Jewish Museum Berlin: JMB Journal Nr. 22

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JMB JOURNAL

2021 N 22


Maloche, Tinnef, schmusen, Bohei, dufte, kess, Hals- und Beinbruch, Hechtsuppe, Kluft, Schlamassel, Tacheles reden, angeschickert: Typisch deutsch ist seit jeher typisch jüdisch. Evonik gratuliert einem der wichtigsten Wahrzeichen Deutschlands, dem Jüdischen Museum Berlin, herzlich zum 20-jährigen Jubiläum.

Wir fördern die Kultur. Und das von Herzen gern.


ISSN 2195 - 7002

20 JAHRE JMB – 20 YEARS JMB / 350 JAHRE JÜDISCHE GEMEINDE – 350 YEARS JEWISH COMMUNITY / KONTINUITÄT – CONTINUITY / SCHÖNE DINGE – BEAUTIFUL THINGS / KULTURKARTEN – CULTURE MAPS / LUSTGÄRTEN – GARDENS / INTERVIEWS / ANOHA


COKE AUS DER KLASSISCHEN GLASFLASCHE. Coca-Cola, Coke, die Konturflasche und die dynamische Welle sind eingetragene Schutzmarken der The Coca-Cola Company.

FÜR ALLE, DIE DAS ORIGINAL LIEBEN.


Editorial Editorial

Hetty Berg Direktorin des Jüdischen Museums Berlin Director of the Jewish Museum Berlin

DE  Wir feiern dieses Jahr drei besondere Jubiläen: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, 350 Jahre Jüdische Gemeinde zu Berlin, und – das Jüdische Museum Berlin wird 20! Nach den vergangenen Monaten, in denen das Haus größtenteils geschlossen war, freuen meine Mitarbeiter*innen und ich uns über offene Türen, über Gäste in unseren Ausstellungen und bei Veranstaltungen, die wir nun wieder gemeinsam live oder nach wie vor auch online genießen können. In dieser Ausgabe des JMB Journals blicken wir auf Berlin, auf die bunte Hauptstadt, auf ihre Bewohner*innen, auf ihr vielgestaltiges – traditionelles wie modernes – jüdisches Leben. Der Historiker und Guide am JMB Alexander Green nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch Berlins Mitte, zu jüdischen Orten über die Jahrhunderte hinweg. Dass Moses Mendelssohn äußerlich zwar ein blasser ­Bücherwurm, in seiner Seele aber ein leidenschaftlicher Freund Berliner Grünanlagen war, beschreibt der Kurator Thomas Lackmann. Im Interview erzählt Yael Bartana, welche Rolle Berlin in ihrer Kunst und in ihrem Leben spielt, und Frédéric Brenner hatte an einem stürmischen Berliner Herbsttag die entscheidende Idee für seinen fotografischen Essay „ZERHEILT“. Über ihre jüdische Jugend in West-Berlin spricht die Journalistin und Moderatorin Shelly Kupferberg. Unsere Kollegin Leonore Maier stellt eine Sammlung vor, die uns die Luxus- und Warenwelt Berlins um die Jahrhundertwende nahebringt, und Cilly Kugelmann, seit der Gründung am Haus und viele Jahre lang Programmdirektorin, wirft einen prägnanten wie vergnüglichen Blick auf die letzten zwei Dekaden. Und noch etwas feiern wir 2021: die ANOHA Kinderwelt durfte in diesem Sommer endlich eröffnen! Wir stellen Ihnen in diesem Heft unsere ANOHIS vor, die die Kinder bei ihrer Reise begleiten, mit ihnen eintauchen in die Geschichte von der Arche Noah, der Rettung der Tiere und einem farbenfrohen Neuanfang. Ich hoffe, Sie finden in diesem Heft zahlreiche Anregungen: vertiefen Sie sich, entdecken Sie Neues, kommen Sie in unser Haus! Ich heiße Sie herzlich willkommen, vor Ort oder auch digital unter www.jmberlin.de!

