Staatstheater Mainz – Lore Lay

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Staatstheater Mainz

Lore Lay Musiktheater

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LORE LAY (UA) Eine romantische Soirée über Männer, Frauen und den Rhein

Musikalische Leitung … Paul-Johannes Kirschner Inszenierung … Niklaus Helbling Bühne, Video … Elke Auer Kostüme … Mascha Bischoff Licht … Sebastian Ahrens Dramaturgie … Anselm Dalferth Choreographische Mitarbeit … Antonia Labs Lore / Ameley / Wassergeist / Loreley … Katharina Alf Bertha / Sophie / Wassergeist / Loreley … Marie-Christine Haase Agnes / Schwarzer Star / Wassergeist / Loreley … Antonia Labs Célimène  / Leonore / Loreley … Dorin Rahardja Clara / Bettina Brentano / Wassergeist / Loreley … Rebekka Stolz* Otto / Clemens Brentano / ­Wassergeist,  Otto / Schiffer … Peter Felix Bauer Heinrich Heine  / Wassergeist / Schiffer … Klaus Köhler Reinald / Müller Radlauf / Wassergeist / Schiffer … Johannes Mayer Madame Eisenhut … Erika Le Roux Herr Rittersporn … Paul-Johannes Kirschner Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz *Junges Ensemble

Aufführungsrechte Schott Music, Mainz G. Ricordi & Co, Berlin Aufführungsdauer ca. 1 Stunde, 50 Minuten – keine Pause Uraufführung am 7. November 2015, Kleines Haus Regieassistenz und Abendspielleitung … Victor Pohl; Studienleitung … Michael Millard; Musikalische Assistenz … Erika Le Roux, Christian Maggio; Ausstattungsassistenz … Lydia Kaminski, Katrin Frankowski; Inspizienz … Marcel Tabrea; Soufflage … Jasmin Clemens; Regiehospitanz … Annabel Krukow; Technischer Direktor … Christoph Hill; Werkstättenleiter … Jürgen Zott; Assistent der technischen Direktion … David Amend; Bühneneinrichtung … Michael Hubertus; Leiter der Beleuchtung … Stefan Bauer; Leiter der Dekorationswerkstatt … Horst Trauth; Leiter der Schreinerei … Markus Pluntke; Leiter der Schlosserei … Erich Bohr; Vorstand des Malersaals … Andreas Beuter; Leiter der Tontechnik … Andreas Stiller; Tontechnik … Tom Schmidtke; Kostümdirektorin … Ute Noack; Assistentin der Kostümdirektorin … Ingrid Lupescu; Gewandmeisterinnen … Britta Hachenberger, Mareike Nothdurft; Gewandmeister … Thomas Kremer, Falk Neubert; Modistin … Petra Kohl; Chefmaskenbildner … Guido Paefgen; MaskenbildnerInnen … Johanna Prange, Stefanie Spang; Leitung der Requisite … Dagmar Webler; Requisite … Maren Luedecke, Birgit Schmitt-Wilhelm, Susanne Schmitz

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Es ist schon spät, es ist schon kalt, Was reit’st du einsam durch den Wald? Der Wald ist groß, du bist allein, Du schöne Braut, ich führ’ dich heim! „Groß ist der Männer Trug und List, Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist, Wohl irrt das Waldhorn her und hin, O flieh, du weißt nicht wer ich bin!“ So reich geschmückt ist Roß und Weib, So wunderschön der junge Leib, Jetzt kenn’ ich dich – Gott steh mir bei! Du bist die Hexe Lorelay. „Du kennst mich wohl – vom hohen Stein Schaut still mein Schloß in tiefen Rhein; Es ist schon spät, es wird schon kalt, Kommst nimmermehr aus diesem Wald!“ Waldesgespräch Joseph von Eichendorff

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BILD 1 Beim Hauskonzert im bürgerlichen Salon gibt Otto, der Hausherr, die Verlobung mit seiner Braut Bertha bekannt. Ehrengast der Soirée ist der berühmte Heinrich Heine. Im Verlauf des Abends stellt sich heraus, dass Otto eine Affäre hat. Eine der Damen nimmt sich das Leid der enttäuschten Geliebten besonders zu Herzen.

BILD 2 Bei der Tee-Party von Clemens Brentano werden Märchen erzählt (Clemens Brentano: Rheinmärchen), die sich in und um Mainz herum ereignet haben sollen.

