter, dass er seine heiligen Opfer unermüdlich nicht nur in Form seiner Gedichte bringt, sondern in jeder Stunde seines Lebens, in jeder Gefühlsregung. (…) Möge der Dichter nicht nur sein Buch erschaffen, sondern sein ganzes Leben.» Im Frühling, als die Emotionen nach dem nicht erfolgten Duell etwas ab­ gekühlt waren, forderte der Roman seine Vorbilder noch einmal heraus – diesmal

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wirklich auf Leben und Tod: Brjusow – der Teufel – schenkt Nina – Renata – einen Revolver. Belyj – Heinrich – hält im Auditorium des Polytechni­schen Instituts einen Vortrag. In der Pause geht sie zu ihm und will aus nächs­­ter Nähe auf ihn schiessen. Doch der Revolver geht nicht los. Der Roman wird weiter­ geschrieben. (Bemerkenswert, dass sich mit eben diesem Revolver acht Jahre später eine andere Geliebte Brjusows erschoss, die Dichterin Nadeschda Lwowa. Die nächs­ te früh verbrannte Muse wurde nur 22 Jahre alt.)

«Du hast mich in himmlische Höhen und tiefste Tiefen geführt» Im Sommer 1905 reisen der Poet und seine Muse nach Finnland, an den SaimaaSee; eben dort waren die Briefe Belyjs versenkt worden. «Das war der Gipfel meines Lebens», gesteht Brjusow Nina in einem Brief, «der höchste Punkt, von dem aus sich mir, wie einst Pizarro, zwei Ozeane eröff­ neten – der meines vergangenen und der meines zukünftigen Lebens. Du hast mich in himmlische Höhen geführt. Und du hast mir die tiefsten Tiefen, die letzten Geheimnisse meiner Seele gezeigt. Alles, was im Ofen meiner Seele an Gewalttätigkeit, Wahnsinn, Verzweiflung vorhanden war, ist umgeschmolzen worden in einen Goldbarren – in die Liebe, die einzige, grenzenlose – ewige.» Von dieser Reise brachte Brjusow einen Zyklus mit Liebesgedichten mit – die Gedichtsammlung Stephanos. Ein Kranz. «Niemals», schrieb er, «durchlebte ich solche Leidenschaften, solche Qualen, solche Freuden». Diese finnische Reise war der Höhepunkt ihrer Beziehung. Bald schon wird der Roman vollendet sein. Auf dem Papier – also auch im Leben. Nina verkörperte ihre Rolle perfekt. Im Köfferchen der Muse befindet sich – wie bei einem Arzt – alles, was sie braucht, um einem nicht genügend inspi­ rierten Poeten erste Hilfe zu leisten: Leidenschaft, Verrücktheit, Verzweiflung, Ekstase, Laster, Hass, und das Wichtigste: unaufhaltsames Streben zum höchsten, intensivsten Erleben, fern vom spiessbürgerlichen Alltag, der für einen Dichter tödlich ist. Doch nach dem schöpferischen Wahnsinn kehrte Brjusow immer wieder zu seiner Frau zurück. Und die Musen waren nutzlos geworden.

