sam. Sachsen-Anhalt-Magazin Ausgabe Dezember 2011

Page 1

BERICHTE AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

Aus allen Richtungen Sachsen-Anhalt profiliert sich als wichtiger Logistikstandort Seite 10

07/11



Aus meiner Sicht

Effizienz ist überall. Sie umgibt uns in nahezu jeder Situation

Und trotzdem: Oma und Opa haben das für sie beste Verhältnis

eines Wortes, dessen Bedeutung ebenso vielschichtig ist wie

um, Geld und Zeit zu sparen. Logistiker wissen, wovon ich rede.

und zu jeder Zeit. Wir alle machen uns jeden Tag zum Sklaven seine Anwendungsgebiete. Denn was ist eigentlich Effizienz? Haben Sie sich darüber schon mal Gedanken gemacht?

Bei mir fängt der Tag schon effizient an. Nach dem Weckerklin-

zwischen Aufwand und Nutzen geschaffen. Es ging ihnen dar-

Effizienz ist für sie gleichbedeutend mit Erfolg. Die Schnellsten, Besten und Zuverlässigsten werden überleben. Und die Innovativsten. Das wissen die Wissenschaftler.

geln starte ich den Parallelbetrieb, nur um bloß keine Zeit zu

Mir scheint eine Kombination aus allem absolut zukunftsfähig.

Kaffeemaschine das „go“. Während mein Computer hochfährt,

im Zeichen der Effizienz. Und weil wir es so erwarten. Neue,

verschwenden. Bevor ich unter die Dusche steige, gebe ich der putze ich mir die Zähne, und während ich meine E-Mails abru-

fe, studiere ich meinen Terminkalender. Ich leere den Postkas-

ten, während ich am Handy telefoniere und schwatze mit dem Nachbarn, während ich gleichzeitig den Müll sortiere.

Ich plane den Tag so, dass ich möglichst alles in einem Rutsch

erledigen kann. Das muss ich von meinen Großeltern haben. Mein Opa hat früher nur einmal in der Woche das Auto aus der

Garage geholt. Ich kann mich genau dran erinnern. Alle Termine und Wege wurden auf diesen Tag gelegt und miteinander ver-

Warenströme, Lieferketten, Transportzeiten – alles funktioniert

globale Herausforderungen geben den Anstoß für Mut, Forschung, Entwicklungen und Erfindungen. Sachsen-Anhalt hat

das längst erkannt. Es geht mit dem Galileo-Testfeld innerhalb

der Landesinitiative „Angewandte Verkehrsforschung“ und der beispielhaften Bündelung von Know-how einen deutschlandweit einmaligen Weg.

Denn eine schlaue Logistik und eine ausgeklügelte Effizienz ge-

hören zusammen. Jeden Tag, in jeder Situation und zu jeder Zeit.

bunden: Arzt, Einkaufen, Behörden und Besuche. Es hat irgendwie funktioniert. Die Effizienz stelle ich allerdings aus heutiger Sicht infrage.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

Sabrina Gorges, Autorin

3


In diesem Heft

4

Interview

Lebensadern für die Wirtschaft Im Gespräch mit dem DIHK-Vizepräsidenten Klaus Olbricht………………………….……...……………………….. 6

Logistik

Logistikstandort Sachsen-Anhalt wächst Hanse-Terminal des Magdeburger Hafens ist wichtiger Knotenpunkt………………….……………….…..10

Wissenschaft

Der Klimawandel ist längst da Mit TERENO wollen UFZ- Forscher genauere Umweltprognosen geben…………..……………………….. 14

Medizin

Wenn ein Mensch zu früh geht AOK Sachsen-Anhalt spannt ambulantes Versorgungsnetz für schwerstkranke Kinder....…………..18

Wirtschaft

Rückkehr zu den Wurzeln Weber Rohrleitungsbau schreibt wieder Erfolgsgeschichte in Merseburg…………….……………………....22

Lebensadern für die Wirtschaft Seite 6 Der Bundesregierung fehle es bei Infrastrukturvorhaben an einer klaren Linie, ärgert sich Klaus Olbricht, Vizepräsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und Präsident der Industrie- und Handelskammer Magdeburg. Er fordert die schnelle Umsetzung des Saalekanals und weiterer ostdeutscher Verkehrsprojekte. Im Gespräch mit dem Sachsen-Anhalt-Magazin begründet er seine Ungeduld.

Visionen

Wirtschaft und Wissenschaft verknüpfen Autorenbeitrag von Wissenschafts- und Wirtschaftsministerin Birgitta Wolff….………..……26

Tradition

Bernsteinzimmer verführt zum Vernaschen Im Hallorenmuseum in Halle wird die Schulstunde zum Genuss.……………………………….…28

Regionalmarketing

Altmark setzt Markenzeichen Sachsen-Anhalts nördlichste Region will weg vom „Nur Natur“-Image……………………….......32

Handwerk

Der Scharfmacher Senfmüller aus Halle erobert den Feinschmecker-Markt…....……………………………………36

Forschung

Weiter Weg bis zum Mars Magdeburger Wissenschaftler erforscht das Immunsystem in Schwerelosigkeit…............…….39

Sachsen-Anhalt ist Forscherland für Logistiker

Seite 10

Die Logistikbranche wächst rasant. Sie geht in die Breite und in die Tiefe. Innovationen stehen ganz vorn an, weil jeder bemüht ist, die Effizienz zu steigern. Sachsen-Anhalt bietet Forschern, Tüftlern und Entwicklern beste Bedingungen, um den regionalen Logistikstandort weiter nach vorn zu treiben. Ein Besuch bei Visionären in Magdeburg.


In diesem Heft

5

Briefe an die Redaktion

Leserzuschriften…………………………………………………….42

Der Klimawandel ist längst in unseren Breiten angekommen

Impressum:

Seite 14

Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung beobachten die Veränderungen. Mit TERENO haben sie auch Voraussetzungen für genauere Vorhersagen von Veränderungen an der Hand.

HERAUSGEBER SAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbR Geschäftsführer: Michael Scholz, Wolfgang Preuß KONTAKT SAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbR Schilfbreite 3, 39120 Magdeburg Tel. 0391 63136-45, Fax 0391 63136-47 info@st-magazin.de www.sachsen-anhalt-magazin-verlag.de REDAKTIONSLEITUNG Ute Semkat, Christian Wohlt redaktion@st-magazin.de ANZEIGEN Tel. 0391 63136-45 anzeigen@st-magazin.de FOTOGRAFIE Michael Uhlmann DRUCK Harzdruckerei GmbH, Wernigerode Schutzgebühr: 4,00 EUR

Ein Biss verführt

Seite 28

Der Genuss von Schokolade soll Glückshormone wecken und die Sinne anregen. Warum also nicht einmal eintauchen in den Duft einer Schokoladenwolke und staunend versinken in den Anblick eines Wohnzimmers ganz aus veredeltem Kakao und Marzipan? Das geht: im Halloren Schokoladenmuseum in Halle. Lassen Sie sich verführen.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

Das Magazin und alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit schriftlicher Genehmigung und Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keinerlei Gewähr übernommen. Die namentlich gekennzeichneten Beiträge stehen in der Verantwortung des jeweiligen Autors. 4. Jahrgang 2011 ISSN 1868-9639


6

Interview

„Wir brauchen die ostdeutschen Wasserwege“ DIHK-Vizepräsident Klaus Olbricht fordert von der Bundesregierung eine klare Linie zu Verkehrsprojekten

Nach der Finanzkrise 2008/09 hat die deutsche Wirtschaft eine

Klaus Olbricht: Es ist immer schön, Geld für den Konsum zur

die Arbeitslosigkeit sinkt. In den vergangenen Monaten gab es

mieren, wie man es sich auch leisten kann. Im Moment kön-

rasante Aufholjagd hingelegt. Die Steuereinnahmen sprudeln, allerdings fast täglich neue Hiobsbotschaften von den Finanz-

märkten. Das Konjunkturklima wandelt sich. Alle reden von Krise. Sind die fetten Jahre jetzt vorbei?

Klaus Olbricht: Die ganz fetten Jahre sind sicherlich vorbei. Die deutsche Wirtschaft befindet sich aber nicht in einem Ab-

schwung, sondern das Wachstum verlangsamt sich. Und das auf gutem Niveau. Die Arbeitslosenzahlen werden weiterhin sinken, was allerdings auch auf den demografischen Wandel

zurückzuführen ist. In Sachsen-Anhalt haben die Unternehmen die Krise sehr gut bewältigt. Von neuen Problemen ist

Verfügung zu haben. Aber man kann immer nur soviel konsu-

nen wir uns keine Steuersenkungen leisten. Wer solche Pläne schmiedet, muss auch Vorschläge zur Gegenfinanzierung ma-

chen. Dazu ist von der Bundesregierung nichts zu hören. Im Endeffekt bedeuten also Steuersenkungen neue Schulden. Der

Schuldenberg der Bundesrepublik ist schon jetzt groß genug. Wir sollten lieber an die nachkommenden Generationen den-

ken und ihnen nicht noch mehr aufbürden. Irgendwer muss ja die Schulden einmal abzahlen. Wenn dazu keiner mehr in der Lage ist, haben wir auch in Deutschland griechische Verhältnisse.

hier noch nichts zu spüren.

Insgesamt zog der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Ein-

Dennoch gibt es angesichts der Euro-Schuldenkrise die Furcht

schen Wirtschaft ist ins Stocken geraten. Beunruhigt Sie das?

vor einem so genannten Double-Dip, also dem zweimaligen

heit eine ernüchternde Bilanz. Der Aufholprozess der ostdeut-

Abtauchen in eine Rezession. Beim ersten Mal ist Deutschland

Klaus Olbricht: Das beunruhigt mich nicht. Wir haben mittler-

diesmal?

fentlichen Verwaltungen und das öffentliche Leben betrifft.

relativ glimpflich davon gekommen. Wie stehen die Chancen

Klaus Olbricht: Diese Furcht teile ich nicht. Dass die wirtschaft-

liche Entwicklung zyklisch verläuft, ist bekannt. Nach jedem Aufschwung gibt es einen Abschwung. Wann der konkret

eintritt, weiß niemand im Voraus. Dass Griechenlands Schul-

denproblem Auswirkungen auf uns haben wird, ist abzusehen, denn es wird sehr viel Geld dorthin transferiert. Ob das alles so gut ist, bezweifle ich.

Was halten Sie vom Europäischen Rettungsschirm?

weile ein gutes Niveau erreicht, was die Infrastruktur, die öf-

Dass wir bei Löhnen und Gehältern noch keine Angleichung

haben, ist bedauerlich. Aber das wird der Markt richten. Wenn die Unternehmen in Ostdeutschland nicht in absehbarer Zeit

entsprechende Löhne und Gehälter zahlen, werden sie nicht mehr die Fachkräfte bekommen, die sie brauchen. Hier ist

ein Umdenkprozess nötig. Bisher war der Arbeitsmarkt gut

gefüllt. Die Firmen konnten aus einem großen Reservoir auswählen. Das ändert sich gravierend. Wer gute Fachleute haben möchte, muss diese auch entsprechend bezahlen, in Ost wie in West.

Klaus Olbricht: Den Rettungsschirm sehe ich äußerst skeptisch,

Das geringere Lohnniveau galt lange als „Standortvorteil“ Ost-

lust ist der Beste. Und ein Ende mit Schrecken ist noch immer

destlöhnen?

denn ich habe als Unternehmer einmal gelernt: Der erste Verbesser als Schrecken ohne Ende.

Angesichts dieser positiven Grundeinschätzung kann sich doch die Bundesregierung jetzt Steuersenkungen leisten. Oder sind sie sogar nötig, um die Konjunktur anzukurbeln?

deutschlands. Was halten Sie vor diesem Hintergrund von Min-

Klaus Olbricht: Wir brauchen keine Mindestlöhne. Die Politik sollte sich nicht in die Tarifautonomie einmischen. Der Markt

muss es richten. Wenn eine Mindestgrenze festgelegt wird, setzt man damit eine Spirale nach oben in Bewegung.


Interview

Wo liegen die wirtschaftlichen Stärken des Landes? Klaus Olbricht: Die Ernährungswirtschaft hat sich

bestens entwickelt. Die Firma Rotkäppchen ist bundesweit Marktführer in Sachen Sekt. Kathi-Kuchen-

mehl hat sich einen festen Platz auf dem Markt erobert, um nur zwei Beispiele zu nennen. Es hat sich

eine Automobil-Zulieferindustrie mit über 250 Un-

ternehmen entwickelt. Sachsen-Anhalt ist führend im Bereich der erneuerbaren Energien, sowohl bei der Erzeugung, aber auch bei der Herstellung der

dafür erforderlichen Ausrüstungen. Wir sind insgesamt relativ gut und breit aufgestellt.

Aber gerade in den innovativen Branchen wie der

Solarindustrie ziehen derzeit dunkle Wolken auf. QCells vermeldete im dritten Quartal tiefrote Zahlen.

Klaus Olbricht: Das Problem sehe ich hier in der

Förderpolitik. Deutschland fördert laut EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz – d. Red.) beispiels-

weise die Erzeugung von Elektroenergie aus Photovoltaik. Dabei spielt es keine Rolle, ob die

Photovoltaik-Anlagen in Deutschland, in China

oder sonstwo auf der Welt hergestellt wurden. Ausländische Billigprodukte überschwemmen derzeit den Markt. Um es auf den Punkt zu brin-

gen: Durch dieses System fördert Deutschland chinesische Arbeitsplätze. Sachsen-Anhalts Bruttoinlandsprodukt wuchs im ersten Halbjahr um 4,5 Prozent. Landeswirtschaftsministerin Birgitta Wolff

(CDU) kommentierte das mit den Worten: „Sachsen-Anhalts

Wirtschaft ist im Konzert der Länder tonangebend.“ – Aber doch nur mit einer Triangel, wenn man die Wirtschaftskraft insgesamt betrachtet?

Klaus Olbricht: Bundesweit sind uns Bayern, Baden-Württem-

berg und die anderen großen alten Bundesländer natürlich noch weit voraus. Aber im Konzert der ostdeutschen Bun-

desländer sind wir führend. Wir sind das am dynamischsten wachsende Bundesland, wobei man natürlich das Ausgangs-

niveau berücksichtigen muss. Inzwischen können wir uns aber mit westlichen Ländern wie Bremen oder dem Saarland mes-

sen, was die Wirtschaftskraft betrifft. In den zurückliegenden 20 Jahren hat Sachsen-Anhalt eine rasante Entwicklung auf diesem Gebiet gemacht.

Vor kurzem haben Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) und Landesverkehrsminister Thomas Webel (CDU) den Start-

schuss für den Bau der A14-Nordverlängerung gegeben. Welche

Bedeutung hat dieser Lückenschluss für die Unternehmen in Sachsen-Anhalt und bundesweit?

Klaus Olbricht: Für mich persönlich kommt die A 14-Nordverlängerung schon viel zu spät. Zwischen der A 7 im Westen und der

A 10 im Osten gibt es das größte autobahnfreie Gebiet Deutschlands. Die A 14 ist für die Entwicklung des Nordens Sachsen-

Anhalts von entscheidender Bedeutung. Sie wird nicht nur der

Wirtschaft und dem Tourismus in der Altmark einen Schub geben, sondern auch der Investitionstätigkeit. Das ist durch Erfahrungen anderer Regionen belegt. Diese Autobahn wird auch

als Transitstrecke von Skandinavien Richtung Süddeutschland, Italien und Tschechien eine enorme Rolle einnehmen, denn dadurch verkürzt sich die Verbindung aus Süd- und Mitteldeutschland zu den Ost- und den Nordseehäfen.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

7


8

Interview

Der Baubeginn wurde durch Klagen von Umweltschützern verzögert und die Gegner drohen damit, jeden einzelnen Ab-

schnitt juristisch überprüfen zu lassen. Fürchten Sie nicht, dass dadurch das Gesamtprojekt bis auf den Sanktnimmerleinstag verzögert wird?