Johannes Brahms Liebesliederwalzer und Neue Liebesliederwalzer, daraus: Am Gesteine rauscht die Flut Verzicht, o Herz auf Rettung Die Liebe ist ein dunkler Schacht Franz Schubert Weiche Gräser im Revier Auf dem Wasser zu singen Nagen am Herzen Du schönes Fischermädchen Die Forelle Der schwarze Wald Wohl schön bewandt Robert Schumann Er, der Herrlichste von allen ZWISCHENSZENE II Wenn ich in deine Augen seh’ Im Rhein, im heiligen Strome Heinrich Heine berichtet von der Entstehung der Loreley-Sage. Franz Schubert Sah ein Knab ein Röslein stehen Hugo Wolf Um Mitternacht ZWISCHENSZENE I Heinrich Heine versucht, die Dame mit einem Hinweis auf die nicht immer ganz einfache Beziehung zwischen Männern und Frauen zu trösten. Er lädt sie ein, ihn zum Tee bei Clemens Brentano und seiner Schwester Bettina zu begleiten. Robert Schumann Ich grolle nicht

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Im Wald ruft eine Betrogene die Geister an, ihr bei ihrer Rache zu helfen. Sie erklären sich bereit und nehmen sie bei sich auf. Die Trennung von der Menschenwelt wird ihr bewusst. Ihr Geliebter durchstreift den Wald auf der Suche nach ihr.

Loreleyen erobern den Felsen und verwirren die vorbeifahrenden Schiffer.

Felix Mendelssohn Bartholdy (Bearbeitung Paul-Johannes ­Kirschner) Loreley, daraus: Erster Akt, Finale Gustav Mahler (Bearbeitung Daniel Grossmann) Rückert-Lieder, daraus: Ich bin der Welt abhanden gekommen Um Mitternacht

Arnold Schönberg Herzgewächse Friedrich Silcher Loreley Franz Liszt Loreley Clara Schumann Loreley EPILOG Im Wasser endet die Differenz von Mann und Frau.

ZWISCHENSZENE III Ein Männerchor versammelt sich und besingt den Rhein.

Salvatore Sciarrino Tutti i miraggi delle acque

Engelbert Humperdinck Am Rhein George Gershwin Pardon My English, daraus: Loreley

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DIE LORELEY Wolfgang Minaty Seien wir ehrlich. Wenn wir an der Loreley vorbeifahren: Beugen wir uns da nicht ein wenig vor? Drehen wir uns da nicht nach ihr um? Man sollte es nicht abstreiten. Wir schielen nach oben. Wir schauen den Fels rauf und runter. Ob verstohlen oder trotzig, ob amüsiert oder mit offenem Herzen – das ist nur eine Frage des Temperaments. Manche singen plötzlich ein Lied. Andere werden auf unerklärliche Weise still. Der Fels bei Stromkilometer 554, wir wissen es sehr gut, ist nicht irgendein Fels am Rhein. Er hat etwas Besonderes. Der schroffe Schiefer deutet auf ein Geheimnis. Er verkörpert eine der schönsten Sagen deutscher Sprache. Es gibt keine Frau, von der die Deutschen mehr hingerissen waren als von der Loreley. Es gibt aber auch kein Motiv, das mehr zum Klischee verkommen ist als eben diese ­L oreley. Sie war einmal Galions­ figur der deutschen Romantik. Doch das, was wir als eine der deutschesten der deutschen Sagen zu kennen glauben, eben das ­Märchen aus alten Zeiten, ist in Wahrheit gar keine Sage. Es ist eine Erfindung. Pure Kopfarbeit. ­Clemens Brentano war es, er hat sich die Sage ausgedacht. In den Jahrhunderten davor war die Loreley nichts als ein Fels am Flusslauf des Rheins. Wenn in ihm und um ihn herum Zwerge, Gnome, Nymphen und Oreaden hausten, so war das

