Das Ende der Idylle?

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Das Ende der Idylle? Udo Gößwald / Barbara Hoffmann (Hg.)

Am Beispiel der Hufeisen- und der Krugpfuhlsiedlung im Neuköllner Stadtteil Britz wird gezeigt, welche Konse­ quenzen die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 für das Leben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner hatte. Die Hufeisensiedlung, ab 1925 nach Plänen von Bruno Taut erbaut, galt als herausragendes Reformmodell sozialen Wohnens in der Weimarer Republik und ist heute UNESCO-Weltkulturerbe. Als traditionell gewerkschaftlich und sozialdemokratisch geprägtes Milieu war die Großsiedlung Britz den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Nach und nach gelang es ihnen jedoch auch in Britz, ihre soziale Basis auszubauen. Anhand der mikrohistorischen Forschungsergebnisse, die in diesem Band zusammengefasst sind, werden politische Prozesse im kulturellen und sozialen Nahbereich sichtbar. In den Lebenswegen einzelner Bewohner und ihrer Familien wird aufgezeigt, wie stark das NS-Regime in das Leben von Menschen eingegriffen hat.

ISBN 978-3-944141-01-5

Das Ende der Idylle ? Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung in Britz vor und nach 1933



Udo Gößwald / Barbara Hoffmann (Hg.)

Das Ende der Idylle? Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung in Britz vor und nach 1933

Im Auftrag des Bezirksamtes Neukölln von Berlin, Abt. Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur



Inhalt Das Ende der Idylle? Udo Gößwald. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Auf Spurensuche Barbara Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die Hufeisensiedlung – ein Wohnungsbauprojekt der Moderne Katrin Lesser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Die Krugpfuhlsiedlung – architektonischen Traditionen verpflichtet Barbara Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Die Wohnungsbaugesellschaften GEHAG und DeGeWo in Britz 1925 bis 1952 Markus Steffens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Leben in der Großsiedlung Britz – eine brüchige Idylle Barbara Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Britzer Festkultur 1926 bis 1939 Henning Holsten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Die Nationalsozialisten in Britz 1925 bis 1948 Bernd Kessinger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Als Juden verfolgte Bewohner der Großsiedlung Britz Karolin Steinke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Die Großsiedlung Britz – ein Eldorado der Künste? Ruth Orli Mosser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Die Großsiedlung Britz – ein Paradies für Kinder Julia Dilger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Deutsche Nachbarschaften – die Onkel-Herse-Straße 1926 bis 1948 Therese Hermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Politischer Widerstand und Anpassung in der Großsiedlung Britz zwischen 1933 und 1945 Tobias Kühne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Lebensläufe und Schicksale Volker Banasiak / Barbara Hoffmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Chronik 1918–1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Autorenverzeichnis / Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399



Das Ende der Idylle? Udo Gößwald

Licht, Luft und Sonne sind die zentralen Schlagworte, mit denen in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Aufbruch in die wohnungspolitische Moderne umschrieben worden ist. Dieser Aufbruch gründete in einem sozial orientierten Reformmodell für den Wohnungsbau, der bereits kurz nach der Jahrhundertwende in vielen europäischen Städten besonders von Sozialde­mokraten propagiert wurde. In Berlin wird die Realisierung der Hufeisensiedlung in Neukölln zu einer Ikone dieser Bewegung. Sie vereint sozialutopische Visionen mit einer neuen rationellen Bauform, die geringverdienenden Arbeitern und Angestellten bezahlbaren Wohnraum mit hohem Standard verspricht. Nach Plänen von Bruno Taut und Martin Wagner entsteht auf den Britzer Feldern zwischen 1925 und 1933 die Hufeisensiedlung und zwischen 1925 und 1927 die Krugpfuhlsiedlung unter der Bezeichnung Großsiedlung Britz. Zwar vereitelt die Weltwirt­ schafts­krise 1929 und die damit einhergehende ho­ he Arbeitslosigkeit die Chancen von vielen Arbeiterinnen und Arbeitern, hier eine Wohnung finanzieren zu können, doch es gelingt einer ganzen Anzahl von Familien, die zum klassischen, aber eher gehobenen Arbeitermilieu gehören, in einer der beiden Siedlungen eine Wohnung zu mieten. Für viele, die ab 1926 in die Großsiedlung Britz ziehen, waren die großzügigen Anlagen, der eigene Garten und die praktisch konzipierten Wohnungen eine besondere Form der Idylle, die sich von kleinbürgerlich-spießigen Wohnquartieren abgrenzte. Sie erlaubten es, ein individuelles Leben mit dem Charme eines modernen kollektiven Wohnstils zu verbinden und bot die Chance zu nachbarschaftlichem

Miteinander. Wie groß das wirkliche Gemeinschaftsgefühl gewesen ist, lässt sich jedoch nur schwer ermessen. In jedem Fall symbolisiert das Hufeisen mit seiner weit geschwungenen, einladenden und einschließenden Form den Geist der Gemeinschaft, den Helmuth Plessner 1924 als das „Idol dieses Zeitalters“1 bezeichnet hatte. Mit dem Begriff der Gemeinschaft verband sich, so Michael Wildt, die durchaus ambivalente Hoffnung „auf die Überwindung von Entfremdung, sowohl in revolutionärer wie restaurativer Hinsicht“2. Viele Mieter der Großsiedlung Britz sind Mitglieder der Arbeiterparteien und gewerkschaftlich organisiert. Die Wohnungsbaugenossenschaft GEHAG als Eigentümerin ist sozialdemokratisch geprägt, wodurch natürlich auch die Zusammensetzung der Mieter beeinflusst wird. Daneben gibt es einen beträchtlichen Anteil von nicht eindeutig parteipolitisch gebundenen Angestellten des öffentlichen Dienstes, der BVG oder den städtischen Versorgungseinrichtungen, zahlreiche Lehrer, aber auch eine Anzahl von Künstlern, die das soziale Leben in der Siedlung mit­ gestalten. Aus unseren Untersuchungen geht hervor, dass es in der Großsiedlung Britz zwischen 1926 und 1948 keine homogene sozial oder weltanschaulich geprägte Bevölkerungsstruktur gegeben hat. Vielmehr

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Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus(1924). Frankfurt a. M. 2002, zit. nach Wildt, Michael: „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 8 (2011), H. 1., S. 98. Ebd.

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ist die Bevölkerungsbewegung und Fluktuation in der Siedlung durch ökonomische und politische Faktoren sehr intensiv gewesen. Anhand der mikrohistorischen Forschungsergebnisse lassen sich deshalb gerade die Vielfältigkeit der sozialen Praxis des gesellschaftlichen Lebens und die individuellen Hand­ lungsmodelle nachzeichnen. Sichtbar wird so das Politische im kulturellen und sozialen Nahbereich und ermöglicht neue Erkenntnisse über die Wir­ kungs­dynamik der zunehmenden Machtkonzentration im NS-Staat und die Reaktionsweisen auf die Formen der Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens durch die sogenannte nationalsozialistische Bewegung. Zweifellos bleibt die entscheidende Zäsur für das Leben in der Siedlung die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933, doch noch markanter ist die polizeistaatliche Willkür nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933. Damit ist für alle Oppositionellen die Idylle endgültig zerstört. Viele linke Bewohner ziehen weg, um im Schutz der Anonymität in anderen Stadtteilen Berlins zu leben. Die Verhaftung und spätere Ermordung des prominenten Anarchisten und Dichters Erich Mühsam ist ein untrügliches Zeichen der Brutalität der neuen Machthaber. Anhand der einzelnen Schicksale der in den Folgemonaten Verhafteten wird deutlich, wie effektiv die Gestapo gegen einen zersplitterten und teilweise abenteuerlich gefährlichen Widerstand agieren konnte, da ihm keinerlei systematische illegale Organisationsstruktur zugrunde lag. Dennoch bleibt bemerkenswert, welches enorme Risiko viele Aktivis­ ten des sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandes in Kauf genommen haben, um Informationen gegen das System zu verbreiten oder als Ju­den verfolgten Menschen zu helfen. Äußerst überraschend ist der Befund, dass zahlreiche Mitglieder der NSDAP bereits vor 1933 in der Großsiedlung Britz gewohnt haben und dass ihre Zahl sprunghaft nach 1933 ansteigt. Unter ihnen ist Adolf Eichmann, der spätere Hauptorganisator der

Judenvernichtung in Europa, der von 1935 bis 1938 in der Krugpfuhlsiedlung gewohnt hat. Damit kann erstmals nachgewiesen werden, dass es der NSDAP gelungen ist, ihre soziale Basis nach und nach auch in der ehemals roten Hochburg zu verbreitern. Die Forschungen haben ergeben, dass nachweislich 1 363 NSDAP-Mitglieder zwischen 1926 und 1945 in der Großsiedlung Britz gelebt haben. Die realen Zahlen dürften jedoch weit höher liegen. Das bedeutet, dass die soziale Kontrolle für die nichtkonformen Bewohner der Siedlungen sehr ausgeprägt war. Zahlreiche Quellen belegen, in welch erschreckendem Ausmaß das Denunziantentum verbreitet gewesen ist. Wie sich das Leben für die Siedlungsbewohner durch die zunehmende Dominanz des nationalsozialistischen Ordnungs- und Unterdrückungsapparats verändert hat, wird in dieser Publikation ausführlich in systematischen Studien und anhand von Einzelschicksalen dargestellt. Sehr schnell unter Druck sind vor allem die jüdischen Familien geraten. Eindeutig antisemitische Propaganda wird von der Vorsitzenden der NS-Frauenschaft Britz Johanna Siegele bei Schulungen und Versammlungen verbreitet. Sie zieht mit ihrem Mann Wilhelm Siegele, der eine hohe Position in der Verwaltung der Reichsleitung der SA bekleidet, 1933 aus Süddeutschland nach Berlin-Britz. Neben Alf Krüger ist sie vermutlich die glühendste Propagandistin der NS-Ideologie in der Siedlung. Eine 1938 von ihr verfasste Rede, die dem Museum vorliegt, zeugt davon, wie überzeugt sie von der nationalsozialistischen Rassenideologie gewesen ist. Die Grundlage für diese Publikation und die Ausstellung sind intensive Recherchen in Akten von Berliner Archiven, vor allem im Landesarchiv Berlin, die erst in jüngster Zeit zugänglich geworden sind. Daraus ist eine Datenbank mit Namen und Adressen von über 2 200 Personen aus der Siedlung entstanden, die es dem Museumsbesucher ermöglicht, eine detaillierte Recherche zum Beispiel über die Parteizugehörigkeit zur NSDAP, ihren verschiedenen


Gliederungen sowie zu anderen Parteien durchzuführen. Mehr als 250 Dossiers enthalten biografisches Material, das Aufschluss über die Lebensumstände in der NS-Zeit geben kann. Bei diesem Projekt wird deutlich, wie wichtig die wissenschaftliche Forschung von regionalen Museen ist. Die Voraussetzung dafür ist die umfassende Unterstützung durch das Bezirksamt Neukölln, das dadurch eine Auseinandersetzung mit Geschichte in zweifacher Weise ermöglicht. Zum einen werden Zeugnisse der Vergangenheit in erkenntnistheoretischer Hinsicht neu bewertet, zum anderen findet durch die Ausstellung und seine Vermittlungsangebote ein öffentlicher Diskurs in der Gegenwart statt. Auf diese dialogische Form der Auseinandersetzung hat der Sozial- und Alltagshistoriker Detlev Peukert schon vor dreißig Jahren hingewiesen und hinzugefügt: „Eine verantwortliche Reflektion über den Faschismus müsste sich daher auch den Konfrontationen der Gegenwart stellen, nach den Problemzonen fragen, die die Entwicklung unserer Moderne aufgerissen hat.“3 Jede Generation ist herausgefordert, so Peukert, sich der Geschichte neu zu stellen und sie neu zu schreiben. Vor 25 Jahren hat das Museum Neukölln für die Ausstellung „Zehn Brüder waren wir gewesen … Spuren jüdischen Lebens in Neukölln“ eine der ersten umfangreichen regionalgeschichtlichen Forschungen in Deutschland initiiert, die sich mit den jüdischen Opfern der NS-Herrschaft auseinandergesetzt hat. Mit dem mikrohistorischen Projekt „Das Ende der Idylle?“ über die Geschichte der Großsiedlung Britz vor und nach 1933 wird diese Tradition fortgesetzt. Allerdings ist aufgrund der veränderten Quellenlage und der neuen Perspektiven auf die NSGeschichte eine deutlich differenziertere Betrachtung der Alltagswirklichkeit und der Vielfalt der Hand­ 3

Peukert, Detlev: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982,S. 17.

lungs­optionen der damaligen Menschen möglich ge­ worden. Trotzdem bleiben immer noch viele Fragen offen, die aufgrund der lückenhaften Quellen nicht beantwortet werden können. Die Vielfalt der Lebensrealitäten während der NSZeit ist in der Ausstellung durch 50 Türen repräsentiert. Jede Tür steht für eine reale Adresse, an der ein besonderes individuelles Ereignis stattgefunden hat. In einem Haus wird eine Jüdin versteckt, in einem anderen Haus eine Widerstandsaktion geplant und um die Ecke wohnt ein SS-Mann, der schon von seinen Ländereien in Polen träumt. So hat der Besucher eine eindeutige topografische Verortung der Geschichte im Kleinen wie im Großen und kann anhand der jeweiligen biografischen Umstände ermessen, in welcher Weise das Leben der handelnden Personen von den Strukturen des NS-Staats und seinen ausführenden Organen beeinflusst worden ist. Jeder kann die Fallbeispiele zum Ausgangspunkt für die Frage nehmen, welche Handlungsalternativen innerhalb des NS-Systems bestanden haben. Es lässt sich daraus ermessen, welcher Mut dazu gehört hat, sich trotz eines totalitären Militärregimes den gängigen Handlungsmustern zu widersetzen und eigenständig zu agieren. Daraus entstehen natürlich Fragen, die uns auch heute in einem freiheitlich-demokratischen Gesellschaftssystem beschäftigen, wenn militante Rechtsradikale Bürgerinnen und Bürger dieses Landes provozieren, bedrohen und auch vor Mord nicht zu­ rückschrecken. Wenn man eins aus der Geschichte der NS-Zeit lernen kann, dann ist es, dass man niemals die Gewalt unterschätzen sollte, mit der die Feinde der Demokratie bereit sind, ihre Interessen durchzusetzen. Dagegen muss sich eine Demokratie mit allen Mitteln zur Wehr setzen und dazu gehört auch eine aktive tabufreie Auseinandersetzung mit Geschichte, um sie als ein Erkenntnisarsenal für die Gegenwart und Zukunft zu benutzen. Mit dem Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ des Berliner Senats ist in dieser Weise das richtige Signal

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gesetzt worden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen danken, die dieses Gemeinschaftsprojekt zahlreicher Initiativen in Berlin befördert und unterstützt haben. Mein Dank gilt den Verantwortlichen der Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport des Bezirksamts Neukölln, allen voran Frau Dr. Giffey. Wir freuen uns über die finanzielle Unterstützung, die wir vom Hauptstadtkulturfonds, der DeGEWo und dem Verein der Förderer und Freunde von Schloss Britz bekommen haben. Besonderer Dank gebührt der Projektleiterin und hauptverantwortlichen Kuratorin dieses Projekts, Bar­ bara Hoffmann, mit der das Museum seit vielen Jahren sehr erfolgreich zusammenarbeitet und die mit mir diese Publikation herausgibt. Ohne sie wäre das alles nicht möglich gewesen, mit ihr war es eine be­ sondere Freude, das Projekt zu realisieren. Große Anerkennung verdienen auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Autorinnen und Autoren des Projekts, allen voran Volker Banasiak und in alphabe­ tischer Reihenfolge Nina Bätzing, Julia Dilger, The­ rese Hermann, Henning Holsten, Christa Jancˇik, Bernd Kessinger, Tobias Kühne, Katrin Lesser, Ruth Orli Mosser, Markus Steffens und Karolin Steinke. Dem Designbüro Ecke, der Firma Scriptedmedia und hier besonders Beate Ecke und Michael Lorenz schulden wir großen Dank für eine sehr angenehme und kreative Zusammenarbeit bei der Gestaltung und Realisierung der Ausstellung. Claudia Bachmann hat diesem Katalog ihre besondere Gestaltungsnote gegeben. Andreas Ernst hat das Ausstellungsbüro souverän gemanagt und Bruno Braun hat wie immer da geholfen, wo es nötig war. Auch dafür meinen herzlichen Dank. Besonders bei diesem Projekt waren wir auf die Unterstützung der Berliner Archive angewiesen. Ich möchte hier vor allem denjenigen Personen danken, die mehr getan haben, als ihr Job ohnehin von ihnen verlangt. Dazu gehören Bianca Welzig-Bräutigam und Dr. Martin Luchterhand vom Landesarchiv Berlin sowie Jenny Eckert von der Stasi-Unterlagenbe-

hörde (BStU). Zum Schluss möchte ich meinen herzlichen Dank allen heutigen und ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern der Großsiedlung Britz sagen, die unsere Forschungen mit ihren Erinnerungen und ihrem Wissen bereichert haben. Wir fühlen uns in ihrer Nachbarschaft als Museum sehr wohl. Dazu gehören selbstverständlich die Mitglieder des Fördervereins der Hufeisensiedlung sowie die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Jochen Baltzer, Michaela Enderwitz, Gisela Gernoth, Margarete Golecki, Dr. Eberhard Grashoff, Frau Hahn, Viktoria Hartmann, Clemens Hauser, Prof. Dr. Stanislaw Karol und Petra Kubicki, Ursel Kurz, Angela Lorenz, Prof. Dr. Peter Lösche, Günter Marquard, Heidi Matzel, Regine Reichenbach, Dr. Eliza­beth Rosenthal, Ernst Schuck, Hannah Shaw-Ridler, Susanne Sitek und Georg Weise. Ich hoffe vor allem, dass dieses Projekt für die jüngere Generation ein Anstoß sein wird, die Geschichte der Menschen des eigenen Wohnumfeldes besser kennenzulernen, um daraus für die Zukunft Kraft und Zuversicht für ein friedliches Zusammenleben zu gewinnen.


Auf Spurensuche Barbara Hoffmann

Achtzig Jahre haben nicht ausgereicht, die Spuren staatlicher Willkür und gnadenloser Rassenpolitik während der zwölfjährigen Herrschaft des Nationalsozialismus zu verwischen – weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in anderen europäischen Ländern. In ganz Europa sind diese Spuren heute noch zu finden. Selbst in der idyllischen Großsiedlung Britz kann man an einem Straßenschild das erklärte Ziel der damaligen NS-Führung ablesen: Mit der Umbenennung der Moses-Löwenthal-Straße in Paster-Behrens-Straße 1933 sollte symbolisch jüdisches Leben ausgemerzt werden – auch wenn es sich nur um eine Romanfigur von Fritz Reuter handelt. Der Gedenkstein für Erich Mühsam in der Dörchläuch­ tingstraße, die Stolpersteine für Rudolf Peter in der Gielower Straße und für Gertrud Seele in der Parchimer Allee sowie die Gedenktafel für Hanno Günther in der Onkel-Bräsig-Straße erinnern daran, mit welcher Brutalität die Apologeten des NS-Systems ihre politischen Gegner verfolgt und vernichtet haben. Die meisten Menschen, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten als Erwachsene erfahren haben, leben heute nicht mehr. Doch die Erinnerung daran lebt in ihren Kindern weiter und wir haben sie nach ihrem Leben und das ihrer Familien in der NSZeit fragen können. Das ist für unsere Gesprächspartner nicht immer leicht gewesen. So schreibt Dr. Elizabeth Rosenthal1, die, von den Nationalsozialisten als Jüdin diffamiert, als Kind durch einen Kinder-

transport nach England gerettet werden konnte: „Unsere Vergangenheit für Ihre Recherchen gibt uns viel zu tun und auch schlechte Träume, aber es muss sein.“2 In den Biografien, die wir recherchieren konnten, breitet sich eine Vielfalt von Lebensläufen aus, die unmittelbar von den historischen Entwicklungen beeinflusst gewesen sind. Immer wieder haben Menschen Entscheidungen treffen müssen: Das neue Regime annehmen oder ablehnen. Aktiv am Aufbau des Nationalsozialismus mitwirken oder aktiv Widerstand leisten. In die innere Emigration gehen oder ins Exil. Den gelben Stern tragen oder ihn verstecken. Sich vom jüdischen Ehepartner scheiden lassen oder nicht. Verfolgte und Ausgegrenzte unterstützen oder Hilfe verweigern. All diese Verhaltensweisen sind in der Großsiedlung Britz zu finden. Welche Entscheidung die jeweiligen Menschen auch getroffen haben, sie bestimmte deren weiteren Lebensweg – und oftmals auch den von anderen. Selbst das Leben derjenigen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs oder danach geboren sind und die „Gnade der späten Geburt“3 erfahren haben, ist von den Erfahrungen ihrer Eltern im Dritten Reich geprägt. Für viele Väter und Mütter ist der verlorene Krieg und Hitlers Tod eine persönliche Katastrophe, 2 3

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Elizabeth Rosenthal hat mit ihrer Mutter Eleonore von 1933 bis 1934 in der Fritz-Reuter-Allee 26, von 1936 bis 1937 in der Rudower Allee 48 a gewohnt.