EN  This year marks three very special anniversaries: 1,700 years of Jewish life in Germany, 350 years of the Jewish community in Berlin, and last but not least, the Jewish ­Museum Berlin is turning twenty! After the past months with the museum mostly closed, my colleagues and I are delighted to see open doors, visitors to our exhibitions, and audiences at events, which we can now attend together in person or continue to enjoy online as before. This edition of the JMB Journal looks at Berlin—the vibrant capital, its residents, and its multifaceted Jewish life, both traditional and modern. Historian and JMB guide Alexander Green takes us on a stroll through the center of the city, visiting Jewish locations across the centuries. Exhibition curator Thomas Lackmann shows that even if Moses Mendelssohn was a pale bookworm on the outside, in his innermost soul he was passionately devoted to Berlin’s green spaces. Yael Bartana talks in an interview about the role that Berlin plays in her art and her own life, and Frédéric Brenner tells us about the stormy fall day in Berlin when he had the key idea for his photographic essay ZERHEILT: Healed to Pieces. Journalist and presenter Shelly Kupferberg describes her Jewish youth in West Berlin. Our colleague Leonore Maier introduces a collection that brings to life Berlin’s world of luxury goods around the turn of the twentieth century, and Cilly Kugelmann, a mainstay of the museum since its founding and program director for many years, gives us a succinct and lighthearted survey of the past two decades. There is another thing to celebrate in 2021: this summer, ANOHA, the Children’s World of the JMB, was finally able to open! In this issue, we introduce you to our ANOHIS, the educators who accompany the children on their journey, and dive with them into the story of Noah’s Ark, the rescue of the animals, and a rainbow-colored new beginning. I hope you will find plenty of food for thought in this issue—immerse yourself, discover something new, come visit the museum! A very warm welcome, whether you visit in person or online at www.jmberlin.de/en! Yours, Hetty Berg

Ihre Hetty Berg

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Inhalt Content

58 Interview Interview Yael Bartana Nomadin Nomad

5 Editorial Editorial 8 Stephan Pramme Mittendrin in der Geschichte In the Thick of the Story 18 Führungen & Workshops Guided Tours & Workshops

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66 Freunde Friends Berliner Kulturkarten Berlin Culture Maps

20 Alexander Green Kontinuität, Vielfalt und kein Ende Continuity, Diversity, and No End 28 Cilly Kugelmann 20 Jahre! 20 Years!

72 Danke Thank you Unsere Unterstützer*innen Our Supporters

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32 Thomas Lackmann Im Schatten von Tanne und Eiche In the Shade of Oaks and Firs

74 Leonore Maier Wenn Sie schöne Dinge lieben Do you love beautiful things? 82 Konferenz Conference Jüdinnen und Juden entlang der Seidenstraße Jews Along the Silk Road

40 Ausstellungsvorschau Upcoming Exhibition 42 Interview Interview Shelly Kupferberg Zwischen Chanukkia und Lametta Christmas Tinsel and Hanukkah Lights

64 Ausstellungen & Begleitprogramm Exhibitions & Program

82 Impressum Credits 50

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50 Frédéric Brenner ZERHEILT HEALED TO PIECES

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Mittendrin in der Geschichte ANOHIS – so heißen die Kommunikator*innen im ANOHA. In ihren blauen Westen sind sie an allen Stationen der Kinderwelt zu finden: dort nehmen sie die Kinder mit in die Erzählung von der Arche Noah. Gemeinsam lässt es sich nachdenken über N ­ aturschutz, Vielfalt, das friedliche Zusammenleben, über Gott und die Welt. Wir sprachen mit den ­ANOHIS über ihre Arbeit und ihre persön­lichen Z ­ ukunftsvisionen für Berlin. In the Thick of the Story ANOHIS—that’s what we call the companions in ANOHA. You can see them in their blue vests at all the stations of the Children’s World. They accompany the children as they enter the story of Noah’s Ark. Together, ideas are shared about nature conservation, diversity, peaceful coexistence, about God and everything under the sun. We spoke with the ANOHIS about their work and their own personal visions for Berlin’s future. Fotos Photos

