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WIRTSCHAFT

8. Oktober 2009 DIE ZEIT Nr. 42

Kohlefrei Ein Vorschlag zur Klimapolitik

Wer wird geschützt? Der Pauschalverdacht: Die FDP hat mit dem Sozialstaat nichts im Sinn. Die Realität sieht etwas anders aus VON ELISABETH NIEJAHR

Fotos: ddp; Mauritius (6); Plainpicture (2); Montage: DZ

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er erste junge FDP-Politiker wünscht sich mehr Teilzeitbeschäftigte in seinem Ministerium. »Am liebsten wäre mir ein Staatssekretär oder Abteilungsleiter, der wegen seiner Kinder eine Drei- oder Viertagewoche macht«, sagt Philipp Rösler, der Superminister für Wirtschaft und Arbeit in der Landesregierung von Niedersachsen. Der zweite schreibt Essays über »gefühlte Gerechtigkeit« und einen »neuen sozialen Konsens«. Er zitiert dabei gern den britischen Soziologen Anthony Giddens, ausgerechnet. Den hatte einst schon die Schröder-SPD wegen seiner Ideen für einen »Dritten Weg« zwischen Markt und Staat verehrt. »Es ist ein Alarmzeichen, dass immer mehr Menschen in Deutschland meinen, es gehe nicht gerecht zu«, sagt Christian Lindner, der Generalsekretär der nordrhein-westfälischen FDP und jetzt auch neuer Abgeordneter im Bundestag. Der dritte jungen Liberale hat sich das Motto »Leistung statt Herkunft« als heimliche Überschrift für die schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen zurechtgelegt. »Chancengleichheit und Bildung sind die wichtigsten Reformthemen für die FDP«, sagt Daniel Bahr, Gesundheitsexperte der Liberalen und ebenfalls ein Mitglied des Bundestages. Rösler, Lindner und Bahr verkörpern die Zukunft der FDP – auch wenn sie manchmal fast reden wie Sozialdemokraten. Elf Jahre Opposition und viele Debatten über die Spaltung zwischen Arm und Reich haben die Partei verändert, und am deutlichsten merkt man das den Jungen an. Sie wollen nicht weniger Reformen als die Alten, aber sie reden anders darüber. Inhaltlich, aber vor allem rhetorisch hat die FDP in den vergangenen Jahren aufgerüstet. Rösler, Lindner und Bahr sind erst Anfang oder Mitte dreißig – aber sie sind schon lange im Ge-

schäft. Sie sind noch nicht mächtig genug für einen sicheren Posten in Angela Merkels neuem Kabinett – aber bedeutend genug, um jetzt bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin mitzureden. Auf die Posten in der neuen Regierung mögen jetzt andere warten, die Älteren: der Finanzexperte Hermann Otto Solms, die frühere Justizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger und natürlich Parteichef Guido Westerwelle. Aber Rösler, Lindner und Bahr können etwas sagen zur Zukunft des Sozialen in einem schwarz-gelb regierten Land. Welchen Sozialstaat will die FDP? In ihren Programmen erscheint die Antwort klar, da fordern die Liberalen weniger Staat, weniger Kündigungsschutz, weniger Umverteilung. Doch wie wichtig ist es ihnen, solche Vorstellungen zum Sozialstaat nach dem Wahlerfolg auch durchzusetzen? Noch nie haben diese Fragen einen Wahlkampf so geprägt wie in diesem Jahr, was allerdings nicht an den Liberalen selbst lag. SPD, Linkspartei und Grüne machten die Warnung vor dem Sozialabbau durch eine schwarzgelbe Koalition zu ihrem wichtigsten Thema; mancher Sozialdemokrat sprach darüber mehr als über das eigene Programm. Selbst wichtige Unionspolitiker wie der CSU-Chef Horst Seehofer taten so, als müsse man den Bürger vor dem angeblichen »Wunschpartner« FDP und seinen Deregulierungsplänen schützen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und sein Arbeitsminister Josef Laumann kündigten sich für die Koalitionsverhandlungen in Berlin an, um

»Zumutungen« und »Grausamkeiten« zu verhindern. »Wir sind die Unsensiblen, die Eiskalten, die Leute aus der Champagneretage – immer noch und immer wieder«, sagt Christian Lindner. Er hat schon einige Wahlkämpfe mitgemacht – aber noch nie einen, in dem ihm selbst und seiner Partei nicht soziale Kälte vorgeworfen wurde. Das ist wohl der Grund, weshalb Lindner die Erfolge der Arbeiterwohlfahrt bei der Kinderbetreuung preist und Rösler in Interviews oft über Begriffe wie Heimat oder Familie spricht. Lindner war drei, als zuletzt eine schwarzgelbe Koalition eine Mehrheit im Bundestag errang. Bahr war sechs, Rösler neun Jahre alt, als Helmut Kohl 1982 Kanzler wurde. An die Jahre gleich danach hat keiner von ihnen viele Erinnerungen. Ihre prägende Zeit waren die Neunziger mit ihren Standort-, Globalisierungs- und Reformdebatten. In diesen späten Jahren der Ära Kohl trug der damals gerade ernannte FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle einige Kernsätze vor, die heute die liberalen Sozialstaatsdebatten prägen. Man müsse »die Schwachen vor den Faulen und den Cleveren schützen«, lautete einer davon. Dass der Sozialstaat für seine Leistungen etwas von den Empfängern erwarten solle – dieser Gedanke war für viele Sozialpolitiker von CDU und SPD damals noch eine harte Provokation. Dass ein schwer durchschaubares Steuer-, Abgaben- und Subventionsgeflecht Menschen ohne Bildung womöglich schlechter dient als ein leicht verständliches System – auch diese eigentlich banale Einsicht haben seither viele übernommen. Aus jener Zeit stammt auch das liberale Konzept für das sogenannte Bürgergeld, das diverse Sozialtransfers zusammenfassen und ersetzen soll (siehe Kasten).