Dr. Elizabeth Rosenthal in einem Brief an Karolin Steinke, 22. November 2012. Bundeskanzler Helmut Kohl eröffnete am 24. Januar 1984 seine Rede vor der Knesset in Israel mit den Worten: „Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt und das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.“

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ihr Traum von einem erfolgreichen Leben im Nationalsozialismus wurde in den Weiten Russlands und in den Schützengräben begraben. Die Grausamkeit des Krieges, Gefangenschaft, die Todesangst während der Bombardements an der „Heimatfront“ und der qualvolle Hunger zu Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit hat viele Menschen traumatisiert. Später verweigern sie sich den bohrenden Fragen ihrer Kinder. „Das wurde ja völlig tabuisiert von unseren Eltern“, erinnert sich Viktoria Hartmann, die in der Gielower Straße aufgewachsen ist. „Ich ha­be einmal meinen Vater gefragt: ,Was hast du denn in der Nazizeit gemacht?‘ Na, da flogen aber die Fetzen! Er ist so empört von seinem Sessel aufgesprungen, dass der Tisch fast umgefallen ist. ,Du hast ja keine Ahnung!‘ schrie er.“4 Und so müssen sich die Nachgeborenen immer wieder durch ein Gestrüpp von Familienlegenden und Lügen kämpfen, um eine Antwort auf die Frage zu suchen: „Waren meine Eltern Nazis und an Verbrechen beteiligt?“ Oder haben sie im Gegenteil in irgendeiner Form Widerstand geleistet? Als wir vor eineinhalb Jahren begonnen haben, das Zusammenleben in der Großsiedlung Britz vor und nach 1933 zu untersuchen, wussten wir kaum etwas über die Auswirkungen der NS-Machtübernahme auf die Bewohner und mit welchen Mitteln die neuen Machthaber versuchten, hier die sogenannte Volksgemeinschaft zusammenzuschweißen. Einblick in die damaligen Geschehnisse erhielten wir in den Archiven. Viele Aktenbestände, die während der Teilung Deutschlands kaum zugänglich waren, sind heute erreichbar. Im ehemaligen Berlin Document Center, das von den US-Amerikanern verwaltet wurde und jetzt zum Bundesarchiv Berlin gehört, lagern unter anderem 12 Millionen Mitgliedskarteikarten der NSDAP, 240 000 Personenakten des Rasse- und Siedlungshauptamtes, 350 000 Akten

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Interview mit Viktoria Hartmann am 11. Oktober 2012, Museum Neukölln.

mit Personalunterlagen von SS-Angehörigen und 550 000 Akten von SA-Angehörigen. Viele Unterlagen, die zuvor in der DDR unzugänglich waren, werden heute im Landesarchiv Berlin aufbewahrt. Dazu gehören Akten der Entnazifierungsbehörden, die vor allem für den Bezirk Neukölln umfangreich sind und die auch Einblick in das Innenleben der NSDAP und ihrer Gliederungen geben. Im Bestand des Magistrats von Berlin / Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ sind Lebensläufe von Sozialdemokraten, Kommunisten und anderen Gegnern des Natio­nal­ sozia­lismus zu finden und bezeugen deren Mut, sich dem NS-Regime zu widersetzen. Sehr erstaunt hat uns die hohe Zahl von über 1 800 Mitgliedern der NSDAP und / oder einer ihrer Gliederungen, die wir als Bewohner der Großsiedlung Britz – der ehemaligen „linken Hochburg“ – in den Archiven gefunden haben. Etliche von ihnen haben das NS-Regime genutzt, um Karriere zu machen oder sich schamlos an jüdischem Eigentum zu bereichern. Auch das Ausmaß der Bespitzelung hat uns erstaunt, denn ob Nachbarn den „Deutschen Gruß“ entrichten oder bei bestimmten Anlässen die Hakenkreuzfahne hissen, wurde von vielen misstrauisch beobachtet. Dem entgingen nicht einmal NSDAP-Mitglieder. Doch wir haben auch Angehörige der NSDAP in den Archivunterlagen gefunden, die sich nicht systemkonform verhalten haben, sondern große Risiken eingegangen sind, indem sie Verfolgten und Ausge­ grenzten halfen. Auch als Teil der nationalsozialistischen Bewegung gab es also für den Einzelnen durchaus Handlungsspielraum – er musste seinen Nachbarn nicht denunzieren und ihn damit ins Zuchthaus oder gar in den Tod schicken. Für andere wiederum bestätigt sich die konsequente Verfolgung persönlicher Interessen und Bereicherung auf Kosten anderer sowie der fanatische Glaube an den Führer Adolf Hitler. Filme von Leni Riefenstahl und Fotografien frenetisch jubelnder Menschenmassen auf den NSDAPParteitagen oder zum 1. Mai auf dem Tempelhofer


Feld haben unser Bild von einem Volk, dass dem Führer willfährig folgt, geprägt. Doch waren einige unter ihnen, die mit geballter Faust in der Hosentasche und unterdrückter Wut an den verordneten Propagandaveranstaltungen teilgenommen haben. So ist auch das Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ mit Organisationen wie Deutsche Arbeitsfront, NSVolkswohlfahrt oder „Kraft durch Freude“ stets brüchig gewesen. Für viele hat das NS-Regime die Hoffnung auf eine Befriedung der Gesellschaft und ein Ende der gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen enthalten. Wirtschaftlich wird es aufwärts gehen, so haben viele geglaubt. Was die Zerschlagung der Arbei­ terparteien, die Gleichschaltung von Organisatio­nen und Institutionen sowie die in den nächsten Jahren verschärfte Strafgesetzgebung oder Umsetzung der Rassenpolitik in ihrer Konsequenz bedeutet, war den meisten Menschen 1933 nicht klar. Unser heutiges Wissen über die politische und gesellschaftliche Ent­wicklung, über die verheerenden Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg und das von vielen als schmach­voll empfundene Ende des Dritten Reichs haben die damals Lebenden nicht gehabt. Sie haben ihre persönlichen Entscheidungen daran nicht ausrichten können. Als Adolf Eichmann 1935 in die Krugpfuhlsiedlung zog, ist die fabrikmäßige Massenvernichtung von Menschenleben in Auschwitz und in anderen Konzentrationslagern noch nicht erdacht. Unser heutiges Wissen über das NS-Regime ist jedoch eine Verpflichtung. Die Motivation, sich immer wieder mit dem Dritten Reich zu beschäftigen, wird nicht nur durch das Bedürfnis gespeist, die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch die Gegenwart – eine schon oft ausgesprochene und geschriebene Mahnung. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus macht deutlich, dass wir heute in einer Demokratie leben – mit Grundrechten, einer unabhängigen Justiz und Freiheit des Einzelnen. Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen darf ausgesprochen werden. Doch die demokratischen Errun-

genschaften müssen geschützt und weiterentwickelt werden. Dazu gehört auch, gegen Neonazis, die den Gedenkstein Erich Mühsams mit Hakenkreuz und SS-Runen schänden und Bewohner bedrohen, weil sie es ablehnen, deren Flugblätter anzunehmen, auf die Straße zu gehen und klar zu machen, dass es ein Zurück ins „Dritte Reich“ nicht geben wird. Auch in Zukunft werden wir in Archiven auf Spurensuche gehen, um Antworten auf die Fragen zu finden, die unsere Eltern und Großeltern nicht haben geben können oder wollen.

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Hufeisen- und Krugpfuhl足siedlung in Britz vor und nach 1933

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Die Hufeisensiedlung – ein Wohnungsbauprojekt der Moderne Katrin Lesser

Berlin steckt zu Beginn des 20. Jahrhunderts voller Spannungen und Gegensätze. Einerseits boomt die in den „Goldenen Zwanziger Jahren“ beliebte Großstadt und die Einwohnerzahl wächst bis Mitte 1925 auf über vier Millionen an. Andererseits sind die Wohnungsverhältnisse in manchen Gegenden katastrophal und menschenunwürdig. Über 90 Prozent der Unterkünfte haben 1910 kein Bad1 und es fehlt an Licht und Luft. Wie Werner Hegemann in „Das steinerne Berlin“2 schreibt, leben um 1925 noch über 70 000 Berliner in Kellerwohnungen. Etwa ein Viertel wohnt in Wohnungen, in denen Betten stundenweise an sogenannte „Schlafgänger“ als Schlafstätte untervermietet werden.3 Als sich die schwierige wirtschaftliche Situation in Deutschland Mitte der 1920er-Jahre wieder zu normalisieren beginnt, fängt man in Berlin an, sich mit dem Problem der Wohnungsnot auseinanderzusetzen. Als treibende Kraft ist hier besonders Martin Wagner (1885–1957) hervorzuheben, der von 1926 bis 1933 Stadtbaurat von Berlin ist. Seine Idee des „sozialen Wohnungsbaus“ weist dem Staat in der Wohnungspolitik eine aktive Rolle zu, soll die hohen Baukosten senken und Bodenspekulation ver-

hindern. Das nötige Geld wird durch die Erhebung von sogenannten „Hauszinssteuern“ beschafft, die auf Vorschlag Wagners den während der großen Inflation 1923 relativ glimpflich davongekommenen Grundbesitzern abverlangt wird.4 Die Richtlinien für die Erteilung von Mitteln aus der Hauszinssteuer geben vor, dass die finanzierten Bauten zweckmäßig eingeteilt und solide gebaut sein müssen. Jede Wohnung muss mindestens ein Zimmer von einer Größe von 20 Quadratmetern aufweisen und Zimmer allgemein dürfen eine Größe von 14 Quadratmetern nicht unterschreiten, sonst gelten sie nur als „Kammern“. Weiterhin muss jede Wohnung über ein Bad verfügen und eine Küche darf nicht kleiner als zehn Quadratmeter sein.5 Als zusätzliches Planungsins­ trument tritt im Dezember 1925 die „Reformbauordnung“ in Kraft, in der der Bau von Hinterhausund Kellerwohnungen untersagt wird.6 Da die seit Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin tätigen Baugenossenschaften jedoch weder finanziell noch organisatorisch in der Lage sind, ein Großprojekt zu planen und durchzuführen, überzeugt Martin Wagner die Gewerkschaften 1923 von der Einrichtung einer „Arbeiterbank“ für die Finanzie-

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Dörre, Alfred: Entwicklung und Ergebnisse des sozialen Wohnungsbaues. In: Berlin und seine Bauten, Teil IV, Bd. A. Berlin, München, Düsseldorf 1970, S. 25. Hegemann, Werner: Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietkasernenstadt der Welt. Berlin 1930. Hegemann, Werner (Hg.): Der Städtebau: nach den Ergebnissen der allgemeinen Städtebauausstellung in Berlin. Berlin 1911, S. 8 f.

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Vgl. auch: Einfa Nachrichtenheft, 1930, verschiedene Nummern. Merkblatt betr. Anträge auf Gewährung von Hauszinssteuer-Hypotheken von 1926. Vgl. Bauhausarchiv Berlin (Hg.): Vier Berliner Siedlungen der Weimarer Republik. Buch zur Ausstellung 1984/87. Berlin 1987, S. 209. Schäche, Wolfgang (Hg.): 75 Jahre GEHAG 1924–1999. Berlin 1999, S. 19.


rung. 1924 initiiert er die Schaffung der Deutschen Wohnungsfürsorge AG für Beamte, Angestellte und Arbeiter (DEWOG), die für die Koordination der gemeinnützigen Bauwirtschaft insgesamt zuständig sein soll und deren Leitung Wagner direkt übernimmt.7 Am 14. April 1924 wird als Berliner Zweig die „Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktien­ gesellschaft“, kurz GEHAG, gegründet, um die Planung in der Hauptstadt zu koordinieren. Nach Martin Wagners Vorstellung sollen in der GEHAG alle Kräfte konzentriert werden, die am gemeinnützigen Kleinwohnungsbau für die ärmere Bevölkerung interessiert sind.8 Als Aktionäre beteiligen sich drei Gruppen der Berliner freien Gewerkschaften für Arbeiter, Angestellte und Beamte, fünf der größten und ältesten Berliner Baugenossenschaften, die Bauhüttenorganisation für Berlin-Brandenburg, die Arbeiterbank, die Allgemeine Ortskrankenkasse von Berlin, die DEWOG und die Wohnungsfürsorgegesellschaft der Stadt Berlin.9 Als sozial orientiertes, aber dennoch professionelles Wohnungsunternehmen baut die GEHAG nicht selbst, sondern vergibt die Aufträge an andere Unternehmen, möglichst soziale Baubetriebe. Ziel ist es, durch eine weitgehende Typisierung der Grundrisse und Rationalisierung der Arbeiten so preiswerten Wohnraum zu schaffen, dass er für „minderbemittelte Volkskreise“10 bezahlbar ist. „Diese Ge­sell­schaf­ ten wurden zu dem Zwecke ins Leben gerufen, alle Probleme des Wohnungsbaues theoretisch und praktisch zu durchforschen, zeitgemäße Wohnungen zu bauen und sie zu möglichst er­schwing­­lichen Mieten unter Ausschaltung einer Gewinnerzielung an die Bevölkerung zu vermieten.“11 7 8

Ebd., S. 21. Vgl.: Linneke, Richard: Zwei Jahre GEHAG-Arbeit. In: Wohnungswirtschaft, 3.1926, Nr. 8, S. 53. Richard Linneke war technischer Geschäftsführer der GEHAG. 9 Ebd. und Schäche, a.a.O., 1999, S. 26. 10 Ebd. 11 Ohne Autor: Die Einfa, ihr Zweck und ihre Gründer. In: Einfa Nachrichtenblatt, 1.1930, H. 2, S. 2–3.

Um auch die Wohnungsverwaltung zu rationalisieren und die Unkosten für die Mieter gering zu halten, wird 1925 die „Berliner Gesellschaft zur Förderung des Einfamilienhauses“, kurz Einfa, als Tochterunternehmen der GEHAG gegründet. „Alle Erfahrungen, die die Einfa bei den vermieteten Wohnungen, beim Gebrauch derselben durch die Bewohner macht, werden bei den weiteren Bauten verwertet. Dadurch sind die materiellen und ideellen Werte, die in einer Wohnung verkörpert sein sollen, stets lebendig, sie erstarren nicht und geben dadurch dem Wohnungsbau wieder neue Impulse zum Nutzen einer zeitgemäßen Wohnbauweise.“12

Luftaufnahme der Hufeisensiedlung Postkarte, um 1930; Quelle: Museum Neukölln

Die Großsiedlung Britz Das Gelände der heutigen Hufeisensiedlung gehört bis 1924 zu den Feldern des Ritterguts Britz und befindet sich im Besitz der Erben der Familie Wrede. 12 Ebd.

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Da das Gelände sich durch seine Stadtnähe auszeichnet und mit der Straßenbahn in der Rudower Allee und Rudower Straße (heute Buschkrugallee) über eine relativ gute Verkehrsanbindung verfügt – 1931 wird die U-Bahn bis zur Station Grenzallee verlängert –, kauft die Stadt Berlin nach längeren Verhandlungen im Dezember 1924 etwas über 598 Hektar mit der Absicht, hier eine Großsiedlung entstehen zu lassen.13 Der größte Teil des Geländes soll auch zukünftig landwirtschaftlichen Zwecken dienen, nur ein kleiner Teil ist für die Bebauung vorgesehen. Der Kauf ist politisch umstritten und lässt die Wellen hoch schlagen. In einem Zeitungsartikel vom 5. März 1925 heißt es: „Es ist kein Geheimnis und kann jetzt, da das Rittergut Britz an die Stadt nach Zahlung von 2 Millio­ nen Mark in bar aufgelassen worden ist, ruhig erzählt werden, daß die leitenden Männer im Magistrat keine Anhänger dieses Geländekaufs gewesen sind. Die Sozialdemokraten, getrieben und gedrängt von den Neuköllner Genossen, haben in dieser Frage im bürgerlichen Magistrat noch so etwas wie einen letzten Sieg errungen.“14 Nach einer örtlichen Besichtigung legt eine gemeinsame Kommission des Magistrats der Stadt Berlin und des Bezirksamts Neukölln schließlich die Bauflächen für die „Großsiedlung Britz“ fest. Man einigt sich auf das Gebiet zwischen dem Britzer Gutspark, dem Akazienwäldchen15, am StubenrauchErster Bebauungsplan für die Großsiedlung Britz von den Architekten Mebes & Emmerich, 21. April 1925; Quelle: Bildarchiv Marburg

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13 Wedemeyer, August: Die Großsiedlung Britz in Berlin-Neukölln. In: Deutsche Bauzeitung, 61.1927, Nr. 98, S. 801. 14 Vgl. Bürgerverein Berlin Britz e. V. (Hg.): Britzer Heimatbote. Sonderausgabe anlässlich der ersten urkundlichen Erwähnung des Ortes Britz vor 625 Jahren. Berlin 2000, o. S. 15 Um 1659 war das Akazienwäldchen Standort von Weinbergen. Gutsbesitzer Graf von Herzberg ließ an ihrer Stelle Mitte des 18. Jahrhunderts Maulbeerbäume pflanzen, die dann durch Minister Ilgen, späterer Schlossherr auf Britz, durch Robinien ersetzen werden: „[…] er legte auch ein richtiges Wäldchen an, das einst vom Buschkrug etwa bis zur Chausseestraße reichte. Mit Kind und Kegel ging es an den Sonntag-Nachmittagen dorthin, wo man sich bei Spiel und Unterhaltung ergötzte.“ In: Britz, die Gast-Heimat der Akazie. Zeitungsartikel vom 1. Juli 1943.

Ring (heute Blaschkoallee), der Rudower Chaussee (heute Buschkrugallee) und der Kirsch-Allee (heute Parchimer Allee), für das das Städtebauamt einen Generalbebauungs- und Fluchtlinienplan aufstellt.16 Am 18. Juni 1925 verkauft die Stadt Berlin insgesamt 41 Hektar des Geländes an die Einfa weiter. Angeblich wendet sich die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) jedoch gegen den Verkauf des gesamten Geländes an einen gemeinnützigen Bauträger.17 Das durch eine Nord-Süd-Verbindung, dem „Grünen Ring“ (heute Fritz-Reuter-Allee) geteilte Gelände wird daraufhin unter zwei Gesellschaftern der Einfa, der GEHAG und der etwa zeitgleich gegründeten, eher den Beamtenverbänden nahe stehenden „Deutschen Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaues“, kurz DeGeWo, aufgeteilt. Während der östliche Teil mit dem darin liegenden „Kleinen Krugpfuhl“ der DeGeWo zugeschlagen wird, erhält die GEHAG den westlichen Bereich mit dem „Großen Krugpfuhl“, dem „Hegepfuhl“ und dem „Rohrpfuhl“. Die beiden letzteren gibt es heute nicht mehr, sie werden im Zuge der Bauarbeiten für die Siedlung zugeschüttet. Ein erster Vorschlag für die Bebauung des Geländes mit einer „halbländlichen“ Siedlung stammt 1921/20 von Roman Heiligenthal 18. Die zu jener Zeit renommierten Architekten Paul Mebes & Paul Emmerich stellen einen auf den 21. April 1925 datierten Bebauungsplan für die „Großsiedlung Britz“ her, zu der beide Siedlungsteile gehören. Vermutlich wurde er für die Firma Philipp Holzmann AG entwickelt, die zunächst die Bebauung des Areals mit mehre-

16 Wedemeyer, a.a.O., 1927. 17 Pitz, Helge; Brenne, Winfried: Gross-Siedlung Britz. Gutachten im Auftrag der GEHAG. Band 1, Planungs- und Baugeschichte, bearbeitet von Jürgen Tomisch und Annemarie Jaeggi. Berlin 1991, S. 30. 18 Abbildung in: Heiligenthal, Roman: Deutscher Städtebau. Heidelberg 1921, Abb. 100. Siehe Jaeggi, Annemarie: Die Berliner Hufeisensiedlung von Bruno Taut. In: Beuckers, Klaus Gereon; Jaeggi, Annemarie (Hg.): Festschrift für Johannes Langner zum 65. Geburtstag. Münster 1997.


ren Tausend Wohnungen als Privatinitiative plante.19 Der Plan zeigt eine an das Ideal der Gartenstadtbewegung angelehnte, ringförmig um den Britzer Guts­park angelegte Bebauung, die durch Straßen, Freiflächen und einen Waldstreifen strahlenförmig durchdrungen wird. Um den eiszeitlichen Pfuhl schließt sich ein halbrundes Gebäude, das als Basis der späteren Hufeisenform gewertet werden kann. Anstatt die Chance für eine einheitliche Gestaltung durch einen Bebauungsplan für das gesamte Gelände zu nutzen, muss jedoch jede der beiden Gesellschaften einen eigenen Bebauungsplan für ihren Teil vorlegen. Alleinige Vorgabe ist eine dreigeschossige Randbebauung mit Mehrfamilienhäusern und eine zweigeschossige Innenbebauung mit Einfamilienhäusern. Die den Beamtenverbänden nahe stehende DeGeWo verpflichtet Paul Engelmann und Emil Fangmeyer als Architekten, die eine an „alten deutschen Städten des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit engen Straßen und malerischen Durch­blicken“20 orientierte Siedlung mit expressionistischen Elementen schaffen. Zwischen August 1925 und Mai 1927 erbaut die Philip Holzmann AG21 für die DeGeWo 889 Wohnungen. Für die Gestaltung der Grünanlagen sind das Bezirksamt Neukölln und Emil Schubert, Wilmersdorf, zuständig. Die Siedlung wird heute „Krugpfuhlsiedlung“ genannt. Die dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund nahe stehende GEHAG ist 1926 folgendermaßen organisiert:22 In der Entwurfsabteilung sind fünf, in der Bauleitung elf Personen angestellt und die kaufmännische Abteilung umfasst vier Mitarbeiter. Es gibt einen kaufmännischen und einen technischen Geschäftsführer. Bruno Taut (1880–1938) und Martin Wagner sind im freien Beschäftigungs-

verhältnis mit Pauschalverträgen angestellt. Taut hatte sich schon durch seine Planungen, unter anderem für die Gartenstadt Falkenberg23 und seine Tätigkeit als Stadtbaurat von Magdeburg einen Ruf als innovativer Architekt erworben. Der Architekt und erste technische Geschäftsführer der GEHAG, Richard Linneke, schreibt 1926: „Für die Entwurfsabteilung der Gehag haben wir als freien künstlerischen Leiter den bekannten Architekten […] Bruno Taut, gewonnen. […] Wir arbeiten mit diesem konsequenten modernen Architekten, weil wir eine Bewegung von morgen, eine vorwärtsstrebende Bewegung sind und deshalb nicht eine Architektur von gestern bauen können.“24 In der Erstellung des Bebauungsplans sehen Bruno Taut und Martin Wagner ihre wichtigste Aufgabe, denn dieser bildet die Grundlage, muss le­ bendig sein und mit der Architektur der Häuser harmonieren. 1925 erarbeiten die beiden einen Lageplanentwurf, der sich interessanterweise in Teilbereichen mit dem Bebauungsplan von Mebes & Emmerich deckt. Im Zentrum der Anlage wird der vorhandene eiszeitliche Pfuhl durch ein hufeisenförmiges Gebäude umschlossen. Als Grünanlage gestaltet, wird der Platz zum gemeinschaftlichen Ort bestimmt. Von der ringförmigen Erschließungsstraße, dem heutigen Lowise-Reuter-Ring, führen radial angelegte Straßen ab, die durch ihre unterschiedlich gekrümmte Führung einen dorfartigen Charakter erhalten. Besonders interessant ist die Anlage des Hüsung, der sich leicht abknickend vom Lowise-Reuter-Ring nach Westen erstreckt. Durch seinen spindelförmigen Grundriss und der Linde in der Mitte hat er den Charakter einer ehemaligen Dorfaue und entspricht wohl am ehesten dem Typus Gartenstadt.