Stephan Pramme 8


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Seite 9: Stefanie Tiedtke, Bällebad Berlin ist eine Schatzkammer, so eine Vielfalt, man kann so viel erleben, spontan und unerwartet. Ich freue mich über diese Glücksmomente, zufällige Begegnungen oder schöne kleine Situationen, die man im Vorbeifahren auf dem Fahrrad beobachtet: Da drüben trinken ein paar Kids aus einem Brunnen, das ist natürlich kein Trinkwasser, das ist gar nicht gesund, aber die lachen sich schlapp! So soll es bleiben. Ich freue mich, wenn alle im Bällebad herumhüpfen. Hier geht es vor allem um Spaß. Page 9: Stefanie Tiedtke, ball pit Berlin is a treasure chest with such diversity and you can experience so much—spontaneously and unexpectedly. I appreciate such moments of happiness, encounters or wonderful small situations that you can observe while riding past on your bike: Over there a few kids are drinking water from a public fountain. Of course it isn’t drinking water and it is not healthy, but they are really enjoying themselves! I hope the city stays that way. I am looking forward to everyone jumping around in the ball pit. The main thing here is to have fun. Laura Sprenger, Flutraum Zu Beginn im ANOHA ver­­ lässt man Berlin und taucht ein in die Geschichte – das ist ein richtig immersives Erlebnis mit Geräuschen und Wellen. Hier erzählen wir, dass Wasser sowohl gut als auch schlecht sein kann, ­Lebensgrundlage, aber gleichzeitig auch zerstöre­ rische Kraft. Das Wesen Berlins ist ganz divers: In welchen Stadtteil man kommt, es ist immer ein ­bisschen anders. Wie viele kleine Städte in einer großen Stadt. Ich hoffe, wir werden in der Zukunft keine Arche brauchen. Aber eine autofreie Stadt wäre cool! In the Thick of the Story

Laura Sprenger, flood room In ANOHA you start by leaving Berlin and plunging into the story; that is a truly immersive experience, with sounds and waves. Here we explain that water can be both good and bad. It is the basis of life but at the same time it has destructive strength. Berlin in its essence is very diverse. Things are always somewhat different depending on what district you are in. It is like many small cities within the one big city. I hope we won’t ever need an ark in the future. But a car-free city would be cool! Svenja Brummund, Schiffsbau An dieser Station können die Kinder eine eigene Arche bauen und sie im Wasser testen. Wir basteln und bauen und experimentieren gemeinsam – manchmal

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schwimmt eine Arche nicht, und die Kinder können was erneuern, ausbessern und gucken, ob das funktioniert. Mich beschäftigt in Berlin die Infrastruktur; ich wünsche mir eine fahrradfreundliche Stadt und mehr bezahlbaren Wohnraum. Ich schätze die kulturelle Vielfalt in Berlin und hoffe, dass diese erhalten bleibt. Svenja Brummund, ark construction At this station the children can build their own ark and then test it in water. We do arts and crafts and build and experiment together— sometimes an ark fails to float and the children can replace something, revamp it, and then see if it works. I’m concerned about Berlin’s infrastructure. I would like to see a bicycle-friendly city and more affordable housing. I value the cultural d ­ iversity in Berlin and I hope that doesn’t change.


Milena Janssen, Eingang zur Arche Hier kommen viele Fragen auf: Wer darf überhaupt mit an Bord? Wer nicht und warum nicht? Wer entscheidet darüber? Hier geht es schon um Prävention von Ausgrenzung. Die Herausforder­ungen in Berlin sind eigentlich die gleichen, die die ganze Gesellschaft hat, vielleicht einen Deut stärker. Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft mehr zusammenwachsen und dass die Stadt ein Ort wird, der nach den Bedürfnissen von allen gestaltet wird, demokratischer – und auch viel kinderfreundlicher! Milena Janssen, boarding station A lot of questions get raised here: Who is even permitted to board? Who isn’t and why not? And who decides? This is about preventing exclusion. The challenges

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in Berlin are actually the same as those that our entire ­society faces, maybe even a bit more difficult. My wish is for us all to grow together more and for the city to be­ come a place that is shaped by everyone’s needs—more democratic, and much more child-friendly! Birgita Martens, am Wollhaarmammut Das Mammut ist ein ausgestorbenes Tier. Hier können die Kinder darüber nachdenken, wie man bedrohte Tiere schützen kann. Sie können auch ganz aktiv werden und das Mammut pflegen: Damit es nicht frieren muss, können sie sein Fell dichter machen und Seilstücke anknüpfen. In der Zukunft werden wir hier in Berlin keine Arche brauchen, sondern auf unsere eigene Energie und unser Zupacken vertrauen können. Ich wünsche mir, dass in In the Thick of the Story

Berlin Menschen, die kreativ sind, das Geschehen lenken! Und ich wünsche mir, dass Berliner Kinder weiterhin Gören bleiben können. Birgita Martens, at the woolly mammoth The mammoth is an extinct mammal. Here the children can think about how endangered animals can be protected. They can also be truly active and take care of the mammoth: The children can make its fur thicker by attaching pieces of rope so it won’t have to freeze. In the future, we won’t have to build any arks here in Berlin, since we’ll be able to depend on our own energy and our own effort. I would like creative people to make the decisions about what happens in Berlin. And I wish that children in Berlin always remain cheeky rascals.