Klaus Olbricht: Diese Kultur des Streitens, Stichwort Stuttgart 21, nimmt immer mehr zu in Deutschland, und wir blockieren uns

damit eventuell große Infrastrukturmaßnahmen, die einfach notwendig sind. Es werden 150 Millionen Euro im Rahmen des

Autobahnbaus für den Umweltschutz ausgegeben. Dazu gehören Brücken, damit das Wild die Seiten wechseln kann und Fledermäuse sicher über die Fahrbahn fliegen können. Mir ist nicht

bekannt, dass jemals eine größere Zahl von Fledermäusen mit

einem Auto kollidiert wäre. Aber auch diese theoretische Gefahr wird berücksichtigt. Ich hoffe, dass die Vernunft siegt und diese Autobahn ohne weitere größere Verzögerung gebaut werden kann.

Ist die Straßeninfrastruktur in Ostdeutschland damit schon komplett?

Häfen bewältigen zu können, sollten neben dem A 14-Lücken-

Klaus Olbricht: Wenn die A 14 fertig ist, haben wir einen bedeu-

Dazu zähle ich auch den Wasserweg. Die Elbe verbindet Ham-

tenden Schritt getan. Es fehlen aber noch leistungsfähige Ost-

West-Verbindungen. So müsste die B 6n vom Harz Richtung

Osten bis zur polnischen Grenze verlängert werden. Auch für

die B 190 im Norden ist eine Verlängerung Richtung A 24 und damit in den Berliner Raum vorgesehen. Die ist im Rahmen

schluss die vorhandenen Verkehrswege ausgebaut werden. burg mit Mitteldeutschland und Tschechien. Hier sollte inves-

tiert werden, um den Fluss wieder so herzustellen, wie er vor dem Hochwasser 2002 war, nämlich mit 2,20 Metern durchschnittlicher Wassertiefe.

der A 14-Planung Bestandteil der so genannten Hosenträger-

Der erste Anlauf des Bundesverkehrsministeriums zur Kategori-

Umgehungsstraßen. Diese Vorhaben sind unbedingt erforder-

Finanz- und Verkehrsausschuss des Bundestags haben eine Über-

Variante. Darüber hinaus gibt es einige kleinere Projekte wie lich, denn das Verkehrsaufkommen wird in den kommenden Jahren bundesweit weiter steigen.

Auch auf der Schiene ist eine neue Nord-Süd-Achse geplant. Da die bisherige Trasse von Hamburg und Bremen nach Süddeutschland

sierung der Wasserstraßen ist auf wenig Gegenliebe gestoßen. arbeitung gefordert. Welche Rolle sollten die großen Flüsse Sachsen-

Anhalts, also die Elbe und die Saale, in einem überarbeiteten Wasserstraßenkonzept des Bundes spielen?

Klaus Olbricht: Die ostdeutschen Industrie- und Handelskam-

und Italien den wachsenden Güterverkehr nicht mehr bewältigen

mern haben eine Resolution an das Bundesverkehrsministe-

Magdeburg, Hof nach München im Gespräch. Welche Chancen

Kategorisierungspläne bekunden. Wasserstraßen sind die

kann, ist ein „Bypass“ zur Hauptmagistrale über Uelzen, Stendal, hat dieses Projekt?

Klaus Olbricht: Einen neuen Schienenweg in Deutschland zu

planen, ist noch langwieriger als jedes andere Verkehrsprojekt. Planungsaufwand und Vorlaufzeiten sind größer als bei der

Straße und auch hier ist mit Widerständen zu rechnen. In abseh-

barer Zeit kann ich mir eine solche neue Schienenverbindung

nicht vorstellen. Um das wachsende Güteraufkommen aus den

rium gerichtet, in der wir unsere Ablehnung der bisherigen ökologischsten Verkehrswege. Hier können mit dem gerings-

ten Aufwand die meisten Güter transportiert werden. Würden die Pläne des Bundesverkehrsministeriums umgesetzt und die

beiden Flüsse zu Restwasserstraßen herabgestuft, macht das

den wirtschaftlichen Schiffsverkehr unmöglich. Wir bräuchten

dann bis 2025 eine halbe Million mehr Lkw auf den Straßen. Wir brauchen die ostdeutschen Wasserstraßen als Schifffahrtswege ebenso wie den Rhein oder die Donau. Dazu ge-


Interview

Klaus Olbricht (Jahrgang 1953) leitet als Geschäftsführer die

exportorientierte Elektromotoren und Gerätebau Barleben GmbH. Seit 2007 ist er Präsident der Industrie- und Handelskammer Magdeburg. Im Jahr 2009 wurde er zum Vizepräsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages gewählt.

schaftsraum zu entwickeln. Die Elbe spielt hier eine zentrale

Rolle, insbesondere als Verbindung zwischen dem Hamburger Hafen und Tschechien.

Die Entwicklung der Märkte lässt sich ebenso schwer vorhersagen wie das Wetter. Dennoch die Bitte um eine Prognose: Wo wird die deutsche Wirtschaft am Ende des Jahres 2012 stehen?

Klaus Olbricht: Sie wird besser dastehen als jetzt. Die Arbeitslo-

senzahl wird Ende 2012 noch niedriger sein als sie jetzt schon ist. Der Fachkräftebedarf wird weiter gestiegen sein, da sich hört neben Oder und Elbe auch die Saale. Dort ist bereits viel

Geld investiert worden, unter anderem in den Hafen in Halle, der leider nicht richtig genutzt werden kann.

Stichwort Saale-Seitenkanal. In Sachsen-Anhalt hat sich ein breit

aufgestelltes Bündnis formiert, das die objektive Prüfung dieses Vorhabens fordert, welches immerhin im vordringlichen Bedarf

des Bundesverkehrswegeplans steht. Wie bewerten Sie das Verhalten des Bundesverkehrsministeriums, das dieses Projekt erst streichen wollte und nun doch wieder prüfen will?

Klaus Olbricht: Als einer der Erstunterzeichner dieses Bündnis-

ses finde ich diese Eierei unmöglich. Der Kanal ist notwendig.

Dazu sollte es auch auf Bundesebene eine klare Linie geben, die heißt: Wir brauchen ihn und wir bauen ihn, damit die Saale

komplett genutzt werden kann, einschließlich des Hafens in Halle.

Welche Rolle spielen die ostdeutschen Wasserwege in der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit?

Klaus Olbricht: Seit über zehn Jahren arbeiten die ostdeutschen Industrie- und Handelskammern mit Partnern in den Nachbar-

ländern im Rahmen der Kammerunion Elbe-Oder zusammen. Über 30 Kammern aus Deutschland, Polen und Tschechien gehören ihr an. Die Union hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Region um die beiden Flüsse als einen gemeinsamen Wirt-

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

die Bundesregierung sehr schwer damit tut, dringend benötig-

te Fachkräfte aus dem Nicht-EU-Ausland ins Land zu lassen. Es wird ein Wirtschaftswachstum gegeben haben. Wie stark lässt

sich derzeit schwer einschätzen, vielleicht zwischen einem und 1,5 Prozent.

Sie haben also keine Angst, dass die Horrorszenarien von einer großen Krise eintreffen?

Klaus Olbricht: Davor habe ich keine Angst. Ich sehe derzeit keine Kreditklemme wie bei der zurückliegenden Krise. Die Politik

hat auch daraus gelernt. Sie unternimmt gemeinsam mit der

Wirtschaft und den gesellschaftlichen Kräften große Anstrengungen, um das Abdriften in eine große Krise zu vermeiden. Ich bin optimistisch, dass diese Anstrengungen von Erfolg gekrönt sein werden.

Das Gespräch führte Christian Wohlt.

9


10

Logistik

„Ware wird nicht nur transportiert, sie hat eine Arbeit zu leisten!“ In der Logistikbranche mischt sich Intelligenz mit Visionen. Das ist sehr innovationsfreundlich – und steigert die Effizienz Von Sabrina Gorges Früher war alles so einfach. Im Mittelalter führte die logistische

eine immer größer werdende Zeit- und Kostenersparnis ausge-

Feldwege. Waren wurden per Pferde- oder Ochsenkarren vom

Luft- und Schienenwegen. Nahtstellen, die immer transparen-

Kette der Waren vom Erzeuger bis zum Kunden über holprige

Bauern auf den nächstgelegenen Marktplatz geschafft, wo er sie gleich an den Endverbraucher verkaufte. Der Markt als ein-

richtet und bilden ein verzweigtes Netz aus Straßen, Wasser-, ter, sicherer und effizienter werden müssen.

facher Umschlagplatz – logistische Nahtstellen gab es kaum,

Der Weg in die Logistikwelt des 21. Jahrhunderts führt zu-

die nur noch in rudimentären Ansätzen etwas mit dem Och-

senschaftshafen. Es ist flach, gut 50 Meter lang und heißt

Effizienz auch nicht. Heute hat Logistik Dimensionen erreicht, senkarren und dem Treiben auf dem Marktplatz zu tun haben. Beschaffung, Produktion und Vertrieb von Waren bestehen in einer globalen Welt aus komplexen Logistikströmen. Sie sind auf

nächst in ein rotes Backsteingebäude am Magdeburger Wis„Speicher K“. Als sich eines der blauen Rolltore öffnet, stehe ich

gleich mittendrin: Im deutschlandweit modernsten Entwick-

lungslabor für sichere, nachhaltige und intelligente Logistik.

Ein kleiner Zettel mit großer Wirkung: Der eher unscheinbare RFID-Chip ermöglicht eine Funkerkennung und damit eine genaue Erfassung und Verfolgung von Warensendungen – vom Produktionsort bis zum Ladentisch.


11

Einmal durch, alles erfasst:

Ingenieur Olaf Poenicke (li.)

vom Fraunhofer-Institut und

dessen Leiter Michael Schenk ziehen im Magdeburger Entwicklungslabor „Speicher K“

einen Palettenhubwagen durch ein sogenanntes RFID-Tunnelgate, das mittels Funkerken-

nung und spezieller Chips sofort die Paketanzahl haargenau ermitteln kann.

Es ist aufgeräumt, fast schon steril. Ich sehe einen Gabelstap-

ausgerüstet. „RFID steht übrigens für Radio Frequency Identifi-

eine Mini-Kranbahn, wie man sie von Containerumschlagplät-

und glaube, das Prinzip verstanden zu haben. Vor „Speicher K“

ler, einen vollen Kleiderständer, eine Dachziegel-Palette und

zen in Häfen kennt. Sogar eine Autorennbahn und ein kom-

plettes Fahrgastinformationssystem gibt es hier. Im März 2010 ist dieses Labor in Betrieb gegangen.

Olaf Poenicke kommt mir entgegen und streckt die Hand aus, um mich zu begrüßen. Er ist jung und lächelt freundlich. Da ich mich in einem Labor befinde, hatte ich wuselnde Wissenschaftler in weißen Kitteln erwartet. Stattdessen schüttele ich einem

cation und bedeutet etwa soviel wie Funkerkennung.“ Ich nicke parkt ein roter Kleintransporter mit Ladecontainer. Darauf steht

„Die Ware funkt!“. Ich beginne die Spannweite der Arbeit in die-

sem Labor zu erfassen. Es geht um verschiedene, technische An-

sätze für eine hochpräzise Ortung und Verfolgung von Waren. „Im Magdeburger Hafen gibt es eine Telematik-Plattform. Die

sollten sie sich anschauen“, gibt mir der Ingenieur einen Tipp. Das werde ich noch tun. Später.

dynamischen Jeansträger mit Dreitagebart die Hand. „Sie sind

Olaf Poenicke arbeitet für das Fraunhofer-Institut für Fabrikbe-

schungsobjekte gegangen“, schmunzelt der Wirtschaftsinge-

mit rund 150 Mitarbeitern ist zu einem entscheidenden Teil an

jetzt quasi schon beim Reinkommen durch eines unserer Fornieur und deutet über meinem Kopf nach oben. Und tatsächlich: Von mir völlig unbemerkt, habe ich eine Art Tor durchschritten, einen glänzend weißen Kasten. Wäre ich eine Palette mit vielen Paketen drauf, würde dieses Tor jetzt ganz genau wissen, wie viele Packstücke ich mit mir rumschleppen muss. Kein mühsames Nachzählen, keine Durchnummerierung und jederzeit

kann etwas heruntergenommen oder dazugepackt werden. „Das ist ein RFID-Tunnelgate, das selbst stark verdichtete Waren

erfassen, zählen und inventarisieren kann“, erklärt mir der Ex-

perte. Vorausgesetzt, sie sind mit einem entsprechenden Chip

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

trieb und -automatisierung IFF. Das 1992 gegründete Institut

einem deutschlandweit einmaligen Netzwerk aus Forschung und Wirtschaft beteiligt. Sein Name: Galileo-Testfeld Sachsen-

Anhalt. Schwerpunktmäßig kümmern sich kluge Köpfe unter

der Federführung der Magdeburger Otto-von-Guericke-Univer-

sität um die Zukunft der Mobilität. Sie koppeln Technologien

aus der Kommunikations-, Informations- und Sicherheitswelt, machen sie effizienter, schlauer, besser und schneller. Das bereits erwähnte Galileo-Testfeld – zu dem Entwicklungslabor und

Hafen-Terminal gehören – ist das Referenzprojekt der seit 2008 laufenden Landesinitiative Verkehrsforschung/Galileo-


12

Transport. Galileo ist übrigens der Name des europäischen

Anhalt im Speziellen als Logistikdrehscheibe in Europa sieht.

breiteten US-Dienst GPS. Doch anders als der Name es vermu-

„Wir sind eine klassische Verteilerregion“, sagt er. „Es geht dar-

Satelliten-Navigationssystems, dem Gegenstück zum weit ver-

ten lässt, beschränkt man sich nicht ausschließlich auf Galileo, sondern will sich perspektivisch allen Satellitensystemen öffnen. Auch eine Frage der Effizienz.