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«Der Poesie opfere ich alles, ohne darüber nachzudenken − mein Glück, meine Liebe, mich selbst» Die Bücher, die Nina Petrowskaja inspiriert hatte, waren geschrieben. Das Feuer der Muse loderte zwar noch, aber sie konnte niemanden mehr entflammen. Nina verstand das ganz und gar nicht. Nun beginnt sie, Brjusow mit Briefen zu über­ schütten, macht ihm Vorwürfe, will ihn treffen. Er versucht geduldig, ihr das Offensichtliche, wie es scheint, zu erklären: dass sein Leben sein Werk ist, seine Poesie: «Ich lebe – so lange sie in mir lebt, und wenn sie in mir erlöscht, werde ich sterben. Der Poesie opfere ich alles, ohne darüber nachzudenken – mein Glück, meine Liebe, mich selbst.» So ging es über Wochen, Monate, Jahre. Mal versuchte sie ihn zurückzu­ gewinnen, indem sie ihm Treue schwor, mal indem sie ihn mit anderen Männern betrog, sogar mit Selbstmord drohte sie. Sie begann, Prosa zu schreiben, um die Aufmerksamkeit des Meisters zu gewinnen, doch ihre Erzählungen waren nur der Versuch, ihre Beziehung zu ihm zu verstehen. Sie ahmte den polnischen Philosophen Przybyszewski nach und war begeistert davon, wie in dessen Dich­ tung «im Weltraum ohne Wände, ohne Fussboden, ohne Decke ein Diwan steht, dort sitzt ein Paar, dessen Gefühle auf die tragischste Art und Weise aufeinander­ prallen. Es gibt keine Zeit, keine Stadt, kein Land… auf diesem Diwan, der da so mitten im Raum in der Leere steht, spielt sich das Drama ab – und sonst nichts.» Belyj schrieb über ihre Prosa: «Die Helden und Heldinnen dieser Er­ zählungen bewegen sich wie Mannequins, trunken von Liebe. (…) Alle Helden der Erzählungen haben dasselbe Gesicht, und die Heldinnen auch. Ihre Persön­ lichkeit verdampft.» Die Leser von Brjusows Stephanos. Ein Kranz waren begeistert von seiner Heldin, der verliebten Mondpriesterin, während die Mondpriesterin selbst ver­ suchte, sich mit Alkohol und Drogen zu betäuben und ihre hysterischen An­fällen sie an den Rand der Erschöpfung brachten. Der Feurige Engel war fertig; er endet mit dem Tod Renatas. Aber Brjusows Muse, Renatas Vorbild, war aus irgendwelchen Gründen noch am Leben und wurde für ihn zum Problem.

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Sie war eifersüchtig auf die Jüngeren, die den Magier, den «Bewohner hö­herer Sphären», umgaben. Sie wurde älter, und alternde Musen entflammen die Dich­ ter nicht mehr. Nina Petrowskaja wurde 1879 geboren, aber sie bestand da­rauf, dass 1884 ihr Geburtsjahr sei. Sie verkürzte ihr Leben um fünf Jahre, über­zeugt davon, dass Musen jung sein müssen. Als ob es etwas ändern könnte, wenn der Altersunterschied zwischen ihr und Brjusow nicht 11, sondern 16 Jahre beträgt. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass sie nicht mehr gebraucht wurde. Sie war doch Renata! Renata hört auf zu essen, liegt tagelang auf dem Sofa, zu­ ­gedeckt mit einem schwarzen Plaid. Sie wird krank, verreist für einige Monate zur Kur ins Ausland, von wo sie Brjusow Briefe voller Liebesergüsse schickt, unterschrieben mit: «Die, die einmal deine Renata war.» Sie fährt nach Köln, die Stadt der Heldin aus dem Feurigen Engel, und legt sich dort mit ausgebreiteten Armen auf den nackten Boden des Kölner Domes. Nachher schreibt sie Brjusow: «Ich fühlte mich so allein – wie die vergessene, verlassene Renata. Ich lag auf dem Boden des Doms, wie jene Renata, die du erschaffen und dann vergessen hast, die du nicht mehr liebst… Auf dem Boden des Kölner Doms durchlebte ich noch einmal unser gemeinsames Leben, Minu­ te für Minute… Und in den dunklen Gewölben tönten die Orgelklänge wie ein Trauermarsch zu Renatas Beerdigung.» Brjusow antwortet manchmal, schickt beruhigende Briefe, als würde er Almosen verteilen: «Ich fühle, wie in meiner Seele die Liebe zu dir von einer wilden, im Wind flackernden Flamme, die mal hell aufloderte, mal beinahe in der Asche verging, nun zu einem ruhigen und klaren Licht wurde, das kein Wir­bel­­sturm ausblasen wird, denn es ist nicht abhängig von irgendwelchen Launen oder Zufälligkeiten.» Chodassewitsch erzählt: «Sie wurde schwer krank vom Morphium, fast wäre sie gestorben. Als es ihr etwas besser ging, wurde entschieden, dass sie ins Ausland fahren sollte: in die Verbannung, in ihren Worten. Brjusow und ich brachten sie zum Bahnhof. Sie fuhr für immer weg. Sie wusste, dass sie Brjusow nie­mals wiedersehen würde. Sie fuhr halbkrank, ein Arzt begleitete sie. Das war am 9. November 1911. Ihr Leiden in Moskau hatte sieben Jahre gedauert. Das Leiden, das jetzt begann, sollte noch mal 16 Jahren dauern.» Brjusow wird sie nicht mehr wiedersehen.