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23 Gartenarchitekt der Gartenstadt Falkenberg war Ludwig Lesser (1869–1957), der sich als erster Gartenarchitekt mit der planmäßigen Anlage von Kleingärten befasste. 24 Linneke, a.a.O, 1926, S. 55.

Ebd. Escher, Felix: Britz, Geschichte und Geschichten. Berlin 1984. Linneke, a.a.O., 1926. Ebd.

Karte von Berlin (Ausschnitt), 1931; Landesarchiv Berlin, F Rep. 270 A 2000, Bl. 4028

Der Ausschnitt zeigt die Hufeisensiedlung mit farbig eingezeichneten öffentlichen Grünanlagen.

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Hüsung, um 1926; Foto: Sammlung Schröder / Museum Neukölln

Blick auf das Hüsung, im Hintergrund der Lowise-Reuter-Ring.

Das „Hufeisen“ im Bau, um 1926; Foto: Sammlung Schröder / Museum Neukölln

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Während die Hufeisensiedlung auf der Nord-, Süd- und Ostseite und der Teich selbst mit einer dreigeschossigen Bebauung geschlossen werden, bleibt die Westseite nur zweigeschossig. Als westlicher Abschluss wird ein Schulhaus geplant, für das Taut einen großen Platz an der Onkel-Bräsig-Straße reserviert. Die Inangriffnahme des Schulbaus wird für 1929 in Aussicht gestellt,25 tatsächlich begonnen wird mit den Arbeiten aber erst 1934, Fertigstellung des von dem Architekten Karl Bonatz geplanten Gebäudes ist 1935/36. Zunächst trägt sie den Namen „Gemischte Gemeindeschule Britz-Nord“, 1956 wird sie nach dem Schulreformer Fritz Karsen benannt. In sieben Bauabschnitten baut die GEHAG 1925–1933 in der Hufeisensiedlung insgesamt 1 638 Stockwerkswohnungen und 679 Einfamilienhäuser.26 Es handelt sich um die größte Baustelle der Einfa und um ein Bauvolumen, das in seiner Größenordnung erstmalig erreicht wird.27 Die zwar konventionelle, aber möglichst kostengünstige und rationelle Bauweise soll durch mehrere Faktoren erreicht werden: Das Gelände kann von der Stadt relativ kostengünstig erworben werden. Es ist zwar noch nicht erschlossen, Martin Wagner setzt aber bei den Behörden durch, dass der Bau von Straßen und Gebäuden gleichzeitig durchgeführt werden darf, was zu einer Minderung der Baukosten führt. Durch die Schaffung von vier verschiedenen Grundrisstypen soll Planungsarbeit und durch den gleichzeitigen Bau vieler Wohnungen Bauleitungskosten gespart werden. Weiterhin sollen ein Kran und Transportbänder mit Loren bei den Bauarbeiten helfen. Die Ausschachtungsarbeiten übernimmt ein Erdbagger der Deutschen Bauhütte, dessen Einsatz die 7-fache Leistung eines Arbeiters

erzielt.28 Die Gründung der Deutschen Bauhütte 1919, die genossenschaftlich geführt und nicht gewinn­ orientiert arbeitet, ist übrigens ebenfalls auf die Idee Martin Wagners zurückzuführen, der die Baubetriebe sozialisieren will.29 „Es ist ganz klar, daß bei einer Wiederholung der gleichen Typen beim zweiten oder dritten Bauabschnitt die Kosten für die Überwachung der Bauausführung sinken müs­sen. Ich brauche hier nur zu erwähnen, daß der Verfasser in Berlin-Britz die im Bau befindlichen 1 000 Wohnungen nur mit einem Bauführer zur Durchführung bringt. […] In der Siedlung Britz hat die Deutsche Bauhütte die Verpflichtung übernommen, eine Wohnung im dreistöckigen Haus in drei Monaten und ein Einfamilienhaus in vier Monaten vom Baubeginn bis zur schlüsselfertigen Uebergabe herzustellen und die Einhaltung dieser Vereinbarung wurde durch eine Verzugsstrafe von 50 Mark pro Wohnung und Woche gesichert.“30

25 Einfa Nachrichtenheft 1930. 26 Einfa Nachrichtenblatt, 1933, Heft 5/7, S. 3. 27 Vgl. Berlin und seine Bauten, Teil IV, Wohnungsbau, Band A, Die Entwicklung der Wohngebiete. Berlin 1970.

28 Wagner, Martin: Gross-Siedlungen. Der Weg zur Rationalisierung des Wohnungsbaues. In: Wohnungswirtschaft, 3.1926, Nr. 11/14, S. 81–114. 29 Schäche, a.a.O., 1999, S. 21. 30 Wagner, Martin: Groß-Siedlungen. In: Aufbau, 1.1926, S. 87.

Bauarbeiten in der Hufeisensiedlung, um 1926; Foto: Sammlung Schröder / Museum Neukölln

Für den Bau der Hufeisensiedlung wurden neben einem Kran und einem Bagger auch Transportbänder mit Loren eingesetzt.


Die sechs Bauabschnitte der Hufeisen­ siedlung, auf einem Luftbild markiert, undatiert; Grafik: Ben Buschfeld

Die große Baustelle erhält zu jener Zeit von allen Seiten viel Beachtung – sogar die beiden Politiker Gustav Stresemann und Aristide Briand sollen sie sich heimlich angesehen haben – und zahlreiche Zeitungen berichten.31 Im Gegensatz zu den ländlich anmutenden Reihenhäusern mit Satteldächern entwirft Taut die Block­ randbebauung im 1. und 2. Bauabschnitt im Stil der „Neuen Sachlichkeit“ mit Flachdächern. Die Dächer und die lange Aufreihung identischer Gebäudemodule, wie etwa entlang der Fritz-Reuter-Allee, wo die Gebäude im Volksmund schnell den Beinamen „Rote Front“ oder „Chinesische Mauer“ erhalten, führen zu massiven Protesten. In einem Artikel in 31 Britzer Heimatbote, 1963.

der deutsch-national geprägten „Deutschen Bau­hüt­ te“32 von 1927 wird die Architektur Tauts sogar als „Karikatur“33 bezeichnet und der Autor regt sich über die schlecht zu reinigenden Treppenhausfenster auf. 32 Die Zeitung ist nicht mit dem namensgleichen sozialen Baubetrieb, der die Bauaufgabe in der Hufeisensiedlung übernahm, zu verwechseln. 33 Ohne Autor: Neue Berliner Siedlungen. In: Deutsche Bauhütte, 31.1927, S. 163: Unter einem Foto der Bebauung an der Fritz-ReuterAllee steht: „Durch einseitige Übersteigerung eines Baugliedes entsteht nicht ‚Architektur‘, sondern ‚Karikatur‘. […] Ein effekthascherisches Motiv, durch zwanzigfache Wiederholung nicht gebessert. […] hier hat der Architekt, stets erfüllt mit geistreichen und witzigen Einfällen, jedes Treppenhaus mit 37 Fenstern bedacht. […] Etwa 700 kleine Fenster […] erweisen die freigiebige Arbeits- und Materialvergeudung bei Bauten eines ‚Spar‘vereins. Schlecht zu reinigen, teilweise nur mit Leitern zu erreichen, werden die Fenster bald durch Staub und Schmutz blind sein.“

Fritz-Reuter-Allee, um 1935, Foto: Landesarchiv Berlin, Nr. 271 585

Die Blockrandbebauung im 1. und 2. Bauabschnitt ist von Bruno Taut im Stil der „Neuen Sachlichkeit“ mit Flachdächern entworfen worden. Die Häuser in der Fritz-Reuter-Allee erhalten aufgrund ihrer Farbe und der langen Aufreihung identischer Gebäudemodule im Volksmund schnell den Beinamen „Rote Front“ oder „Chinesische Mauer“.

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Fritz-Reuter-Allee, vor 1938; Postkarte, Privatbesitz

Auf Anweisung der Baubehörden sollte eine Baumallee die architektonische Verschiedenheit der beiden Siedlungsteile Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung kaschieren.

Haus in der Dörchläuchtingstraße, 2011;

Die strenge Architektur ist auf jeden Fall mehrfach Gegenstand von Gutachten der Kunstkommission und des Reichskunstwarts Edwin Redslob34 und führt zeitweilig sogar zu einer Baueinstellung, wie Bruno Taut in seinen 1936 verfassten „Siedlungsmemoiren“ schreibt: „Im Jahre 1928 bei einer offiziellen Besichtigung der durch ihr ‚Hufeisen‘ populär gewordenen Siedlung Britz, führte ich den Berliner Oberbürgermeister Böß. Am Schluß sagte er wörtlich unter anderem: ‚Sie haben mich bekehrt.‘ Wie war es aber ungefähr 3 Jahre vorher? Gerade zur gleichen Zeit mit uns baute eine andere Gesellschaft mit einem anderen Architekten eine ungefähr ebenso große Siedlung wie unsere, und beide begegneten sich am Rande einer breiten Straße: die andere mit romantischen Sentimentalitäten, spitzen Giebeln, Erkern und steilen Dächern, die viel Geld kosteten, unsere mit flachen Dächern und großer Einfachheit, um die Baukosten nicht zu sehr zu erhöhen. Der Magistrat von Berlin, dessen Präsident Herr Böß war, war so sehr in die Romantik jener Bauten verliebt, dass er uns befahl, unsere Dächer zu ändern. Obwohl bereits die Dachkonstruktion für unsere Bauten auf den Zimmerplätzen fertig war, wurde sogar die Polizei mobilisiert, um das Weiterarbeiten zu verhindern. Dr. Martin Wagner, der diese erste Großsiedlung Deutschlands und manche andere ins Leben gerufen hat, war damals der Oberbauleiter. Er kümmerte sich nicht um den Berliner Magistrat und seine Polizei und ließ die Bauten fortsetzen, nur durch Zufall ist er der Polizei entwischt, die ihn verhaften wollte. Ich war damals der entwerfende Architekt gerade des beanstandeten Teils der Bauten und hatte die größte Verantwortung in dieser aufregenden Situation.“35

Foto: Barbara Hoffmann

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In der Architekturtheorie von Bruno Taut und Martin Wagner gilt die Farbe als eines der wichtigsten und preiswertesten Gestal­­tungs­mittel, die sie bewusst einsetzen.

34 Wedemeyer, August: Die Großsiedlung Britz in Berlin-Neukölln. In: Deutsche Bauzeitung, 61.1927, Nr. 99, S. 810. 35 Taut, Bruno: Siedlungsmemoiren. In: Architektur der DDR, 24.1975, H. 12, S. 761 ff.

Bruno Taut wusste, dass Ludwig Hoffmann, der frühere Stadtbaurat von Berlin, immer noch großen Einfluss auf Bürgermeister Gustav Böß ausüben konnte und so wandte er sich in seiner Not an ihn. Die beiden führten mehrere lange Unterredungen, in denen Taut ihn anscheinend überzeugen konnte, denn Hoffmann fuhr mit Böß nach Britz und an­ schlie­ßend genehmigte der Berliner Magistrat das Projekt. Die Bauten konnten fertiggestellt werden und Taut und Wagner waren nun „in den Augen der Polizei keine Staatsverbrecher mehr“36. Die Genehmigung zum Weiterbau wird anscheinend jedoch nur mit einer Auflage erteilt: Um den Unterschied zwischen den beiden Architekturen zu kaschieren, muss vor die GEHAG-Gebäude entlang der FritzReuter-Allee eine Baumallee gepflanzt werden. „Dies hätte vermieden werden können, wenn die gesamte Bebauung des Geländes nach Ausschreibung eines Wettbewerbes auf Grund eines architektonischen und städtebaulich einheitlichen Entwurfs vorgenommen worden wäre.“37 In der Architekturtheorie von Bruno Taut und Martin Wagner gilt die Farbe als eines der wichtigsten und zudem preiswertesten Gestaltungsmittel und sie setzen sie bewusst ein. Tauts Meinung nach gibt es in der Welt keine Farblosigkeit, auch Grau sei eine Farbe. Denn wenn etwas vollkommen farblos sei, dann müsste es ja eigentlich unsichtbar sein, schließt er. Taut möchte die Fähigkeit der Farben nutzen, mit ihnen seine Raumkonzepte unterstützen und Wärme und Tiefe in die Siedlung bringen. 1930 schreibt er: „Es ist also auf gar keine Art möglich, dass die Erbauer der Siedlungen sich vor dem Problem der Farbe drücken. Da die Farbe die Fähigkeit hat, die Abstände der Häuser zu vergrößern oder zu verkleinern, den Maßstab der Bauten so oder so zu beeinflussen, sie also größer oder kleiner erscheinen zu 36 Ebd. 37 Wedemeyer, a.a.O., 1927.


lassen, die Bauten mit der Natur in Zusammenhang oder in Gegensatz zu bringen und all dergleichen mehr, da die Farbe also gar nicht anders als die Backsteine des Mauerwerks oder das Eisen und der Beton des Skelettbaues aus dem Bauvorgang auszuschalten ist, so muß also auch mit ihr ebenso logisch und konsequent wie mit jedem anderen Material gearbeitet werden.“38 In einem Artikel über Kleinstwohnungen 1931 wird Bruno Tauts Motivation deutlich: Er zitiert dort einen bekannten Berliner Maler und Fotografen: „Das Zille-Wort: ‚Man kann einen Menschen mit einer Wohnung ebenso töten, wie mit einer Axt!‘ muß auch bei der Planung der Kleinstwohnungen […] berücksichtigt werden.“39 In diesem Sinne plant der sozial engagierte Architekt durchdachte Grundrisse, die für alle Mieter die gleichen Wohnbedingungen darstellen.40 Der gesamte Siedlungsraum wird von Taut zum erweiterten Wohnraum gezählt, in dem die Funktionen von Haus und Garten sowie Haus und Straße zusammenfließen sollen. Dieser sogenannte „Außenwohnraum“ ist ein wichtiger Aspekt in seiner Planung. Taut ist der Meinung, dass die äußere Umgebung von größter Bedeutung für eine Wohnung ist. Damit meint er nicht nur den unmittelbar anschließenden Außenwohnraum, also Loggia oder Garten, sondern auch die städtebaulichen Räume zwischen den Gebäuden. Die Räume, die durch das Hervor- oder Zurückspringen von Häusergruppen entstehen, müssen miteinander in Beziehung stehen, damit sie den Bewohnern ein Gefühl von Behaglichkeit und Stille vermitteln können. Dabei ist Taut streng darauf bedacht, keine Dorfstraßen zu imitieren; die praktischen Funktionen müssen bestimmend bleiben. Wichtig ist ihm auch, dass der Betrachter einen Blickpunkt findet, dass zum Beispiel 38 Taut, Bruno: Die Farbe. In: GEHAG Nachrichten, 1930, H. I/6, o. S. 39 Ders., Die Kleinstwohnung als technisches Problem. In: GEHAG Nachrichten, 1931, H. II / 5, o. S. 40 Vgl. Einfa Nachrichtenhefte, 1931.

eine Straße oder ein Garten zwar lang und schmal sein können, diese an ihrem Ende aber immer einen Abschluss finden.41 In der Hufeisensiedlung verfügt jede Wohnung über eine Loggia oder einen Balkon, die stets den Gartenanlagen zugewandt liegen und zwischen Außen und Innen vermitteln. Durch die enge Verbundenheit der Wohnräume mit den Gärten soll der Wohnraum der Familie erweitert werden. Das großzügig gestaltete Grün soll auch einen Ausgleich für die Beengtheit in den Wohnungen schaffen. Auf eine Wohnung kommen in der Hufeisensiedlung bei Abzug der Straßen und eingestreuten öffentlichen Plätze etwa 200 Quadratmeter Boden.42 Baubeginn für den ersten, nördlich gelegenen Bau­abschnitt ist bereits Mitte Oktober 1925. Die ersten Wohnungen werden im August 1926 bezugsfertig, die Wohnungen des südlich anschließenden zweiten Bauabschnitts ein Jahr später.

Onkel-Bräsig-Straße, um 1928; Foto: GEHAG-Archiv / Deutsche Wohnen AG

Ein wichtiger Gestaltungsaspekt der Hufeisensiedlung sind die einheitlichen Vorgärten, die einen attraktiven grünen Rahmen um die Gebäude bilden.

Die Grünanlagen Die Planer der GEHAG legen viel Wert auf eine ausreichende Anzahl von Grünflächen und deren anspruchsvolle Gestaltung. „Die Einfa unternahm darüber hinaus den Versuch, den Menschen der Großstadt aus der Asphaltwüste herauszureißen und seine Wohnung in eine Umgebung zu setzen, die ihn wieder in eine engere Beziehung zur Natur bringen sollte. Auch der Mensch der Großstadt hat schließlich ein Anrecht darauf, in seiner unmittelbaren Umgebung Blumen und Grünschmuck zu sehen. Darum umschließen überall, wo die Einfa gebaut hat, Freiflächen die Wohnanlage.“43 Die Gärten werden von der GEHAG nicht als reine Nutzgärten angesehen, wie dies beispielsweise bei 41 Taut, Bruno: Der Aussenwohnraum. In: Einfa Nachrichtenheft, 1931, H. 4, S. 2–4. 42 Vgl. Einfa Nachrichtenheft, 1933. 43 Ebd.

Rudower Allee (heute Buschkrugallee), Werbeprospekt, Ende 1920er-Jahre; Foto: Büro Pitz – Brenne

In einem Ende der 1920er-Jahre erschienenen Werbeprospekt der Firma Keim sind die farbig abgesetzten Fassaden abgebildet.

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„Das grüne Hufeisen“, Plan von Leberecht Migge, 1926;

der Gartenstadt Falkenberg 1914 noch der Fall gewesen ist, sondern es wird auch die Anlage von „Wohngärten“ propagiert.44 Leberecht Migge (1881–1935) ist einer der wenigen Gartenarchitekten, die sich zu jener Zeit mit der Gestaltung von Siedlergärten befassen. Mit Bruno Taut und Martin Wagner hat er gemeinsam, dass er in großen Zusammenhängen denkt und für die Rationalisierung und Normierung nicht nur bei der Herstellung der Gebäude, sondern auch der Gartenanlagen eintritt. Analog zu den Gebäuden will Migge durch die Typisierung der Siedlungsgärten und die Verfeinerung der Organisationsstrukturen Geld einsparen.45 Aus diesem Grund wird er von der GEHAG auch für die Planungen in der Hufeisensiedlung herangezogen. Migge veröffentlicht zwischen 1927 und 1930 mehrere Artikel in Fachzeitschriften, in denen er sich mit der zweckmäßigen Anlage von Siedlungsgärten befasst. Dabei werden Funktionalität und Nutzbarkeit der Gärten stets in den Vordergrund gestellt.

Quelle: Siedlungswirtschaft, 1927

Im ersten Entwurf von Leberecht Migge (1881–1935) sind die Wiesen zum Lagern freigegeben und am Teich lädt ein Strand zum Baden ein.

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1. und 2. Bauabschnitt Von Leberecht Migge stammen für den 1. und 2. Bauabschnitt zwei auf 1926 datierte Entwürfe: Zum einen plant er die Grünanlagen um den Teich innerhalb des Hufeisens, zum anderen die „Paradies“ genannte Grünanlage um den Hegepfuhl an der Miningstraße. Da die beiden Grünanlagen in dieser Form schon in einem farbigen Siedlungsplan von Taut und Wagner von 1925 eingearbeitet sind, ist davon auszugehen, dass Migge sehr frühzeitig in die Planungen einbezogen wird. Im Hufeiseninneren plant der Gartenarchitekt die Umformung des unregelmäßigen Teichs in ein langoval spitzes, spiegelsymmetrisches Wasserbecken mit Strand und Sitzbänken. Die umgebende Rasen44 Vgl. Einfa Nachrichtenheft, 1930. 45 Migge, Leberecht: Groß-Berliner Siedlungsgrün. In: Die Wohnung, 5.1930, H. 4, S. 97–108.