Ich sitze im Büro von Michael Schenk. Vor seinem Namen stehen

elf Abkürzungen, davon allein zwei Mal die Abkürzung für Pro-

fessor. Ich blicke auf ein Miniaturwindrad, das auf dem breiten

Fensterbrett steht und sehe die behäbig dahinfließende Elbe. Michael Schenk ist ein großer, kahlköpfiger Mann mit Brille. Er trägt eine rotbraune Cordhose, ein braunes Jacket und eine freundliche, gelb gestreifte Krawatte. Der mehrfache Titelträger

leitet das Fraunhofer Institut IFF. Er ist ein innovationshungriger

Visionär, der Mitteldeutschland im Allgemeinen und Sachsen-

Als er zu erzählen beginnt, lausche ich gespannt seinen Worten. um, Waren von Nord nach Süd und von Ost nach West zu trans-

portieren. Wir sitzen hier an einer Nahtstelle, die immens ist.“ Doch es geht nicht nur darum, ein blanker Umschlagplatz zu

sein. „Die Logistikbranche wird immer stärker von Innovationen durchsetzt. Sie sorgen für Veränderungen und Investitionen. In

Magdeburg ist es uns mit dem Galileo-Testfeld in einer einzigartigen Weise möglich, komplexe Logistikprozesse und -syste-

me zu entwicklen, sie zu simulieren und sie sogar unter realen Bedingungen zu testen.“ Dafür arbeiten die Wissenschaftler beispielsweise mit dem Dienstleister DHL, dem Modeunter-

nehmen Gerry Weber oder eben dem nahe gelegenen Hafen

zusammen. „Ware wird heute nicht mehr einfach nur hin- und hertransportiert. Ware hat heute eine Arbeit zu leisten.“


Logistik

Nicht nur ein einfacher Container, sondern ein intelligenter Ladungsträger für die City-Logistik von morgen: Der rote

Kleintransporter fährt mit Elektroantrieb und der Wechsel-

behälter steckt voller Sensortechnik, die vor allem den Transport sensibler und wertvoller Waren noch sicherer macht.

um Macht oder Beherrschung im eigentlichen Sinne, weil jeder von den neuen Umschlagskonzepten profitiert“, antwortet er. „Wenn Waren verladen oder umgepackt werden, kann immer etwas schiefgehen. Früher konnte man für beschädigte oder verlorene Ware keinen wirklich haftbar machen. Es fehlte

schlicht der Nachweis. Heute sorgen zum Beispiel die RFID-

und Telematik-Technologien für eine punktgenaue Ortung und

Überwachung der Waren.“ Der Professor macht eine Pause und lässt seine Worten wirken. „Das Modeunternehmen Gerry We-

ber hat das in seine Transportkette integriert. Es sind einfache, kleine Etiketten, die sich in den Textilien befinden. Alles kann jetzt lückenlos überwacht werden, von China bis Deutschland.“

Ich habe neulich ein Zitat des Institutsleiters gelesen: „Ein Test-

feld hat nur Sinn, wenn es der Praxis entspricht.“ Gesagt hat er das im Juni 2010, als im Magdeburger Hafen eine Forschungsplattform für Logistik- und Verkehrssystem feierlich eröffnet

wurde. Im Klartext bedeutet das: Viele Prozesse und Systeme, die Olaf Poenicke und seine Kollegen im Labor entwickeln und ertüfteln, können hier im Hanse-Terminal an der Elbe angewen-

det und auf Herz und Nieren getestet werden. Und ich stehe

praktisch mitten drauf – oder eben mittendrin. Es gibt Schienen, Kräne, Förderfahrzeuge und Container. Es ist das typische Bild eines Hafens, der logistische Hinterland-Drehscheibe und Freiluftlabor in einem ist. Ich stelle mir die Region um Magdeburg als einen riesigen Gü-

„Knotenpunkte stellen immer die kritischen Bereiche in ei-

dem Flughafen Halle/Leipzig, den Häfen in Magdeburg und

die Fracht an, wird verladen, umgepackt und verteilt. Es muss

terverkehrsknoten vor. Jemand hat ihn aus unzähligen Straßen, Halle und einem gut ausgebauten Schienennetz gebunden. Aber das allein bedingt noch lange keine intelligenten Warenströme. Es geht um Know-how. „Es geht um die Kunst, die Tech-

nologietreiber Navigation, Ortung und Kommunikation auszu-

feilen, sie zu kombinieren und schlau einzusetzen“, erklärt der

Institutsleiter. Treiben Magdeburger Forscher wie Olaf Poenicke also die Technologien auf die Spitze? Michael Schenk nimmt

einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, bevor er antwortet. „Das müssen sie. Und das ist nur logisch, denn alle bisherigen logistischen Prinzipien stehen auf dem Prüfstand.“

Ich frage Michael Schenk, ob es nicht auch darum geht, wer in Zukunft die Warenströme beherrschen wird. „Es geht nicht

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

ner Logistikkette dar“, sagte Karl-Heinz Ehrhardt. „Hier kommt

schnell gehen, und es dürfen keine Fehler passieren.“ Der Mann mit den dunklen, vollen Haaren ist Geschäftsführer der Mag-

deburger Hafen GmbH. Wenn er von seinem Hafen und dem Logistik-Testfeld spricht, fällt gern das Wort „trimodal“. Es bedeutet, dass genau hier Wasserweg, Straße und Schiene verbun-

den werden. Ein Knotenpunkt, in dem die innovativen Prozesse

ganz genau erprobt werden können. Das Hanse-Terminal des Magdeburger Hafens ist eine begehrte Testumgebung für An-

wendungsentwicklungen in Telematik und Logistik – ein ebenso simpler wie beeindruckender Abgleich von Soll- und Ist-Prozessen. So wie früher. Nur effizienter. n

www.iff.fraunhofer.de

13


14

Wissenschaft

Asiatische Körbchenmuscheln in der Elbe Mit TERENO sind Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums dem Klimawandel auf der Spur Von Annette Schneider-Solis Prof. Markus Weitere beugt sich über ein Wasserbecken und fischt

27  000 Quadratkilometer. Es erstreckt sich vom Harz bis zur

sam mit seinem Mitarbeiter Dr. Helge Norf. Die Wissenschaftler

sich hier Einflüsse wie etwa Klima- oder Landnutzungswandel

Muscheln aus dem Sand. Konzentriert betrachtet er sie gemeinvom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) beobach-

ten, wie sich die Einwanderer aus Asien im Elbwasser entwickeln. Dazu leiten sie ständig frisches Elbwasser durch die Behälter in einem Messcontainer am Magdeburger Elbufer, in denen die Muscheln liegen. „Asiatische Körbchenmuscheln gab es hier ursprünglich nicht, aber sie haben sich in weiten Teilen der nörd-

lichen Hemisphäre ausgebreitet“, erklärt Markus Weitere. „Im Rhein gibt es sie in Massen, hier in der Elbe bislang eher wenig.“

Diese Muscheln sind zwar fremd, doch sie helfen, das Leben im

Elbe, von Leipzig bis Magdeburg. „Wir wollen herausfinden, wie auswirken“, erklärt Steffen Zacharias. „Das Problem ist, dass Forschungsprojekte normalerweise nur für wenige Jahre gefördert

werden und die Messungen dann oft eingestellt werden.“ Um aber Modelle für die langfristige Entwicklung der Umwelt erstellen zu können, müssen Daten über viele Jahre gesammelt

werden. „Mit TERENO wird ein dichtes Netz an Instrumenten für Messungen über einen langen Zeitraum aufgebaut und der Forschung zur Verfügung gestellt.“

Fluss im Gleichgewicht zu halten. Durch Nährstoffe im Wasser

Markus Weitere interessieren in diesem Verbund speziell die Fließ-

wiederum filtern das Wasser und verhindern zu starke Algen-

flüssen ein weiteres großes Untersuchungsgebiet. Dort kann er

bilden sich Algen, die das Wasser grünlich färben. Die Muscheln

bildung. „Uns interessiert, warum sich die Muscheln in der Elbe nicht so wohl fühlen wie im Rhein“, begründet Markus Weitere die Beobachtungen. „Wir stellen aber fest, dass sie sich hier in den Becken hervorragend entwickeln.“

Die Beobachtung der Muscheln und eine Analyse ihrer Funk-

tion im Ökosystem ist einer von vielen Bausteinen innerhalb

von TERENO. Das Kürzel steht für Terrestrial Environmental Observatories. Innerhalb des TERENO-Projekts, an dem sechs

Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft beteiligt sind, werden verschiedenste Umweltdaten erfasst. Vier Regionen in Deutschland sind dabei im Visier der Wissenschaftler. Dr. Stef-

fen Zacharias koordiniert TERENO am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und damit Wissenschaftler verschie-

denster Fachrichtungen. Am UFZ erfassen und untersuchen

Forschergruppen für einen langen Zeitraum Wetter, Wasser, Boden, Biodiversität, Luftqualität, Umweltökonomie und die

Einflüsse sich ändernden Klimas sowie der Landnutzung auf die verschiedenen Umweltbereiche. Innerhalb von TERENO arbei-

gewässer. Neben der Elbe hat er an der Bode und ihren Neben-

auf Daten zurückgreifen, die mehrere Jahrzehnte zurückreichen. Das 3 300 Quadratkilometer große Einzugsgebiet der Bode ist seit

den 1960-er-Jahren mit hydrologischen Messinstrumenten aus-

gestattet. Spannend ist es auch wegen seiner unterschiedlichen Umweltbedingungen. Die Niederschlagsmengen reichen von

etwa 450 Liter pro Jahr am Unterlauf bis zu 1 300 Liter am Brocken.

Am Oberlauf wird das Land vor allem forstwirtschaftlich genutzt, weiter flussabwärts zunehmend landwirtschaftlich. Noch weiter flussabwärts muss der Fluss auch immer mehr Einträge durch die Siedlungen verkraften. Dünger, Nitrate, Chemikalien, Fassadenfarben, Arzneimittel, Nährstoffe – alles Substanzen, die das Wasser-

system sowohl an der Oberfläche als auch im Grundwasser lange in seinem Gedächtnis behält. „Uns interessiert, welche Wechselwirkungen durch die stoffliche Belastung aus der Umgebung angeschoben werden. Wie stark werden Ökosystemleistungen beeinflusst, und welche gewässerinternen Prozesse sind wichtig, um die

Belastung abzupuffern? Um das zu erfahren, analysieren wir Tiere und Pflanzen, das Wasser aus der Umgebung, das Grundwasser.“

ten Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen zusammen

In großen Gewässern wie der Elbe wiederum stellen die Wissen-

wirkungen in der Umwelt zu erfassen. Die Forscher speisen ihre

fest. So sind die großen Flüsse mittlerweile als Bundeswasser-

und schaffen damit die Grundlage, die vielfältigsten Wechsel-

Daten auch in eine gemeinsame Plattform ein. Künftig sollen sie für jedermann im Internet abrufbar sein.

Steffen Zacharias zeigt auf einer Landkarte auf seinem Notebook: allein das TERENO-Gebiet in Sachsen-Anhalt umfasst zirka

schaftler ein Zusammenwirken mit anderen Umwelteinflüssen straßen über Kanäle miteinander verbunden. Diese Öffnung zusammen mit dem Schiffsverkehr sorgt für einen regen Aus-

tausch zwischen ehemals getrennten Einzugsgebieten. Treffen der Eintrag von Substanzen ins Gewässer und veränderte Klima-

bedingungen zusammen, können sich diese Einflüsse potenzie-


Wissenschaft

Markus Weitere und Helge Norf im Messcontainer. Sie beobachten hier

unter anderem, wie sich asiatische Körbchenmuscheln im Elbwasser verhalten.

ren. „Das Ergebnis ist, dass neue Arten zuwandern und andere

ist der verfahrenstechnische und finanzielle Aufwand in der Trink-

verzeichnen eine Verschiebung von Organismen und damit eine

unter Wissenschaftlern umstritten. Sind es steigende Temperatu-

bis dahin im Fluss lebende Arten zurückgedrängt werden. Wir Veränderung des Ökosystems“, berichtet Markus Weitere.

Im Flussgebiet der Bode werden die Wissenschaftler des UFZ auch

vom Landesbetrieb für Hochwasserschutz und dem Talsperrenbe-

wassergewinnung.“ Die Ursachen für diese Prozesse sind bislang

ren? Haben sich die Prozesse im Boden verändert? Ist der Rückgang des sauren Regens schuld? Das UFZ und TERENO wollen hier zur Aufklärung beitragen.

trieb Sachsen-Anhalt unterstützt. Letzterer hat als Betreiber der

Während in großen Fließgewässern immer mehr fremde Arten

re, sein ganz eigenes Interesse an der Forschung. Dr. Karsten Rinke,

andere Phänomene. So können sich durch den Wechsel von Hoch-

größten Trinkwassertalsperre Deutschlands, der Rappbodetalsperder im TERENO-Verbund die stehenden Gewässer erforscht, nennt

die Gründe dafür: „Es ist ein seit längerem beobachtetes Phänomen der nördlichen Hemisphäre, dass gelöste organische Kohlen-

stoffe, insbesondere Huminstoffe, im Wasser zunehmen. Neben Effekten auf die Gewässerchemie und Wasserfärbung machen die

Huminstoffe vor allem die anschließende Trinkwasseraufbereitung aufwändiger. Je höher der Gehalt an diesen Stoffen, desto größer

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

auftauchen, registrieren die Wissenschaftler an kleinen Flüssen wasser- und Trockenperioden neue Arten ansiedeln. Andere, die

mit dieser Art von Stress nicht klarkommen, verschwinden. Dieser Wechsel in der Wasserführung ist weit bedeutender als ein oder

zwei Grad Temperaturunterschied. „Es gibt jedoch keine einfache

Formel für die Folgen des Klimawandels“, erklärt Markus Weitere. „Allerdings gibt es Hebel wie ausbleibende oder seltener werdende Frostereignisse im Winter. Das kann eine starke Wirkung

15


16

Wissenschaft

Steffen Zacharias prüft, wieviel Niederschlag einem Baum zur Verfügung steht.

Ökohydrologische Messfelder wie am UFZ werden bald auch in der Börde aufgebaut.

haben.“ Das Verschwinden oder Hinzukommen einzelner Arten

del bereits da ist“, interpretiert Steffen Zacharias. „Die Landwirte

men. Die Wissenschaftler vergleichen ihre Erkenntnisse mit

regnet. Das beobachten wir seit 50 Jahren. Dank der Klima- und

hat weitreichende Folgen für die Gemeinschaft von Organis-

denen anderer Forscher. Etwa vom Rhein. Der Fluss ist stärker durch Kraftwerke belastet als die Elbe und daher wärmer. „Derzeit wandern dort massenhaft Grundeln ein“, erzählt Markus

Weitere, „eine Fischgruppe, die im Südosten Europas zu Hause ist. Weil die kalten Winter fehlen, können Fremdlinge gut überleben. Aber die Grundeln bringen das gesamte Nahrungsnetz

und damit die Struktur der Lebensgemeinschaften durcheinander. Deren Einfluss auf das Ökosystem ist letztendlich stärker als

der direkte Einfluss des Temperaturanstiegs. Wir untersuchen, ob das auch an der Elbe passieren kann und was das für Auswirkungen auf die Funktion des Ökosystems hätte.“

Über die Langzeitdaten, die dank TERENO gesammelt werden, lassen sich auch Einflüsse eines sich ändernden Klimas ablesen. Ein warmer Sommer wirkt sich auf die Flüsse anders aus als ein

kühler. „An der Bode sehen wir ganz deutlich, dass der Klimawan-

leben bereits mit der Tatsache, dass es wärmer wird und weniger Niederschlagsmessgeräte und der vielen Pegel insbesondere im

Bode-Einzugsgebiet können wir teilweise auf 100 Jahre alte Daten zurückgreifen.“ Diese und die jetzt von TERENO gesammelten Da-

ten sind eine der wichtigsten Grundlagen für wissenschaftliche

Rechenmodelle. Sie sind das Werkzeug, um vorherzusagen, wie sich die Umwelt verändert und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um diesen Veränderungen zu begegnen. n

www.ufz.de

www.tereno.net


Wir sind

Sachsen-Anhalt

„Ich mag Sachsen-Anhalt, weil ich mich in diesem Land zu Hause fühle und wir hier keine ruhige Kugel schieben.” Nadine Kleinert (36), die „Grande Dame“ des Kugelstoßens, ist gebürtige Magdeburgerin und eine der erfolgreichsten Athletinnen des SC Magdeburg. Ihren ersten großen

Eine Gemeinschaftsaktion von Sachsen-Anhalt-Magazin und radio SAW. www.sachsen-anhalt-magazin-verlag.de www.radiosaw.de www.wir-sind-sachsen-anhalt.de

internationalen Sieg feierte die 1,90 m große Sportlerin als U 23-Europameisterin im Jahr 1997. Sie ist mehrfache Deutsche Meisterin. Bei den Olympischen Spielen 2004 belegte sie den 2. Platz, ebenso bei den Weltmeisterschaften 1999, 2001, 2006 und 2009. Bei den Weltmeisterschaften 2004 und 2007 wurde sie Dritte.