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Lina-Golly Wyrwa, auf dem Riesenfaultier aus dem Pleistozän Berliner Kinder wachsen inmitten einer Perspektivenund Identitätsvielfalt auf. Sie können bewusst entscheiden, wer sie sein und wohin sie gehören wollen, oder was sie auf keinen Fall wollen. Dabei werden sie auch mit Extremen konfrontiert. Auf dem Faultier können sie sich davon erholen. Mir geht es an dieser Station vor allem um die vielfältigen Bedürfnisse der Kinder. Manche wollen schlafen, andere toben. Wir sind alle unterschiedlich und das ist vollkommen okay. Lina-Golly Wyrwa, on the giant ground sloth from the Pleistocene period Children in Berlin grow up in

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the midst of a diversity of perspectives and identities. They can consciously decide who they want to be and where they wish to belong or what they definitely do not want. In that they are confronted with extremes. Here, on the sloth, they can take a rest from all that. For me this station is about the varied needs of the children. Some want to sleep and others romp around. We are all different and that is absolutely okay. Pavel Fernandez, mit dem zahmen Krokodil Die Berliner Kinder sind sehr selbstbewusst; in Mexiko City ist es undenkbar, dass Kinder alleine zur Schule gehen. Es ist wunderschön, dass Kinder hier alleine so Vieles machen können. Das macht sie mutig. Das ist gut. In der Nähe meiner Heimatstadt gibt es einen Strand mit Krokodilen. Reptilien sind ja eigentlich eher kaltblütig, Mutter und Kinder haben keine besondere Verbindung. Aber Krokodile sind eine Ausnahme! Die Krokodilmutter passt super gut auf ihre Kinder auf und benutzt das Maul wie einen Kinderwagen. Krokodile sind gefährliche Tiere, aber ich glaube, dass jedes Tier verschiedene Seiten hat, wie Menschen auch. Pavel Fernandez, with the gentle crocodile Children in Berlin are very self-assured. In Mexico City it is inconceivable for children to go to school by themselves. It is wonderful that children here can do so much on their own. It gives them courage. That’s good. Near my hometown in Mexico there is a beach with crocodiles. Reptiles are actually cold-blooded, and mother and child do not have any special bond. But crocodiles are the exception! The crocodile mother takes good care of her children, using her mouth as a baby carriage. Crocodiles are dangerous animals but I think every ani­mal has different sides, just like humans do. In the Thick of the Story

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Stephan Pramme lebt und arbeitet in Berlin. Als Schüler des bekannten Ostberliner Fotografen Roger Melis machte er 2002 seinen Abschluss am ­Lette-Verein. Seine Schwerpunkte sind Porträt und Repor­tage. Eine Reihe seiner Porträts, die für die Jüdische Allgemeine entstanden, fanden E ­ ingang in die Sammlung des JMB. Stephan Pramme lives and works in Berlin. A student of the well-known East B ­ erlin photo­ grapher Roger Melis, he graduated from the Lette-Verein in 2002. His focus is on portraiture and reportage. A number of his portraits taken for the Jüdische Allgemeine are part of the JMB collection.

Sylvie Chauvet, Zentrum der Arche Ich komme aus Frankreich und liebe Berlin. Das größte Glück hier ist die Lebensqualität, das viele Grün überall. Inzwischen gibt es auch ganz gute Restaurants und Lebensmittelabteilungen! Das Zentrum der Arche ist bewusst fast leer. Hier stehen zwei auf den ersten Blick seltsam anmutende Objekte. Und es gibt ein von Kindern entworfenes Weltenpuzzle, das die Visionen einer anderen und besseren Welt beschreiben soll. Hier können wir miteinander reden, über Gott, die Welt, alles, was uns interessiert. Sylvie Chauvet, center of the Ark I come from France and I love Berlin. The thing that makes me happiest is the quality of life and the green areas everywhere. And now there are also some pretty good restaurants and grocery departments! The