Zeichnung des „Hufeisens“ von Ottokar Wagler, um 1927; Quelle: Landesdenkmalamt Berlin

Der Neuköllner Gartenamtsleiter Ottokar Wagler verfasste den endgültigen Entwurf, in dem die Freiflächen um das Hufeisen nur noch repräsentativen Charakter haben.

fläche soll dem Lagern und Sonnen dienen und für die Bewohner die Funktion eines sozialen Versammlungsorts übernehmen. Die zentrale, in Richtung Teich zugespitzt verlaufende Treppenanlage wird durch zwei massive rechteckige Baumhaine mit jeweils 48 Pyramidenpappeln gerahmt. Erschlossen wird die Anlage durch einen Rundweg, der an der Außenseite der Mietergärten entlangführt. Die in drei Stufen angelegten Mietergärten werden jeweils mit Obstbaumreihen gefasst. Ein Vertragsbestandteil des Geländeverkaufs von der Stadt Berlin an die GEHAG im Jahr 1925 ist jedoch die Abmachung, dass diese das gesamte Straßenland und die öffentlichen Freiflächen an die Stadt abtreten muss.46 Damit ist nicht die GEHAG, sondern das Gartenamt Neukölln für deren Gestaltung zuständig. Die GEHAG übergibt dem Gartenamt zwar im Oktober 1926 die von ihr beauftragten Entwürfe von Leberecht Migge, doch kommen diese nicht zur Ausführung. Stattdessen stellt der damalige Gartenamtsleiter von Neukölln, Ottokar Wagler (1881–1954), neue Pläne auf, die von der Baumschule Ludwig Späth ausgeführt werden. Im Unterschied zum Entwurf von Leberecht Migge hat die durchge46 Wedemeyer, a.a.O., 1927.


führte Planung einen eher repräsentativen Charakter. Teich und Rasen werden durch eine dichte Berberitzenhecke umschlossen, sodass eine aktive Nutzung der Flächen nicht möglich ist. Leberecht Migge ist darüber wohl sehr erbost. In einem Zeitungsartikel schreibt er 1927: „Diese bekannten Anlagen der Großsiedlung Britz sind vom Verfasser im Auftrag der ‚Gehag‘ entworfen, werden jetzt aber vom Bezirksamt Neukölln leider nach verballhornten Originalen und ohne Kontrolle des geistigen Urhebers ausgeführt: grüne Überorganisation. Die vielen Kleingärten der Kolonie sind leider ganz unberaten geblieben. Es sollen keine Mittel dafür vorhanden gewesen sein; trotzdem sieht man heute Hunderte dieser armen Gärtlein mit wertvollem Pflanzmaterial geradezu vollge­ stopft und auch sonst reich geziert. Der Gesamteindruck ist denkbar schlecht: grüne Unter­organi­ sation.“47 Wie Migge schreibt, hat er bei der Anlage der Gärten in der Siedlung keine Einflussmöglichkeiten, es ist aber zu vermuten, dass er bei der Gestaltung der Vorgärten beratend tätig ist, denn diese gehören zum Eigentum der GEHAG, die Stadt hat hier also keine Einflussmöglichkeiten. Die Einheitlichkeit der Siedlung ist ein wichtiger Aspekt für die Planer und so wird der Anlage der Vorgärten eine hohe Bedeutung zugemessen. In einem Rundschreiben der Einfa an die Mieter steht, dass die Anlage der Vorgärten „der guten Gesamtwirkung wegen“ auf Kosten der Gesellschaft erfolge und dass aus diesem Grunde auch die Pflege übernommen werde.48 Als Rahmenbepflanzung werden um eine ruhige Rasenfläche in fast allen Vorgärten etwa 50 Zentimeter hohe Ligusterhecken gepflanzt. Vermutlich orientiert sich diese Höhe an den Klinkersockeln am Haus. Jede Straße wird durch spezi47 Migge, Leberecht: Höfe und Gärten bei Miethausblöcken. In: Wohnungswirtschaft, 4.1927, Nr. 20, S. 165–170. 48 Privatbesitz Schulz.

fische einheitliche Straßen- oder Vorgartenbäume markiert: • Spitz-Ahorn (Acer platanoides) zur Kugel ge­ schni­tten ­­­ oder Acer platanoides „Globosum“ im Hüsung; • Sand-Birken (Betula pendula) in der Dörchläuch­ ting- und Liningstraße; • vermutlich Goldregen (Laburnum i. S.) in der Pas­ ter-Behrens-Straße, damals Moses-LöwenthalStraße; • Kanzan-Zierkirschen (Prunus serrulata „Kanzan“) oder Gefüllt blühende Vogelkirschen (Prunus avium „Plena“) in ungeordneter Reihenfolge in der Onkel-Bräsig-Straße; • Pyramiden-Pappeln (Populus nigra „Italica“) auf der Nordseite der Parchimer Allee, damals KirschAllee; • Robinien (Robinia pseudoacacia) zur Kugel geschnitten in der Stavenhagener Straße und im Lowise-Reuter-Ring; • Essbare Ebereschen (Sorbus aucuparia „Edulis“) in der Jochen-Nüßler- und Miningstraße;

Entwurf für die Einteilung und Bepflanzung der Reihenhausgärten zwischen der Parchimer Allee und der Talberger Straße von Leberecht Migge; Quelle: Die Wohnung 1930

Für den 6. Bauabschnitt hat Leberecht Migge vier verschiedene Typen von Mietergärten mit je zwei Obstbäumen geplant.

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• Gefüllt blühende Vogelkirschen (Prunus avium „Plena“) in den Gärten gegenüber den Vorgärten in der Stavenhagener Straße; • Ulmen (Ulmus glabra „Exoniensis“) in den Gärten gegenüber den Vorgärten im Lowise-ReuterRing; • verschiedene Ahorne (Acer pseudoplatanus oder Acer platanoides) auf der Fritz-Reuter-Allee im öffentlichen Grünstreifen entlang der Promenade.

Dörchläuchtingstraße, 1934; Foto: Otto Hagemann / Landesarchiv Berlin, Nr. 230 357

In der Dörchläuchting- und der Lining­ straße sind Sand-Birken gepflanzt worden.

Lowise-Reuter-Ring, 2011; Foto: Katrin Lesser

Seit der 2010 bis 2011 erfolgten denkmalgerechten Wiederherstellung der Vorgärten am Lowise-Reuter-Ring stehen hier 24 kugelförmig wachsende Robinien.

Anders als Migge schreibt, bleiben die Mieter in den ersten beiden Bauabschnitten in Bezug auf die Anlage der Gärten fachlich nicht unberaten. Den Mieter­ gärten im Hufeisen werden als zentraler Ort eine so hohe Bedeutung zugemessen, dass sie ein Grundgerüst mit Terrassen, Wegen, einfassenden Hecken und zwei Reihen Obstbäumen erhalten. Für die übrigen Mieter werden im Jahr 1927 Mustergärten angelegt.49 Diese stammen aber nicht von Leberecht Migge, sondern wiederum von Ottokar Wagler, dem Leiter des Gartenamts Neukölln. „Wir hoffen durch diese Musteranlagen ein gutes Beispiel als Anregung für die noch abseits stehenden Siedler zu geben.“50 Die verwaltende Einfa versucht offenbar, durch die Anlage von Mustergärten Einfluss auf die Mieter zu nehmen. Damit soll einerseits den teilweise unerfahrenen Mietern geholfen und andererseits die Einheitlichkeit in der Siedlung gefördert werden. Die Mieter erhalten ein Rundschreiben, in dem auf die Mustergärten hingewiesen und Preise genannt werden. Bei Interesse kann ein Vordruck ausgefüllt werden, in dem die Ausführung des Gartens beauftragt wird. Die Kosten sollen die Mieter selbst übernehmen. Die Verantwortlichen sind aber anscheinend mit dem Ergebnis der Bestellungen nicht zufrieden, denn in der Zeitschrift „Wohngemeinschaft“ vom 49 Landesarchiv Berlin, A Rep 044-08, Nr. 245. 50 Ebd., Schreiben der Baumschule Brucks & Beinroth an die Einfa vom 22. März 1927.

29. September 192751 schreibt der Mieterausschuss, dass eine Besichtigung der Gärten in der Hufeisensiedlung ergeben hätte, dass die Einfa in jedem Mietergarten an den Wirtschaftswegen jetzt einheitlich Obsthochstämme pflanzen wolle. Die Mieter werden dazu ersucht, den erforderlichen Platz frei zu halten und außerdem die gepflanzten Ligusterhecken besser zu wässern. Es wird aber noch einmal eindrücklich darauf hingewiesen, dass der Heckenschnitt einheitlich durch die Gärtner der Gesellschaft erfolge. Die Mietergärten werden einheitlich mit folgenden Bäumen bepflanzt: • Im Hufeisen Sauerkirschen (Prunus „Schattenmorelle“) entlang des öffentlichen Wegs und Apfelhochstämme jeweils auf der mittleren Gartenterrasse; • in den sonstigen Mietergärten Obstbaumhochstämme, meist Sauerkirschen oder Pflaumen, jeweils am Ende der Gärten entlang der Wirtschafts­ wege.

3. bis 5. Bauabschnitt Etwa 350 Meter östlich der Fritz-Reuter-Allee werden 1927–1929 entlang der heutigen Buschkrugallee der 3. bis 5. Bauabschnitt realisiert. Der Abschnitt ist gut an die öffentlichen Verkehrsmittel angebunden, denn direkt vor den Gebäuden, im Kreuzungsbereich der Parchimer Allee, befindet sich zu jener Zeit eine Straßenbahnhaltestelle. Taut und Wagner lassen hier keine Einfamilienhäuser bauen, sondern Geschosswohnungsbauten mit verschieden großen Wohnungen und ein paar Verkaufsläden. Die Architektur wird durch zwei große Gebäude bestimmt: einem L-förmig abknickenden und einem dreieckigen Gebäude. Sämtliche Wohnungen haben eine Loggia und den Erdgeschosswohnungen ist jeweils ein Garten mit vorab regelmäßig gepflanzten Obstbaumreihen und Ligusterhecken zugeteilt. Die Gärten liegen hinter 51 GEHAG-Archiv.


Rudower Ecke Parchimer Allee, 1929;

Im „Hufeisen“, 1928

Grünanlage mit Spielplatz, 1928;

Foto: Köster-Archiv / Akademie der Künste

Foto: Otto Hagemann / Museum Neukölln

Foto: Otto Hagemann / Landesarchiv Berlin,

Östlich der Rudower Allee (heute Buschkrugallee) wird zwischen 1927 und 1929 der 3. bis 5. Bauabschnitt der Hufeisensiedlung errichtet. Im Kreuzungsbereich der beiden Straßen befindet sich zu jener Zeit eine Straßenbahnhalte­ stelle der Linie 47.

Die Mietergärten im „Hufeisen“ werden von einer Reihe blühender Sauerkirschbäume eingerahmt.

Nr. II, 11 000

Die Architektur des 3. bis 5. Bauabschnitts wird durch zwei große Gebäude bestimmt: einem L-förmig abknickenden und einem dreieckigen Gebäude. Im Innern des Dreiecks liegen Mietergärten und eine Grünanlage mit einem Spielplatz.

6. Bauabschnitt den Gebäuden bzw. geschützt innerhalb des Dreieckgebäudes. Sie sind von der Wohnung aus nicht direkt zugänglich, sondern über den Keller und einen anschließenden halböffentlichen Weg erschlossen. Im Zentrum des dreieckigen Gebäudes lässt die GEHAG eine Gemeinschaftsgrünfläche anlegen, die durch Stichwege zwischen den Gärten erreicht werden kann. Innerhalb von ruhigen Rasenflächen liegt ein regelmäßiges Baumrondell mit zwölf Linden. Ein großer achteckiger Sandkasten und mehrere Bänke laden zum Spielen und Sitzen ein.52

52 Lesser, Katrin: Unesco Welterbe Hufeisensiedlung. Untersuchung der denkmalgeschützten Freiflächen und Konzeption für den zukünftigen Umgang. Gutachten für das Landesdenkmalamt Berlin im Rahmen des „Investitionsprogramms nationale Unesco-Welterbestätten“. Berlin 2009.

Das Grundstück des 6. Bauabschnitts53 liegt auf der Südseite der mit großen Ahornbäumen bestandenen Parchimer Allee, bis 1927 Kirschallee. Es ist etwas über sieben Hektar groß und fällt von West nach Ost leicht ab. Wie im 1. und 2. Bauabschnitt wird auch hier eine Kombination von Etagenwohnungen und Reihenhäusern errichtet. Baubeginn für die 276 Wohnungen und 207 Häuser54 ist im September 1929, Erstbezug am 1. August 1930. Das Grundstück wird im Osten und im Westen von der ringförmig um den Britzer Gutspark in Richtung Süden verlängerten Fritz-Reuter-Allee und der Paster53 Nach dem Fortgang Bruno Tauts und Martin Wagners zwischen 1932 und 1933 folgt der Bau eines 7. Bauabschnitts östlich der Fritz-Reuter-Allee. Er umfasst 264 Wohnungen und gehört nicht zum Unesco-Weltkulturerbe. 54 Ohne Autor: Erweiterung der Hufeisensiedlung in Britz. In: Einfa Nachrichtenheft, 1930, H. 4, S. 5 f.

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Gielower Straße, um 1933; Foto: Landesarchiv Berlin, II 11 052

Die Architektur der Gebäude des 6. Bauabschnitts zeichnen sich durch eine modernere Architektur als in den 1. und 2. Bauabschnitten aus.

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Behrens-Straße, damals Moses-Löwenthal-Straße, umschlossen. Auf der Nordseite begrenzt die Parchimer Allee und auf der Südseite die Talberger Straße. Die mittige Gielower Straße teilt das Grundstück in zwei etwa gleich große Hälften. Ein erster Bebauungsplan von Bruno Taut und Martin Wagner 1928 sieht eine ringförmige Weiterführung der Jochen-Nüßler-Straße, der Dörchläuch­ tingstraße und der Paster-Behrens-Straße nach Süden über die Parchimer Allee hinweg vor. Der Plan ist baupolizeilich auch schon genehmigt, wird 1929 aber dann doch noch geändert. Da das Vorhaben des preisgünstigen Bauens für Arbeiter55 in den ers55 1928 wohnen in der Hufeisensiedlung 290 Beamte, 510 Angestellte, 79 Architekten, Techniker, Ingenieure, 96 Metallarbeiter, 81 Vertreter von grafischen Berufen, 85 Arbeiter und 311 ohne Berufsangabe. Vgl. ohne Autor: Wer bewohnt die GEHAG Häuser. In: Wohnungswirtschaft, 5.1928, Nr. 8, S. 74.

ten Bauabschnitten nicht ganz gelang und man durch die Rationalisierung nicht jene Senkung der Kosten erreichte, die man sich erhofft hatte, und da die Erträge aus den Hauszinseinnahmen durch die Wirtschaftskrise abnahmen, muss die GEHAG im 6. Bauabschnitt noch weitere Kosten einsparen. Ein erstes Einsparpotenzial ist die höhere Ausnutzung des vorhandenen Grundstücks. Bruno Taut verzichtet in seinem 1929 gezeichneten zweiten Bebauungsplan mit fünf in Nord-Süd-Richtung ausgerichteten Häuserreihen daher auf die Anlage von Straßen. Zu den Gebäuden führen lediglich etwa 2,5 Meter breite Fußwege, die nicht von Autos befahren werden können. Zudem erhalten die Geschosswohnungsbauten an der Parchimer Allee keine Mietergärten und es gibt keine öffentlichen Grünflächen. Statt eines separaten Vorgartens und eines rückwärtigen Gartens liegen die Mietergärten im 6. Bauabschnitt nur auf der Eingangsseite der Häuser, sie sind also Vor- und Hauptgarten zugleich. Einheitliche Hauszugangswege führen durch die Gärten zu den Haustüren und den davor liegenden Terrassen. Durch diese Maßnahme spart der Bauherr bei den Reihenhäusern jeweils eine zweite Außentür ein. Die stilistische Weiterentwicklung der Planer ist im viel städtischer wirkenden 6. Bauabschnitt deutlich ablesbar; die Architektur mit Flach- oder Pultdächern und größeren Fenstern deutlich moderner als im 1. und 2. Bauabschnitt. Entlang der Paster-Behrens-Straße und der FritzReuter-Allee plant Taut dreigeschossige Wohnblöcke mit geschlossenen, durchgehenden Fronten. Entlang der Parchimer Allee werden ebenfalls Wohnblöcke geplant. Diese sind aber aus der Reihe herausgerückt und mit den jeweils dahinter liegenden Reihenhausreihen verbunden. Am südlichen Ende entlang der Talberger Straße werden keine Wohnblöcke gebaut, vermutlich plante man, die Siedlung langfristig noch zu erweitern. Die Reihenhäuser sind fünf oder sechs Meter breit und haben Erdgeschoss plus einen oder zwei Stockwerke. Eine Sonderstel-


lung nehmen die kleinen Kopfbauten an der Gielower Straße ein. Sie sind aus der Reihe herausgerückt und haben etwas größere, über dem Straßenniveau liegende Grundstücke, die mit rotbunten Klinkermauern eingefasst sind. Durch das Herausrücken von Gebäuden gelingt Taut auch hier wieder, den „Außenwohnraum“ in einen angenehmen Maßstab herunterzudefinieren und tatsächlich Räume zu schaffen. Die empörten Äußerungen Leberecht Migges in Bezug auf eine schlechte Beratung der Mieter waren bei der GEHAG offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen und die Erfahrung mit dem notwendig gewordenen Nachpflanzen von Obstbäumen hatte ihr Übriges getan. Daher erhielten die Grünanlagen im 6. Bauabschnitt schon von Anfang an einen höheren Stellenwert. In einem Artikel im Einfa Nachrichtenblatt heißt es 1930 in Bezug auf die Gärten im 6. Bauabschnitt: „Besondere Sorgfalt werden wir noch der Anlegung der Einfamilienhausgärten zuwenden, damit diese sich in die Architektur der Siedlung eingliedern und auch von jedem Bewohner als wirkliche Erweiterung des Wohnraumes, was sie ihrer Art nach sein sollen, empfunden werden. […] Bei einer Besichtigung wird jeder Bewohner selbst feststellen, daß eine der Flachbau-Siedlung angemessene lockere Bauweise durchgeführt ist. Sie wird besonders dann zu ihrer vollen Wirkung gelangen, nachdem auch die gärtnerischen Anlagen fertig sind. Erst dann empfinden wir den vollen harmonischen Zusammenklang der farbigen Fronten, der grünen Anlagen und der blühenden Wohngärten einer Vorstadt-Siedl­ung.“56 Im 6. Bauabschnitt erhält Leberecht Migge die erhoffte Chance, die Mietergärten zu entwickeln. Alle Gärten werden durch ein Grundgerüst mit Ligusterhecken entlang der öffentlichen Fußwege ausgestattet und es werden zwei durchgehende Sauerkirschreihen gepflanzt. Die Sauerkirschen und die auf jeder zweiten Gartengrenze noch zusätzlich platzierten 56 Ebd.

6. und 7. Bauabschnitt östlich der Fritz-Reuter-Allee, um 1936; Foto: Büro Pitz – Brenne

Auf der linken Seite sind vorne die Gebäude des 7. Bauabschnittes erkennbar, die anschließende Erweiterung von 1936 bis 1938 ist wieder durch Satteldächer abgeschlossen.

rosa blühenden Zieräpfel57 sollen den Gärten einen Abschluss geben, den „Außenwohnraum“ erweitern und vor Einblicken schützen. Durch niedrige Maschendrahttore gelangen die Bewohner über einheitlich gradlinige Betonplattenwege zu den Haustüren. In der Zeitschrift Die Wohnung veröffentlicht Migge 1930 für den 6. Bauabschnitt einen Plan mit vier Mustergärten58: Auf Basis der durch die GEHAG vorgenommenen Grundstruktur und Grundbepflanzung werden in Gar­tenfragen unerfahrenen Mietern Beispiele für einen Gemüsegarten, einen Rasengarten, einen Blu­men­­garten und einen Obstgarten zur Verfügung gestellt. Der „Gestaltung der Wohngärten in Britz“ ist im Oktoberheft der schon mehrfach erwähnten Einfa Nachrichtenblätter 1930 ein eigener Artikel gewidmet. 57 Malus floribunda. 58 Migge, Leberecht: Groß-Berliner Siedlungsgrün. In: Die Wohnung, 5.1930, H. 4, S. 97–108.

Wiederherstellungsplan für die Mieter­ gärten, 2010; Plan: Katrin Lesser, Landschaftsarchitektin

Im 6. Bauabschnitt ist der einheitliche Erhalt der Mietergärten besonders wichtig, denn sie sind als Vorgärten angelegt und haben dadurch großen Einfluss auf das Gesamtbild.

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Mietergärten an den Reihenhäusern der Parchimer Allee, 1930er-Jahre; Foto: GEHAG-Archiv / Deutsche Wohnen AG

Auf der Fotografie sind die regelmäßig gepflanzten Sauerkirschen in den Gärten des 6. Bauabschnitts zu sehen.