für die Vorstellungswelt des Mittelalters nichts Ungewöhnliches. Auch nicht, dass, wie es im 13. Jahrhundert hieß, der Nibelungenhort dort versenkt sei. Die Eigenheit des Felsens war allein von einer topo­ graphischen, allenfalls virtuell mythologischen, keinesfalls aber poetischen Qualität gekennzeichnet. Die Stimmen bzw. Echolaute bzw. Orakelsprüche, von denen die Chronisten berichteten, wurden Berg-, Wald-, oder Baumgeistern zugeschrieben. „Lore“ kommt von summen/rauschen, und „Ley“ heißt Fels. Nichts weiter. Erst seit Brentano ist es die Stimme einer einzelnen Frau. Im Jahr 1800 hat er sich das zurecht­ gedacht, und 1802 wurde der Roman Godwi, in dem die Ballade Zu Bacharach am Rheine enthalten ist, veröffentlicht. Statt irgendwelcher gnomenhaften Elementarwesen setzt Brentano also eine Frau. Einer­seits hat sie besondere Fähigkeiten, sie ist eine Zauberin und reißt die Herzen hin. Andrerseits hat ausgerechnet sie Pech in der Liebe, ihr Liebster hat sie sitzen­ lassen. Recht besehen ist Brentanos „Lore Lay“ keine Zauberin, vielmehr stammt sie aus Bacharach und ist ein artiges Erdenkind, freilich von der Natur bevorzugt ausge­ stattet: sie ist eine Schönheit. Das schützt sie aber nicht vor Kummer. Mehr noch: Die Untreue ihres Geliebten nimmt sie sich so zu Herzen, dass sie nur noch einen Ausweg sieht: sie will sich ein Leid antun. 9


Sie könnte natürlich auch ins ­Kloster gehen, der Bischof legt es ihr nahe. Statt dessen geht sie ins ­Wasser. Genauer: Lore Lay klettert auf den Berg gleichen Namens, gibt sich einen Stoß und „stürzet in den Rhein“. Und mit ihr kommen auch die drei Ritter zuschanden, die sie überflüssigerweise begleitet haben. Mit Brentanos Ballade ist Bewegung in die Szene gekommen. Über Jahrhunderte gab es die Loreley nur als Felsen. Nun ist sie eine Frau. Sie ist schön, hat eine Affäre, bringt sich um, reißt andere mit in ihr Unglück. Das ist endlich eine Geschichte. Vergleichen wir sie mit der von Ovid. In dessen Metamorphosen, die Brentano gekannt hat, verzehrt sich die Nymphe Echo in Liebe zu Narziß. Der aber ­verschmäht sie. Aus Gram darüber erstarrt Echo zu Stein, nur ihre Stimme ertönt fortan als Widerhall. Die Liebe als Zauber und Fluch – das ist auch Brentanos Thema. In Dichtung mit reizbarem Wohlklang umgesetzt, machte die Geschichte bald die Runde. Vor allem die ­beiden Historiker Niklas Vogt und Aloys Wilhelm Schreiber sorgten dafür, dass sie unter die Leute kam. In Veröffentlichungen von 1811 bzw. 1818 zählten sie sie zu den Rheinsagen. Da niemand widersprach, wurden sie – Schreibers Handbuch für Reisende am Rhein war ein sehr populärer Reiseführer – fortan auch als Sage gehandelt. Nur die Grimms, die den wahren 10

Sachverhalt kannten, nahmen sie nicht in ihre Sagensammlung auf. Selbst als der Irrtum ruchbar wurde, hat ihn keiner korrigiert. Romantische Gemüter hätten dafür auch gar kein Verständnis gehabt. Im Gegenteil, im Jahre 1812 dichtete Eichendorff seine eigene Version. Dass der schlesische Freiherr das Geschehen vom Wasser weg in den Wald verlegte, sollte nicht weiter wundernehmen. Und Brentano selbst – er hat den Stoff gleich mehrfach variiert. Aus dem Unglückskind aus Bacharach ist in seinen Rheinmärchen (eigentlich Märchen vom Rhein) eine friedliche „Frau Lureley“ geworden. Sie ist schön und klug, und sie ist auf dem Posten. Denn: sie hütet den Nibelungenhort. Ein andermal ist sie eine freund­ liche und blonde und singende ­Mutter. Und als Wasserfrau reist sie im Märchen vom Murmeltier übers Land, übernachtet in Brunnen. An einer Stelle freilich tut sie das, was Folgen haben wird: Sie sitzt auf einem Fels, „ganz schwarz ihr Röcklein, weiß ihr Schleier, blond ihre Haare, und in tiefster Trauer; sie weinte heftig, und kämmte ihre langen Haare“. Die Burschen unten im Kahn verdrehten sich die Hälse, es ruckt, und im Nu sind sie verschwunden. Freche Neugier mit Todesfolge. Da ist sie also endlich, die schöne Hexe! Sie kann noch nicht singen (an anderer Stelle reicht es allerdings zu einem Schlummerlied), und ihre Haare sind vorerst blond, und