Vor allem aber wetterte Westerwelle damals gegen die »Gefälligkeitspolitik« der anderen Parteien und die »Vollkaskomentalität« im Land. Beide Begriffe stehen immer noch im seit 1997 geltenden Parteiprogramm. Damals passte allerdings die ordnungspolitische Strenge aus Westerwelles Reden nicht recht zur Neigung der FDP, wichtigen Wählergruppen wie Ärzten oder Anwälten manchen Gefallen zu tun. Das Steuersystem musste einfacher werden – die Eigenheimzulage sollte bleiben. Man forderte Subventionsabbau – aber bitte nicht für die Landwirte, eine treue liberale Wählergruppe. Sparen ja – aber nicht bei der eigenen Klientel. Martin Lindner, FDP-Chef in Berlin, hat die Anfälligkeit für Lobbygruppen später in einem Beitrag für die ZEIT besonders schonungslos beschrieben. »Statt klare Positionen einzunehmen, bringen wir uns in den Geruch des Klientelismus«, schrieb er 2003 und nannte Beispiele: »Aus Rücksicht auf Apothekerkammern und -verbände spricht sich die Partei der Marktwirtschaft gegen den Versandhandel mit Arzneimitteln aus. Um sich nicht mit der Lobby der Handwerkerverbände anzulegen, hält die FDP am Meisterbrief fest, eine eher mittelalterliche Position.« Heute, sechs Jahre später, scheinen zumindest viele Ärzte zu hoffen, dass der alte Politikstil wiederkehrt. 56 Prozent der niedergelassenen Mediziner würden die FDP wählen, ergab kurz vor der Wahl eine Umfrage der Ärzte-Zeitung. Die SPD hätte nur 4,8 Prozent der Stimmen, die Union 23 Prozent erhalten. Und tatsächlich ist das Gesundheitswesen aus Sicht der FDP das heikelste und zugleich vielversprechendste Feld für künftige Reformen. Bei den potenziellen FDP-Wählern haben sich die Union und die SPD mit der Gesundheitspolitik besonders unbeliebt gemacht. Bei jeder PoleFortsetzung auf Seite 24

Wie ernst meint es die Bundeskanzlerin mit ihrem einstigen Lieblingsthema, dem Klimaschutz? Sie könnte ein Signal setzen. Derzeit werden in Deutschland 29 neue Kohlekraftwerke geplant oder bereits gebaut. Das lässt Klimaforscher verzweifeln, weil die neuen Meiler ein halbes Jahrhundert laufen. Will Deutschland der weithin akzeptierten Einsicht nachkommen, dass Industrieländer ihren CO₂-Ausstoß bis 2050 um 80 oder 90 Prozent mindern müssen, dann stünden die Werke bedenklich im Weg. Trotz aller Effizienzfortschritte würden gut 20 moderne Kohlekraftwerke reichen, um zur Mitte des Jahrhunderts die CO₂-Latte für das gesamte Land zu reißen. Mag ja sein, dass bis dahin längst das CO₂ von der Kohle mittels neuer Technik abgeschieden und in der Erde gebunkert werden kann – aber schwören mag darauf niemand. Also dürfte der Staat neue Kohlemeiler eigentlich nur noch erlauben, wenn sie in einigen Jahren ohne den Ausstoß von Klimagas arbeiten. De facto wäre das zunächst ein Kohle-Moratorium, weil wohl kein Versorger das technische Risiko einginge. Erst sauber werden, dann bauen, hieße das, und nicht: erst bauen und dann eventuell sauber werden. »Versorgungslücke!«, droht an der Stelle die Energiewirtschaft. Doch gerade jetzt ergibt sich eine Gelegenheit. Schwarz-Gelb will Atomkraftwerke länger laufen lassen als geplant – auch aus ökologischen Gründen. Egal, wie man dazu steht, wäre das der Moment, im Gegenzug neue Kohlekraftwerke nur noch unter der Bedingung der Sauberkeit zuzulassen. Die Energiewirtschaft hätte einen neuen Anreiz, in die Technik zur CO₂-Abscheidung zu investieren – und die Regierung könnte zeigen, dass sie in der Klimapolitik nicht einem Lager folgt, sondern einem Ziel. UWE JEAN HEUSER

30 SEKUNDEN FÜR

Monster Wenn Politiker über Abstraktes reden, greifen sie gern zu Motiven aus der Tierwelt. Da halten dann Haie als Metaphern für gefräßige Investoren und Heuschrecken für leichtfüßige Spekulanten her. Besonders beliebt sind neuerdings Monster. Erst Anfang der Woche erklärte Horst Köhler, dass er »das Monster noch nicht auf dem Weg der Zähmung« sähe – und meinte damit die Profitgier an den Finanzmärkten. Im Grunde müsste ein bürgernaher Präsident aber wissen, dass man nicht zähmen muss, was längst domestiziert ist. In deutschen Kinderzimmern winkt das Krümelmonster aus der Sesamstraße von der Mattscheibe, und Monstertrucks fahren Furchen in den Teppich. Konsolenspiele versprechen »Monsterspaß«, und was man traditionell einmal »cool« genannt hätte, finden Heranwachsende heute »monstergöttlich«. Dem Bundespräsidenten muss also gesagt werden: Diese Verniedlichung haben die Finanzmärkte nicht verdient! KERSTIN BUND

Tim Geithners Antwort Der US-Finanzminister weist die Kritik der Banken zurück. Ein Interview SEITE 32


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