„Die in dem Verlaufe der Zeit gemachten Erfahrungen haben uns gezeigt, wie notwendig es ist, in einer neu angelegten Siedlung den Bewohnern Pläne zu unterbreiten, nach denen die Gestaltung der Gärten auszuführen ist. Nur dadurch wird es möglich, eine solche Gesamtwirkung der Gärten zu erzielen, die sowohl der Architektur als auch der Bewohnerschaft zustatten kommt. […] Trotz dieser gleichmäßigen Grundform, die gewissermaßen das Gerippe der Gartenanlagen darstellt, bleibt noch sehr viel Spielraum für individuelle Auswirkung in Bezug auf Auswahl der Pflanzungen, um damit die Gartenwirkung und die persönliche Freude zu erzielen, die der einzelne Bewohner für sich wünscht.“59

Unterstützung der Mieter Die GEHAG und ihr Verwaltungsorgan, die Einfa, unternehmen viel, um die neuen Mieter in allen Bereichen zu unterstützen. So werden in der Hufeisensiedlung Musterwohnungen eingerichtet und mehrere beispielhafte Gärten gezeigt. 1930 präsentiert die GEHAG in zwei Häusern des 6. Bauabschnitts praktische und moderne Innenausstattungen, für deren Herstellung sie die renommierten „Deutsche Werkstätten“ in Hellerau gewinnt.60 1931 veranstaltet sie im Rahmen einer BauweltMusterschau die Ausstellung „Die GEHAG-Wohnung 1931“, in der vier neu konzipierte Wohnungstypen in Originalgröße gezeigt werden. Die Ausstellung, in der den Besuchern Fragebögen vorgelegt werden, um ihre Wünsche zu erfahren, wird ein voller Erfolg. Innerhalb von nur 19 Tagen werden 43 775 Besucher gezählt. In einem Artikel wird die fortschrittliche Einstellung der Planenden deutlich: Einfa Nachrichtenblatt, Heft 1, 1930; Quelle: GEHAG-Archiv / Deutsche Wohnen AG

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Die erste Ausgabe des Einfa Nachrichtenblatts in moderner Gestaltung.

59 Ohne Autor: Gestaltung der Wohngärten in Britz. In: Einfa Nachrichtenblatt, 1930, H. 7, S. 4 f. 60 Ohne Autor: Möbelausstellung in Britz. In: Einfa Nachrichtenblatt, 1930, H. 4, S. 7.

„Eines der Hauptziele der Ausstellung […] war, das Urteil der Wohnungsbewerber über die von uns für das Baujahr 1931 in Aussicht genommenen neuen Wohnungstypen kennenzulernen und damit unsere Arbeiten in noch stärkerem Maße, als es ohnehin durch die ständige Auswertung der Erfahrungen unserer Verwaltungsorganisation und der Bewohner unserer Großsiedlungen geschieht, der Kontrolle der Konsumenten zu unterwerfen.“61 Das Einfa Nachrichtenblatt wird von 1930 bis Februar 1940 kostenlos an die Mieter der Hufeisensiedlung verteilt. Hier finden sich neben organisatorischen Mitteilungen und Einrichtungsbeispielen alltägliche Tipps für Haus und Garten. Beispielsweise werden die Pflege der Steinholzböden erläutert, Ratschläge für die Obstbaumpflege gegeben oder auch Fotowettbewerbe veranstaltet. Die Einheitlichkeit in der Siedlung ist ein wichtiger Gestaltungsaspekt Bruno Tauts. Um diese auch auf Dauer zu bewahren, versucht die Einfa, positiven Einfluss auf die Mieter auszuüben. In einem Nachrichtenheft von 1930 steht ein Appell an die Wohnungsmieter, keine unüberlegten Käufe von Balkonpflanzen zu tätigen und die sorgfältig durchdachte Architektur nicht durch uneinheitlichen Blumenschmuck zu zerstören.62 Das ständige Bemühen der verantwortlichen Architekten, sich nicht mit einem Ergebnis zufriedenzugeben, sondern stattdessen offen zu sein und die Wohnungsentwürfe permanent weiterzuentwickeln, führt zu einem sehr hohen Qualitätsstandard. Zu jener Zeit sind „Gehag-Typen“ oder der „Gehagstil“63 zu einem festen Begriff in der Fachwelt geworden und sie beeinflussen auch die Planungen anderer Wohnungsbaugesellschaften. Zudem werden sie für 61 Ohne Autor: GEHAG-Kleinwohnungen im Urteil der Wohnungsbewerber. In: GEHAG Nachrichten, 1931, H. II / 7/8, o. S. 62 Ohne Autor: Richtige Balkonpflege. In: Einfa Nachrichtenblatt, 1930, H. 2, S. 5. 63 Taut, Bruno: Siedlungsmemoiren. In: Architektur der DDR, 24.1975, H. 12, S. 761 ff.


die Normierung der Wohnungsgrößen in der Hauszinssteuerbeleihung herangezogen.64 Die Entstehung der Großsiedlung Britz und besonders der Hufeisensiedlung, die 1932–1933 noch durch einen 7. Bauabschnitt östlich der Fritz-ReuterAllee, gegenüber dem 6. Bauabschnitt, ergänzt wird, kann man durchaus als einen Meilenstein in der Geschichte des Siedlungsbaus bezeichnen. In einem ungeheuerlichen Kraftakt sind auf dieser ersten modernen Großbaustelle in Deutschland Wohnungen für die breite Bevölkerung geschaffen worden, die von Licht, Luft und Sonne durchdrungen sind und in denen auch dem Grün eine angemessene Bedeutung zuteil wird.

GEHAG und Hufeisensiedlung im „Dritten Reich“ Natürlich wird auch Kritik laut, aber die Begeisterung der Berliner für die von der GEHAG bis 1933 gebauten insgesamt 10 094 Wohnungen65 ist groß. Das können auch die Nationalsozialisten, denen am 30. Janu­ar 1933 die Macht übergeben wird, nicht übersehen. Vermutlich ist ihnen die aus sozialdemokratischen Gewerkschaftsstrukturen gewachsene GEHAG ein Dorn im Auge. 1930 findet in der Hufeisensiedlung noch ein großes „Fest der Arbeit“ mit einem gewaltigen Fackelzug im Inneren des Hufeisens statt, bei dem der SPD-Reichstagsabgeordnete Artur Crispien zu den Bewohnern spricht und dabei betont, dass die Errichtung solcher modernen Wohnanlagen nur in einer Republik möglich sei.66 So ist es nicht verwunderlich, dass die GEHAG von den 64 Hillinger, Franz: Gehag-Typen. In: GEHAG Nachrichten, 1931, H. II / 1–2, o. S. 65 Die GEHAG baute neben der Hufeisensiedlung noch mehrere andere Siedlungen, zum Beispiel Onkel Toms Hütte oder die Wohnstadt Carl Legien. 66 Ohne Autor: Volksfeste in Gehag Siedlungen. In: Einfa Nachrichtenblatt, 1930, H. 7, S. 7.

Nationalsozialisten bereits im Mai 1933 gleichgeschaltet und in die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF), dem „Nationalsozialistischen Einheitsverband der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“, eingegliedert wird. Interessanterweise wird sogar das Layout des Einfa Nachrichtenblatts, das sich bis dahin eher herablassend über die nationalsozialistische Bewegung geäußert hatte, sofort umgestellt: Statt der modernen Schrift und grafischen Elementen im Bauhausstil wird das Heft nun in Frakturschrift herausgegeben. Im ersten derartigen Heft werden gleich auf der Titelseite unmissverständliche Erläuterungen veröffentlicht: „Im Zusammenhang mit der nationalen Re­vo­lu­­ tion war es auch unbedingt erforderlich, die wirt­schaft­ lichen Betriebe gleichzuschalten. […] Gleich­schal­tung bedeutet, die ‚Parlamente‘ der Genossenschaften und Gesellschaften […] den Parlamenten der Länder und des Reiches anzupassen, um dadurch in der Lage zu sein, die nationalsozialistische Weltanschauung auch in den Baugenossenschaften und den gemeinnützigen Wohnungsunternehmungen in die Praxis umzusetzen.“67 Auch die Architektur der Gebäude verändert sich und das flache Dach, das als Zeichen moderner Architektur gewertet wurde, wird wieder vom Satteldach abgelöst. So erhalten die Wohnblöcke der 1936–1938 erbauten Erweiterung östlich der Fritz-Reuter-Allee ein „Deutsches Dach“68. Nach 1933 wird das Wirken der GEHAG auf das Gebiet des gesamten Reichs ausgeweitet und eine Konzentration auf Kleinwohnungen vorgenommen. Da der Linderung der Wohnungsnot von den Natio­ nalsozialisten jedoch nicht die oberste Priorität zugemessen und sie auch nicht als kriegswichtig eingeschätzt wird, geht die Anzahl der von der GEHAG erbauten Wohnungen Mitte der 1930er-Jahre deut67 Raedel, Joachim: Gleichschaltung der gemeinnützigen Wohnungsunternehmungen. In: Einfa Nachrichtenblatt, 1933, H. 5/7. 68 Schäche, a.a.O., 1999, S. 104.

Groß-Siedlung, Nachrichtenblatt der „Einfa“, 2. Folge, 5. Jg., Februar 1934; Quelle: GEHAG-Archiv / Deutsche Wohnen AG

Nach der Gleichschaltung der GEHAG 1933 durch die Nationalsozialisten wird nicht nur der Titel des ehemaligen Einfa Nachrichtenblattes geändert, sondern auch das äußere Erscheinungsbild, zum Beispiel durch Einsatz von Frakturschrift.

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nalsozialistischen Zielen. Ohne sie ist eine blei­ben­ de Gesundung des deutschen Volkes nicht möglich. Bei der Wichtigkeit des Arbeiterwohnstättenbaues hat die Deutsche Arbeitsfront sich darum nicht auf richtungsgebende Anregungen beschränken können. Nachdem von ihr die meist leistungsschwachen Gewerkschaftsunternehmen in sparsamer und kluger Verwaltung zu gesunden, dem Wohnungsbau nützlichen Gesellschaften geworden waren, hat sie […] gesunde, billige und schöne Arbeiterwohnstätten erstellen lassen.“71 Auch die enormen Leistungen der GEHAG vereinnahmen die Nationalsozialisten für sich: „Die Gehag […] ist die Spitzengesellschaft der Deutschen Arbeitsfront für Wohnungsbau und zugleich ihr Hauptsiedlungsunternehmen. Dieses zweitgrößte gemeinnützige Wohnungsunternehmen im Reich […] hat seit Ende 1924 […] bis Ende 1937 17 840 Wohnungen erstellt.“72

Nachkriegszeit und Gegenwart Das Hüsung, 17. Mai 1949; Foto: Karl Sedler / Landesarchiv Berlin, Nr. II 12538

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lich zurück. Sie wird mit mehreren anderen Wohnungsgesellschaften fusioniert und 1939 in „Gemeinnützige Heimstätten-Aktiengesellschaft der Deutschen Arbeitsfront“ umbenannt.69 1940 erfolgt die Fusion mit der Einfa, 1942–1943 wird die Bautätigkeit komplett eingestellt. Eine um 1938 erschienene Publikation70 zeigt, dass die Nationalsozialisten die Übernahme der GEHAG und der Einfa ohne zu zögern durchführen. Ernst von Stuckrad, ab 1933 Vorstandsvorsitzender der DAF und Leiter der GEHAG, schreibt: „Die Schaffung ausreichend großen, gesunden und angemessenen billigen Wohnraumes für den deutschen Arbeiter gehört zu den vornehmsten natio­ 69 Ausführlich in: Schäche, a.a.O., 1999, S. 101. 70 Die Wohnungs-Unternehmen der Deutschen Arbeitsfront erbauten 71 941 Wohnungen. Broschüre o. D., um 1938.

Nach dem Krieg hat es die GEHAG, die zu diesem Zeitpunkt 24 224 Wohneinheiten verwaltet, zunächst schwer, denn der Magistrat von Berlin stuft sie 1945 als nationalsozialistisches Unternehmen ein und stellt sie unter Treuhandverwaltung 73. 1949 führen die Verwaltungen in den sowjetischen Sektoren die Übergabe der Wohnungen in das „Eigentum des Volkes“ durch. In den anderen Sektoren können die Alliierten in zähen Verhandlungen davon überzeugt werden, dass die GEHAG von den Nationalsozialisten zwangsweise übernommen worden war und so wird es möglich, dass die GEHAG unter Beteiligung des Landes Berlin neu beginnen darf. 1954 zählt die Verwaltung bereits 430 Mitarbeiter.74 Als 71 72 73 74

Ebd. Ebd. Schäche, a.a.O., 1999, S. 123. Ebd., S. 128.


Nachkriegsbautätigkeit ist neben der 1954–1956 erfolgten Erweiterung der Hufeisensiedlung an der südwestlichen Siedlungsecke unter anderem durch Max Taut, den Bruder von Bruno Taut, und dem bekannten Gartenarchitekten Walter Rossow75, noch der Bau der Gropiusstadt zu erwähnen. Seit 1986 steht die Hufeisensiedlung als Gesamtanlage unter Denkmalschutz, ab 2010 auch als eigenständiges Gartendenkmal. 2008 wird die Siedlung – gemeinsam mit fünf anderen Siedlungen der Berliner Moderne – zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Berlin, das die Aktienmehrheit an der GEHAG bis Ende der 1990er-Jahre hält, verkauft diese jedoch und bewirkt damit einen Bewohnerprotest. Von dem Verkauf aufgerüttelt, versucht sich eine engagierte Gruppe von Mietern für die Gründung einer Genossenschaft stark zu machen, doch das Vorhaben misslingt, denn die neuen Eigentümer der GEHAG verlangen Kaufpreise, die durch Mieten nicht mehr refinanzierbar sind. Nach mehrmaligem Eigentümerwechsel wird die GEHAG schließlich 2007 mit der „Deutsche Wohnen“, eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bank, zusammengeschlossen.

Aussicht Im Vergleich zu anderen Siedlungen aus derselben Zeit ist in der Hufeisensiedlung noch sehr viel Originalsubstanz erhalten. Der Grund dafür ist, dass es bis vor wenigen Jahren nur einen einzigen Eigentümer gab, der auf die Architektur achtete und Renovierungen einheitlich in Absprache mit den zuständigen Denkmalämtern durchführte. Seit 1999 werden die Reihenhäuser der Hufeisensiedlung jedoch einzeln verkauft. Für die Genehmigungsbehörden ist dies eine schwierige Angelegenheit, denn 75 Walter Rossow ist ab 1932 für die GEHAG tätig. Vgl. Lesser, Katrin: Hufeisensiedlung. Gartendenkmalpflegerische Gutachten im Auftrag des Landesdenkmalamts Berlin 2003 und 2010.

aus einem Ansprechpartner werden nun nach und nach mehrere Hundert. In einer Untersuchung erkannte man schon 1981: „Die Gefahr grundlegender Veränderungen ist in der Hufeisensiedlung vielleicht nicht so groß, da es sich hier ausschließlich um Mietwohnungen und -häuser handelt. Erfahrungsgemäß neigen Besitzer von Eigentumswohnungen, -häusern und -gärten viel eher dazu, ihre Häuser nach den neuesten Geboten von Technik und Mode auszustatten.“76 Vom aufmerksam durch die Siedlung laufenden Betrachter sind heute bereits zahlreiche Veränderungen zu erkennen. Unglücklicherweise werden neben baulichen Veränderungen auch immer mehr Vorgärten individuell umgestaltet, obwohl dies ausdrücklich nicht gestattet ist. In ihrer Summierung führen die Veränderungen zu einer Zerstörung des so wichtigen und von Bruno Taut und Martin Wagner immer wieder eindringlich geforderten einheitlichen Gesamtbildes der Hufeisensiedlung. So ist es für die Hufeisensiedlung besonders wichtig, dass jeder Bewohner mit der Geschichte, der Architektur und der Gartenarchitektur der Siedlung vertraut ist und seinen eigenen Beitrag zum einheitlichen Erhalt leistet. Nur wenn alle die Qualität erkennen, können die Besonderheiten geschützt und die Hufeisensiedlung als Perle der Architektur bewahrt werden.

76 Drescher, B.; Mohrmann, R.; Stern S.: Untersuchung des Gehölzbestandes der Hufeisen-Siedlung in Berlin-Britz. Berlin 1981, unveröffentlichtes Manuskript.

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Lebensl채ufe und Schicksale

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halt von Anna Drach in der Hufeisensiedlung zu gefährlich geworden ist, findet diese Unterschlupf bei Franziskas Bruder Karl, der in Schulzendorf im Kreis Teltow lebt. Franziska Abendroth wird nach dem Krieg Mitglied der SED. Dadurch verliert sie Anfang der 1950er-Jahre ihre Anerkennung und Versorgung als Opfer des Faschismus. Daraufhin wechselt sie ihren Wohnsitz und zieht von Britz nach Oberschöneweide im Ostteil der Stadt.

Abendroth, Franziska Grüner Weg 10 Geboren 8. August 1883 in Rixdorf Gestorben Unbekannt

Quelle Landesarchiv Berlin, C Rep. 118-01, Nr. 4.

Beruf / Tätigkeit Hausangestellte Organisation / politische Ausrichtung SPD 1926: Eintritt KPD, SED

Adrian, Heinz

Familienstand Verheiratet, ein Kind

Geboren 24. August 1908 in Gotha

Gielower Straße 47

Wohnort 1938 bis ca. 1950 Grüner Weg 10

Franziska Abendroth, Berlin, nach 1945;

Als die Jüdin Anna Drach in der „Fabrikaktion“ 1943 nur knapp der Gestapo und der Deportation entgeht, wird sie von ihrer Parteigenossin Franziska Abendroth versteckt. Diese ist als KPD-Mitglied bereits 1934 verhaftet und zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Gemeinsam mit anderen Helfern in der Siedlung gelingt es, Anna Drach das Leben zu retten. Die Tochter des Möbelpoliers Albrecht Braun besucht nach der Volksschule ein Jahr lang eine Haushaltsschule und arbeitet anschließend drei Jahre als Hausangestellte bei einem Arzt. Am 14. Juni 1902 heiratet sie den Buchdrucker Reinhold Abendroth, ihr Sohn kommt am 20. Dezember 1902 zur Welt. Franziska Abendroth findet Arbeit als Verkäuferin erst in einem Delikatessen-, dann in einem Milchgeschäft. Während des Ersten Weltkriegs ist sie als Kochfrau tätig. Von 1928 bis 1934 arbeitet sie als Putzfrau in der chemischen Fabrik Riedel-de Haën AG in Britz.

Bis 1926 ist Franziska Abendroth Mitglied der SPD und wechselt dann zur KPD. Am 4. Januar 1934 wird sie verhaftet. Bis zum 19. Februar 1934 ist sie im Polizeigefängnis Alexanderplatz inhaftiert, kommt anschließend zehn Wochen in das KZ Moringen und dann acht Wochen in Untersuchungshaft in den Gefängnissen Moabit und Barnimstraße. Am 7. Juli 1934 wird sie zu 1 ½ Jahren Zuchthaus verurteilt, die sie in Jauer in Schlesien verbüßt. Sie wird am 7. November 1935 der Staatspolizei in Berlin überstellt und eine Woche später entlassen. Ein Vierteljahr steht sie unter Polizeiaufsicht und muss sich zweimal wöchentlich auf dem Revier melden. Von 1938 bis Kriegsende arbeitet Franziska Abendroth als Putzfrau bei den Efha-Werken. Als der Jüdin Anna Drach die Deportation droht, nimmt Franziska Abendroth sie bei sich im Grünen Weg 10 auf. Sie versorgt sie gemeinsam mit ihrem Sohn Albrecht fast zwei Jahre lang mit Lebensmitteln. Nachdem der Aufent-

Quelle: Landesarchiv Berlin, C Rep. 118-01, Nr. 4.