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«Mein neuer und geheimer Name ist Renata» Ihr Leben im Ausland war geprägt von Armut, billigen Hotels, der Suche nach Geld, der Suche nach Arbeit, Ausweglosigkeit, Verzweiflung. Als sie noch in Russ­land lebte, hatte Nina dauernd damit gedroht, sich umzubringen, und nach ihrer Abreise waren Gerüchte über Selbstmordversuche im Umlauf: In Paris sprang sie aus dem Fenster eines Hotels auf dem Boulevard Saint Michel, in München warf sie sich vor ein Auto. Durch glückliche Fügung blieb sie am Leben, sie brach sich nur ein Bein und hinkte bis an ihr Lebensende. Höchst­ wahrscheinlich waren das jedoch nur Gerüchte, von ihr selbst in die Welt gesetzt, und das Hinken war die Folge einer Tuberkuloseerkrankung im Knie. Sie gestattete sich nicht, aus dem Leben zu scheiden – aus einem einfachen Grund: Weder leben noch sterben konnte sie für sich allein. Der Möglichkeit beraubt, Muse zu sein, wurde sie der Schutzengel ihrer jüngeren Schwester Nadja. Schwierig zu sagen, welche Diagnose man heute stellen würde – damals nannten die Biografen Nadja eine Idiotin. Bekannt ist nur, dass das Mädchen als Kind mit kochendem Wasser übergossen worden war. Nach dem Tod der Mutter 1909 hatte Nina die Schwester in ihre Obhut genommen. Als sie Russ­ land verliess, nahm sie Nadja mit, und seit dieser Zeit teilten die Schwestern das Elend des Lebens in der Emigration. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebt sie in Italien, ohne Freunde, ohne Verbindungen, mittellos. Von ihrer Besessenheit kann sie sich noch immer nicht befreien. Sie tritt zum Katholizismus über. Chodassewitsch gesteht sie in einem Brief: «Mein neuer und geheimer Name, unauslöschlich niedergeschrieben irgendwo auf einer Schriftrolle in San Pietro, ist Renata.» 1922 wird in Berlin die Zeitung Nakanune gegründet, die mit dem sowje­tischen Regime kokettiert, und die Aussicht, etwas Geld zu verdienen, lockt viele Emi­ gran­ten an. Zu Beginn der 20er Jahre ist Berlin das Zentrum des russischen li­te­rarischen Lebens. Nina zieht nach Berlin und veröffentlicht in Nakanune Essays und Kritiken. Vorübergehend flackert Hoffnung auf ein «normales» Leben auf. Roman Gul, Redakteur der Zeitung, beschrieb Nina Petrowskaja in ihren Berliner Jahren so: «Ungefähr 50 Jahre alt, nicht sehr gross, hinkend, mit einem