18

Medizin

Wenn ein Mensch zu früh geht AOK Sachsen-Anhalt spannt ambulantes medizinisches Versorgungsnetz für Kinder wie Jenny Franke Von Cornelia Heller Jenny schaut keinen an. Und Jenny redet nicht. Sie sitzt neben

der den Klinikflur quert, sehen viele erst auf und dann pietät-

guckt beharrlich zur Treppe samt ihrem verglasten Aufzug. Man

Tropfs fließt wasserhelle Flüssigkeit.

ihrer Mutter im Foyer des halleschen Universitätsklinikums und kann die tragenden Stahlseile sehen und die Kabel, die sich mit

dem Auf und Ab des Fahrkorbes dehnen oder lockern. Ein endloses Spiel zwischen den Etagen. Jenny ist 11, bildhübsch, zart

gebaut. Sie wirkt kess und patent, sicher verankert im Leben, scheinbar sicher verortet in der Zukunft. In Jennys Haar leuch-

ten zwei rubinrote Strassperlen, eine funkelnde helle Perle entdecke ich auch am linken Nasenflügel, eine auf ihrem rechten

Schneidezahn. Aber dessen zartes Glitzern werde ich erst später sehen dürfen. Später, wenn Jenny in der Cafeteria sitzen und

gemeinsam mit ihrem Arzt erzählen und lachen wird. Wir werden uns darüber freuen, werden mitlachen und reden und doch

wissen, dass wir lediglich Zuschauer im Leben eines Mädchens

sind, das genau weiß, was „Auf“ und „Ab“ bedeutet, und dessen „Limit“, wie es heißt, bereits abgemessen ist. Denn Jenny ist un-

voll weg. Der Kopf des Kindes ist kahl, durch die Schläuche des Jenny war keine drei Monate alt, als sich eine Beule am Oberarm des Säuglings zeigte und „sich die schlimmsten Befürch-

tungen bestätigten“. Operationen, Bestrahlungen, jegliche nur erdenkliche ärztliche Behandlung folgte. Und doch „änderte

sich alles für immer.“ Angst wurde ein ständiger Begleiter. Angst vor dem Rückfall, der 2005 kam, Angst trotz des verhaltenen Optimismus, der 2007 aufkeimte, schließlich Angst seit

2009, als ihre Lunge zusammenfiel, und endgültig mit dem Mai dieses Jahres, der die Gewissheit brachte, dass sich Metas-

tasen im Körper gebildet haben und „mit oder ohne Behandlung keine Überlebenschance, nur eine Verlängerung erreicht

werden kann“, erzählt Steffis Mutter. Ich kann kaum in ihre Augen sehen.

heilbar an Krebs erkrankt.

„Wenn ein Kind stirbt, ist das das Schlimmste, was einer Fa-

Erst vor zwei Tagen habe ich dieses Wort zum ersten Mal gehört:

stellvertretende Direktor des halleschen Uniklinikums und

Lebenslimitierende Erkrankungen. Es meint Krankheiten, bei denen es keine realistische Hoffnung auf Heilung gibt, an denen

Kinder, respektive Jugendliche, vor dem Erreichen des Erwachsenenalters sterben werden – deren Verlauf tödlich ist. In Sachsen-

Anhalt zählt man jährlich etwa 30 derartiger Kinderschicksale. Für die betroffenen Familien ist die Diagnose schlichtweg eine

Katastrophe und unvorstellbar schwer – wie für die Weißenfel-

serin Steffi Franke, Jennys Mutter, die sich seit der Geburt ihres Mädchens vor elf Jahren mit der heimtückischen Erkrankung und ihrem Schicksal auseinandersetzen muss.

milie passieren kann“, sagt Prof. Dr. Christof Kramm. Er ist der Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin. Er weiß, wovon er

spricht. Täglich hat er mit schwerstkranken Patienten und ih-

ren Angehörigen zu tun. „Alle, das heißt nicht nur der kleine Pa-

tient, sondern auch seine Eltern und seine Geschwisterkinder, sind hiervon in stärkster, kaum vorstellbarer Weise betroffen.“ Dieser Gedanke war Ausgangspunkt aller Bemühungen, die sich seit 2006 mit Unterstützung der Deutschen Kinderkrebshilfe um den Aufbau eines Kinderpalliativteams mit heute vier

speziell ausgebildeten Kinderärzten in Halle rankten und das seither diese spezielle Form der Medizin anbietet.

Der Windhauch eines weißen Kittels lässt uns aufschauen. Dr.

Palliativ, lateinisch „pallium“ für „Mantel“, steht dabei für eine

turnusmäßigen Untersuchung. Kühnöl kennt die Familie seit

medizinische Unterstützung für Kranke und Sterbende geben

Caspar Kühnöl, junger Assistenzarzt am Klinikum, holt Jenny zur

2009, er ist ihr erster Ansprechpartner in allen Fragen, mindestens einmal in der Woche ist man gegenwärtig in Kontakt. Als sich die Tür des Behandlungszimmers geschlossen hat, scheint

die Zeit ihre Konsistenz zu ändern. Träge nur rückt der Minu-

tenzeiger vor und lähmt das Geschehen auf der Fläche mit den wartenden Patienten, alten wie jungen, ihren Familien. Als eine Mutter mit ihrer schwerkranken Tochter und einem Tropfstän-

Behandlung, die menschliche, psychosoziale, spirituelle und

will. Palliativmediziner heilen nicht, sie lindern. Ihnen zur Seite

stehen Psychologen, Sozialarbeiter und Seelsorger. Sie helfen

der ganzen Familie, ob Patient, Eltern oder den Geschwistern, über alle Phasen der Erkrankung ihres Angehörigen und nicht

selten darüber hinaus. Bis heute gilt diese Art der Versorgung in Deutschland als unterentwickelt mit einem noch immer großen Nachholbedarf im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn.


Medizin

Jenny – sicher verankert im Leben, nur scheinbar sicher verortet in der Zukunft

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

19


20

Medizin

Der Name für das sachsen-anhaltische Vorzeige-Modellprojekt

Die AOK Sachsen-Anhalt versteht sich dabei als Vorreiter. Nach der

Kind, das mit diesem neuen ganzheitlichen medizinischen und

te ambulante Palliativversorgung“ für betroffene Erwachsene –

war 2006 schnell gefunden: „Clara“, in Erinnerung an das erste

psychosozialen Betreuungsangebot beschützt in seinem gewohnten häuslichen Umfeld und eben nicht auf einer Intensivstation sterben durfte.

Eine solche „Spezialisierte ambulante pädiatrische Palliativver-

sorgung“, abgekürzt SAPPV, in Zusammenarbeit mit anderen Kliniken flächendeckend als Netz zu spannen und so für alle Betroffenen so viel Lebensqualität wie nur möglich bis zum Ende

aufrechtzuerhalten, ist seither Ziel vieler guter Geister im Land.

Palliativmediziner im fachlichen

Austausch: Dipl.-Med. Gabriele Krötki

(vorn links) vom Palliativ-Care-Team

des Medizinischen Versorgungszent-

rums Cracau betreut schwerstkranke

Erwachsene wie den Magdeburger

Wolfgang Weber zu Haus. Prof. Dr. Christof Kramm (vorn rechts) ist

Kinderpalliativmediziner im Team

„Clara“ des halleschen Uniklinikums, das schwer erkrankte Kinder in ihrer

häuslichen Umgebung pflegt.

Einführung des vergleichbaren Netzwerks für eine „Spezialisier-

einer gesetzlichen Forderung aus dem Jahr 2007 folgend – hat die Krankenkasse dafür im November 2011 eine Verein-

barung mit zwei Kinderpalliativzentren auf den Weg gebracht. Sie soll nun auch eine optimale medizinische und pflegeri-

sche Versorgung für schwerstkranke Kinder wie Jenny im Land gewährleisten. Die Hallenser mit „Clara“ sichern dabei die

Betreuung des Südens Sachsen-Anhalts, das Medizinische Versorgungszentrum Cracau der Pfeifferschen Stiftungen Magdeburg ist erklärter Partner für den nördlichen Teil.


Medizin

„Für die Eltern ist es am wichtigsten, dass ihr Kind nicht leidet.

Schritt. Er greife auf die bestehenden Netzwerke von Kinder-

tung überfordert zu sein“, erläutert Ralf Dralle, Vorstand der

und Pflegediensten zurück und ermögliche, dass alle Kinder, die

Gleichzeitig fürchten sie, mit der Last der großen Verantwor-

AOK Sachsen-Anhalt. Die Vereinbarungen böten nun die Möglichkeit, eine optimale medizinische Versorgung und Betreuung schwerstkranker Kinder mit dem Wunsch nach Nähe und gemeinsamer Zeit im eigenen Zuhause zu verbinden. „Fast alle

Kinder wollen zu Hause sterben“, sagt mir Christof Kramm, mit der Erfahrung als Kinderarzt und Kinderpalliativmediziner. „Auch die meisten Eltern wollen dort von ihren sterbenskranken Kindern Abschied nehmen.“ Der ambulante Versorgungsvertrag mit der AOK Sachsen-Anhalt sei dabei ein wichtiger erster

palliativteams, Hospizdiensten, niedergelassenen Kinderärzten zu Hause sterben möchten, das auch können und dabei nahezu

auf die gleichen Ressourcen zurückgegriffen werden kann wie in Kinderkliniken und Kinderhospizen. Und Kinder wie Jenny müssen dank der 24-stündigen Rufbereitschaft und den inten-

siven Hausbesuchen von Arzt und Pflegepersonal nicht auf die Wärme und Ruhe in ihren Familien und ihres Zuhauses verzichten. „Es ist unsere Aufgabe, aus der verbleibenden Lebenszeit das Beste für die Patienten zu machen“, sagt Kramm.

Das dachten sich wohl auch die Freunde der Familie Franke. Über ein Plakat, das sie in der Nähe von Jenny‘s Heimatstadt

Weißenfels, in Großkorbetha, verteilten und das um Spenden

für eine Überraschungsparty zu Ehren von Jenny warb, wurde

das Schicksal des Mädchens über Nacht in der Region bekannt. Zeitungen berichteten darüber und Geld wurde für die Erfüllung letzter Herzenswünsche gespendet. Eine ungeahnte Welle der Hilfsbereitschaft setzte ein. Die bis heute anhält.

Endlich öffnet sich die Tür. Jenny und ihre Mutter kommen ge-

löst aus dem Behandlungszimmer. Sie können gehen. Nach

Hause. Vorbei an all den Wartenden. Und Jenny scheint froh. Erst jetzt sieht man, dass ihr rechter Arm viel kürzer als der linke

ist. Später in der Cafeteria bei Milchkaffee und Latte macchiato erzählt Steffi Franke, dass gerade erst am Vortag Friseure aus

Weißenfels Jenny einen unvergesslichen Tag bereiteten, sie frisierten und schminkten. Im Anschluss lud ein Fotograf sie zu einem Fotoshooting ein. Natürlich gab es im Oktober die ersehnte

Überraschungsparty. Außerdem war die Familie seit Jahren das erste Mal wieder im Urlaub. Und die hallesche Musikband „Viertelpoet“ hat für das Mädchen gar ein Lied mit dem Titel „Engel“ geschrieben, sogar ein Video mit ihr dazu gedreht. „Jenny hat

jetzt eine gute Zeit. Durch die gute medizinische Betreuung, durch die Hilfsbereitschaft vieler lieber Menschen und der un-

ersetzlich guten Freunde geht es ihr sehr viel besser“, sagt Steffi

Franke mit einem liebevollen Blick auf ihre Tochter. „Man sieht, wie glücklich sie ist.“ Und tatsächlich. Ausgelassen erzählt Jenny

jetzt mit Caspar Kühnöl, es sprudelt regelrecht aus ihr heraus. Und dann darf ich es sehen, das zarte Glitzern.

Nicht nur als Zahnschmuck während eines warmen, offenen Kinderlachens.

Sondern auch in ihren Augen. n

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

www.aok.de/sachsen-anhalt

www.medizin.uni-halle.de

21


22

Wirtschaft

An den Pulsadern der Industrie Weber Rohrleitungsbau kehrt nach mehr als 40 Jahren an seinen Ursprungsort Merseburg zurück Von Frank Zimnol Für den Laien hat es was von Magie: Ein zehn Zentimeter star-

Im August 1945 versuchte er einem Major der Roten Armee

erten Automaten, um schließlich, in einem vorbestimmten

ehemaligen IG Farben in Buna, die den Bombenhagel schadlos

kes Edelstahlrohr schiebt sich durch einen computergesteu-

Radius, sauber gebogen, wieder zum Vorschein zu kommen. Ein alltäglicher Vorgang im Werk Merseburg von Weber Rohr-

leitungsbau. „Je höher der Vorfertigungsgrad, desto geringer

der Montageaufwand auf der Baustelle“, sagt Geschäftsführer Guido Kalfa. Denn für millimetergenau gebogene Rohre benö-

tigt man keine teuren Formstücke und weniger Schweißnähte. Das senkt die Fertigungskosten, ganz im Interesse der Kunden. Bei der Kölner Weber-Gruppe, einem der führenden deutschen Anbieter im industriellen Rohrleitungsbau, kommen modernste Technologien zum Einsatz. Wenn es sein muss, können auf diese

Weise selbst doppelwandige Rohre in jeden beliebigen Radius gebogen werden. Das ist die hohe Schule in diesem Metier. In einem Firmenvideo heißt es dazu süffisant: „Die Profis von Weber beherrschen diese Methode. Wie? Das würden viele gerne wissen.“

klarzumachen, wie sinnvoll es doch wäre, eine Karbidanlage der überstanden hatte, jedoch von den Alliierten stillgelegt wur-

de, wieder in Gang zu setzen. Karbid ergibt Acetylen, Acetylen Schweißgas, argumentierte Hans Weber. Der russische Offizier

forderte Konstruktionsunterlagen der Anlage, ließ aber dann lange nichts von sich hören. Doch dann kam es knüppeldick. An

den Firmenchef erging der Auftrag, mit 20 Leuten anzurücken, besagte Karbidanlage abzubauen, zu konservieren und in Kisten zu verpacken. Weber schwante nichts Gutes. Wer, wenn nicht

er und seine Männer hätten die Anlage in Stalins Reich wieder

installieren sollen? Nachdem er noch eine ernstzunehmende

telefonische Warnung erhalten hatte, „morgen früh im eigenen Interesse nicht mehr in Merseburg zu sein“, floh er mit seiner Familie Hals über Kopf in den Westen. Am 6. Oktober 1948 wurde die Firma Weber in Köln neu gegründet.

Die Weber-Gruppe realisiert mit 1 980 Mitarbeitern in 12 Ein-

„Es war für mich nach der Wiedervereinigung keine Frage, dass

den zum Beispiel im Bereich der Chemie zählt alles, was in der

noch in Merseburg geborener Sohn Dierk, der 1972 in dritter

zelfirmen einen Umsatz von 230 Millionen Euro. Zu den Kun-

Branche Rang und Namen hat. Beispielsweise die BASF. Unvorstellbar aber wahr: Das Familienunternehmen Weber arbeitet

seit fast 90 Jahren für diesen Chemieriesen. Anfangs nicht in Ludwigshafen, sondern in Leuna. Dort hatte die BASF in den 1920er Jahren einen neuen Standort gegründet. Die Eisenwerke Kaiserslautern, eine Montagefirma, die in Ludwigshafen viel

für die BASF tätig war, folgte dem wichtigen Auftraggeber nach

Leuna. Mit der Leitung des Büros wurde ein Ingenieur namens

Karl Weber beauftragt. 1922 machte er sich mit einem Partner

selbstständig und gründete die Mitteldeutsche Industriewerke GmbH. Das war die Keimzelle der heutigen Firma Weber Rohrleitungsbau.