Gestorben 21. August 1946 Beruf / Tätigkeit Bankkaufmann, Reichsgruppenfachanwalt Organisation / politische Ausrichtung Dezember 1930: Eintritt SS, Mitgliedsnr. 150 629 Januar 1933: Eintritt NSDAP, Mitgliedsnr. 410 549 Deutsche Arbeitsfront (DAF) Familienstand Zweimal verheiratet, ein Kind Wohnort 1938 bis 1945 Gielower Straße 47 Heinz Adrian verpflichtet sich bei der SS und steigt vom Banklehrling zum Reichsfachgruppenleiter auf. Er übernimmt 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs wichtige 243

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A

Aufgaben in Wien. Seine Frau bleibt in der Hufeisensiedlung zurück. Von den Dienstreisen schickt er ihr viele Briefe, in denen deutlich wird, wie stolz er auf seine schwarze SS-Uniform ist. Heinz Adrian kommt nach seinem Abitur 1927 aus Gotha nach Berlin und beginnt eine Lehre bei der Reichskreditgesellschaft Berlin, eines der größten Bankhäuser der Stadt. Bis zum Sommer 1934 arbeitet er dort als kaufmännischer Angestellter. Im Juli 1934 wird er Reichsgruppenfachanwalt bei der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und ist in der Reichsbetriebsgemeinschaft Banken und Versicherungen tätig. In der Auseinandersetzung über weitere Rationalisierungsmaßnahmen in der deutschen Banken- und Versicherungswirtschaft gehört Adrian zu den Vertretern aus den Reihen der NSDAP, die rigidere Organisationsprozesse in diesem Gewerbe befürworten. Seine Position führt Heinz Adrian im Sommer 1938 nach Wien, wo er für die Tarife der Angestellten im österreichischen Bankengewerbe zuständig ist, das im Zuge des Anschlusses Österreichs an Deutschland in die deutsche Wirtschaft eingegliedert wird. Von seinen Dienstreisen schickt er seiner Frau Irmgard in der Gielower Straße 47 immer wieder Briefe, geschrieben im Hotel Hubertushof in Wien. Am 24. Juni 1938 schreibt er: „Mein Liebling, kleines liebes Bankelkind! Zum Zeichen, dass ich hier gut gelandet bin, will ich Dir gleich schreiben. Es ist jetzt 10. Die Fahrt ist gut verlaufen. Der Schaffner gab mir gleich nach der Abfahrt ein anderes Bett, da ihm der Yankee auch nicht sympathisch war. So hatte ich einen vernünftigen Reisegefährten in Gestalt eines Pg. [Parteigenossen] aus Küstrin. Ich habe gut geschlafen von 22.30 bis 7.30 und zwar nur mit einer Unterbrechung um 5.30 durch die Zollkontrolle. Als der Beamte jedoch meinen SS-Ausweis sah, nahm er stramme Haltung an und wünschte weiter ,gute Reise’. […] Jetzt werde ich mich in die schwarze Uniform werfen, die mir der Hausdiener eben gebracht hat. Sie haben alles gut aufgehoben und auch gebürstet. Auch die Langschäfte sind gewichst. Wie geht es Dir? War der Film nett? Hast Du gut geschlafen? Ich will jeden Abend zum Herrgott beten, dass er das Kind und Dich, mein Lieb, gesund erhält. Und wenn Du dann am Sonntag zu unserem kleinen 244 Liebling kommst, dann grüße es tausendmal vom

Quellen Berliner Adressbücher 1928–1943. Berlin 1896–1943. Landesarchiv Berlin, A Rep. 244-03, Nr. 995. Weihe, Thomas: Die Personalpolitik der Filialgroßbanken 1919–1945. Stuttgart 2006.

Alfken, Hans Miningstraße 34

Heinz Adrian schreibt von seinen Dienstreisen aus Wien Briefe an seine Frau in der Hufeisensiedlung, 1938;

Geboren 3. Mai 1899 in Bremen

Quelle: Landesarchiv Berlin, A Rep. 244-03, Nr. 995.

Gestorben 2. Januar 1994

Papa und sage ihm, dass er sehr traurig ist, nicht zu ihm kommen zu können. Freue Dich an seiner Munterkeit, lache mit ihm und schreibe mir dann ausführlich, ja? So, das erste Lebenszeichen wird sich jetzt in Bewegung setzen, wenn es doch heute Abend schon bei Dir sein könnte! Mein Kleines, in Gedanken küsse ich Dich tausendmal und bitte Dich, sei stark, wenn ich so oft weg bin. Wir sind es alle dem Führer schuldig, dass wir uns nicht unterkriegen lassen. Ich schreibe bald wieder und bin bis dahin mit herzlichsten Grüßen […] Dein Dich innig liebender Heinz“1 Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Ehe mit Irmgard geschieden und Heinz Adrian ein zweites Mal verheiratet. Im Mai 1945 findet in der Gielower Straße 47 eine Hausdurchsuchung statt, bei der nationalsozialistische Literatur, Ausrüstungsgegenstände für SA und SS wie einen Gummiknüppel, diverse Fotografien von Adolf Hitler und Heinrich Himmler, eine HitlerBüste und Munition beschlagnahmt werden. Am 21. August 1946 verunglückt Heinz Adrian auf einer Fahrt nach Landsberg am Lech tödlich.

Beruf / Tätigkeit Lehrer, Studienrat, Ministerialdirigent im Kultusministerium Niedersachsen 1946 bis 1965

1

Landesarchiv Berlin, A Rep. 244-03, Nr. 995.

Organisation / politische Ausrichtung: 1927: Eintritt KPD, Bürgerdeputierter 1946: Eintritt SPD Familienstand Verheiratet, zwei Kinder Wohnort 1928 bis 1934 Miningstraße 34 Der Lehrer Hans Alfken macht sich jeden Morgen von der Miningstraße 34 auf den knapp fünf Kilometer langen Weg in die Kaiser-Friedrich-Straße (heute Sonnenallee). Dort unterrichtet er ab 1926 Deutsch und Englisch an einer Neuköllner Reformschule, der heutigen Ernst-Abbe-Schule. Der 22. Februar 1933 verändert sein Leben schlagartig. Hans Alfken ist in der Jugendbewegung „Wandervogel“ groß geworden. 1917 meldet er sich freiwillig an die Front. Nach dem Krieg holt er sein Abitur in einem Kurs für Kriegsteilnehmer nach, studiert und legt


1940 aus der Haft entlassen, wird Alfken zum Militärdienst einberufen. Bei Kriegsende 1945 kehrt er nach Norddeutschland zurück. 1946 tritt er in die SPD ein und wird im Herbst desselben Jahres als Referent ins Niedersächsische Kultusministerium nach Hannover berufen. Dort wird ihm 1947 die Leitung einer neuen Abteilung für Jugendpflege/-fürsorge, Erwachsenenbildung, Büchereiwesen und Sport übertragen. In den folgenden Jahren ist er als Ministerialdirigent mit Fragen der Völkerverständigung, Erwachsenenbildung sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie befasst. Am 2. Januar 1994 stirbt Hans Alfken in Hannover.

A

Quellen Berliner Adressbücher 1928-1943. Berlin 1896–1943.

Studienrat Hans Alfken (Mitte) mit der Klasse U II c auf einer Wanderung nach Tiefensee, 1930; Foto: Museum Neukölln

sein Staatsexamen ab. Politische Orientierung findet er im Haus des vielseitig begabten Künstlers Heinrich Vogeler, den er in dessen Landkommune „Barkenhoff“ im norddeutschen Worpswede kennenlernt. Die Ideen einer grundlegenden gesellschaftlichen Erneuerung und die Heterogenität der im „Barkenhoff“ lebenden Menschen prägen ihn nachhaltig. Als jüngster Teilnehmer der Reichsschulkonferenz 1920 tritt der junge Pädagoge vor das Lehrerplenum, übt Kritik an den Bildungsorganisationen und stellt einen Gegenentwurf vor. Seine Vorstellungen von einer Schule, die im Geist der Jugendbewegung gestaltet ist, gehen jedoch in Gelächter und Entrüstung unter. Der sozialdemokratische Schulreformer Fritz Karsen ruft Hans Alfken 1926 an das Kaiser-Friedrich-Real­ gymnasium nach Neukölln, das er zu einer weltlichen Gesamtschule ausgebaut hat und später, zum Schuljahr 1929/30, in Karl-Marx-Schule umbenennt. Alfken zieht 1928 mit seiner Familie in die Hufeisensiedlung, wo er Heinrich Vogeler wiedertrifft. Gemeinsam geben sie eine Stadtteilzeitung heraus. Als mit Beginn der 1930er-Jahre die innenpolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland eskalieren,

gerät auch die Reformschule – inzwischen weit über Berlins Grenzen hinaus bekannt – ins Visier konservativer und nationalsozialistischer Kräfte. Am 22. Februar 1933 wird Schuldirektor Fritz Karsen abgesetzt, das Lehrerkollegium in den folgenden Monaten entlassen oder versetzt. Die Schule wird zu Beginn des folgenden Schuljahrs in Kaiser-Friedrich-Realgymnasium rückbenannt. In der Aula hängt nun die Hakenkreuzfahne. Die NS-Ideologie wird in der Folgezeit durch Dr. Kurt Schwedtke – als ehemaliger Soldat der GardeschützenDivision an der Niederschlagung des Spartakusaufstandes 1919 beteiligt – besonders konsequent umgesetzt. Hans Alfken, ab 1927 Mitglied der 1933 illegalisierten Kommunistischen Partei, steht nun unter Aufsicht der Staatspolizei. Trotzdem leistet er illegal Parteiarbeit und findet, nach längerer Zeit ohne Arbeit, Anstellung als Buchhalter in verschiedenen Unternehmen. Die Familie verlässt 1934 das Haus in der Miningstraße und taucht in einem anderen Bezirk unter. Im Oktober 1938 wird Alfken verhaftet und zu einer fünfzehnmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er zum Teil in einem Arbeitslager verbüßt.

Radde, Gerd; Korthaase, Werner; Rogler, Rudolf; Gößwald, Udo (Hg.): Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln 1912 bis 1945. Bd. I, Bezirksamt Neukölln, Abt. Volksbildung, Kulturamt / Heimatmuseum Neukölln, Berlin 1993. Radde, Gerd; Korthaase, Werner; Rogler, Rudolf; Gößwald, Udo (Hg.): Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln 1945 bis 1972. Bd. II, Bezirksamt Neukölln, Abt. Volksbildung, Kulturamt / Heimatmuseum Neukölln, Berlin 1993. Radde, Gerd: Der Schulreformer Fritz Karsen. In: Bildung und Erziehung, Heft 6/1963, S. 453–456.

In der Aula des Kaiser-Friedrich-Realgymnasium, ehemals die weltliche Karl-Marx-Schule, hängt vom Pult eine Hakenkreuzfahne, 1936; Foto: Museum Neukölln

245


B

Arbeiter, Max

Bahr, Curt

Paster-Behrens-Straße 21

Paster-Behrens-Straße 75

Geboren 25. März 1890 in Sagan (heute: Żagań, Polen)

Geboren 12. September 1898 in Calau Gestorben Unbekannt

Gestorben Unbekannt

Beruf / Tätigkeit Kaufmännischer Angestellter im Deutschen Nachrichtenbüro

Beruf / Tätigkeit Dentist Organisation / politische Ausrichtung 15. Mai 1925: Eintritt NSDAP, Mitgliedsnr. 6 047 Reichsgauredner 1933: Eintritt SA, Obersturmbannführer 1933: Eintritt Reichsluftschutzbund 1. März 1934: Eintritt NS-Volkswohlfahrt Träger des Blutordens Familienstand Verheiratet mit Margarete Arbeiter, geb. Langer, ab 1939 Mitglied im NSFrauenwerk Wohnort 1939 bis 1945 Paster-Behrens- Straße 21 (hieß bis 1933 MosesLöwenthal-Straße) Max Arbeiter tritt schon 1925 der NSDAP und 1933 der SA bei. Er profitiert von seiner langen Parteimitgliedschaft und bekommt eine lettische Zwangsarbeiterin für den Haushalt zugewiesen. Als Max Arbeiter und seine Frau diese in der Öffentlichkeit misshandeln, kommt es zur Anzeige. Doch da er Träger des Blutordens ist, wird die Anklage abgelehnt. In einem Vermerk des Bezirksamts Neukölln vom 246 19. März 1946 heißt es dazu:

Max Arbeiter, o. J.; Foto: Landesarchiv Berlin, B Rep. 214, Nr. 589, Karton 100

„Max Arbeiter ist der berüchtigte Sturmbannführer und Reichsgauredner. Das über ihn gefundene Material wurde im Juni 1945 dem Antifa-Block Am Hüsung in Britz zugestellt […]. Die eigenen Parteigenossen hatten mehrere Male gegen Arbeiter Anzeige erhoben, als dieser […] in Gemeinschaft mit seiner Frau ein lettisches Mädchen im Garten auspeitschte. Dieses Mädchen, etwa 20 Jahre alt, war ihrem Haushalt zugewiesen und wie die Nachbarn der Häuser 18 und 23 in der Paster-BehrensStraße bekunden, haben sie sich bei solchen Misshandlungen darüber empört […]. Die Anklage wurde nicht angenommen, weil Arbeiter Blutordensträger war.“2 Max Arbeiter ist ab April 1945 flüchtig. Quellen Berliner Adressbücher 1928–1943. Berlin 1896–1943. Landesarchiv Berlin, B Rep. 214, Nr. 589, Karton 100.

2

Landesarchiv Berlin, B Rep. 214, Nr. 589, Karton 100.

Organisation / politische Ausrichtung 1920: Eintritt Stahlhelm Juli 1923: Eintritt NSDAP in München 21. Mai 1927: Eintritt NSDAP in Berlin, Mitgliedsnr. 62 271 1926: Eintritt SA Obersturmführer, Sturm 26 in Kreuzberg 1927: Teilnahme am NSDAP-Parteitag in Nürnberg 1929: Teilnahme am NSDAP-Parteitag in Nürnberg (Marschstandarte) 1931: Teilnahme am NSDAP-Aufmarsch in Braunschweig Träger des Goldenes Parteiabzeichens Familienstand Verheiratet Wohnort 1934 bis 1936 Paster-Behrens-Straße 75 (hieß bis 1933 Moses-LöwenthalStraße) Gleich zweimal tritt Curt Bahr der NSDAP bei, sowohl in München als auch in Berlin. Außerdem wird er 1926 Mitglied in der SA. Doch dem langjährigen NSDAPParteimitglied und Träger des Goldenen Parteiabzeichens fällt es offenbar schwer, beruflich Karriere zu machen, über die er ganz eigene Vorstellungen hat.



Chronik 1918–1945

383


Deutsches Reich

Berlin

Neukölln

Britz

384

1918–23

1924/25

09.11.18 Kaiser Wilhelm II. dankt ab. Ausrufung der Republik. Friedrich Ebert (SPD) wird Reichskanzler. 11.11.18 Das Deutsche Reich kapituliert, Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags zwischen den Alliierten und Deutschland. 11.02.19 Die Nationalversammlung wählt Friedrich Ebert zum ersten deutschen Reichspräsidenten. 28.06.19 Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles. 14.08.19 Verkündung der Weimarer Reichsverfassung. 24.02.20 Verkündung des 25-Punkte-Parteiprogramms der NSDAP, das antiliberal, antikapitalistisch, kolonialistisch und antisemitisch geprägt ist. 17.03.20 Der Kapp-Putsch scheitert nach nur fünf Tagen. 29.01.21 Abschluss der Pariser Reparationskonferenz, Festlegung der Höhe deutscher Reparationen. 29.07.21 Adolf Hitler wird Parteivorsitzender der NSDAP mit umfangreichen Vollmachten. 15.11.22 Verbot der NSDAP in Preußen aufgrund ihrer Verfassungsfeindlichkeit. 11.01.23 Besetzung des Ruhrgebiets durch belgische und französische Truppen. Einsetzen der Hyperinflation. 09.11.23 Der Hitler-Putsch („Marsch auf die Feldherrnhalle“) in München scheitert, die NSDAP wird reichsweit verboten. 15.11.23 Die Rentenmark beendet die Inflation in Deutschland.

22.02.24 Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold durch demokratische Parteien und Gewerkschaften in Magdeburg. 90 Prozent der republikanischen Schutztruppe sind SPD-Mitglieder, nach einem Jahr hat es bereits drei Millionen Mitglieder. 04.05.24 Reichstagswahlen mit Erfolgen für KPD und Rechts­extreme. 1925 Adolf Hitlers „Mein Kampf“, Band 1, erscheint. 1925 Gründung der SS (persönliche „Schutzstaffel“ Adolf Hitlers). 07.01.25 Das preußische NSDAP-Verbot wird aufgehoben. 28.02.25 Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert.

05.–13.01.19 Spartakusaufstand in Berlin. 15.01.19 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Mitgründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), werden in Berlin ermordet. 27.04.20 Gründung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin. 20.01.21 Gustav Böß (DDP) wird Berliner Regierender Bürgermeister. 24.06.22 Außenminister Walther Rathenau wird in Berlin ermordet. Der Neuköllner Stadtverordnetenvorsteher Alfred Scholz (SPD) wird zum Neuköllner Bürgermeister gewählt. 01.10.20 Vereinigung von Groß-Berlin. Neukölln verliert seine Selbstständigkeit und wird mit Britz, Buckow und Rudow zum 14. Berliner Verwaltungsbezirk. 14.02.21 Wahl des ersten Neuköllner Bezirksamtes, das am 7. April die Verwaltung übernimmt. 04.04.21 Alfred Scholz (SPD) wird zum ersten Neuköllner Bezirksbürgermeister gewählt. 21.11.19

14.04.24 Gründung der Gemeinnützigen Heimstätten-, Spar- und Bau-AG (GEHAG) in Berlin mit einem Gründungskapital von 50 000 RM, erster Geschäftsführer wird Richard Linneke. 09.05.24 Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaus (DeGeWo) in Berlin mit einem Gründungskapital von 50 000 RM. Aufsichtsrats­ vorsitzender wird Baurat Fritz Beuster. 21.05.25 1. Reichstreffen des Rotfrontkämpferbundes (RFB) der KPD in Berlin. 25.05.25 Gründung der GEHAG-Tochter Berliner Gesellschaft zur Förderung des Einfamilienhauses(Einfa) in Berlin. 30.06.25 Kommunistischer Überfall auf Reichsbannerversammlung in Kliems Festsälen mit mehreren Verletzten. Die Polizei verhaftet drei Kommunisten. 18.12.24 Der Berliner Magistrat erwirbt das Rittergut Britz für ca. 5,5 Mio. RM. 01.02.25 Erster Bebauungsplan für die Großsiedlung Britz von der Holzmann AG. 21.04.25 Erster Bebauungsplan für die Großsiedlung Britz der Architekten Mebes und Emmerich, der die Hufeisenform vorwegnimmt. 18.06.25 Die Stadt Berlin verkauft 41 Hektar Siedlungsland in Britz an Einfa und DeGeWo. Juli 1925 Genehmigung der Bauprojekte von DeGeWo und GEHAG in Britz. August 1925 Baubeginn der Krugpfuhlsiedlung. Oktober 1925 Baubeginn der Hufeisensiedlung.


1926/27 ­

Mai 1926 Gründung des Jungbanners als Jugendorganisation des Reichsbanners, das 1928 schon 700 000 Mitglieder hat. Juli 1926 Gründung der Hitlerjugend (HJ) als Jugend­ organisation der NSDAP. 28.10.26 Martin Wagner wird zum Berliner Baustadtrat gewählt. 01.11.26 Joseph Goebbels wird zum Leiter des neuen NSDAP-Gaus Berlin-Brandenburg und der regionalen SA und SS-Gruppen ernannt, am 7. November trifft er in Berlin ein. 05.05.27 Verbot der NSDAP und sämtlicher Unterabteilungen in Berlin-Brandenburg nach Auschreitungen im Anschluss einer Versammlung. 6-monatiges Redeverbot für Joseph Goebbels. 08.11.27 Erste Goebbels-Rede in Berlin nach Ende des Redeverbots im Neuköllner Orpheum, weitere Reden in Neukölln am 9., 10. und 30. Dezember 1927. April 26 Erste Ortsgruppentreffen im NSDAP-Bezirk 14 Neukölln im Lokal Kock. 14.11.26 Joseph Goebbels startet seinen Kampf um die Straße mit einem SA-Aufmarsch in Neukölln. Die SA bezieht zwar Prügel durch organisierte Arbeiter, erreicht jedoch große öffentliche Aufmerksamkeit. 01.05.27 Maifeiern im Lustgarten mit 700 000 Teilnehmern, Fest in der Neuen Welt in der Hasenheide und SPD-Umzug in Britz mit Kundgebung am Stubenrauchring (heute: Blaschkoallee).

1928 1928 31.03. 28.06.

20.05.

1928

April

04.05.

15.05.

09.11.

10.02.26 Richtfest der GEHAG-Siedlung Britz mit Festessen im Berliner Gewerkschaftshaus, an dem 700 Bauarbeiter und Gewerkschaftsvertreter teilnehmen. August 1926 1. Bauabschnitt der Hufeisensiedlung ist bezugsfertig. Mai/Juni 1927 Erste Wahlen von Vertrauensleuten für den Bewohnerausschuss der GEHAG-Siedlung. 01.06.27 2. Bauabschnitt der Hufeisensiedlung ist bezugsfertig. September 1927 Die Krugpfuhlsiedlung ist bezugsfertig.

April

19.08.

Beginn der Weltwirtschaftskrise mit 1,9 Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Auflösung des Reichstags nach Auseinanderbrechen der Regierung von Wilhelm Marx (Zentrum). Hermann Müller (SPD) bildet die neue Regierung und wird Reichskanzler. Reichstags- und Landtagswahlen mit Erfolgen der Linksparteien (in Neukölln 70 Prozent) und Verlusten der Bürgerlichen; die NSDAP erringt nur 2,6 Prozent der Stimmen, in Berlin 1,6 Prozent, in Neukölln 1,2 Prozent. In der Großsiedlung Britz erreicht die SPD über 50 Prozent der Stimmen vor DNVP, KPD, DDP, DVP und NSDAP. Erstes Neuköllner SA-Sturmlokal im Neuköllner Schützenhaus an der Ecke Naumburger- und Lahnstraße. Neuorganisation des NSDAP-Gaus Berlin-Brandenburg. Die Neuköllner Sektion wird mit zwei Unterstraßenzellen und zwölf Straßenzellen wieder aktiv, die Leitung übernimmt Walter Schuhmann. SPD-Wählerversammlung in der Neuen Welt, Redner sind unter anderen der Neuköllner Stadtrat für Volksbildungswesen Kurt Löwenstein und das Mitglied des Reichstags Siegfried Aufhäuser. Prügelei zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten auf dem Hermannplatz, die von der Polizei aufgelöst wird. Totengedenkfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges mit Joseph Goebbels in der Neuen Welt in der Hasenheide mit anschließendem Marsch der Berliner SA zum Hermannplatz. SPD-Feiern zum 10. Jahrestag der Revolution im Sportpalast und im Saalbau Neukölln in der Bergstraße (heute: Karl-Marx-Straße). Journalisten-Rundfahrt der GEHAG. Martin Wagner, Bruno Taut und Franz Gutschmidt präsentieren das Hufeisen als architektonisches Aushängeschild des Neuen Bauens. Großes Kinderfest in der Hufeisensiedlung. Kritik kommt vom Siedlerverein am Buschkrug und Britzer Bürgerverein wegen angeblicher politischer Aufladung.