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in grellen Farben übertrieben geschminkten Gesicht, als ginge sie zum Auftritt auf einer grossen Bühne, machte Nina Petrowskaja, um die Wahrheit zu sagen, einen schrecklichen Eindruck. Sie war eine unglückliche, kranke Frau. Nina Petrow­skaja war Alkoholikerin und immer leicht angetrunken, ärmlich, aber mit einem gewissen Anspruch gekleidet – ihr schwarzer Hut mit unglaublich breiter Krempe sah aus wie ein Lampenschirm.» «Nina Petrowskaja ist hier», berichtet aus Berlin Chodassewitsch. «Was hat sie nicht alles erlitten – und doch ist sie immer noch dieselbe wie 1905. Sie hat nichts dazugelernt.» In Berlin finden ihre letzten Treffen mit Andrej Belyj statt. Chodassewitsch lädt beide zu sich ein. «Das ist nicht der A. Belyj von früher, wie ich ihn kannte», schrieb die Petrowskaja einige Tage nach diesem Treffen. «Dick ist er geworden, hat sich verändert, denkt anders, lebt anders.» In einem anderen Brief fügte sie hinzu: «Wir haben uns einmal geliebt, wie man sich nur lieben kann… und alles war dadurch lebendig. Und jetzt… Wir sind wie Schauspieler, die sich nach der Vorstellung abgeschminkt haben und nun im Kaffee sitzen und prosaisch Cognac trinken. Ich bin gelangweilt und ermüdet davon, und irgendwie auch peinlich berührt. Er vermutlich auch.» Eine Bekannte Nina Petrowskajas aus Moskauer Zeiten überzeugt sie da­ von, ihre Memoiren zu schreiben: «Ich begegnete ihr, als sie am Rande des Abgrunds stand, ein Zustand, in dem man sich entscheiden muss zwischen dem langsamen Hungertod oder dem schnellen Tod durch Gift. Es gelang mir, sie zu überreden, vorerst auf Selbstmord zu verzichten und meine Hilfe anzuneh­ men; im Gegenzug sollte sie für mich ihre Memoiren schreiben.» Diese Erinne­ rungen wurden der beste und wahrhaftigste Text ihres Lebens. Sie schreibt über Brjusow, als dieser bereits tot war, und sie hätte genug Mate­rial dafür gehabt, ihren Zeilen einen Beigeschmack von Enttäuschung, Ver­ letzung, Verachtung zu geben. Nein. Ihr ganzes Leben war ein Bekenntnis der Liebe zu ihm, und ihre Memoiren waren der wichtigste Teil in diesem Be­kenntnis. In den Jahren, die auf die Trennung folgten, besang Brjusow weiterhin sei­ne Musen und sein Schaffen. Mit einem patriotischen Tonfall zollte er dem Krieg seinen Tribut. Nach der Revolution trat der Magier und «Bewohner hö­ herer Sphären» in die Partei der Bolschewisten ein, wurde Literaturfunktionär,

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Mitglied des Mossowjet. Der Hohepriester der Dekadenz schrieb flammende Hymnen auf das tschekistische Regime. Möglich, dass ihm das nicht leicht fiel – er half sich mit Drogen. «Ende 1919 hatte ich ihn einmal zu vertreten», erinnert sich Wladislaw Chodassewitsch, damals Kollege Brjusows im Kulturkommissa­ riat. «Als ich in seine Schreibtischschublade schaute, sah ich dort die Nadel einer Spritze und ein abgerissenes Stück Zeitung mit Blutstropfen.» Für das Russland der Emigranten war Brjusow ein Verräter. Für die Kom­ munisten blieb er trotz allem ein Fremder, der aus einer feindlichen Klasse stammte – das sowjetische Russland hatte seine eigenen Idole. Brjusow starb im Oktober 1924 an Lungenentzündung. Der vom Heroin geschwächte Körper leistete der Krankheit keinerlei Widerstand. Aber für Nina existierte nur der andere Brjusow – der Autor des Feurigen Engels, der Autor ihrer selbst.

«Ich habe mich selbst gefragt: Kannst du leben? Meine Antwort war: Ich kann nicht.» Sie schrieb nicht einfach nur ihre Memoiren – sie wollte sich erinnern, um ihre Liebe noch einmal durchleben und in ihren Worten bewahren zu können – Worte, die sie an einen Ort schickte, an dem sie hoffte, ihn wiederzutreffen. «Er brauchte wahrhaftige irdische Ebenbilder seiner Charaktere, und in mir fand er vieles von dem, was für Renata nötig war: Verzweiflung, tödliche Sehn­ sucht nach einer herrlichen Vergangenheit, die Bereitschaft, die eigene wert­lose Existenz auf den erstbesten Scheiterhaufen zu schleudern, von dämonischen Ver­lockungen vergiftete religiöse Ideen, völlige Abkehr vom Alltag und von den Menschen, fast schon Hass auf das Diesseits, seelische Heimatlosigkeit, Todes­ sehnsucht.» In der Mitte der zwanziger Jahre leert sich das russische Berlin – die einen kehren nach Moskau zurück, die anderen reisen weiter nach Paris oder Prag. Unter grossen Mühen gelingt es Nina Petrowskaja 1927, nach Paris zu übersie­ deln. Sie zieht in ein winziges Zimmerchen im Wohnheim der Heilsarmee. Um für ihre Schwester und für sich selbst Essen zu erhalten, arbeitet Nina Petrows­