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center of the Ark is intentionally almost empty. There are two objects that seem rather strange at first glance. And there is a world puzzle designed by children that is meant to describe visions of a different, better world. Here we can all talk with each other, about God and everything under the sun that is of interest to us. Erika Nastasi, Neubeginn nach der Flut Wenn die Tiere und die Kinder die Arche verlassen, dann erwartet sie der Neubeginn, eine neue Welt, die gestaltet werden will. Kinder beschäftigen sich hier mit den Fragen: Was habe ich hinter mir gelassen, um neu beginnen zu können? Wie wollen wir gut zusammenleben? Nach der Pandemie werden auch Kinder einen Neubeginn empfinden. Ich glaube, ich selbst werde die Vielfalt nun ganz anders genießen und wahrnehmen können. Mein größtes Glück in dieser Stadt ist die Museumslandschaft. Berlin soll weiterhin so grün bleiben, die Menschen wollen draußen sein; dem sollte die Stadt weiterhin Rechnung tragen. Erika Nastasi, new beginning after the flood When the animals and the children leave the Ark, the new beginning is waiting for them—a new world that needs to be designed. While they are here, children think about these questions: What did I leave behind in order to be able to start anew? How do we want to live together? After the pandemic, children will also sense a new beginning. I think I myself will be able to enjoy and perceive the diversity in a very different way. The thing that makes me happiest in this city is the museum landscape. Berlin should stay as green as it is, since everyone wants to be outdoors. The city needs to continue to take that into account.

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FÜHRUNGEN & WORKSHOPS AUCH DIGITAL! GUIDED TOURS & WORKSHOPS ALSO DIGITAL! DAUERAUSSTELLUNG CORE EXHIBITION Im August 2020 eröffnete unsere neue Dauer­ ausstellung. Gruppen können Führungen zu verschiedenen Themen buchen, Besucher*innen können sich individuell zu einer öffentlichen Führung anmelden. Hier finden Sie eine Auswahl unserer Angebote. In August 2020 our new core exhibition opened. Visitors can book tours on various topics as a group or individually book a public tour. Dates, topics and information on booking and participation can be found on our website. Here is a sampling if what we offer.

RELIGION UND RITUAL RELIGION AND RITUAL

ANTISEMITISMUS.

Das Gerücht über die Juden

ANTISEMITISM.

Führung

The Rumor about the Jews Workshop

Die Verachtung jüdischer Traditionen und die Ablehnung von Jüdinnen und Juden führen immer wieder zu Hass und Gewalt und haben eine lange Geschichte. Wir nähern uns dem komplexen Phänomen Antisemitismus, indem wir uns einzelne Exponate und Filme der Ausstellung ansehen und auswerten. Der Workshop verfolgt das Ziel, über unsere heutige Gesellschaft nachzudenken und anti­semitische Äußerungen und Handlungen zu erkennen. Workshop

The contempt for Jewish traditions and the rejection of Jews have a long history and have led to hatred and violence time and again. Antisemitism is a complex, sometimes elusive phenomenon. In this workshop, we will approach the phenomenon of antisemitism by evaluating film examples and objects from the exhibition. The workshop raises awareness of antisemitic expressions and actions. The participants ideas, thought processes, and experiences are explored in an open discussion.

Die Tora ist die Heilige Schrift des Judentums. Besucher*innen erfahren mehr über die Bedeutung und Auslegung der Heiligen Schrift für Jüdinnen und Juden heute. Objekte und Alltagsgegenstände erzählen von jüdischer Lebenspraxis, z.B. von den jüdischen Speise­ gesetzen (Kaschrut) oder dem Gebot der Wohltätigkeit (Zedaka). Ein Flamencokleid, ein Nähkissen und eine Krone geben Einblicke in die Vielfalt innerhalb des Judentums. Guided Tour

The Torah is the Holy Scripture of Judaism. Visitors discover more about its meaning for Jews today and its interpretation. Objects and everyday items tell of Jewish life practices such as the Jewish ­dietary laws (Kashrut) or the commandment of charity (Zedaka). A ­flamenco dress, a sewing cushion, and a crown provide insights into the diversity within Judaism. Buchung Registration T +49 (0)30 259 93 305 visit@jmberlin.de

#JMBERLIN 18

Führungen & Workshops


KATASTROPHE.

Historische Fotos lesen

CATASTROPHE.