Das junge Unternehmen konnte sich dank der ringsum aufstre-

benden Chemie über Auftragsmangel nicht beklagen. Kaum

ein Bauvorhaben, an dem die Weber KG, wie das Unternehmen ab 1937 firmierte, nicht beteiligt war. Der 2. Weltkrieg bereitete dem Aufschwung jedoch ein jähes Ende. Am 5. Dezember 1944

traf eine Bombe das Werk und zerstörte fast die gesamten Produktionsstätten. Karl Webers Sohn Hans, der das Firmenruder

1937 übernommen hatte, wagte nach Kriegsende den schwie-

rigen Neubeginn, arbeitete viel mit den Russen zusammen.

wir wieder dorthin gehen, wo alles begann“, sagt Hans Webers Generation das Ruder des inzwischen kräftig gewachsenen Unternehmens übernahm. Es sei aber riskant gewesen, in Merseburg in einem Gewerbegebiet neu zu bauen, denn 1990/91

war noch ziemlich ungewiss, wie es mit der mitteldeutschen

Chemie weitergehen würde. Investoren wie Bayer in Bitterfeld

bildeten zunächst die rühmliche Ausnahme. Erst einige Jahre später gelang der Durchbruch, auch ausgelöst durch den Bau

der neuen Leuna-Raffinerie als Rohstofflieferant. Dennoch: Im Hause Weber wollte man realistisch bleiben, sich nicht über-

nehmen. Herbert Misselwitz, langjähriger Geschäftsführer in Merseburg, erinnert sich genau: „1992 hatten wir eigentlich

nicht größer als 200 Mitarbeiter werden wollen.“ Doch das rasante Wachstum im mitteldeutschen Chemiedreieck mit

Investoren wie Linde, Dow oder Domo erforderte auch von einem so stark nachgefragten Partner wie Weber noch stär-

keres Engagement als zunächst vermutet. Die Erwartungen bei Neugründung am Ursprungsort wurden Mitte bis Ende

der 1990-er-Jahre bei weitem übertroffen. Heute ist die Weber

Rohrleitungsbau GmbH & Co. KG Merseburg mit inzwischen fast 600 Mitarbeitern zur zweitgrößen Einzelfirma der Gruppe aufgestiegen.


Wirtschaft

Der Naumburger Guido Kalfa, Absolvent der TU Dresden, stieß 2006 zu Weber Rohrleitungsbau. Er begann als Kaufmännischer Leiter, stieg aber schon bald zum Geschäftsführer in Merseburg auf.

Ohne Rohrleitungen läuft in der modernen Wirtschaft nichts.

turnusgemäß zu reinigen, instandzusetzen und auf Herz und

Wasser, Gase, Grundstoffe, Zwischen- wie Endprodukte zu trans-

Weber-Signet auf dem Schutzhelm munter mit. Ihre vertraglich

Sie sind im technologischen Gefüge unabdingbar, dienen dazu portieren, Stoffkreisläufe in Gang zu halten. Das gilt nicht nur für

die Chemie. Auch in Papierfabriken, bei Lebensmittel-Herstellern, in Kraftwerken oder der pharmazeutischen Industrie sind Rohrverbindungen so lebensnotwendig wie Pulsadern im menschli-

chen Körper. Beispielsweise auch in der Erdölverarbeitung. Als

die Total Raffinerie Mitteldeutschland in Leuna Mitte 2011 für drei Wochen komplett stillgelegt werden musste, um die Anlagen

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

Nieren zu prüfen, da mischten die Monteure mit dem runden vereinbarte Aufgabe war es, die so genannten Prozessanlagen fit

für die nächsten zwei Jahre Dauerbetrieb zu machen. Total über-

trug diese Aufgabe keinem Unbedarften. Die Weber-Spezialisten kennen die Raffinerie durch unzählige Instandsetzungseinsätze wie ihre Westentasche. Diese Kontinuität, diese hohe fachliche Kompetenz, sind es, ob nun in Leuna oder an zahlreichen anderen Industriestandorten, die den guten Ruf von Weber ausmachen.

23


24

Wirtschaft

Um beim Beispiel Total Raffinerie zu bleiben, Geschäftsführer

Kalfa macht eine einfache, aber eindrucksvolle Rechnung auf: „Wenn eine solche Raffinerie auch nur einen einzigen Tag spä-

ter als geplant ans Netz geht, dann bedeutet das Verluste in

Millionenhöhe.“ Logisch, dass Großunternehmen für Einsätze

dieser Art auf Partner setzen, die ihr volles Vertrauen genießen. Weber Rohrleitungsbau hat sich eben dieses Vertrauen in Jahren und Jahrzehnten erworben.

Das erstklassige Know-how, die flexible Ausrichtung, die Fähigkeit komplexe Abläufe zu meistern sowie das faire PreisLeistungs-Verhältnis mögen wohl auch den Ausschlag gegeben

haben, dass die Merseburger Filiale jenen äußerst lukrativen Auftrag der Wacker Chemie AG bekam. Der Münchner Konzern realisiert derzeit an seinem Standort im sächsischen Nünchritz

eine der bisher größten Investitionen der deutschen Chemieindustrie überhaupt. Für 760 Millionen Euro entsteht dort eine

Anlage zur Herstellung von Polysilicium mit 450 Arbeitsplätzen. Hochreines Silicium erfreut sich in der Solarindustrie wie in der

Elektronikbranche stark wachsender Nachfrage. Für Weber war

dieser Auftrag eine besondere Herausforderung. „Die Qualitätsanforderungen waren höher denn je“, beschreibt Kalfa die

Besonderheit und geht ins Detail. „Die geforderten EdelstahlRohrleitungen mussten von höchster Reinheit sein. Bunt schil-

lernde Auflauffarben, wie sie beim Schweißen von Edelstahl sonst typisch sind, waren nicht zulässig.“ Die Weber-Profis haben es geschafft, die Rohrverbindungen ohne die sonst üblichen Regenbogen-Schattierungen zustande zu bringen. Die

Anlage der Superlative soll übrigens in den nächsten Monaten in Betrieb gehen.

Alles deutet darauf hin, dass Weber Merseburg im Falle

Nünchritz eine weitere erstklassige Referenz an seine Fahnen heften kann. Auch bisher schon waren Fachleute verschiedens-

ter Branchen voll des Lobes über die Leistungen von Weber. Andreas Hiltermann, Geschäftsführer der Standortgesellschaft InfraLeuna GmbH, verweist darauf, dass Produktleitun-

gen in der Chemie besonders sensible Anlagenteile darstellen. „Die außerordentliche Zuverlässigkeit, die Weber auszeichnet, garantiert ein hohes Maß an Sicherheit beim Betrieb der Anlagen.“ Im modernen Anlagenbau kommen hochwertige Materialien zum Einsatz. Die Weber-Fachleute beherrschen die Verarbei-

tung etwa von Edelstahl aus dem Effeff.

Andreas Schüppel, Geschäftsführer des Zeitzer

Altöl-Verwerters Puralube GmbH betont, von Weber noch nie

enttäuscht worden zu sein. „Wir konnten dadurch beim Bau unserer Anlage alle Zeitpläne halten und sind pünktlich in Betrieb gegangen.“


Wirtschaft

Präzision ist alles. Dieses seltsam anmutende Konstrukt ist für ein Kraftwerk bestimmt. Die Schweißer Matthias Büchau und Immanuel Haft müssen für die Fertigung einer solchen Gas-Spinne ihr ganzes fachliches Können aufwenden.

Gesellschafter Dierk Weber, der übrigens die Verantwortung

alten Länder. „Auch wenn Merseburg bis jetzt noch die Nummer

Benjamin übergeben will, sieht die Entwicklung der Firma in

Flaggschiff sein.“ n

für das Unternehmen in absehbarer Zeit in die Hände von Sohn Merseburg noch längst nicht am Ende. Er glaubt, dass die ostdeutsche Chemie größere Wachstumschancen hat als die der

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

zwei in der Gruppe ist, vielleicht wird es in zehn Jahren unser

www.weber-unternehmensgruppe.com

25


26

Visionen

Wirtschaft und Wissenschaft im Wechselspiel Von Prof. Birgitta Wolff, Ministerin für Wissenschaft und Wirtschaft des Landes Sachsen-Anhalt

Von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt stammt der Spruch: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Ich sehe das an-

ders. Politik muss nicht nur Gegenwart regeln, sondern auch

Zukunft mit gestalten. Wer Visionen hat, sollte deshalb in die Politik gehen. Für Sachsen-Anhalt jedenfalls verfolgen wir die Vision einer innovativen Wirtschaftsstruktur als Grundlage für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung. Damit dies keine

Fata Morgana bleibt, setzen wir bei der Wirtschaftsförderung künftig noch stärker auf die Verbesserung der Innovationskraft der heimischen Unternehmen. Denn Innovationen sind

der Motor für Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftliche Entwicklung.

Derzeit wird die Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft auch durch strukturelle Besonderheiten wie etwa die Kleinteiligkeit

begrenzt. Rund 95 Prozent der Unternehmen haben weniger

als 20 Mitarbeiter. Dadurch fehlt es häufig an Personal für Forschung und Entwicklung oder an Möglichkeiten zur Kapitalbeschaffung. Zudem wird die Innovationsaktivität durch die

ungünstige Branchenstruktur mit starker Ernährungs- und

Bauwirtschaft sowie das Fehlen von Großunternehmen und Konzernzentralen erschwert. Im Ergebnis sind in SachsenAnhalt wie im gesamten Osten nur rund 40 Prozent des For-

schungspersonals im Unternehmenssektor zu finden; in Westdeutschland liegt der Anteil hingegen bei etwa zwei Dritteln.

Eine grundlegende Veränderung dieser Relationen ist ein langfristiger Prozess. Es bedarf hierfür eines ganzen Bündels wirt-

schaftspolitischer Maßnahmen. Dazu gehören die Ansiedlung von Unternehmen mit Forschungskapazitäten, der Ausbau der innovationsorientierten Infrastruktur, die Unterstützung innovativer Existenzgründungen sowie nicht zuletzt eine zielorientierte Innovationsförderung. Ziel der letzteren ist es, Innovationsprozesse sowie den Wissens- und Technologietransfer

möglichst punktgenau zu unterstützen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im Land zu verbessern.

Dabei werden wir den Innovationsbegriff, der bislang einen vor

allem technisch-ingenieurwissenschaftlichen Anstrich hatte, künftig weiter fassen. Denn im Gespräch mit Unternehmern

hat sich gezeigt, dass unternehmerische Herausforderungen häufig nicht technischer Art sind. Probleme bestehen oftmals


Visionen

weder an der Werkbank noch in der mangelnden technolo-

Potenziale unserer Hochschulen noch viel zu wenig nutzen.

Unternehmen auch Unterstützung in den Bereichen Personal,

Hochschulen und Unternehmen wollen wir unter anderem

gischen Innovativität des Produkts. Vielmehr benötigen viele Marketing und Außenwirtschaft. Deshalb muss sich der Innovationsbegriff auf sämtliche Funktionsbereiche von Unternehmen beziehen. Zudem setzen wir künftig verstärkt auf die „In-

novation von unten“. Dahinter steht die Erkenntnis, dass viele kleine und mittlere Unternehmen aller Voraussicht nach keine

eigene Forschungsabteilung einrichten werden. Diese Unter-

Den Boden bereiten für eine engere Kooperation zwischen mit einem so genannten „Transfergutschein“, der im kommen-

den Jahr eingeführt wird. Er soll Firmenchefs und Professoren dazu einladen, Problemstellungen gemeinsam anzugehen, um

den wechselseitigen Wissenstransfer auszubauen und lebendiger zu machen.

nehmen brauchen niedrigschwellige Kooperationsmöglich-

Die Möglichkeit der Kooperation zu beiderseitigem Vorteil

Quellen innovativer Ideen sein können.

neue Ideen und Impulse geben und gewinnen. Dies ist ein

keiten mit Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen, die

Die Landesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, durch eine engere Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft mehr Forschung und Entwicklung in den Unternehmen zu generieren. Diese Zielsetzung des Landes spiegelt sich auch im neuen

Ressortzuschnitt „Wissenschaft und Wirtschaft“ wider. Dabei stehen wir vor einer großen Herausforderung, da gerade die

zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen im Land die

muss sich noch stärker verbreiten. Alle Partner können damit

wichtiger Schritt auf dem Weg, den aktuellen Schwächen der heimischen Wirtschaft wie der zu geringen Wertschöpfungstiefe, dem deutlich unter dem Bundesschnitt liegenden Einkommensniveau sowie der noch immer zu hohen Abwanderung zu begegnen. Eines ist klar: Wissenschaft und Wirtschaft

intensiver miteinander ins Gespräch zu bringen, ist ein langfristiges Geschäft. Allzu schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten – aber dies ist bei Visionen ja selten der Fall. n

Geboren 1965 in Münster (Westfalen)

Beruflicher und akademischer Werdegang Seit 04/11:

Ministerin für Wissenschaft und Wirtschaft des Landes Sachsen-Anhalt

Seit 06/10: Kultusministerin des Landes Sachsen-Anhalt

Seit 10/08: Dekanin der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, Otto-von-Guericke-Uni Seit 4/02:

Dekanin (2003 bis 2007) bzw. Prodekanin, (stellv.) Senatsmitglied, Fakultät für

Seit 4/00:

Lehrstuhl für BWL, insbes. Internationales Management, Otto-von-Guericke-Uni

Wirtschaftswissenschaft, Otto-von-Guericke-Uni

9/99 – 5/00: Gastprofessorin am Center for European Studies, Georgetown University 1999/2000: Gastdozentin, European Business School Prag und Budapest

1995 – 96:

J. F. Kennedy Fellow, Center for European Studies, Harvard University

Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für BWL,

1984 – 86:

Banklehre, Westdeutsche Landesbank Münster

10/94 – 4/00: Wiss. Mitarbeiterin bzw. Akademische Rätin, Fakultät für BWL, 1987 – 91:

Mentorenstudentin, BMS (Business Marketing Services) Wuppertal

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

27


28

Tradition

Ein Bernsteinzimmer zum Vernaschen Im Halloren Schokoladenmuseum bekommen Träume duftende Gestalt und die Sinne Appetit Von Ute Semkat Spätestens seit dem Kinofilm „Chocolat“ wissen wir um den er-

Freilich könnte man die euphorisierende Wirkung von Scho-

mala, um die Leidenschaft zu entfachen“, präsentiert Vianne alias

kalorienärmer mit einem Marathonlauf erreichen. Aber da

weckenden Zauber von Schokolade. „Kakaobohnen aus Guate-

Juliette Binoche einer verhuschten Provinzlerin, und auf deren Antwort: „Offensichtlich haben Sie meinen Mann noch nicht kennengelernt“ antwortet die Chocolatrice augenzwinkernd: „Offensichtlich haben Sie es noch nicht hiermit versucht…“

kolade, die im Körper wie eine Glücksdroge zündet, auch

steht man in einem Zimmer vollkommen aus Schokolade, eingehüllt von einem fast greifbaren, süß vertrauten Duft, der sofort Schluckreflexe auslöst. Und muss einfach schwach werden.


Tradition

Selbst die eben noch lässige Coolness der Halbwüchsigen,

Allerdings wäre ein Biss in das inzwischen fünf Jahre alte Ge-

koladenmuseum geführt hat, schmilzt augenblicklich dahin.

voll. Die Konditoren der Halloren Schokoladenfabrik hatten

die ein Schulwandertag nach Halle und in das Halloren Scho-

Eifrig werden Fotohandys gezückt: Der Deckenanstrich, der wie Rauputz aussieht – klick – ist aus weißer Schokolade mit

Stuckelementen aus Marzipan. In der samtig schimmernden

Wandvertäfelung – klick – changieren Vollmilch- und Zartbit-

terkuvertüre. Das Cembalo, Stuhllehnen, Bilder, Bücher, Geschirr, Notenblatt – klick, klick, klick – bis auf ein paar tragende

Teile ist das Halloren Schokoladenzimmer, das Dessert jedes Museumsrundgangs, aus 1 400 Kilogramm Schokolade und

300 Kilogramm Marzipan gearbeitet. „Alles echt und essbar“, versichert Museumsführer Felix Bachmann den 13-Jährigen.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

samtkunstwerk wahrscheinlich nicht mehr ganz so genussmonatelang daran gearbeitet, erprobten sich als Architekten und Bildhauer. Für ihren besonderen Werkstoff mussten sie die richtigen Techniken zum Formen, Streichen, Aufspritzen, Aufspachteln auf den Holzuntergrund entwickeln. So ist ein Bernsteinzimmer zum Vernaschen entstanden, vor unbeherrschten

Fingern geschützt durch eine halbhohe Glaswand, von Bachmann „Naschbarriere“ getauft.