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kaja in der Küche und teilt Suppe an 700 Bedürftige aus. «Meine Finger, die nur daran gewöhnt waren, eine Feder zu halten, hatten sich abends zu Haken verkrümmt», schreibt sie einem Bekannten am 10. August 1927. «Die Welt sehe ich zwei Stunden lang nur durch Suppendampf. Und in diesen zwei Stunden be­greife ich ihr wahres Wesen: Vita nostra vapor est – unser Leben ist nur Dampf. Und um darunter nicht ebenso sehr zu leiden wie alle anderen, halte ich das Ver­mächtnis der symbolistischen Epoche in Ehren: Ich denke an Baudelaire, der uns empfahl, ‹sich zu berauschen›. Woran auch immer – sich berauschen. Ich berausche mich an der Müdigkeit, der Sehnsucht, der Hitze, den Grobheiten der Menschen um mich herum, an den eigenen giftigen Gedanken… und so lebe ich also.» Im Herbst 1927 wurde Nadja krank – Magenkrebs – und starb schliesslich qualvoll am 13. Januar 1928. Nina ging ins Leichenschauhaus und stach mit einer Sicherheitsnadel erst in den Körper der toten Schwester, dann in die eige­ ne Hand, um sich mit dem Leichengift der Toten anzustecken. Die Hand schwoll an, doch dann ging alles wieder vorbei. Sie musste allein weiterleben. Sei war Muse, sie war Schutzengel. Diejenigen, denen Nina Petrowskaja ihr Feuer gegeben hatte, waren nicht mehr auf dieser Welt. Noch etwas anderes sein konnte und wollte sie nicht. Ganz für sich allein war sie nur Leere. In der Leere gibt es keine Luft zum Atmen. Einen Monat nach dem Tod der Schwester, am 23. Februar 1928, verstopft sie sorgfältig alle Fensterritzen und dreht den Gashahn auf. In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie: «Ich habe mich selbst gefragt: Kannst du leben? Meine Antwort war: Ich kann nicht.» Ihre letzten Worte galten Brju­ sow: «Ich verzeihe dir alles. Ich folge dir nach.»

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Aus dem Russischen von Beate Breidenbach

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Manchmal brennen diese Erinnerungen wie Feuer. Und ausser diesen Erinnerungen ist nichts mehr in meiner Seele – keine Hoffnung, keine Freude. Nina Petrowskaja an Walerij Brjusow, 26.11.1908


Videostills von Sarah Derendinger


DER FEURIGE ENGEL SERGEJ PROKOFJEW (1891-1953) Oper in fünf Akten und sieben Bildern op. 37 Libretto vom Komponisten nach dem gleichnamigen Roman von Walerij Brjusow Wörtliche deutsche Übersetzung von Ulrike Patow Personen

Ruprecht, ein Ritter Bariton Renata, Ruprechts Geliebte Sopran Wirtin Mezzosopran Wahrsagerin Mezzosopran Äbtissin Mezzosopran Agrippa von Nettesheim, Doktor der Philosophie Tenor Mephistopheles Tenor Faust, Doktor der Philosophie und Medizin Bass Inquisitor Bass Jakob Glock, Buchhändler Tenor Arzt Tenor Mathias, Universitätsfreund Ruprechts Bariton Knecht Bariton Der Wirt Bariton Drei Skelette Sopran, 2 Baritone Drei Nachbarn 2 Bässe Zwei junge Nonnen Soprane Graf Heinrich Stumme Rolle Winziger Knabe Stumme Rolle Nonnen, Gefolge des Inquisitors, Frauen- und Männerchor hinter der Szene Die Handlung spielt in Köln und Umgebung um 1534


ERSTER AKT Schmutzige Mansardenkammer in einer Herberge. Zugang über eine Treppe aus der unteren Etage. In der gegenüberliegenden Wand eine zugenagelte Tür. Nacht. WIRTIN führt mit einer Kerze in der Hand Ruprecht die Treppe hinauf

Hier, Herr Ritter. Das ist das beste Zimmer. RUPRECHT

Und doch ist es schlechter als jede Hütte in Amerika, woher ich gerade komme. WIRTIN

RENATA stürzt sich auf Ruprecht und schmiegt sich an ihn

Ruprecht! Ruprecht! Ich habe keine Kraft mehr! RUPRECHT

Wahnsinnige Dame, verfolgt Euch ein Gespenst? RENATA

Da... dort... dort... in dieser Ecke! Und hier... und hier! RUPRECHT

Meine Augen sehen nichts, ausser einen Mondstrahl. RENATA mit den Händen die Erscheinung abwehrend

Vielleicht wünscht der Herr Ritter Wein oder Hammelfleisch?