Reading Historical Photos Digitaler Workshop

Wie schauen zwei jüdische Fotografen auf das Jahr 1935? Dieser Frage gehen wir in dem Workshop nach und richten den Fokus auf die sehr unterschiedlichen fotografischen Blicke von Werner Fritz Fürstenberg und Herbert Sonnenfeld. Oft werden historische Fotografien als „objektive Abbilder“ einer geschichtlichen Situation wahrgenommen. Wir lesen und bewerten die Fotografien unter Berücksichtigung des historischen Kontextes. Die fotoanalytische Kompetenz wird durch Aufgaben zum vergleichenden Sehen gestärkt. Online Workshop

How did two Jewish photographers view the year 1935? The workshop will explore this question. We will focus on the photographs and very different perspectives of the photographers Werner Fritz Fürstenberg and Herbert Sonnenfeld. Historical photographs are often perceived as “objective images” of a historical situation; in this workshop we will take a second look at photographs by considering contextual information. Participants' photo-analytical skills will be strengthened practicing comparative seeing.

ANOHA

Die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin The Children’s World of the Jewish Museum Berlin ALLE AN BORD! Programm für Kita, Grundschule, Horte und Familien

Im ANOHA können Kinder die Geschichte der Arche Noah erleben: Sie hüpfen durch Regenpfützen, testen Boote im Sintflutkanal und bringen sich und die Tiere an Bord. Beim Erforschen des Lebens auf der Arche entstehen Ideen für den Neuanfang. Für Gruppen: Di bis Fr 9–13 Uhr Für Familien: Sa, So und feiertags 10:30–16 Uhr Eintritt kostenlos, Einlass nur mit Zeitfensterticket

ALL ABOARD! Program for daycare centers, elementary schools, ­after-school care, and families

At ANOHA, children can immerse themselves in the story of Noah’s Ark. They hop through rain puddles, test boats in a flood simulator, and climb aboard the ark with the animals. As they investigate life on the ship, they explore ideas for new beginnings. For groups: Tues to Fri 9 am–1 pm For families: Sat, Sun and holidays 10:30 am–4 pm Admission free, time slot ticket needed

EIN BESUCH FÜR NEUGIERIGE OHNE KINDER ANOHA für Erwachsene

Immersiv, innovativ und nachhaltig: Tauchen Sie ein in die Geschichte der Arche Noah mit 150 künstlerisch gestalteten Tierskulpturen auf einer riesigen Arche in nachhaltiger Bauweise. Sa & So jeweils 14:45 Uhr Eintritt kostenlos, Führungsgebühr 3 Euro, Einlass nur mit Zeitfensterticket

VISIT FOR CURIOUS ADULTS WITHOUT KIDS ANOHA for adults

Immersive, innovative, and sustainable: experience the story of Noah’s Ark with 150 wonderfully designed animal sculptures on a giant ark built with sustainable materials. Herbert Sonnenfeld, Jungen und Mädchen ­musizieren im ­Hachschara-Lager Schniebinchen bei Sommerfeld, ca. 1938 Herbert Sonnenfeld, boys and girls make ­music in the hachshara camp Schniebinchen near ­Sommerfeld, ca. 1938

Sat & Sun 2:45 pm Admission free, fee for guided tour: 3 Euro, time slot ticket needed

Buchung Registration T +49 (0)30 259 93 305 visit@anoha.de

#ANOHA Guided Tours & Workshops

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KONTINUITÄT, VIELFALT UND KEIN ENDE Continuity, Diversity, and No End

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Text

Berlin erinnert 2021 an 350 Jahre Bestehen der Jüdischen ­Gemeinde. Da An- und Abwesenheit vor ­allem mit O ­ rten zu tun hat, scheint ein Gang durch Raum und Zeit angemessen. Ein Spaziergang durch das Sichtbare und das Unsichtbare, das Heutige und das Vergangene in Berlins Mitte. In 2021, Berlin is commemorating the 350th anniversary of its Jewish community. This article takes you on a walk through space and time. It explores the t­ hemes of presence and absence at places in the city where the past intersects with the present in visible and invisible ways.