Zuvor hatte er die jungen Besucher durch mehr als drei Jahrtausende Geschichte der Schokolade und die immerhin gut 200-jährige Tradition der ältesten noch produzierenden Schokoladen-

29


30

Tradition

Für Ohren oder Gaumen? Notenständer und Notenblatt, beide ganz aus Schokolade und Marzipan, verkünden guten Geschmack. Nach süßem Musizieren gibt´s das Zubehör als Nachspeise.

fabrik in Deutschland geführt. Die Lehrerin der Schulklasse will

erlaubt. In jeder einzelnen Minute laufen 306 „Töpfchen“ übers

wo der Kakao herkommt.“ So also kann Erdkunde Spaß machen.

da kann selbst ein ganz „süßer Zahn“ keinen ernsten Verlust be-

die Exkursion im Geografieunterricht auswerten, „zum Thema, Der Museumslotse erzählt spannend von den Kakaoplantagen der Olmeken in Mexiko und vom eifrigen Zuspruch des Azte-

kenkönigs Montezuma zum „Getränk der Götter“, bevor er sich seinen Damen widmete. Als Bachmann von den Schülern wis-

sen will, wer regelmäßig Kakao trinke, geht nur ein einziger Arm hoch. Befragt nach den Eigenschaften von Schokolade haben

dagegen alle ihre Lektion aus der Werbung gelernt: „Schokolade macht glücklich.“

Im gläsernen Schaugang, aus dem der Pralinenfertigung in der Fabrikhalle zugeschaut werden kann, kommt wie bei fast jeder

Führung die Frage, ob die Leute da unten eigentlich bei der Ar-

beit naschen dürfen. Bachmann lässt die Schüler abstimmen: Ja

und Nein halten sich in etwa die Waage. Natürlich ist Naschen

Band – so werden die Pralinen nach ihrer Form klassifiziert – und

wirken. Außerdem sind die Mitarbeiter von Halloren wichtige Qualitätswächter.

Felix Bachmann gehört erst seit ein paar Monaten zum Stamm

der Museumsführer bei Halloren. Nach Feierabend schreibt er an seiner Promotion über orientalische Archäologie, womit sein Zielgebiet etwas neben dem Kakaokontinent liegt. Aber der Zu-

cker, der die Schokolade erst süß gemacht hat, kam von Arabien nach Europa, stellt er verschmitzt klar, bis dahin mussten die bit-

teren Bohnen mit scharfen Gewürzen veredelt werden. Die täg-

lich angebotenen Führungen durch das Schokoladenmuseum

sind vor allem in der Vorweihnachtszeit bestens gebucht – von Schulklassen, West-Touristen, Ost-Rentnern. Am Ende gibt es für jeden Gast eine Praline, ein Appetitshäppchen auf den Weg nach draußen, der durch die Betriebsverkaufsstelle geleitet.


Tradition

Freilich ist die Führung auch „Verführung“. Man sei sich bei

In einem übersättigten Süßwarenmarkt hat Halloren im Jahr

weil falsch ernährte Kinder gibt, versichert Pressesprecher Tino

Krise hin oder her: „Schokolade geht immer – aus Frust ebenso

Halloren sehr wohl bewusst, dass es zu viele übergewichtige, Müller: „Aber Naschen heißt doch nicht kiloweise Süßwaren essen, sondern ist ein Genuss. Und den wollen wir vermitteln.“

Müller erzählt von seiner Schulzeit in Halle, als üblicherweise zu jeder Schulklasse eine Patenbrigade in einem Produktions-

betrieb gehörte: „Meine war im Reichsbahnausbesserungswerk. Ich war immer neidisch auf die Schulen, die als Patenbetrieb die Schokoladenfabrik hatten.“ Auch heute noch hat

Halloren einen Patenkindergarten: „Aber diesen überhäufen wir nicht mit Süßigkeiten.“

Die meisten der jährlich rund 110 000 Besucher bei Halloren

sind erwachsen und kommen mit einem Reisebus. Das Schokoladenmuseum war nach ersten Einschätzungen im Jahre

2011 das meistbesuchte Museum Halles, noch vor dem Landesmuseum für Vorgeschichte mit seiner berühmten Himmelsscheibe. Die ist schön, aber eben nicht zum Reinbeißen.

2011 erneut um voraussichtlich zirka acht Prozent zugelegt. wie aus Freude“, meint der Pressesprecher, der selbst „jeden Tag um die 100 bis 150 Gramm“ davon isst. Er macht einen ebenso glücklichen wie schlanken Eindruck.

Das Schokoladenzimmer im Biedermeierstil der Zeit, in der

Friedrich August Miethe 1804 die Fabrik gegründet hatte, soll ein Wunsch von Vorstandschef Lellè gewesen sein. Genscher dürfte

es ebenfalls glücklich machen. Wie er einmal verriet, habe er sich

als Junge beim Vorbeifahren an der Schokoladenfabrik in der Tram

immer gewünscht, einen eigenen Fabrikschlüssel zu besitzen. Für eine Nacht sich einschließen lassen im Schokoladenzimmer?

Versucht hat das noch keiner, versichert man im Unternehmen. Ich aber habe das im Traum erlebt. Nachdem ich das ZartbitterNotenblatt samt Vollmilch-Ständer verspeisen wollte, bin ich vor Hunger aufgewacht. Schön, wenn dann jemand Frühstück ans Bett bringt. n

Selbst wer immer noch mit einem alten Weltbild in die neuen Bundesländer reist und zunächst skeptisch den ostdeutschen

Ein Biss verführt

Schokoladenhimmel betritt, verlässt Halloren nahezu ausnahmslos mit prall gefülltem Einkaufsbeutel. Für viele Ost-Rent-

– Die Halloren Schokoladenfabrik AG Halle ist die

ner ist der Besuch zudem ein Nostalgie-Trip an den Ursprung

älteste noch produzierende Schokoladenfabrik in

einstiger Bückware: die Halloren Kugel, süßes Pendant zu den

Deutschland, gegründet als Schokoladen- und Honig-

silbernen Trachtenknöpfen von Halles Salzwirker-Brüderschaft,

kuchenbäckerei F. A. Miethe 1804.

den Halloren, ist ein DDR-Kind und wird 2012 genau 60 Jahre alt.

– Der Produktklassiker „Original Halloren Kugel“ wird

Dieser Klassiker aus Sahne- und Kakaocreme, umhüllt von Scho-

2012 genau 60 Jahre alt. Jahresproduktion rund 180

kolade, gibt dem Unternehmen seit 1952 seinen Namen und

Millionen Kugeln in 17 Sorten.

macht heute in Verkaufsregalen in ganz Deutschland Appetit.

– In Halle und Delitzsch werden ca. 12 200 Tonnen

Das Unternehmen wiederum hat in den vergangenen Jahren

sogar einiges im Westen vernascht, pardon, in den Firmenver-

– Mehr als eine Million Halloren Weihnachtsmänner

bund übernommen: den deutschen Mozartkugelhersteller Dre-

her aus Bad Reichenhall – mit Verlagerung der Produktion nach

– Jahresumsatz der AG: ca. 60 Millionen Euro. Davon

Halle – und als Tochterunternehmen die Confiserie Chocolaterie

50 Prozent neue und 25 Prozent Altbundesländer,

Weibler im niedersächsischen Cremlingen. Im Nachbarland Sach-

25 Prozent Export u. a. nach Nordamerika, Großbritan-

sen hat Halloren die Schokoladenfabrik Delitzsch aus der Insol-

nien und Skandinavien.

venz gekauft und damit sein zuckriges Angebot zum Beispiel um

– Der Wert einer Unternehmensaktie liegt zurzeit bei

köstliche Krustenpralinen bereichert.

etwa fünf Schachteln Halloren Kugeln. Leider ist eine

Unter dem Vorstandsvorsitzenden Klaus Lellè wurde Hallo-

Auszahlung in Schokolade nicht möglich.

ren 2006 Aktiengesellschaft und ging 2007 an die Börse. Der

– Halloren ist Pate von mehreren Schokoladenfröschen

frühere Banker machte das Unternehmen auch ohne großen

im Zoo Halle: So wird der in Peru heimische winzige

Werbeetat bundesweit bekannt: Zum Beispiel mit Halloren

Baumsteigerfrosch, lateinisch Exidobates mysterio-

Botschaftern wie dem aus Halle stammenden ehemaligen Au-

sus, wegen seiner schokoladenfarbenen Haut mit

ßenminister Hans-Dietrich Genscher, was nahe liegt, oder mit

weißen Tupfen genannt.

Schokoladenwaren im Jahr gefertigt wurden für die Saison 2011 produziert.

dem Fußballer Uwe Seeler, was sich erst erschließt angesichts der Begründung: „Seeler steht für Teamgeist, für sich immer wieder durchbeißen.“

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

www.halloren.de/marke/schokoladenmuseum

31


32

Regionalmarketing


Regionalmarketing

Die Altmark setzt Markenzeichen Sachsen-Anhalts nördlichste Region will weg vom „Nur Natur“-Image Von Rainer Lampe Dass Kinder eine „seriöse“ Beratung der Älteren sprengen, ist

Alle wissen, wo Wolfsburg liegt. Dass aber Wolfsburg nicht

nalverein Altmark tagte, sein Vorsitzender, Jörg Hellmuth, refe-

wesentlich durch Altmärker und die altmärkische Wirtschaft

ungewöhnlich. In Winterfeld war das unlängst so. Der Regio-

rerierte. Da sprang die Tür auf. Herein platzten zehn sehr jun-

ge Altmärker mit ihren Eltern, mit Schildern, auf denen stand: „LandZukunft Altmark – Deine Ideen für unsere Heimat“. Klare Ansage: Der Regionalverein berät hier vor allem über ihre Ge-

genwart und Zukunft, über das Lernen, Leben, Arbeiten und Wohlfühlen in der Altmark. Die Petition, die die Jüngsten den

Landräten Michael Ziche und Jörg Hellmuth überreichten, trug die Handschrift der Eltern; vorwiegend Mitglieder der Wirt-

nur altmarknah ist, sondern dass die Stärke von VW nicht unbeeinflusst wird – wer weiß das schon? Die Altmark liegt inmitten der großen Metropolregionen Berlin, Mitteldeutschland, Hamburg und Hannover. Aber keiner dieser Regionen gehört sie an. In

Marketingbroschüren des Landes Sachsen-Anhalt, ob zu Auto-

motive, Tourismus oder anderen Themen, fand sich die Altmark in der Vergangenheit nicht gebührend berücksichtigt. Deshalb

heißt es nicht selten: „Nördlich der A 2 hört Sachsen-Anhalt auf“.

schaftsjunioren Altmark bei der IHK-Geschäftsstelle Salzwedel.

Das wird sich ändern, denn jetzt läuten die Altmärker selber

für ein Zukunftskonzept Altmark einzureichen. „Weit über 100

in die Lande getragen wird. Die Altmark hat eine Regional-

Es war ein Aufruf an alle Altmärker, bis Ende November Ideen Ideen haben wir bisher, aus Unternehmen, von Kindern, auch von 70-Jährigen. Ein starkes Echo“, freut sich Frank Platte, Vorsitzender der Wirtschaftsjunioren Altmark.

Flächenmäßig ist die Altmark mehr als doppelt so groß wie das Saarland, vergleichsweise leben hier aber nur ein Fünftel

der Einwohner. Den meisten Deutschen ist die Altmark un-

bekannt, andere meinen: „Nur Natur, nichts weiter“. Für die Altmärker selbst ist ihre Region ländlich geprägt, aber nicht

strukturschwach. „Ihre“ Altmark ist ein von Bürgern, Unter-

nehmen, Politik und Verwaltung getragener Lebens- und

Wirtschaftsraum mit Entwicklungsanspruch und Zukunft. Rund 10 000 IHK-Betriebe haben hier ihren Standort. Der Altmarkkreis Salzwedel und der Landkreis Stendal bilden gemeinsam eine Wirtschaftsregion in zentraler Lage. Geprägt

wird der Norden Sachsen-Anhalts von einer leistungsfähigen Land- und Nahrungsgüterwirtschaft, einer dynamischen In-

dustrieproduktion und einem vielfältigen Dienstleistungsgewerbe. Zudem hat sich der Tourismus zu einer tragenden

Säule entwickelt. Die Wirtschaftsstruktur unterscheidet sich kaum von der anderer Regionen.

so laut die Glocken, dass der wahre Ruf ihrer Region weithin marketing-Offensive gestartet. Ihr Ziel: Die Altmark als Marke, als Markenzeichen nachhaltig etablieren. Eine Arbeitsgrup-

pe aus regionalen Vertretern hat in den letzten Monaten in mehreren Workshops unter Federführung der beiden Landräte in der Region und IHK-Vizepräsident Adolf Fehse und mit Unterstützung der Investitions- und Marketinggesellschaft des

Landes Sachsen-Anhalt (IMG) einen Lösungsansatz zum Regionalmarketing in der Altmark erarbeitet. Ziel der gemeinsamen

Initiative ist die Steigerung des Bekanntheitsgrades sowie die weitere Profilierung der Altmark als Lebens- und Wirtschafts-

raum. Anfang November informierten sich Vertreter der IHK Magdeburg und der Wirtschaftsjunioren Altmark in der Steier-

mark über die erfolgreiche Vermarktung einer Region und

mögliche Kooperationen. Dies dient der Vorbereitung einer altmarkweiten Imagekampagne und z. B. der Erarbeitung ei-

ner einheitlichen Internetseite. „Regionalmarketing ist ein

strategisches Instrument der Wirtschaftsförderung. Mit der Steigerung der Bekanntheit verbessern sich die Standortbedingungen für Unternehmen und auch für die Bürger. Eine konse-

quente Vermarktung der Altmark als Region trägt zudem zur

Zukunftsfähigkeit bei. Potenziale haben wir genug“ , weiß der

Altmark-Geschäftsführer der IHK Magdeburg, André Rummel.