Hinfort, hinfort, hinfort! Verschwinde! Geh weg von mir! Fort, rühr mich nicht an!

RUPRECHT

RUPRECHT zieht den Degen und durchschneidet die Luft kreuzweise

Geht schlafen! Die Wirtin geht ab.

Ziemlich stickig und eng ist meine erste Unterkunft in der Heimat. In Italien war selbst in der letzten Spelunke das Bett weicher. Und hier... Doch ich habe schon schlechtere Nächte kennen­ gelernt. Man muss sich zum Einschlafen den Pelzmantel über den Kopf ziehen. Er legt sich hin. RENATA von Entsetzen gepackt im Nebenzimmer

Geh weg, geh weg, geh weg von mir! Geh weg, geh weg, Ruchloser! Geh weg, geh weg, Verdammter! Ah! Geh weg, geh weg, geh weg von mir! Hinfort, Verfluchter, hinfort! Verschwinde... verschwinde... Ruprecht hebt den Kopf und horcht.

Geh weg, geh weg, geh weg von mir! Fort! Rühr mich nicht an! Weg da! Weg da! Hau ab, hau ab, hau ab! Hau ab! Verzieh dich! Verzieh dich! Verzieh dich! Ah! Geh, geh weg, geh weg von mir! Verdufte, verschwinde, hau ab! RUPRECHT an der zugenagelten Tür

Braucht dort vielleicht jemand meinen Schutz?

Verschwinde, Gespenst! RENATA

Ach, welche Angst, welche Angst! Geh weg, geh weg! Todesangst, Todesangst! Lass ab, lass ab, lass ab! Todes-, Todes-, Todesangst! Ruprecht ist erstaunt und weiss nicht, was er tun soll; unbeweglich, wie eine Salzsäule, steht er da.

Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen! Hinaus, hinaus, hinaus, oh, verschwinde! Verschwinde! Ach, welche Angst, welche Angst! Geh weg, geh weg! Todesangst, Todesangst! Lass ab, lass ab, lass ab! Stirb! Stirb! Stirb! Erbarmen! Erbarmen! Erbarmen! RUPRECHT spricht ein Gebet, das ihm gerade einfällt, und zieht Renata zu sich heran

Libera me, Domine, de morte aeterna … RENATA

Erbarmen! Erbarmen! Erbarmen! RUPRECHT

Hat sich das Gespenst entfernt?


Programmheft DER FEURIGE ENGEL Oper in fünf Akten von Sergej Prokofjew (1891-1953) Libretto von Sergej Prokofjew nach dem gleichnamigen Roman von Valerij Brjussow Premiere am 7. Mai 2017, Spielzeit 2016/17

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Textnachweise: Die Handlung schrieb Beate Breidenbach. Die Gespräche mit Calixto Bieito, Uta Poplutz und Gianandrea Noseda sind Ori­gi­nal­ beiträge für dieses Programmheft. Zitat aus Prokofjews Tagebuch in: Anthony Phillips, Sergej Sergeevič Prokofev; Briefe von Nina Petrowskaja an Walerij Brjusow zitiert nach: Nina Petrovskaja, Valerij Brjusov, Perepiska, Moskva 2004 (Deutsch von Beate Breidenbach); Tankred Dorst, Der Engel, in: ders., Merlin oder das wüste Land, Frankfurt am Main 1985; Exorzismus heute: www.ref.ch; Uwe Wolff, «Es brennt!», Anneliese Michel und die letzte Teufelsaustreibung in Deutschland, in: ders., Der Teufel ist in mir, München 2006; Beate Breidenbach, Eine Leidensgeschich­

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te. Zur Entstehung von Prokofjews «Der feurige Engel», Originalbeitrag für dieses Programmheft; Michail Schischkin, Zur Anatomie der Musen, Originalbeitrag für dieses Programmheft (Über­setzung aus dem Russischen von Beate Breidenbach). Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavier­ haupt­ probe am 27. April 2017. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nach­träglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


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