Alexander Green DE  350 Jahre Jüdische Gemeinde zu Berlin – die Zahl weist auf ein Datum hin, das als Anfang einer bis heute existierenden Jüdischen Gemeinde festgelegt wurde. Vor 350 Jahren nämlich wurde einigen wohlhabenden jüdischen Familien, meist aus Wien vertrieben, die Ansiedlung in Berlin erlaubt. Das Recht, eine Gemeinde zu gründen und eine Synagoge zu bauen, bekamen sie jedoch nicht. Ihre Ansiedlung geschah vor allem, weil die Stadt Geld brauchte. Doch gab es schon vor fast 800 Jahren hier jüdisches Leben – also letztlich, seitdem Berlin als Stadt dokumentiert ist. Können wir bei diesem Jubiläum also wirklich von dem Anfang einer Gemeinde sprechen oder sollten wir vielleicht eher sagen: Seit 350 Jahren sind Juden und Jüdinnen kontinuierlich in Berlin anwesend, nachdem sie zuvor immer wieder vertrieben wurden? 350 Jahre stehen nicht nur für einen Ablauf von Jahreszahlen, sondern für ineinandergreifende Zustände, Lebensjahre von Personen, für ihre Schöpfungen und auch ihren Raum. Es ist ein steiniger Weg durch 350 Jahre ununterbrochene Kontinuität, allem zum Trotz. Eine Kontinuität, die in einem stetigen Kommen und Gehen liegt, in einer außerordentlichen Vielfältigkeit, in einer fast völligen Zerstörung und einem Wiederanfang, in der Teilung und der Vereinigung. Diese Kontinuität jüdischen Lebens ist gerade damit auch ein fester Teil der Geschichte der Stadt selbst.

EN  Berlin’s Jewish community is celebrating its 350th anniversary. This number points us to the year that is generally recognized as its birth date. Exactly 350 years ago, several wealthy Jewish families—most of them expelled from Vienna—were allowed to settle in Berlin. However, they were not granted the right to found a community or build a synagogue. Their settlement was permitted mainly because the city needed money. In fact, there was already Jewish life in Berlin almost 800 years ago, dating to the time Berlin first appeared in recorded history as a city. So can we really speak of the “beginning” of a community on this anniversary? Or wouldn’t it be more accurate to say that Jews have continuously lived in Berlin for 350 years, after having been repeatedly expelled in previous centuries? 350 years is not just a ­sequence of numbers. It stands for intertwined developments, years of people’s lives, their work and creations, and the spaces they have inhabited. It has been a rocky road through 350 years of uninterrupted continuity that has prevailed despite all obstacles—a continuity that has seen a constant coming and going, extraordinary diversity, almost complete annihilation and new beginnings, as well as division and reunification. The continuity of Jewish life in Berlin is an integral part of the city’s history.

Aus der Broschüre „Wegweiser durch die Jüdische Gemeinde zu Berlin“, Berlin, September 1937. From the brochure “Wegweiser durch die Jüdische Gemeinde zu Berlin” (Guide to Berlin's Jewish community), Berlin, September 1937.

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An welchem Ort beginnen wir? Vielleicht vor den Toren der damaligen Stadt, auf einem Friedhof. Weil er die erste verzeichnete jüdische Einrichtung in Berlin war und, ein Jahr nach dem Eintreffen jener Jüdinnen und Juden aus Österreich, auch der erste und für lange Zeit einzig erlaubte Grunderwerb. Und ein Friedhof – ein Haus des Lebens oder der Ewigkeit, wie es in jüdischer Kultur heißt – ist ein deutliches Zeichen von Anwesenheit. Heute liegt er nicht mehr vor den Toren der Stadt, sondern mitten in Mitte, in der Großen Hamburger Straße. Ein kleiner umzäunter Park mit Öffnungszeiten, eher unüblich für Berlin. Hinter dem Tor steht eine Gedenktafel, darauf ein historisches Foto von mit Efeu umwucherten Grabsteinen. Heute sieht der Park noch genauso aus, allerdings fehlen alle Steine. Fast alle, denn ein paar Schritte weiter steht doch ein einzelner Grabstein und darauf ein großer Name für einen kleinen Mann: Moses Mendelssohn, 1729–1786. Auf der anderen Seite des Grabsteins ist auf Hebräisch zu lesen: „Der weise Rabbi Mose aus Dessau”. Beerdigt wurde er hier mehr als 100 Jahre nach der Einweihung des Friedhofs. Im gleichen Jahr, in dem auch Friedrich der Große – noch ein kleiner Mann – starb, der Mendelssohn und seiner Familie erst wenige Jahre vor ihrer beider Tod das Bleiberecht gegeben hatte. Der Grabstein, den man jetzt auf dem Friedhof sieht, ist allerdings neu, aus den Wendejahren. Der alte wurde wohl mit allen anderen Steinen zerhauen, als vor 80 Jahren die Deportationen aus Berlin begannen und man nicht nur die lebenden Jüdinnen und Juden ermorden, sondern auch die toten in ihrer Ruhe stören und die Erinnerung an ihre Anwesenheit und ihre Geschichte auslöschen wollte. Der Friedhof wurde zum Appellplatz für ein Sammellager, das im ersten jüdischen Altenheim Berlins, das sich neben dem Friedhof befand, eingerichtet wurde. Der Grundriss des Altenheims ist heute in den Boden eingelassen. Eine Tafel und Skulptur erinnern daran, dass hier Berliner Jüdinnen und Juden auf ihre Deportation warteten. Also auf den Tod, die Alten wie auch die Jungen. Doch nicht alle warteten dort nur. Zvi Aviram, damals noch Heinz Abrahamson, gelang es mit viel Mut und Glück aus dem Sammellager zu entkommen. Er überlebte den Holocaust und zog nach Israel. Dort verstarb er 2020. Noch im Jahr davor hat er im Jüdischen Museum Berlin seine Geschichte erzählt.