Deutsches Reich

Berlin

Neukölln

Britz

385


1929 Deutsches Reich

28.02. 10.05.

25.10.

Berlin

25.03. 04.04.

20.05. 21.06. 12.08. 06.09.

22.09.

Britz

März

20.06.

386

Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland erreicht 3,2 Millionen. Verbot des Rotfrontkämpferbundes im gesamten Reichsgebiet auf Vorschlag des preußischen Innenministers. „Schwarzer Freitag“ an der Wall Street, Zusammenbruch der New Yorker Börse mit weltweiten Folgen.

01.–03.05. Berliner „Blutmai“: Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und der Polizei mit 33 Toten und über 200 Verletzten in Neukölln und Wedding. 17.11. Berliner Kommunalwahlen mit Verlusten für die SPD, Gewinne für KPD und NSDAP (5,8 Prozent in Berlin, 4 Prozent in Neukölln), in der Großsiedlung Britz erreicht die SPD wieder über 50 Prozent der Stimmen. Die NSDAP zieht mit 13 Mandaten in die Berliner Stadtverordnetenversammlung ein. Dezember Die Berliner NSDAP hat ca. 5 000 Mitglieder. 18.03.

Neukölln

1930

08.09.

Märzfeiern der Reichsbanner-Kameradschaft Britz im Buschkrug. Erwerbslosenunruhen vor Neuköllner Arbeitsämtern. Internationale Kundgebung der Sozialistischen Arbeiterjugend in der Neuen Welt mit 4 000 Jugendlichen. Aufruf zur Gründung der NSDAP-Sektion Britz. Eröffnung des Karstadt-Warenhauses am Hermannplatz. Einweihung der Britzer Schulbaracken. NSDAP-Veranstaltung in der Neuen Welt mit Joseph Goebbels als Hauptredner; gleichzeitig finden antifaschistische Demonstrationen am Wasserturm und auf dem Reuterplatz statt. Marsch von drei SA-Standarten durch Neukölln, die Polizei verhindert Marsch ins „Barrikadenviertel“ am Rollberg, es gibt keine Zusammenstöße mit den 2 000 Gegendemonstranten. Die GEHAG erwirbt weitere Teile des ehemaligen Ritterguts Britz für die Erweiterungsbauten der Siedlung. Besuch des Wiener Oberbürgermeisters Seitz in der Hufeisensiedlung. Franz Gutschmidt, Vorstandsvorsitzender der GEHAG, führt die Delegation durch die Siedlung. Erstes „Fest der Arbeit“ in der Hufeisensiedlung als SPD- und Gewerkschaftsfeier, Auftakt zum Kommunal­wahlkampf im November 1929.

Januar 01.12.

Über 3 Millionen Arbeitslose, über 1 Million Kurzarbeiter. Notverordnung der Brüning-Regierung kürzt massiv die Hauszinssteuermittel für den sozialen Wohnungsbau, was Proteste der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften hervorruft.

30.06.

Generalmitgliederversammlung der Berliner NSDAP im Sportpalast, auf der Joseph Goebbels mit dem „linken“ Flügel um Gregor Strasser abrechnet und eine Parteisäuberung ankündigt. Reichstagswahlen mit Verlusten für SPD und Bürgerliche, Gewinne für die NSDAP (18,3 Prozent, in Berlin 14,6 Prozent, in Neukölln 11,1 Prozent) und KPD (13,1 Prozent, in Berlin 27,3 Prozent, in Neukölln 34,9 Prozent). Wahlkampfthema waren u. a. die Hauszinssteuer und der Wohnungsbau.

14.09.

Öffentlicher Sprechabend der NSDAP-Sektion Britz. Johann von Leers spricht zum Thema „Ideengehalt und Vorläufer des Nationalsozialismus“. 20.02. Erwerbslosenkrawall, bei dem Kommunisten Mitglieder des Reichsbanners vor dem Neuköllner Arbeitsamt verprügeln; der Gerichtsprozess beginnt am 20. Juni 1930. 31.03. Veranstaltung der Neuköllner SPD-Frauen im Lokal „Kuhki“ in der Leinestraße. Elfriede Ryneck spricht über „Die Frau und das Parlament“. 01.04. Treffen der Britzer SPD-Frauen im Jugendheim in der Chaussestraße 48 (heute: Britzer Damm) zum Thema „Grundsätze der Sozialdemokratie“. 01.04. Im Schuljahr 1930 / 1931 steht die Rütli-Schule im Zentrum des Schulkampfs. Schüler und Eltern wehren sich gegen materielle Verschlechterungen im Schulalltag. 01.05. Maidemonstrationen von SPD und KPD im Berliner Lustgarten mit 150 000 Teilnehmern; SPD-Feiern in der Hasenheide ohne größere Zwischenfälle. 12.05. Massenversammlung zur Feier der Sozialistischen Arbeiterinternationale in der Neuen Welt. Der Neuköllner SPD-Vorsitzende Franz Künstler begrüßt Redner aus zehn europäischen Ländern. 22.06. Britzer Rosenfest mit Blumenkorso. Dezember Marsch von SA und Hitlerjugend durch Neukölln. Polizeischutz verhindert Zusammenstöße mit kommunistischer Gegendemonstration. 06.02.

07.09.

Zweites „Fest der Arbeit“ in der Hufeisensiedlung, das Festredner Artur Crispien (SPD) zur Wahlkampfpropaganda nutzt.


1931 ­

1932

Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland steigt auf fast fünf Millionen. Oktober Gründung der NS-Frauenschaft (NSF). 15.03.

Der parteilose Deutschnationale Heinrich Sahm wird Regierender Bürgermeister von Berlin. 12.09. Antisemitische Auschreitungen von ca. 500 SA-Männern auf Synagogenbesucher am Kurfürstendamm. Ende 31 Die SA unterhält bereits 107 Sturmlokale, 42 Heime und 56 Küchen in Berlin, häufig sind hierbei kommunistische Lokale übernommen worden. 14.04.

Reichskanzlerwahlen als Auftakt zum Wahljahr 1932: Adolf Hitler unterliegt Paul von Hindenburg, holt aber 30,1 Prozent der Stimmen (Neukölln 19 Prozent, dagegen erhält Ernst Thälmann von der KPD 31 Prozent der Stimmen in Neukölln). 30.05. Heinrich Brüning tritt zurück, Franz von Papen wird Reichskanzler. Sommer Über sechs Millionen Arbeitslose (30,1 Prozent) in Deutschland. 20.07. Franz von Papens „Preußenschlag“: Der Reichskanzler setzt die sozialdemokratisch geführte Regierung ab, die SPD verliert damit die Kontrolle über die preußische Polizei, über Berlin wird der Ausnahmezustand verhängt. 03.12. Franz von Papen tritt zurück, Nachfolger ist Kurt von Schleicher, der vergeblich einen Ausgleich zwischen SPD, Gewerkschaften und NSDAP sucht. 31.03.

Reichstagswahlen: Die NSDAP wird stärkste Fraktion (37,3 Prozent, in Berlin 28,7 Prozent, in Neukölln 24 Prozent), die KPD gewinnt auf Kosten der SPD. 03./04.09. Aufmarsch des Stahlhelms, eines paramilitärischen Wehrverbandes, im Sportpalast und auf dem Tempelhofer Feld mit 150 000 Teilnehmern. 02.11. Hitler-Rede im Berliner Sportpalast vor 40 000 Zuhörern. 06.11. Reichstagswahlen, bei denen die NSDAP auf 33,1 Prozent zurückfällt (in Berlin 26 Prozent, in Neukölln 22,2 Prozent); in Neukölln überholt die KPD mit 39,3 Prozent die SPD mit 26,2 Prozent. 31.07.

KPD-Kundgebungen zum 60. Jahrestag der Pariser Kommune und „gegen die faschistischen Meuchelmorde“ unter anderem in Kliem‘s Festsälen. KPD-Mieterkundgebung in Raddatz‘ Festsälen in Britz mit MdR Georg Schumann als Redner. 17.07. Überfall auf Flugblätter verteilende Nationalsozialisten in Britz, die Polizei nimmt sieben Kommunisten fest. 13.07. Kommunisten überfallen Nationalsozialisten in der Hermannstraße, die von Versammlungen im Orpheum und Kliem‘s Festsälen kommen; die Polizei schreitet ein und erschießt einen Kommunisten. 26.09. Einweihung des SA-Sturmlokals in der Mietskaserne „Richardsburg“ in der Richardstraße, der Wirt Heinrich Böwe ist kurz zuvor der NSDAP beigetreten. 01.10. Mieterstreik gegen das SA-Sturmlokal in der „Richardsburg“. Oktober Gründung der NSDAP-Sektion Richardplatz. Saalschlacht zwischen fünf SA-Stürmen und Kommunisten in Raddatz‘ Festsälen mit vielen Verletzten und einem Todesopfer. 15.10. Eskalation in der „Richardsburg“, bei der SA-Wirt Böwe erschossen wird. 04.11. Nationalsozialistische Massenversammlung in der Neuen Welt. 18.03.

12.07.

„Fest der Arbeit“ in der Britzer Idealsiedlung, im Akazienwäldchen und im Hufeisen, Festredner ist der SPD-Vorsitzende Hans Vogel.

12./13.03. Schießerei zwischen Britzer Kommunisten und Polizei bei nächtlicher Kontrolle in der Rudower Straße (heute: Buschkrugallee) nach Stiftungsfest der Schalmeienkapelle „Britz“. 18.05. Baubeginn der Neuland-Siedlung Britz. Bezug der von Erwerbslosen in Gemeinschaftsarbeit errichteten Wohnungen ab 2. Oktober 1932. 23.06. Unruhen im Neuköllner „Barrikadenviertel“ am Rollberg, bei denen Rotfrontkämpfer Polizei und Nationalsozialisten attackieren. 28.07. Massenwahlkundgebung der KPD im Neuköllner Stadion. Die Redner sind Ernst Thälmann, Walter Ulbricht und andere. 06.08. Bombenanschlag der Nationalsozialisten auf das Reichsbanner-Heim in Britz. August Gründung einer HJ-Schar in Britz. 02.09. Kabarettabend im Restaurant Buschkrug zur Werbung für die Erwerbslosenküche in der Britzer Siedlung, die von der Einfa und Bewohnern betrieben wird. 27.09. Schießerei zwischen Reichsbanner und SA in Britz. 01.10. „Deutsches Fest“ der NSDAP-Ortsgruppe Britz, die Ansprache hält Alf Krüger, der spätere Einfa-Vorsitzende. 25.07.

05.09.

Polizei-Razzia im Reichsbanner-Heim in Britz und in der Wohnung von Franz Gutschmidt, dem GEHAG-Vorsitzenden, und weiteren SPD-Mitgliedern. Siedlungsgenossen solidarisieren sich durch Flaggen von Fahnen der Republik und Eisernen Front. Eröffnung der Erwerbslosenküche in der Liningstraße 76.

Deutsches Reich

Berlin

Neukölln

Britz

387


1933 Deutsches Reich

30.01. 17.02.

28.02. März 20.03.

Berlin

30.01.

04.02.

Neukölln

15.01. 30.01. 02.02.

22.02.

Britz

388

28.02. 06.04.

Reichspräsident Paul von Hindenburg ernennt Adolf Hitler zum Reichskanzler. Hermann Görings Schießbefehl an die preußische Polizei bedeutet Straffreiheit bei Waffengebrauch gegen „Staatsfeinde“. Letzte Ausgabe des sozialdemokratischen Vorwärts. Einrichtung des ersten Konzentrationslagers im Gefängnis Brandenburg-Görden. Heinrich Himmler gibt die Errichtung des Konzentrationslagers Dachau bekannt. In ganz Deutschland werden weitere Konzentrationslager eingerichtet.

23.03.

Fackelzug der SA durch das Brandenburger Tor. Bereits in der Nacht zum 31. Januar beginnt die Verfolgung von politischen Gegnern. Auf dem Berliner Rathaus wird die Hakenkreuzfahne gehisst, wogegen Martin Wagner beim Oberbürgermeister protestiert. Notverordnung „Zum Schutz des deutschen Volkes“ erweitert die Möglichkeiten zum Eingriff in Presseund Versammlungsfreiheit sowie Inhaftierungen ohne Gerichtsbeschluss. Auflösung aller Berliner Bezirksvertretungen, Neuwahlen sind für den 12. März angekündigt.

07.02.

Generalappell der SA-Untergruppe Berlin-Ost im Stadion Neukölln mit 10 000 Teilnehmern. Neuköllner Kommunisten organisieren eine letzte antifaschistische Gegendemonstration. SA-Trupp erschießt den Jungkommunisten Erwin Berner vor dem Reichsbanner-Lokal Ecke Fulda- und Weserstraße. Trauerzüge und Protestversammlungen werden in den nächsten Tagen von der Polizei gewaltsam aufgelöst. 300 SA-Leute sprengen eine SPD-Veranstaltung in der Britzer Chausseestraße (heute: Britzer Damm) und verprügeln Teilnehmer vor den Augen der Polizei. Entlassung von Schuldirektor Fritz Karsen und einem Teil des Lehrerkollegiums der Karl-Marx-Schule. Ein Teil der Lehrer wird in andere Bezirke strafversetzt. Vortrag des Gauleiters der NS-Betriebszellenorganisation (NSBO) Alfred Spangenberg über „Kommunalpolitik und Wahlen“ in der Monatsversammlung des Britzer Bürgervereins.

22.02.

Verhaftung Erich Mühsams. Baubeginn der Neuland-Siedlung Britz II. Bezug der im Januar vergebenen Wohnungen vorwiegend an Erwerbslose ab Ende Oktober 1932.

Mai

31.03. 01.04.

26.02.

27.02.

27.02. März 04.03.

05.03.

25.07.

Durch das „Ermächtigungsgesetz“ wird die Gewaltenteilung abgeschafft, die KPD illegalisiert. Die Regierung kann nun Gesetze auch mit verfassungsänderndem Inhalt ohne den Reichstag erlassen. Deutschland entwickelt sich in den folgenden Monaten zum diktatorischen „Führerstaat“. Einlieferung der ersten Häftlinge in das KZ Oranienburg. Die NSDAP ruft zum Boykott jüdischer Geschäfte auf, es ist die erste reichsweite antisemitische Aktion mit Ausschreitungen und Zerstörungen von Geschäften und Synagogen. Massenaufmarsch der antifaschistischen Eisernen Front im Berliner Lustgarten mit zehntausenden Teilnehmern, SPD-Redner Otto Wels fordert die „Einheitsfront der werktätigen Massen“, die Polizei hält sich zurück. Bruno Taut kehrt für wenige Tage nach Berlin zurück, entgeht nur knapp einer Verhaftung und verlässt am 1. März Berlin und am 10. März Deutschland endgültig. Nächtlicher Anschlag auf den sozialdemokratischen Stadtrat für Volksbildung in Neukölln Kurt Löwenstein in seiner Wohnung in der Geygerstraße durch SA-Männer.

Gründung der Hilfspolizei durch den Reichskommissar für das preußische Innenministerium Hermann Göring. Die regulären Polizeieinheiten werden durch Angehörige der SA, SS und weiterer paramilitärischer Organisationen verstärkt. Die NS-Betriebszellenorganisation (NSBO) hält eine Erwerbslosenversammlung am Richardplatz ab. Entlassung des sozialdemokratischen Einfa-Verwalters Erich Grashoff. Großrazzia im „Barrikadenkiez“ im Rollbergviertel mit Verhaftungen und Beschlagnahmung von linkem Propagandamaterial. Ein SA-Trupp hisst die Hakenkreuzfahne auf dem Neuköllner Rathaus gegen den Widerstand des Bezirksbürgermeisters Alfred Scholz, die Polizei verweigert die Durchsetzung des Hausrechts. Absetzung des Bürgermeisters.

Gleichschaltung von DeGeWo, GEHAG und Einfa sowie deren Eingliederung in die Deutsche Arbeitsfront (DAF). Razzia in Britz, bei der die Polizei einen Zentner Propagandamaterial bei dem Arbeiter Rudolf Krautter in der Onkel-Herse-Straße 41 beschlagnahmt.


1933 07.04.

02.05.

10.05.

27.02.

27.02.

Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Es erlaubt die Entlassung miss­ liebiger Beamter und Einführung des „Arierparagraphen“. Zerschlagung der Freien Gewerkschaften, Verhaftungen von Gewerkschaftern und Berufsverbote, Sozialdemokraten beginnen mit dem Aufbau der Exilorganisation SoPaDe in Prag. Verbot und Selbstauflösung von Parteien. Bücherverbrennung als Demonstration gegen den „undeutschen Geist“ in zahlreichen deutschen Uni­versi­tätsstädten, in Berlin werden die Bücher von 94 Autoren auf dem Opernplatz (heute: Bebelplatz) verbrannt.

25.05. 14.07.

Letzte große Berliner SPD-Versammlung im Sportpalast wird von der Polizei aufgelöst und von SA-Truppen terrorisiert. In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar brennt der Reichstag. Als Einzeltäter wird Marinus van der Lubbe gefasst. Noch in derselben Nacht setzt eine Verhaftungswelle gegen linke Regimegegner ein, die ersten „wilden“ Konzentrationslager werden eingerichtet.

05.03.

Produktionsbeginn der ersten Volksempfänger. Gesetz gegen die Neubildung von Parteien, die NSDAP ist einzige politische Partei. 21.09. Gründung des Pfarrernotbundes um Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer in Berlin. Beginn des evangelischen Kirchenkampfes der Bekennenden Kirche gegen Deutsche Christen und geplante Gleichschaltung in einer nationalsozialistischen Reichskirche. Ende Dezember Rückgang der Arbeitlosigkeit von 6 Millionen Anfang 1933 auf 2,7 Millionen Ende des Jahres.

13.03. 16.10.

Unfreie Reichstagsneuwahlen, bei der die NSDAP 43,9 Pozent der Stimmen erhält (in Berlin 34,6 Prozent, in Neukölln nur 29,7 Prozent). „Beurlaubung“ des Sozialdemokraten Martin Wagner vom Berliner Magistrat. Neuwahl des GEHAG-Aufsichtsrats, Vorsitzender wird Ernst von Stuckrad.

Deutsches Reich

Berlin

Unfreie Berliner Kommunalwahlen, bei denen die NSDAP in Neukölln 33,4 Prozent, SPD und KPD je 26 Prozent gewinnen. Die Kommunisten dürfen ihre gewonnenen Sitze gar nicht erst einnehmen, die Sozialdemokraten werden am 7. Juli hinausgeworfen, nachdem die SPD verboten wurde. 16.03. SA-Sturmtrupp besetzt das Neuköllner Rathaus und hisst endgültig die Hakenkreuzfahne auf dem Rathausturm. 24. und 26.03. Entlassung der jüdischen Ärzte im Krankenhaus Neukölln. 28.03. „Säuberungen“ der Stadtbüchereien in Neukölln und Treptow. 30.03. „Säuberungen“ im Bezirksamt Neukölln, 139 Personen werden entlassen. 04. und 05.04. „Säuberungen“ an Neuköllner Schule, Entlassung von elf Rektoren und allen jüdischen Lehrkräften. 12.03.

Einweihung des Hitlerjugendheims „Walter-WagnitzHaus“ in der Paster-Behrens-Straße 27. Ende 1933 Der Aufsichtsrat der Einfa ernennt Friedrich von Schachtmeyer und Willi Schulz zu Geschäftsführern. 09.09.

12.05.

18.05.

30.06.

20.09.

18.11.

Razzia in der Großsiedlung Britz, bei der die Polizei Schusswaffen, SPD-Fahnen und 15 Zentner marxistische Literatur beschlagnahmt und fünf Personen festnimmt. Erste Sitzung der gleichgeschalteten, von Sozialdemokraten und Kommunisten gesäuberten Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung unter Leitung von Kurt Samson (NSDAP). Die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung beschließt Umbenennung von Blaschkowallee, Leo-Arons-, Saltykow- und Moses-Löwenthal-Straße. Hauptversammlung des Britzer Bürgervereins beschließt Arisierung und damit den Ausschluss jüdischer Mitglieder, Einsetzung des NS-Kommissars Hans Engelke. 43. Stiftungsfest des Britzer Bürgervereins mit Weihe einer Hakenkreuzfahne, Ansprache des NSDAP-Ortsgruppenleiters Willi Warwas.

Neukölln

Britz

389


1934 Deutsches Reich

30.06.

02.08.

03.11.

17.04.

Berlin

Januar

20.04.

01.05.

Neukölln

03.06.

09.07. 02.08.