30. November 2011 bei Colbitz: Baustart für den Lückenschluss der

Stendals Landrat Hellmuth hat bereits ein deutliches Zei-

Autobahnnetz anschließen wird. Bundesverkehrminister Peter

Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz für das

Autobahn A 14, die den Norden Sachsen-Anhalts an das deutsche Ramsauer (Mitte), Ministerpräsident Reiner Haseloff (rechts) und Minister Thomas Webel beim 1. Spatenstich.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

chen gesetzt. Sein Landkreis war vom Bundesministerium für Modellvorhaben „LandZukunft“ vorgeschlagen. Das Projekt soll periphere ländliche Regionen dabei unterstützen,

33


34

Regionalmarketing

die regionale Wirtschaft zu fördern, Arbeitsplätze zu schaf-

Sprüche und teure Marketing-Anzeigen mögen kurzfris-

bewältigen „Aber dann nicht nur Stendal, sondern die gesam-

wirken wollen, brauchen wir einen langen Atem.“ Seit

fen und die Ansprüche des demografischen Wandels zu te Altmark“, war Hellmuths Reaktion. Zustimmung in Berlin, bei

den Kreistagen, bei allen in der Altmark. Jetzt bewirbt sich die Region Altmark mit 16 anderen Regionen um einen der vier Plätze für eine fast dreijährige Förderung ihrer Ideen, Projekte und Leitbilder. Bis Ende Februar will die Altmark ein so starkes

Konzept vorlegen, dass sie zu den Siegern gehört. In der Win-

terfelder Petition der Kinder wurde schlicht umschrieben, worum es geht: „Wie wird unsere Heimat aussehen, wenn wir groß sind? Werden wir hier einen Job finden, der uns Spaß

tig Wirkung zeigen. „Wenn wir für die Zukunft was beAnfang Dezember gehört die Altmark bereits zu den 21 ländlich geprägten Modellregionen, die von Januar 2012 bis

Oktober 2013 beim Erarbeiten einer Regionalstrategie Daseinsvorsorge vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und

Stadtentwicklung finanziell unterstützt werden. Vier Hand-

lungsfelder stehen im Vordergrund. Dies sind Kita, Schulen und Jugendarbeit; Brand- und Katastrophenschutz; hausärztliche Versorgung sowie Straßen und Wege.

macht? Werden wir mit diesem Job genug Geld verdienen?

All das sind Bausteine für das Regionalmarketing. „Seit andert-

bis zum nächsten Arzt oder zur nächsten Schule? Werden wir

Regionalen Planungsgemeinschaft Altmark, „arbeiten wir be-

Wie weit werden wir es bis zum nächsten Supermarkt haben, gezwungen sein, unsere Heimat zu verlassen, obwohl wir es gar nicht wollen?

Wenn Salzwedels Landrat Ziche sagt: „Wir stehen im Wett-

bewerb der Regionen. Wir müssen was machen, und ich bin sehr optimistisch, dass uns das auch gelingt“, dann

weiß er auch, dass das Land mitzieht, mit Geld und Marke-

ting-Beistand aus der Staatskanzlei und der IMG. Für ihn

ist das ein wichtiger Schritt voran. Wie sein Stendaler Kollege setzt er nicht auf Schnellschüsse. Ein paar kernige

halb Jahren“, sagt Steffen Kunert, der Geschäftsstellenleiter der reits an einer Regionalstrategie.“ Wir – das sind Hunderte Akteu-

re aus der Altmark. Das sind auch Aktivitäten wie die Bioener-

gie-Region Altmark. Meist werkelte bislang aber jeder für sich. „Nur gemeinsam sind wir stark“, gibt Landrat Ziche die Richtung vor. Was jetzt noch nach Absichtserklärung klingt, muss bald be-

legbar sein – mit Fakten, Vorhaben und Zielen. Dann erst wird

sich zeigen, ob die Altmark ihren Platz in Deutschland stärkt. Das Zeug dazu hat sie.

* Im Industrie- und Gewerbe-

park Arneburg befindet sich das größte und modernste Zellstoffwerk Europas. Das Unternehmen gehört ge-

meinsam mit den Schwesterwerken Zellstoff Rosenthal im südthüringischen

Blankenstein und Zellstoff Celgar in Kanada zu der

amerikanisch-kanadischen

Mercer International Group. Auf dem Gelände dieses

Arneburger Industrieparks

an der Elbe wollte die DDRStaatsspitze ein Kernkraftwerk errichten.


Regionalmarketing

Foto: ctpress Christian Wohlt (3)

35

Baustart A14 – endlich geht’s los, freuen sich (v. l.): André Rummel (IHK Magdeburg, Geschäftsstelle Salzwedel), Jürgen Gose (Gasthof Gose, Ziegen-

hagen), Dr.-Ing. Dörthe Bethge-Steffens (Ingenieurbüro Bethge, Bismark/OT Poritz), Andreas Bosse (Stendaler Landbäckerei GmbH, Stendal), Burghard Bannier (Flair-Hotel Deutsches Haus, Arendsee), Adolf Fehse (WIKO Elektronische Bauelemente Klötze GmbH, Klötze).

Zum Baustart für den Lückenschluss der A 14 Magdeburg – Schwerin waren am 30. November über 350 Unterstützer in Col-

9 von 10 Bürgern sind für den A 14-Lückenschluss

Klare Aussagen auf den Plakaten der IHK Magdeburg, des Bür-

– 89 % befürworten den Weiterbau der A14 von

B 190n: Die Altmark hofft, setzt, baut auf diese Autobahn. „Das

– 7 % der Befragten lehnen das Vorhaben ab

Offensive“, freut sich IHK-Vizepräsident Adolf Fehse und Ge-

GmbH: „Für die Investorenwerbung ist der Lückenschluss der

bereits ansässige Unternehmen bringt beides zudem deutliche

bitz, darunter viele Unternehmer und Bürger aus der Altmark. gerbündnisses Altmark und der Bürgerinitiative A 14 Osterburg/

ist die beste Unterstützung für unsere Regionalmarketing-

– 94 % der Befragten erwarten eine positive wirt-

schäftsführer der WIKO Elektronische Bauelemente Klötze

– 94 % der Befragten erwarten eine verbesserte

A 14 und auch die Querspange B 190n ein starkes Argument. Für

– 93 % der Befragten erwarten eine bessere Erreich-

Standortvorteile. Die Unternehmen in der Altmark haben einen

Magdeburg in Richtung Schwerin

schaftliche Entwicklung Mobilität der Bewohner barkeit der Region für Touristen

Umfrage des INFO-Meinungsforschungsinstituts Berlin mit 1 000 Befragten

Anspruch auf sehr gute Verkehrsanbindungen.“ Andreas Bosse von der Stendaler Landbäckerei sieht das ganz pragmatisch: „In

der Altmark ist unsere Stammkundschaft. Ziehen Leute weg, haben wir weniger Kunden. Neue Unternehmen, wachsende Unternehmen bringen Kundenzuwachs.“ Gemeinsam auftreten

für eine starke Region Altmark – darauf hofft auch Andreas Bosse: „Wenn wir das jetzt nicht hinkriegen, dann weiß ich nicht ...“ n

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

www.altmark.eu


36

Handwerk


Handwerk

Ein richtig scharfer Job Senfmüller aus Halle erobert den Feinschmecker-Markt Von Sabine Tacke Oh la la. Der ist ja echt scharf. So sehr, dass einem wohlige Schauer durch den Körper jagen, ein Kribbeln ausgelöst wird und die Augen feucht werden.

Der Scharfmacher heißt Jörg Hündorf. Er produziert in einer kleinen Manufaktur in Halle einen Senf, der sogar schon die Gaumen von Sterneköchen überrascht hat. Eigentlich ähnelt

der 46-Jährige mit seinem rot-bunt gemusterten Tuch auf dem

Kopf und seiner jungenhaften Erscheinung eher einem Rockstar. Der Eindruck täuscht nicht. „Ich hab 20 Jahre lang Rockmusik gemacht, Keyboard und später auch Schlagzeug gespielt“, sagt

Hündorf. Die Musik hat den gelernten Orgelbauer sein halbes

Leben begleitet. Jetzt ist der Senf seine Leidenschaft. Und die ist ihm quasi in die Wiege gelegt worden. „Meine Eltern hatten eine Metzgerei. Ohne Senf ging da nichts“, erinnert sich der Metzgersohn an seine Kindheit.

Doch irgendwann hat ihm der Mostrich nicht mehr geschmeckt. Zu wenig Schärfe, zu wenig Geschmack. Da fing er in der heimischen Küche mit ersten Experimenten an. „Ich hab die Senfkörner

in der Kaffeemühle gemahlen und die Maische im Mörser gemischt.“ Ein paar Versuche später bringt Hündorf seinen scharfen

Mix den Bandkollegen mit und die sind begeistert. Noch bestimmen Keyboardtasten und Trommelstöcke das Leben des Musikers. Aber der Senf lässt ihn nicht mehr los. Der Geschmack aus

Kindertagen hat ihn eingeholt und sollte sein Leben verändern. 2004 richtet er im elterlichen Wohnhaus an der Georgstraße in

Halle seine Manufaktur ein. Ein Sprung ins kalte Wasser. Zwei Jahre hat er gebraucht, um sich zu etablieren. Inzwischen beschäftigt er einen Angestellten und produziert jährlich etwa fünf bis sechs Tonnen seines aromatischen Georgsenfs, benannt nach dem Produktionsort.

Leicht gemacht hat er sich das Ganze nicht. Seine Mühle mit dem

Ganz langsam kleckert aus der Mühle die ockergelbe Senf-

schen Mühlenbauer bestellt. Der hat sie in Handarbeit extra für

ist. Denn schnelle Mühlen tun dem Mostrich gar nicht gut.

rund 300 Kilo schweren Basaltstein hat er bei einem erzgebirgiihn angefertigt.

Herzhaft und richtig scharf. Das ist der Geschmack, den Jens

Hündorf liebt. Und deshalb gibt er fast immer seinen Senf dazu.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

masse. Der Senfmüller weiß, dass Eile hier nicht angebracht Sie entschärfen ihn.

37


38

Handwerk

Auch die Zutaten wählt er sorgfältig aus. Die Senfkörner be-

zieht der Hallenser von einem Biobauern aus Thüringen, den Apfelsaft mostet ein befreundeter Streuobstwiesenbesitzer, das

deutschland gefunden.“ Hündorf wird also wieder ein bisschen experimentieren und eine neue Sorte auf den Markt bringen.

Salz kommt aus den Hallenser Salinen, Majoran bezieht er aus

Verkauft wird der Georgsenf in ganz Deutschland, meist in Bio-

ist Bio. Von der Senfsaat bis zum grünen Pfeffer aus dem indi-

kette für die Köstlichkeit aus Sachsen-Anhalt interessiert. Sie

Aschersleben – einer der besten der Welt, so sagt man. Und alles schen Urwald.

Nicht nur die Zutaten machen den Georgsenf so außergewöhnlich, sondern auch das Herstellungsverfahren. „Ich arbeite mit

dem Kaltmahlverfahren. Die Senfkörner werden gekühlt und ganz langsam gemahlen, damit keine Hitze entsteht. Die äthe-

rischen Öle der Senfkörner sind sehr wärmeempfindlich. Und

deshalb verliert der Senf bei Hitze seine natürliche Schärfe“, erklärt Hündorf. Nicht mal eine Handvoll Senfmühlen in Deutsch-

land arbeiten nach diesem Verfahren. Ganz einfach, weil es zu zeitaufwändig ist. Damit lässt sich keine Masse produzieren.

oder Feinkostläden. Doch es hat sich auch eine große Handels-

steht jetzt bei Edeka in den Regalen. In Hündorfs Büro hängt eine

Vertriebskarte an der Wand, die mit roten Fähnchen markiert ist. In allen Regionen Deutschlands findet der Hallenser Mostrich

Absatz. Hündorf weiß, dass die Ost- und Norddeutschen lieber scharfen Senf mögen, die Süddeutschen lieben es süß.

Ein Fähnchen passt nicht auf die Deutschlandkarte. Bei einer Biomesse hat eine kleine Handelskette aus Taiwan den Wohlgeschmack der scharfen Paste aus der Georgstraße entdeckt und

geordert. Auch im feinen Manufactum-Katalog ist der Senf zu haben.

Jörg Hündorf setzt auf Klasse statt Masse. Und deshalb mahlt

Senf hat sich von seinem schlechten Image erholt und ist in

Arbeiten.“

Harmonie aus Süße, Säure und Schärfe. Jörg Hündorf ist einer,

seine Mühle eben langsamer. „Das ist auch ein viel schöneres

Ruhig steht er in seinem rund 20 Quadratmeter großen Produktionsraum und sieht zu, wie die ockerfarbene Masse in einen

Behälter klackert. Klinisch sauber ist es hier drin, fast wie in einem Labor. Hündorf, ganz in Weiß gekleidet, gleicht eher einem Krankenpfleger.

In dem Raum riecht man die Schärfe, bevor sie ins Auge krabbelt. „Wenn die Augen nicht brennen, dann hab ich was falsch gemacht. Das gehört zum Senfmachen dazu.“ Allerdings setzt er sich eine Schutzbrille auf, ansonsten würden ihm seine Augen das Arbeiten in dem Senf geschwängerten Raum übel nehmen.

Behutsam legt er ein schwarzes Senfkorn in die Handfläche. Die

Nummer 1 unter den Scharfmachern. „Ich benutze schwarzen, braunen und gelben Senf. Der schwarze ist der schärfste, die Grundlage für meinen Herrensenf. Nach dem Schälen sind sie

aber allesamt gelb.“ Außer dem Herrensenf, der wirklich nichts für Zartbesaitete ist, stehen in den Regalen noch weitere vier

Sorten. Süßlich-scharf ist der Apfel-Traum, etwas für die Damen. Hündorf schmilzt dafür Zucker zu Karamell, löscht ihn mit Apfelmost ab, verrührt das Gemisch mit Senf und Gewürzen und lässt

es eine Nacht lang reifen wie einen guten Wein. Danach wird er

zweimal zermahlen. Klassischer Senf, Senf mit Honig und Most-

rich mit grünem Urwaldpfeffer vervollständigen das Sortiment. Inzwischen hat der kreative Hallenser schon wieder eine neue Idee: Apfelweinsenf. „Ich hab lange nach einem Winzer ge-

sucht, der Bio-Apfelwein herstellt. Endlich hab ich einen in Süd-

der Gourmetküche angekommen. Feinschmecker schätzen die der es versteht, diese Komponenten perfekt miteinander in Einklang zu bringen. n

www.georgsenf.de


Forschung

Forschung in Schwerelosigkeit. 31 mal wird bei jedem Flug des Airbus für

22 Sekunden die Schwerkraft aufgehoben.

Magdeburg – Weltraum und zurück Wissenschaftler aus Sachsen-Anhalt erforscht das Immunsystem in Schwerelosigkeit Von Annette Schneider-Solis Der chinesische Weltraumbahnhof Jiuquan in der Wüste Gobi. Es

Rakete sichtbar. Die Wolken hüllen die Rakete ein. Punkt 5.58 Uhr

Nacht steht startbereit die Trägerrakete Langer Marsch 2F. In we-

dann immer schneller, bis ein Feuerball im schwarzen Nachthim-

ist kurz vor 6 Uhr am Morgen des 1. November 2011. Im Dunkel der nigen Minuten wird sie mit dem Raumschiff Shenzhou-8 ins All fliegen. Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, es ist fast

windstill. Gleißend helle Scheinwerfer sind auf den Startturm

gerichtet. In einer Entfernung von etwa einem Kilometer warten chinesische und deutsche Wissenschaftler und Ingenieure darauf, dass sich die Rakete vom Boden abhebt. Die Stimmung ist

angespannt, niemand spürt Kälte und Müdigkeit nach Tagen und Nächten intensiver Vorbereitung.

Über einen Lautsprecher hören die Zaungäste, wie die letzten zehn Sekunden des Countdowns auf Chinesisch heruntergezählt

werden. Donnergrollen erfüllt die Luft. Es ist, als bebe die Erde. Im Licht der Scheinwerfer werden Feuer und dicke Wolken unter der

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

hebt sie mit dem Raumschiff ab. Majestätisch langsam zuerst, mel verschwindet. Jubel erklingt.

In der Nacht haben Oliver Ullrich und seine Mitarbeiterin Svant-

je Tauber menschliche Immunzellen vorbereitet für diese erste chinesisch-deutsche Weltraummission. Sie gilt als Meilenstein

in der Raumfahrtgeschichte, denn erstmals kooperiert China auf diesem Gebiet mit einer anderen Nation. Nach mehrjähriger Vorarbeit ist der Start das vorläufige Finale. Die Proben aus Magdeburg sind an Bord des Raumschiffs Shenzhou-8 und mit

ihm auf dem Weg ins All. Der Launch ist gelungen, doch ob auch die Mission erfolgreich ist, wird der Professor für Weltraumbio-

technologie von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg erst anderthalb Wochen später erfahren, nach der Landung.