noch nicht golden. Aber gefährlich ist sie allemal. Denn wer ihr zu nahe kommt, der geht zugrunde. So wie Heinrich Heine es dann 1823 ausformuliert hat (1824 veröffentlicht), hat es keiner mehr getroffen. Die Magie der „Melodei“, wie sie vom Felsen herunter wirkt und den Schiffer „mit wildem Weh“ ergreift, durchwirkt auch das Lied selbst und ergreift am Ende uns. Wehmut, in Wohllaut gekleidet, das ist das Geheimnis von Heines Loreley. Treu’ und Untreu’, Schuld und Unschuld, wie noch bei Brentano, spielen hier keine Rolle mehr. Das Menschenkind aus Bacharach, es ist eine schöne Fee geworden, ein Geistwesen, das betört und bestrickt. Das ist seine Aufgabe. Denn die Melodie, die zu hören ist, klingt „wundersam“, sie ist zudem „gewaltig“. Das kann man wörtlich nehmen: Sie übt Gewalt aus. Doch nicht böswillig, eher absichtslos. Es sieht so aus, als könne die Fee nicht anders. Es ist halt ihre Natur. Freilich kann auch der Schiffer nicht anders. Und mit seiner Natur ist es dann zu Ende.

die Plagiatoren. Sie wollten verbessern, pfuschten herum, äfften nach. Es geschah nicht zum Besten der Loreley. Sie litt darunter. Wenn man ihr gar zu respektlos kam, dann tauchte sie eben für eine Weile weg. Undinen können so etwas. Aber kurz drauf war sie dann wieder da. Die unzähligen Paraphrasen in Poesie und Prosa, in Musik und Malerei zeigen aber, wie aufnahmebereit und dankbar das deutsche, ja, auch das auswärtige Publikum war. Denn im Grunde mag die Loreley jeder. Das gilt für ihre Kritiker, die sich über sie lustig machen, wie für die Vielen, die in ihr ein Bild vergangener besserer Tage sehn. Sie schmachten nicht mehr, aber sie lieben sie.

Heinrich Heine ist der erste Höhepunkt in der langen Geschichte der Loreley-Rezeption. Ehrlich gesagt: er ist der einzige. Man staunt über die lange Reihe origineller, witziger Adaptionen des Themas. Aber schier endlos scheint die Reihe der bloßen Ausschmückungen zu sein. Man verstrickte sich im Ornament. Nach Heine mehrten sich die Korrektoren, die Imitatoren und 11


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HEINE LORELEY

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar; Ihr gold’nes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme, Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei. Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Loreley getan. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten Heinrich Heine

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DIE TRICKS DER ­SCHRIFTSTELLEREI Daniel Kehlmann Literatur besteht aus Tricks, aus Technik, Komposition, genau geplanten Effekten. Und ebendort, wo sie am zartesten scheint, am tiefsten gefühlt, ist das Handwerk am wirksamsten; aus reiner Unmittelbarkeit entsteht keine Poesie. Ganz besonders gilt das für das scheinbar volksliedhafteste deutsche Gedicht: die Loreley, die eigentlich nichts anderes ist als die Aus­ einandersetzung des modernen Kunstgedichts mit dem Volkslied an sich. Ein „Märchen aus alten Zeiten“ wird hier ja nur auf den ersten Blick erzählt, schon der zweite verrät, dass ebendies nicht geschieht, vielmehr wird eine Legende bruchstückhaft herbeizitiert und scheinbar achtlos wieder fallen gelassen. Die Verbindung von Intellekt und ­Gefühl, von Romantik und Distanz, um die es Heine so sehr zu tun ist, dass sie ihm oft zum nur mehr routiniert beschworenen Topos wird (des berühmten Fräuleins Rührung über den Sonnenuntergang enthält weniger Klischee als Heines Spott über ihre Gefühle), in diesem Fall ist sie ganz und gar gelungen. Es geht um das alte Deutschland, jenes sagendurchwirkte Reich voller Geister, Hexen, Kobolde und goldhaariger Feen, wie es nur die beiden Grimms und die Träume der Romantik erschaffen konnten, um

