MAG 02: Romeo und Julia

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Romeo und Julia 22

Sphinx mit männlicher Energie Katja Wünsche ist neue Solistin im Ballett Zürich. Die Ausnahmetänzerin verbindet Charisma mit einer souveränen Technik und experimenteller Neugier

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ie Zukunft hat für sie längst begonnen. Vor fünf Jahren erhielt Katja Wünsche den Deutschen Tanzpreis Zukunft, und in der Begründung hiess es, dass sich ihr «überragendes Talent» bereits in ihrer Studentenzeit an der Staatlichen Hochschule Berlin abgezeichnet habe. Mehrere bedeutende Ensembles hätten sie gerne als Mitglied gewonnen. Doch die gebürtige Dresdnerin entschied sich für das Stuttgarter Ballett, bei dem sie sich, gefördert vom Künstlerischen Direktor Reid Anderson, bis zur Ersten Solistin entwickelte – «auf der Grundlage einer souveränen Technik mit einer anspruchsvollen Bandbreite grosser Solo-Rollen betraut», so die Tanzpreisbegründung. Auch Christian Spuck, der bereits bei ihrem Vortanzen in Stuttgart dabei gewesen ist, lobt sie als eine «Künstlerin, die immer reflektierend arbeitet und – auf der Bühne ganz befreit – den Figuren Leben einhaucht.» Solches Lob wiegt manchmal schwer. Doch Katja Wünsche lässt sich davon nicht beeindrucken. In einem 3satFilm von Peter Schönhofer nennt sie sich selbst «grounded» – und diese Erdung wird der Ballerina auch künftig helfen, nur dann abzuheben, wenn der Choreograf es ausdrücklich wünscht. Die Selbstkritik, die ihr manchmal im Wege steht, ist für sie zugleich ein Schutzschild, an dem alle Komplimente wie stumpfe Pfeile abprallen. Marco Goecke, der Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts, sieht das ähnlich. Er charakterisiert Katja Wünsche als eine «sehr heutige Tänzerin» und fühlt eine «männliche Energie», die ihrer fraulichen Erscheinung scheinbar widerspricht. Nur wer wie Katja Wünsche das eigene Tun immer wieder in Frage stelle, habe das Recht, Künstler genannt zu werden.

«Man muss jeden Tag ein bisschen die Grenze überschrei­ ten, damit man am Ende das erreicht, worauf man hin­ arbei­tet», meint die Solistin in dem Film Westklasse Made in Germany – Junge Interpreten, und vermutlich ist es dieser Beharrlichkeit zu danken, dass sie sich zu einer Ausnahme­tänzerin entwickelt hat, deren kunstvolles Konterfei die letzte Spuck-Kreation beworben hat: mit einem bluttriefen­den Kollier auf blass schimmernder Haut und einem bannenden Blick, der keineswegs so blauäugig ist, wie es den Anschein hat. Dabei verkörpert Katja Wünsche in dem abendfüllenden Handlungsballett Das Fräulein von S. nicht einmal die Scuderi, die E.T.A. Hoffmann in den Mittelpunkt seiner gleichnamigen Novelle stellt. Ihre Madelon ist eher eine Randfigur, Nummer neun in der Abfolge ihres Auftritts. Und doch ist Cardillacs Tochter so etwas wie eine Schlüsselfigur der Geschichte, die sich wie ein Krimi liest: ganz der Liebe ergeben, die sie anfangs so leidend erscheinen lässt, und letztlich doch getrieben von einem eisernen Willen, der nach einer Aufklärung der seltsamen Geschehnisse verlangt. Ihre Interpretationen lassen sich nicht leicht ergründen; sie bewahren ihr Geheimnis. «Katja Wünsche hat etwas sehr in ihrer Welt Lebendes», meint Marco Goecke, «etwas Verschlossenes». Man muss sich in ihr Gesicht einsehen, das bei aller offensichtlichen Schönheit etwas von einer Sphinx besitzt, muss die Sprache ihres kraftvollen Körpers erst begreifen lernen, um ihre Rollendeutung ganz verstehen zu können. Das ist sicher nicht immer einfach, gibt dem Bühnentanz aber am Ende wieder Bedeutung. Christian Spuck wird schon gewusst haben, weswegen er sie als Blickfang für Das Fräulein von S. plakatiert. Katja Wünsche macht neugierig auf das Ballett, und das ist in unserer heutigen Zeit nicht zu unterschätzen.


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