39


40

Zunächst steht der Rückweg nach Peking an. Mit dem Auto geht

Oliver Ullrich untersucht seit mehreren Jahren, welchen Einfluss die

zeug zurück in die chinesische Hauptstadt. Dort warten einige

sen seit den ersten Apollomissionen, dass Astronauten bei Raum-

es mehrere Stunden durch die Wüste Gobi, dann mit dem Flug-

Stunden Schlaf und am nächsten Morgen die Arbeit im Labor. Konzentriert füllen die Mitarbeiterinnen des Magdeburger Teams Serum mit Immunzellen in winzige Spritzen. Eine Ingenieurin

von EADS Astrium baut sie in zigarettenschachtelgroße Boxen

ein. Jeder Schritt wird genauestens kontrolliert und protokolliert. Jeder noch so kleine Fehler kann die Arbeit von Jahren zunichte machen. Später werden die Boxen mit den Zellen in die Bodenre-

ferenz-Simbox eingebaut. Das Akronym Simbox steht als Kürzel

für „Science in Microgravity“ – Wissenschaft in Schwerelosigkeit. Die Box wurde vom Raumfahrtkonzern EADS Astrium für die Forschung im All entwickelt. Die Simbox in Peking ist eine Kopie

jenes Inkubators, der an Bord von Shenzhou-8 inzwischen in der Erdumlaufbahn angekommen ist. In ihr werden die Bodenkontrollversuche durchgeführt. Dadurch, dass die gleichen Experi-

mente unter verschiedenen Bedingungen durchgeführt werden, sollen einzelne Einflüsse erkannt werden. So ist auf beiden Inku-

batoren eine Zentrifuge installiert, die die Proben erdähnlicher Schwerkraft aussetzt. Die Bodenreferenzkontrollen werden mit

den Versuchszellen auf der Zentrifuge im All verglichen. Veränderungen der Zellen an Bord können durch Faktoren wie die Startbeschleunigung oder den Transport entstanden sein.

Insgesamt 17 Versuche sind mit der Simbox im All. Neun von chinesischen, sechs von deutschen Wissenschaftlern, zwei von chi-

nesisch-deutschen Forscherteams. Fadenwürmer, Immunzellen, Krebszellen, Algen – die Passagierliste ist bunt.

Schwerelosigkeit auf das menschliche Immunsystem hat. „Wir wisflügen immer wieder unter schweren Infektionen leiden. Was wir

nicht wissen, ist, warum.“ Der Mediziner und Biochemiker ist den Ursachen auf der Spur. Dafür forscht er auf der Erde und immer wieder in der Schwerelosigkeit. Doch Schwerkraft lässt sich auf der Erde

nicht ohne weiteres aufheben. Eine Möglichkeit sind Parabelflüge. Dabei fliegt ein Flugzeug spezielle Flugmanöver. Es steigt steil in den Himmel, bis die dreiköpfige Pilotencrew im Cockpit den Schub wegnimmt und die Maschine praktisch abstürzen lässt. 31 mal wird pro Flug auf diese Weise für je 22 Sekunden die Schwerkraft aufge-

hoben. Das ist der Moment, in dem das dreiköpfige Team der Uni Magdeburg die Versuche auslöst. Sie werden in einer Apparatur

ausgeführt, die die Firma KEK aus Bad Schmiedeberg gebaut hat. Für Firmenchef Prof. Frank Engelmann war das seinerzeit Neuland.

„Wir mussten lernen, die Wünsche der Mediziner zu verstehen“, erinnert sich der Maschinenbauingenieur. „Die Mediziner mussten

lernen, unsere Möglichkeiten zu akzeptieren.“ Etliche Beschränkun-

gen galt es zu beachten. Den wenigen Platz an Bord des Airbusses, die limitierte Stromzufuhr, die Tatsache, dass keine Flüssigkeit aus-

treten darf. Die Liste der Vorgaben war lang, die Zeit zum Bau des Inkubators kurz. Während der ersten Parabelflugkampagne in Köln im Frühjahr 2006 musste noch viel improvisiert werden. Die Appa-

ratur wurde immer weiter vervollkommnet und hat sich bereits in sieben Kampagnen bewährt. Dabei hat Oliver Ullrich verschiedenste Zellen aus dem Zoo des Immunsystems in die Schwerelosigkeit geschickt: T-Lymphozyten, Makrophagen, Mikrogliazellen.


Forschung

Launch – am 1. November

Doch was geschieht nach diesen 22 Sekunden? Passt sich das

Trägerrakete Langer

Fehlfunktionen fort? Um das beantworten zu können, benötigt

startet die chinesische

Marsch. An Bord hat sie

Versuche aus Magdeburg.

Immunsystem den neuen Bedingungen an? Setzen sich die

der Wissenschaftler längere Schwerelosigkeitsphasen. Im März 2011 führt er erstmals Versuche auf der Höhenforschungsrakete TEXUS durch. Dazu verlegt er mit seinem Team seinen Arbeits-

platz für drei Wochen auf den schwedischen Weltraumbahnhof ESRANGE bei Kiruna. 150 Kilometer nördlich des Polarkreises wird im Durchschnitt einmal pro Jahr eine TEXUS-Rakete des Deut-

schen Zentrums für Luft- und Raumfahrt abgeschossen, in eine Foto: Dr. Markus Braun / Dr. Cora Thiel (2)

Höhe von zirka 250 Kilometer. Etwa fünf Minuten ist die Fracht

während des Flugs schwerelos. Während dieser Zeit werden die Immunzellen in kleinen Spritzen mit einer Flüssigkeit aktiviert

und schließlich mit einer Fixierlösung „eingefroren“. Das Wetter

provoziert mehrere Startverschiebungen, doch am Ende kann

TEXUS starten, können die Zellen nach dem Flug unversehrt geborgen und ins heimische Labor gebracht werden.

Die Versuche sind wie die auf Shenzhou die Basis für weitere Ex-

perimente auf der Internationalen Raumstation ISS. Oliver Ullrich

wurde von der Europäischen Raumfahrtagentur ESA und den Derzeit planen alle Raumfahrtnationen eine bemannte Mission

zum Mars. Während die technischen Herausforderungen lösbar scheinen, sind dem Menschen selbst Grenzen gesetzt. Kann er in der lebensfeindlichen Umgebung des Weltalls länger gefahrlos

leben? Die Raumfahrer sind Strahlung, Schwerelosigkeit und Isolation ausgesetzt. Mindestens 500 Tage lang.

Immer wieder aber leiden Astronauten während und nach längeren Aufenthalten auf Raumstationen unter schweren Infektionen

des Atemsystems, der Harnwege oder der Haut. Ein russischer Kosmonaut musste vorzeitig zurück geholt werden. „Beson-

ders gefährlich ist aber die schleichende Gefahr, die vom Gehirn

droht“, erklärt Oliver Ullrich. „Es gibt eine ganze Reihe von Viren, die dort überleben und vom Immunsystem ständig in Schach

gehalten werden. Wenn das Immunsystem aussteigt, erwachen diese Viren zu neuer Aktivität.“ Die Folge könnten Krankheiten wie Entzündungen des Gehirns und des Nervengewebes sein.“

Und das Immunsystem gerät sofort durcheinander, wenn die gewohnte Schwerkraft wegfällt. „Bei den Parabelflügen haben wir

herausgefunden, dass viele Zellen augenblicklich auf den Wegfall

der Schwerkraft reagieren“, erklärt Oliver Ullrich. „Manche stellen einfach ihre Arbeit ein wie die T-Lymphozyten, die das Immunsystem steuern. Fresszellen, die eindringende Krankheitserreger

attackieren sollen, sind in ihrer Aktivität gestört. In Schwerelo-

sigkeit werden Moleküle aktiviert, die die Zellteilung blockieren.

Diese Störungen setzen sofort nach Wegfall der Schwerkraft ein, innerhalb von Sekunden. Uns ist der Nachweis gelungen, dass

es eine Art Schwerkraftsensor in menschlichen Zellen gibt. Das wusste man bislang nicht.“

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 07/11

Raumstationsnationen mit der Leitung eines internationalen Wissenschaftlerteams beauftragt, das die Reaktionen von Zel-

len des Immunsystems in der Schwerelosigkeit erforschen will. Namhafte Experten aus den USA, aus Russland, Deutschland und der Schweiz arbeiten unter ihm zusammen. In den kommenden

Monaten sollen Versuche auf der Internationalen Raumstation ISS durchgeführt werden, die Vorbereitungen laufen. „Die Fress-

zellen werden dann während längerer Schwerelosigkeitsphasen

beobachtet. So wollen wir herausfinden, ob sie dort dieselben Störungen zeigen, die wir während kurzzeitiger Schwerelosigkeit

gefunden haben.“ In einem zweiten Projekt wird nach Anpas-

sungsmechanismen gesucht. „Wir wollen erforschen, ob unser Immunsystem lernen kann, unter Schwerelosigkeit zu leben.“

16 Tage nach ihrem Start schlägt am 17. November um 20.38 Uhr

die Landekapsel von Shenzhou-8 sanft auf der Erde auf. Die Simbox wird ausgebaut, per Hubschrauber und Jet sofort nach Peking geflogen und den Wissenschaftlern übergeben. Die komplizierte Apparatur mit den Zellen aus Magdeburg hat den Flug gut

überstanden. Anderthalb Tage später wird auch der Inkubator am Boden heruntergefahren. Die Auswertung der Versuche hat

inzwischen begonnen. „Sie wird uns wieder ein kleines Stück weiterbringen“, zeigt sich Oliver Ullrich zuversichtlich. „Was wir hier tun, ist nicht spektakulär. Wir arbeiten uns nur ein kleines Stück

voran auf dem Weg zu einem Ziel, das uns Menschen seit jeher treibt: aufzubrechen zu neuen Horizonten, um die Welt jenseits unserer Erde besser verstehen zu können.“ n

www.anatom.uzh.ch/space

http://imk.uni-magdeburg.de/lkt/

41


42

Briefe an die Redaktion

Gute Kommunikation nach außen hin

wird. Das ist zwar schade für die Radiohörer

man wird nicht enttäuscht. Im Gegenteil:

Unser Land Sachsen-

sen-Anhalter können uns glücklich schätzen,

sönlichkeiten aus allen Bereichen unserer

Anhalt in seiner Vielfalt

zu präsentieren, ist nicht

ganz leicht. Den Machern

des Sachsen-Anhalt-Magazins gelingt dies

in einer eleganten, gut durchdachten und

informativen Art und Weise. Es ist wichtig, die positive Entwicklung unseres Landes

zu kommunizieren, denn nur durch eine

in Thüringen und Sachsen. Aber wir Sach-

gleich zwei öffentlich-rechtliche Jugendprogramme lizensiert zu haben. Entgegen anderslautender Klischees ist Sachsen-Anhalt

eben auch Vielfalt. Und nicht wie der von mir

sehr geschätzte Rainald Grebe singt: „Über die Rübenfelder flüchtet ein Reh – es hat die

Wahl zwischen Radio Brocken und SAW“.

Spannende Geschichten, interessante PerGesellschaft – Informationen, die mich interessieren und auch nachdenklich machen. Ich wünschte mir etwas mehr Kulturelles aus Sachsen-Anhalt. Ich denke, auch

in diesen Bereichen haben wir in unserem Bundesland keinen Mangel. Ich freue mich auf die nächste Ausgabe.

n Stefan Gebhardt, MdL, Die.Linke

n Friedhelm Ruschak, Musiker und Grafik-

auf die kommenden Ausgaben und rege

an, ein paar Veranstaltungs- oder Ausflugs-

Mehr Tourismus ins Heft bringen

tipps einzubinden. Wenn man viel über

Sachsen-Anhalt gelesen hat, möchte man

Die Altmark, Sachsen-

Die veröffentlichten Meinungen müssen

sich ja auch vor Ort begeistern lassen.

Anhalts schöner Norden präsentiert sich seinen

gute Kommunikation, wie es das Sachsen-

Anhalt-Magazin demonstriert, kann für unser Land geworben werden. Ich freue mich

n André Schröder, Vorsitzender der CDUFraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt

Gästen als moderne,

attraktive Region, die so manche Überra-

schung zu bieten hat. Modern, attraktiv, überraschend zeigt sich auch das Sachsen-

Anhalt-Magazin. Die Themenvielfalt ist so

Medienstandort beleuchten Vom Sachsen-Anhalt-Magazin hab ich nun schon ein paar Ausgaben lesen können. Erst

mal finde ich es gut, dass es ein solches Magazin überhaupt gibt, denn es kann unser

Land nach außen nur bekannter machen. Dazu trägt mit Sicherheit auch die optisch sehr gelungene Aufmachung bei. Anregen würde ich, dass man mal den Medienstand-

bunt wie das Land. Zu kurz kommen in den

designer, Magdeburg

nicht die Meinung der Redaktion wiedergeben. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften – bitte stets mit Namen und Anschrift   – gekürzt und auch elektronisch

zu veröffentlichen. Die Leserzuschriften

können per Post oder elektronisch an leserbriefe@st-magazin.de

übermittelt

werden.

Geschichten allerdings die Schönheiten und Anziehungspunkte, die das Land Be-

suchern zu bieten hat. Auch der Tourismus zählt zu Wirtschaft und Gesellschaft.

n Mandy Hodum, Geschäftsführerin des Tourismusverbandes Altmark

ort Sachsen-Anhalt unter die Lupe nimmt. Hier hat es eine Menge zu bieten. Allein die

Ein Magazin mit Anspruch

le und den kommerziellen Radiosendern

Magazin in die Hand gelegt worden. Ein

Hörfunklandschaft mit dem MDR in Hal-

Ganz beiläufig ist mir das Sachsen-Anhalt-

sind Botschafter und Werbeträger Sachsen-

Magazin mit Anspruch. Das großzügige

Anhalts. Man bedenke auch, dass es mit

MDR-Sputnik ein Jugendradio gibt, welches über UKW nur in Sachsen-Anhalt verbreitet

Layout verleitet sofort zum Blättern. Die

großflächigen, professionellen Fotos laden ein, sich in die Inhalte zu vertiefen. Und

Stimmen zum Sachsen-Anhalt-Magazin an:

leserbriefe@st-magazin.de


Der neue Audi A4. Taktgeber des Fortschritts. Der neue Audi A4* bietet ein Vielmehr an Innovationen. Mehr Effizienz, mehr Leistung und mehr Komfort. Dazu beeindruckende Neuerungen, die auf Sie warten. All das zu einem besonders attraktiven Preis. Kommen Sie zu uns und informieren Sie sich. Wir freuen uns auf Sie. Viele Vorteile auf einen Blick: • Audi drive select® mit bis zu fünf Modi inkl. efficiency-Modus (optional) • effiziente TDI- und TFSI-Motoren* (bis zu 22 % weniger CO2-Emission) • sportlichere Optik, z. B. bei Heck- und Frontstoßfänger • adaptive cruise control mit Vollverzögerung unter 30 km/h (optional) • intelligentes Thermomanagement • serienmäßige elektromechanische Servolenkung Alle Angaben basieren auf den Merkmalen des deutschen Marktes. * Kraftstoffverbrauch l/100 km: kombiniert 9,5 – 4,3; CO2-Emission g/km: kombiniert 170 – 112

Ab sofort bestellbar. Autohaus Wernigerode GmbH Dornbergsweg 45, 38855 Wernigerode Tel.: 0 39 43 / 5 33-4 00, Fax: 0 39 43 / 5 33-4 99 autohaus@ah-wr.de, www.ah-wr.de



Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.