das mythische Mittelalter der ­deutschen Sehnsucht. Der wahre Tempus des Mythischen aber ist die Vergangenheit, sein geziemender Erzählton die Melancholie; selbst in Homers Troja wird schon mit Trauer und Sehnsucht auf die ferne Zeit zurückgeblickt, in der Götter unverhüllt unter den Menschen wandelten. Die Vermischung der Welten, das Ineinanderfließen von Magie, Wunder und alltäglicher Realität ist immer nur als fern zurückliegender Zustand denkbar – vergegenwärtigt, als Historienfilm sozusagen, wird das Mythische albern, ja kindisch. Heine weiß das genau, deshalb kann sein lyrischer Erzähler das Märchen aus alten Zeiten kaum mehr erinnern; die Loreley ist ein Gedicht über eine fast vergessene Ballade, in deren Mittelpunkt die „gewaltige Melodei“ eines großen, verlorenen Liedes steht. Denn was ist es eigentlich, das den Sprecher so traurig macht? Doch nicht das Schicksal des namen­losen Schiffers, sondern der Umstand, dass er an die Fee, die diesen verzaubert, nicht mehr glauben, dass er nicht mehr naiv sein kann und für ihn solch gewaltige Melodien nie erklingen werden. Nur im alten Märchen lebt die Erinnerung an das Lied weiter, das die goldhaarige Jungfrau auf ihrem Felsen gesungen hat – eine Melodie von wahrer, ursprünglicher Magie, von einer unmittelbaren Macht zu binden und zu lösen, wie sie sich der moderne Lyriker bloß noch 15


erträumen kann. Schließlich ist es ja diese Melodie, weit mehr noch als die Schönheit der Fee, die den ­Fischer mit wildem Weh ergreift; ausdrücklich heißt es, die Loreley habe ihn „mit ihrem Singen“ getötet. Und schon lässt Heine, als Vertreter einer Modernität, der solche Kraft nicht mehr zu Gebote steht, die kunstvoll geschürzten Fäden wieder fallen. Eine wohlkalkulierte Geste der Resignation, keine Klimax, kein Wendepunkt, ja nicht einmal die Sicherheit, wie es nun eigentlich ausgegangen ist. „Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn.“ Vielleicht ja auch nicht, womöglich hatte die Geschichte ein anderes Ende, oder auch gar keines, und letztlich ist es ja auch nicht wichtig, dies alles ist erstens lange her und zweitens nie passiert; denn natürlich hat es das Märchen aus alten Zeiten ebenso­ wenig gegeben wie die schönste Jungfrau oder ihre Melodie. Es gibt nur uns, die wir modern sind und gern wieder naiv wären, mit unserem aufgeklärten, unglücklichen Bewusstsein. Und eine Dichtung, deren raffiniertes Arrangement aus Anklängen, Ahnungen und Anspielungen uns für Momente bewusstmachen kann, was wir verloren haben.

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DIE „WUNDERSAME MELODEI“ Anselm Dalferth Was singt sie eigentlich? Die „wundersame, gewaltige Melodei“ der Sirenengleichen ergreift die Sinne dermaßen, dass einer nach dem anderen zerschellt und untergeht – aber keiner weiß, was genau sie eigentlich Verlockendes singt, da oben auf ihrem Berg. So verwundert es nicht, dass die Lore Lay zahlreiche Komponisten dazu verführt hat, ihr ihre eigenen Melodien zur Verfügung zu stellen – in der Hoffnung, die dem Mythos innewohnende Magie zu entfalten. Rund 50 Loreley-­Opern sind entstanden, doch lediglich das von italienischem Schmelz getragene Musikdrama Alfredo Catalanis hat sich im 20. Jahrhundert behauptet. Zwar zeugen franzö­sische, englische, dänische und finnische Versionen von der Strahlkraft der Figur – doch die Komponisten konnten ihrer Protagonistin offensichtlich keine unsterb­lichen Klänge angedeihen lassen und so werden diese Werke kaum mehr gespielt, auch nicht die bekannteste deutsche Fassung des Komponisten Max Bruch. Die angedachte Oper des schon zu Leb­­zeiten berühmten Felix Mendelssohn Bartholdy hätte vielleicht eine Chance gehabt, sich in unsere Zeit zu retten. Schließlich war die Titelpartie für Jenny Lind, die bewunderte „­schwedische Nachtigall“, bestimmt. Doch leider starb der ­Künstler kurze Zeit nach Beginn der Arbeit und es existieren nur wenige