Britz

390

1935 Verhaftung und Ermordung von SA-Stabschef Ernst Röhm und führender SA-Funktionäre auf Anweisung Adolf Hitlers. Rund 200 Personen werden getötet. Tod von Reichspräsident Paul von Hindenburg, unmittelbar darauf Ernennung Hitlers zum „Führer und Reichskanzler“. Ausbürgerung weiterer 27 Exildeutscher durch Innenminister Wilhelm Frick, unter ihnen auch Martin Plettl aus der Großsiedlung Britz. Umbenennung der Walter- in Willi-Walter-Straße zu Ehren des 1933 tödlich verunglückten Britzer SA-Sturmführers. Baubeginn der Neuland-Siedlung Britz III-IV, Einweihung als 1. Frontkämpfersiedlung Berlin-Britz der NS-Kriegsopferversorgung bzw. Schlageter-Siedlung für ausgewählte Nationalsozialisten im August 1934. Geburtstagsfeier für den „Führer“ Adolf Hitler in der Dorfkirche Britz mit Delegationen von Britzer Bürgerverein, Stahlhelm und Kriegerverein. Massenaufmarsch zum „Nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ auf dem Tempelhofer Feld mit 1,5 Millionen Teilnehmern, Beteiligung der GEHAG- und Einfa-Belegschaften. „Volksgemeinschaftstag“ in der Hufeisensiedlung als Machtdemonstration der NS-Volksgemeinschaft, im Vorfeld finden masssive Einschüchterung von Oppositionellen statt. Erich Mühsam wird im KZ Oranienburg von Mitgliedern der SS ermordet. Streit um Beflaggung in der Hufeisensiedlung, Einfa-Vorsitzender Alf Krüger beschimpft die „Staatsfeinde“, die keine Fahne gehisst haben.

16.03.

26.06.

31.06. 15.09.

18.10. 14.11.

Das Deutsche Reich hebt die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrags auf. Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Einführung des Reichsarbeitsdienstes verordnet die Dienstpflicht für Männer zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr. Die Arbeitslosenzahl sinkt erstmals wieder unter die 2-Millionen-Grenze. Verabschiedung der „Nürnberger Gesetze“. Sie beinhalten die Entrechtung jüdischer Bürger, das Verbot von Mischehen sowie die Stigmatisierung außerehelicher Beziehungen von Juden und Nichtjuden als „Rassenschande“. Verabschiedung des „Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“. Erste der 13 Folgeverordnungen zum „Reichsbürgergesetz“, damit wird Juden das Wahlrecht entzogen, sie werden von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen.

16. / 17.07. Ausschreitungen gegen Juden auf dem Kurfürstendamm, im Hansaviertel und im Strandbad Wannsee. Juni

Festveranstaltungen anlässlich der ersten urkundlichen Erwähnung Rixdorfs im Jahr 1360 in Neukölln mit antisemitischen Kundgebungen.

12.05.

„Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“. Einweihung des Denkmals „Die deutsche Familie“ im Akazienwäldchen mit Ansprachen der Vorsitzenden der NS-Frauenschaft Britz, Johanna Siegle, und Einfa-Vorsitzenden Alf Krüger. Gesellschafterversammlung der Einfa: Ernst von Stuckrad ersetzt Alf Krüger als Aufsichtsratsvorsitzenden. NSBO-Funktionäre verlassen die Einfa-Verwaltung

05.09.


1936 ­

29.03. 01.05. 01.10.

1937 Bei der Reichstagswahl erhält die NSDAP 99 Prozent der Stimmen. Statt einer Bibel erhält jedes Brautpaar zu seiner Hochzeit eine Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“. Rückgang der Arbeitslosenzahl auf unter eine Million.

15.04. 19.09.

18.08. 01.08.

Adolf Hitler eröffnet die XI. Olympischen Sommerspiele in Berlin.

11.08.

Einweihung des Jahn’schen Ehrenhains in der Neuköllner Hasenheide, Festredner sind Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten, der Oberbürgermeister von Berlin, Julius Lippert, sowie der Bürgermeister von Neukölln, Kurt Samson.

12.07.

29.09.

Erstes großes „Britzer Rosenfest“, veranstaltet vom Britzer Bürgerverein, Festzug mit Britzer Vereinen, Wohnungsgesellschaften und Parteiorganisationen unter dem Protektorat des Bezirksbürgermeisters Kurt Samson unter dem Motto „Mutter und Kind“. Einweihung der Gemischten Gemeindeschule Britz-Nord in der Onkel-Bräsig-Straße durch Bürgermeister Kurt Samson.

20.09. 26.11.

Juden werden in Deutschland nicht mehr zur Promotion zugelassen. Umfangreiche Militärmanöver in Mecklenburg und Pommern.

Deutsches Reich

Anbringen von „Für Juden verboten“-Schildern an Parkbänken in Berlin. Einwöchige Luftschutzübung im Raum Berlin. Neugründung des Neuköllner Heimatvereins im Rathaus, der Britzer Bürgerverein und die Vereinigung Rixdorfer Landsleute treten Mitte Dezember korporativ bei.

Berlin

19.–27.07. „Britzer Rosenfestwoche“ als Auftakt zur 700-Jahrfeier, organisiert von der „NS-Volkswohlfahrt“ mit Rosenkönigin und Autokorso durch den Bezirk, Festredner ist Bürgermeister Kurt Samson.

Neukölln

Britz

391


1938 Deutsches Reich

Berlin

Neukölln

Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich mit anschließendem „Anschluss“ des Landes an das Deutsche Reich. 13.–18.06. Die Gestapo verhaftet reichsweit tausende von „Asozialen“ zur Einweisung in die Konzentrationslager. 22.06. Verordnung zur Einführung der allgemeinen Dienstpflicht für alle arbeitsfähigen Männer und Frauen. 25.07. Entzug der Approbation aller jüdischen Ärzte. 17.08. Verordnung zur Einführung der jüdischen Zwangsvornamen „Sara“ und „Israel“ ab 1. Januar 1939. 27.09. Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte. 29./30.09. Das Münchner Abkommen zwingt die Tschechoslowakei, das Sudetenland an das Deutsche Reich abzutreten. 01.10. Besetzung des Sudetenlandes durch die Deutsche Wehrmacht. 05.10. Einzug aller Reisepässe von Juden, die neuen Pässe sind mit einem „J“-Aufdruck versehen. 09./10.11. „Reichskristallnacht“ – Pogrome gegen jüdische Bürger und jüdische Einrichtungen im ganzen Reich, die 91 Todesopfer fordern. Über 30 000 Juden werden verhaftet und in Konzentrationslager eingewiesen. Nahezu alle Synagogen sowie über 7 500 jüdische Geschäfte werden zerstört oder schwer beschädigt. 15.11. Jüdischen Kindern wird der Besuch öffentlicher Schulen untersagt. 06.12. Durch den „Judenbann“ wird Juden das Betreten bestimmter Gegenden in Berlin untersagt. 08.12. Ausschluss jüdischer Studenten aus Universitäten und Hochschulen. 21.12. Berufsverbot für nichtarische Hebammen. 12.03.

Juni 20.07.

Britz

27.08.

31.08.

392

1939

Einige wenige Berliner Parkbänke erhalten einen mattgelben Anstrich und „Nur für Juden“-Schilder. Erlass weiterer 76 Richtlinien zur planmäßigen Schickanierung jüdischer Bürger durch Polizeipräsident Graf von Helldorf. Eröffnung der 1. „Neuköllner Heimatwoche“ des Neuköllner Heimatvereins im Rathaus mit Ansprache von Bürgermeister Kurt Samson. Umbenennung der Sonnenalle in Braunauer Straße. Lauf- und Radrennen „Quer durch Neukölln“ vom Hermannplatz bis zur Großsiedlung Britz.

09/10.11. In der Hufeisensiedlung wird Carl Baum und sein Wollwaren- und Textilgeschäft Opfer der antisemitischen Ausschreitungen.

Berufsverbot für jüdische Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker und Krankenpfleger. 01.03. Erhebung des 9. Novembers als „Gedenktag für die Bewegung“ zum Nationalfeiertag. 11.03. Ausschluss der Juden von der Wehrpflicht. 15.03. Die „Rest-Tschechei“ wird besetzt. Die Slowakei erklärt sich als unabhängig und stellt sich unter deutschen Schutz. 16.03. Gründung des Protektorats Böhmen und Mähren. 25.03. Zwangsverpflichtung aller 10- bis 18-Jährigen zum HJ-Dienst. 01.09. Mit dem Überfall auf Polen entfesselt Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg. Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei ermorden gezielt Angehörige der polnischen Führungsschicht. 03.09. Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an das Deutsche Reich. Die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ stellt das Hören ausländischer Radiosender unter Strafe. 27.09. Einrichtung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) durch Zusammenfassung der Sicherheitspolizei (Gestapo und Kriminalpolizei) mit dem Sicherheitsdienst (SD). Oktober Euthanasiebefehl Hitlers, nach dem unheilbar Kranken der „Gnadentod“ gewährt werden kann. Den Euthanasie-Aktionen der Nationalsozialisten fallen etwa 120 000 Menschen zum Opfer. Erste Zwangsverpflichtungen von Polen zum Arbeitseinsatz in Deutschland. 08.11. Gescheitertes Attentat des Schreiners Johann Georg Elser auf Adolf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller. 23.11. Einführung des „Judensterns“ in den von deutschen Truppen besetzten polnischen Gebieten. 17.01.

20.03. 20.04.

30.04.

Verbrennung von 4 800 Werken „Entarteter Kunst“ in der Berliner Hauptfeuerwache. Die Feiern zu Hitlers 50. Geburtstag zeigen eine Heerschau auf der neuen Ost-West-Achse in Berlin; Vereidigung von 46 358 politischen Leitern, darunter 3 875 aus Neukölln und 438 aus Britz-Buckow-Rudow. Zwangseinweisung von Juden in „Judenhäuser“.

25.03.

Himmler verfügt Razzia in Neukölln wegen Überfällen auf Nationalsozialisten im Bezirk.

25.06.

Britzer Rosenfest, veranstaltet vom Heimatverein.


1940 ­

1941 Errichtung des ersten Großghettos im besetzten Polen in Łód´z (ab 1941: Litzmannstadt). Heinrich Himmler befiehlt die Einrichtung des Konzentrationslagers Auschwitz. Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Deutsche Wehrmacht. Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Dreimächtepakt: Italien, Deutschland und Japan verpflichten sich zu gegenseitiger Militärhilfe.

06.04.

Errichtung des »Arbeitserziehungslager Wuhlheide«. Bis zum Kriegsende werden hier rund 30 000 Zwangsarbeiter für die Berliner Rüstungsindustrie untergebracht. In Berlin können jüdische Bürger laut Polizeiverordnung nur noch zwischen 16 und 17 Uhr Lebensmittel einkaufen. Erste Bombardierung Berlins durch die Alliierten. Neukölln bleibt noch verschont.

03.09.

23.10.

Helene Nathan, Leiterin der Städtischen Volksbücherei 1921 bis 1933, als Jüdin aus dem öffentlichen Dienst entlassen, nimmt sich das Leben.

11.12.

03.11.

Erinnerungsfeier zum 50. Gründungstag des Britzer Bürgervereins im Restaurant Filmeck.

08.02. 27.03. 09.04. 10.05. 27.09.

15.04.

04.07.

25.08.

22.06.

02.09.

14.10.

23.10. 07.12. 08.12.

18.10. 14.11.

Angriff deutscher Truppen auf Jugoslawien und Griechenland. Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, genannt „Unternehmen Barbarossa“. Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD sowie Einheiten der Ordnungspolizei ermorden hinter der Front Juden, kommunistische Funktionäre und Kriegsgefangene. 1941/42 beträgt die Zahl der Opfer mehr als eine Million Menschen. Polizeiverordnung zur Einführung des Judensterns im Deutschen Reich und im Protektorat Böhmen und Mähren. Erste Massentötungen von Juden mit dem Giftgas Zyklon-B im KZ Auschwitz. Beginn der Deportationen jüdischer Bürger aus dem Deutschen Reich zunächst in die Ghettos, dann in die Vernichtungslager Osteuropas. Emigrationsverbot für Juden. Überfall Japans auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii. Kriegserklärung der USA und Großbritanniens an Japan. Kriegserklärung des Deutschen Reichs und Italiens an die USA. Deportation von über 1 000 Berliner Juden nach Łód´z. Weitere Berliner Deportationen, darunter 55 Neuköllner Juden nach Minsk.

Deutsches Reich

Berlin

Neukölln

November Beginn der Fertigung von Gaswagen in den Neuköllner Gaubschat-Fahrzeugwerken.

Britz

393


1942 Deutsches Reich

Berlin

1943

Beginn der Liquidation der Ghettos im besetzten Polen unter dem Namen „Aktion Reinhardt“; Juden werden von SS- und Polizei­einheiten in die Vernichtungslager verschleppt. Beginn der Massendeportation sowjetischer Zivilisten zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich. Erste Flächenbombardements deutscher Großstädte durch die alliierten Luftstreitkräfte. 27.05. Attentat auf Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitshauptamtes. Heydrich erliegt am 4. Juni seinen Verletzungen. 05.10. Heinrich Himmler befiehlt die Deportation aller Juden aus Konzentrationslagern im Reichsgebiet in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. November Besetzung des von der Vichy-Regierung kontrollierten französischen Territoriums durch deutsche Truppen.

März

Auf der „Wannsee-Konferenz“ wird die „Endlösung der europäischen Judenfrage“ beschlossen. 30.08. Beginn der Verhaftungswelle gegen den Spionage- und Widerstandskreis „Rote Kapelle“ mit über 120 Festnahmen. Unter ihnen auch Johannes Wesolek aus der Großsiedlung Britz im Oktober 1942. September Beerdigung des ehemaligen Berliner SPD-Vorsitzenden Franz Künstler auf dem Friedhof Baumschulenweg, an dem über 1 000 Menschen teilnehmen. Es ist die letzte Massendemonstration gegen die Hitlerherrschaft. 20.01.

Neukölln

Februar Inbetriebnahme des Ostarbeiterlagers in der Grenzallee 12, in dem sowjetische Zwangsarbeiter für die Firma Gaubschat arbeiten müssen. 18.05.

Britz

394

18.08. 03.12.

Brandanschlag der Gruppe um Herbert Baum auf die NS-Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten; Verhaftung aller Beteiligten, unter ihnen Werner Steinbrink, der bei Hans-Georg und Charlotte Vötter in der Onkel-Bräsig-Straße 111 wohnt. Das Ehepaar Vötter wird ebenfalls inhaftiert. Hinrichtung von Werner Steinbrink in Plötzensee. Hinrichtung von Hanno Günther, der in der Talberger Straße 10 a gewohnt hat, wegen „Landesverrat“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ in Plötzensee.

Auf der Konferenz von Casablanca erörtern Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt eine zweite Front gegen die Achsenmächte Deutschland und Japan. Sie erklären die bedingungslose Kapitulation zur unabdingbaren Voraussetzung eines Waffenstillstands. 30.01. Ernennung von Ernst Kaltenbrunner zum Chef der Sicherheitspolizei, des SD und Leiter der Reichssicherheitshauptamtes. 31.01. Die Südgruppe der 6. Armee unter Generalfeldmarschall Friedrich Paulus kapituliert vor Stalingrad. 02.02. Die Schlacht bei Stalingrad endet mit dem Sieg der Roten Armee, zwei Drittel der 250 000 deutschen Soldaten sind während der Kämpfe gefallen, erfroren oder verhungert. 18.02. Joseph Goebbels propagiert in einer Rede im Berliner Sportpalast den „Totalen Krieg“. Mitglieder der Weißen Rose, die mit Flugblättern gegen die NS-Herrschaft protestiert haben, werden in München verhaftet, Hans und Sophie Scholl vier Tage später hingerichtet. März Beginn der Deportation von mehr als 20 000 Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. 05.04. Führende Mitglieder der Widerstandsgruppe um General Hans Oster und Generaloberst Ludwig Beck werden verhaftet, darunter Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi und Josef Müller. 19.04. Aufstand im Warschauer Ghetto. SS- und Polizeiverbände ermorden die letzten Ghettoinsassen oder verschleppen sie in die Vernichtungslager. 03.11. Heinrich Himmler befiehlt die Ermordung von 17 000 jüdischen Zwangsarbeitern im KZ Majdanek. 03./04.11. Abschluss der „Aktion Reinhardt“ nach Ermordung von mehr als 43 000 Juden durch Polizeiverbände im Raum Lublin. 28.11. Konferenz von Teheran: Großbritannien, die Sowjetunion und die USA stimmen ihre militärischen Operationspläne ab. 14.01.

27. / 28.02. Während der „Fabrikaktion“ verhaftet die Gestapo über 8 000 jüdische Zwangsarbeiter in Berliner Betrieben. Die meisten von ihnen werden ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. 01.03. Abwurf von 1 800 Kilogramm schweren Sprengbomben über Berlin. Es entstehen 600 größere Brände und Schäden an rund 20 000 Häusern. 18.11. Beginn der „Luftschlacht um Berlin“ unter Leitung des britischen Luftmarschalls Arthur Harris. 01.03. 29.12.

Bombenangriff mit starken Zerstörungen am Kottbusser Damm. Bombenangriff, betroffen vor allem Donau-, Inn- und Oderstraße.

20.01.

Hinrichtung von Conrad Blenkle, der in der Liningstraße 20 gewohnt hat, wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ in Plötzensee. Hans-Georg Vötter wird wegen „Wehrkraftzersetzung“ in Plötzensee hingerichtet.

11.05.


1944 ­

14.05.

06.06. 10.06.

20.07.

01.08.

30.08.

25.09. 07.10.

14.10.

27.01.

01.07.

Die Generäle Erwin Rommel und Karl-Heinz von Stülpnagel beabsichtigen, im Westen einen Waffenstillstand zu schließen. Adolf Hitler soll verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Am D-Day beginnt die Landung der alliierten Invasionstruppen in der Normandie. Zerstörung der Ortschaft Oradour-sur-Glane in Südfrankreich und Ermordung seiner Einwohner durch die SS. Das Attentat auf Adolf Hitler durch die Widerstandsgruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg misslingt. Über 200 Personen werden hingerichet. Weitere umfangreiche Verhaftungen von Regimegegnern durch die Gestapo sind die Folge. Beginn des Warschauer Aufstandes. Ermordung von mehr als 150 000 Zivilisten durch Verbände der Wehrmacht, SS und Polizei. General von Stülpnagel wird wegen der Organisation des Widerstandes gegen Adolf Hitler in Plötzensee hingerichtet. Aufstellung von Volkssturmeinheiten in ganz Deutschland. Ein Häftlingsaufstand im Vernichtungslager Auschwitz scheitert. 450 Menschen werden unverzüglich hingerichtet. Erwin Rommel, Führer des Afrikakorps 1941 bis 1943, „der Wüstenfuchs“ genannt, begeht – unter Zwang – Selbstmord. Abwurf von 1 761 Tonnen Bomben durch die britische Royal Air Force auf Berlin. 481 Bomber sind im Einsatz, vor allem dicht besiedelte Wohngebiete und Kulturstätten werden zerstört. Von ursprünglich 160 000 Menschen jüdischer Herkunft sind noch 5 978 in Berlin offiziell registriert.

27.01

Großangriff auf Neukölln, 119 Tote in der Reuterstraße

24.03.

Durch alliierte Luftangriffe werden zahlreiche Häuser und Wohnungen in der Dörchläuchtingstraße, Parchimer Allee und Paster-Behrens-Straße zerstört oder schwer beschädigt.

1945 Konferenz von Jalta: Großbritannien, die USA und die Sowjetunion verhandeln unter anderem über die Aufteilung Deutschlands nach der Kapitulation. 11.04. Selbstbefreiung der Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald. 09.05. Bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs. 15.06. Konstituierung des Zentralausschusses der SPD und Aufruf zur Wiedergründung der Partei. Gründung der Vereinten Nationen (UNO), 51 Staaten sind Mitglied. 17.07. Beginn der Potsdamer Konferenz der Siegermächte. 06. und 09.08. Atombombenabwurf der USA auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. 02.09. Kapitulation Japans. 20.11. Beginn der Nürnberger Prozesse gegen führende Vertreter des NS-Regimes. Die Urteile werden am 1. Oktober 1946 verkündet. 04.02.

30.04. Mai 10.06. 17.06. 26.06.

Adolf Hitler begeht Selbstmord, die Rote Armee erobert Berlin. Neugründung der SPD in den Berliner Bezirken. Zulassung von Parteien und Gewerkschaften in der Sowjetischen Besatzungszone und in Groß-Berlin. 1. Funktionärsversammlung der Berliner SPD im Deutschen Hof in Kreuzberg. Gründung der Christlich Demokratischen Union (CDU) in Berlin.

25.04.

Die Rote Armee erreicht Neukölln; es beginnen Straßenkämpfe, die bis zum 28. April 1945 andauern und 2 000 Menschen das Leben kosten.

12.01.

Hinrichtung von Gertrud Seele aus der Parchimer Allee 75 wegen „Wehrkraftzersetzung“ und „Feind­ begünstigung“.

Deutsches Reich

Berlin

Neukölln

Britz

395


Impressum Udo Gößwald, Barbara Hoffmann (Hg.) Das Ende der Idylle? Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung in Britz vor und nach 1933 Dieser Begleitband erscheint zur gleichnamigen Ausstellung. 18. Mai bis 29. Dezember 2013 Museum Neukölln Alt-Britz 81 12359 Berlin Katalog Redaktion: Dr. Udo Gößwald, Barbara Hoffmann, Volker Banasiak, Christa Jancˇik, Julia Dilger Gestaltung: Claudia Bachmann Druck: Medienproduktion Schlesener GmbH © Berlin 2013 ISBN 978-3-944141-01-5

Ausstellung Gesamtleitung: Dr. Udo Gößwald Konzeption: Dr. Udo Gößwald, Barbara Hoffmann Projektleitung: Barbara Hoffmann Wissenschaftliche Mitarbeit: Volker Banasiak, Nina Bätzing, Therese Hermann, Henning Holsten, Tobias Kühne, Ruth Orli Mosser, Jennifer Rasch Präsentationskonzept und -gestaltung: eckedesign Medientechnik und -design: eckedesign, scripted media Ausstellungseinrichtung: Bruno Braun, Dieter Schultz Sekretariat: Andreas Ernst

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