Teile des Werkes. Der gewichtigste davon ist das Finale des ersten Akts. Zahlreiche Vertonungen hat auch Heines berühmtes Loreley-Gedicht erfahren – über 40 Lieder mit seinen Versen exis­tieren. Die b ­ ekannteste darunter dürfte die im Jahre 1838 ent­standene Fassung Friedrich Silchers sein, die bald den Rang einer Nationalhymne einnahm. Darüber hinaus gibt es eine Version von Clara Schumann, die von wildem Furor bestimmt ist, eine von Franz Liszt, der eine tonmale­r ische Stimmungsschilderung kompo­nierte und zahlreiche weitere Versuche von anderen Verfechtern der Liedkom­position. Überhaupt: das Lied ist vielleicht die Gattung, die in der Verbindung von Lyrik und Musik das Lebens­ gefühl der Roman­tiker am umfangreichsten transportiert, sei es als einfaches Volks- oder als komplexeres Kunstlied. Das Geheimnisvolle, nicht Erklärbare der Musik reizte die Dichter, Musik galt als Sinnbild der Einheit von Mensch und Natur und verwies auf ein mögliches Leben jenseits konven­tioneller Schranken und sozialer Wider­sprüche: „Aus alten Märchen winkt es Hervor mit weißer Hand, Da singt es und da klingt es Von einem Zauberland.“ heißt es in Heines Lyrischem Intermezzo und weiter: „Ach, könnt ich dorthin kommen und dort meine Herz erfreun!“ Dorthin, wo es singt und klingt, in das Reich der Musik. Oder in das der Loreley?

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Jawohl, Madame, auch ich bin dort geboren und denke oft an Deutschland in der Nacht, singe die kleinen Lieder, windverloren… Ob das des Rheines schwarzes Wasser macht? Rheinwasser war noch nie so schwarz wie heute. Paris vaut bien une messe? – das ist vorbei. Großer Napoleon für kleine Leute, de Gaulle! war hier, doch ich war nicht dabei. Zitieren Sie getrost die Lorelei, es gibt genug noch, die das Lied nie hörten, weil er ein Jude war und vogelfrei. Sie finden Heinrich Heine wundervoll? Was meinen Sie, wie viele sich empörten, schrieb einer einen neuen Atta Troll? Heinelied Für eine grünverschleierte Engländerin Karlhans Frank

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FOTOS S. 3 Haase, Rahardja S. 5 Köhler, Alf, Rahardja, Stolz, Haase S. 8 Mayer, Köhler, Alf S. 12/13 Kirschner, Köhler, Le Roux, Stolz, Bauer, Alf, Labs, Rahardja, Haase, Mayer S. 17 oben Mayer, Alf, Stolz, Köhler, Labs, Rahardja, Haase, Bauer S. 17 unten Haase, Labs, Alf, Stolz, Rahardja S. 18 Stolz, Rahardja, Labs S. 21 Bauer, Köhler, Mayer

IMPRESSUM Spielzeit 2015/ 16 Herausgeber Staatstheater Mainz www.staatstheater-mainz.com Intendant Markus Müller Kaufmännischer ­G eschäftsführer Volker Bierwirth

NACHWEISE Die Wundersame Melodei von Anselm Dalferth ist ein Originalbeitrag. Wolfgang Minaty: Die Loreley. Ein Lesebuch, Frankfurt 1988. Der Text von Daniel Kehlmann stammt von der Seite: http://www.zeit. de/2006/19/F-Lorelei_Literatur_xml Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, München 2000. Die Rückert-Lieder von Gustav Mahler in der Bearbeitung von Daniel Grossmann sind bei Schott Music, Mainz erschienen. Salvatore Sciarrinos Tutti i miraggi delle acque sind bei G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH verlegt. Alle Bilder sind Probenfotos: © Martina Pipprich

Wir danken dem Kulturfonds Peter E. Eckes für die großzügige Unterstützung.

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Redaktion Anselm Dalferth Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt/Main Visuelle Konzeption Neue Gestaltung, Berlin


Wo fängt der Faschismus an? Er fängt nicht an mit den ersten Bomben, die geworfen werden, er fängt nicht an mit dem Terror, ­ über den man schreiben kann, in jeder Zeitung. Er fängt an in Beziehungen zwischen ­ Menschen. Der Faschismus ist das erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, und ich habe versucht zu sagen, hier in dieser Gesellschaft ist immer Krieg. Es gibt nicht Krieg und Frieden, es gibt nur den Krieg. Die Beziehung zwischen dem Mann und der Frau, die wohl nicht erst heute proble­ matisch, die muss es wohl schon seit uralten Zeiten sein, denn sonst würden uns nicht so viele Bücher, von der Bibel angefangen, über die große Literatur aller Länder, ­ darüber etwas sagen. Wir müssen wahre Sätze finden Ingeborg Bachmann

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Lore Lay! Lore Lay! Lore Lay! Als w채ren es meiner drei! Zu Bacharach am Rheine Clemens Brentano

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