Where should we begin? Perhaps in front of the gates to the city as it existed back then, at a cemetery located there, which was the first documented Jewish institution in Berlin. One year after the arrival of the Jews from Austria, it was the first piece of land that Jews were ­allowed to acquire in the city, and it remained so for a long time. And a cemetery—called a “House of Life” or “House of Eternity” in Jewish culture—is a distinct sign of presence. Today, it is no longer located in front of the city gates, but on Grosse Hamburger Strasse at the heart of the Mitte district. Here we find a small fenced-in park that is only open at specific hours, which is unusual for Berlin. A ­memorial plaque behind the gate shows a photograph of gravestones overgrown with ivy. The park still looks the same as in this old picture, but all the gravestones are gone. Almost all the stones, that is, for just a few steps away, there is a single marker bearing the famous name of a small man: Moses Mendelssohn, 1729–1786. The Hebrew inscription on the back reads: “The sage Rabbi Moses from Dessau.” Mendelssohn was laid to rest here more than one hundred years after the cemetery was consecrated. Frederick the Great—another small man—who only a few years earlier had granted residence rights to Mendelssohn and his family, died the same year. However, the gravestone that is visible in the cemetery is a new one, from the period during German reunification. The old stone was probably smashed with all the others when deportations from Berlin began eighty years ago. The goal was not only to murder living Jews, but also to disturb the peace of the dead and erase the memory of their presence and history. At the time, an assembly camp was set up in Berlin’s first Jewish old-age home, and the cemetery—located right next door—was used for the inmates’ roll calls. Today, small stones in the ground mark the floor plan of the home. A plaque and sculpture commemorate the Jews of Berlin who waited for deportation there. In other words, they waited for death, both young and old. Not all of them just waited, though. Zvi Aviram, né Heinz Abrahamson, managed to escape from the camp with a great deal of luck and courage. He survived the Holocaust and moved to Israel, where he died in 2020—one year after telling his story at the Jewish Museum Berlin.

Der neue Grabstein von Moses Mendelssohn (1729–1786) auf dem Jüdischen Friedhof Berlin Mitte, Große Hamburger Straße, stammt aus den Wendejahren. The gravestone of Moses Mendelssohn (1729–1786) at the Jewish Cemetery Berlin Mitte, Grosse Hamburger Strasse, is a new one, from the period during German reunification.

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Kontinuität, Vielfalt und kein Ende


Neben Friedhof und ehemaligem Altenheim liegt eine Schule. Hinter einem hohen Zaun. Jüdisches Gymnasium Moses Mendelssohn ist über der kamerabewachten Glastür zu lesen und darüber, in Stein gemeißelt: „Knabenschule der Jüdischen Gemeinde”. Heute allerdings gehen Mädchen und Jungs durch das Tor ein und aus. Seit 160 Jahren steht dieses Gebäude so wie es heute aussieht. Doch gegründet wurde die Schule noch zu Lebzeiten Mendelssohns und auch auf seine Initiative hin. Es ist die Zeit der Aufklärung, der Haskala. Die Freyschule, wie sie damals genannt wurde, stand allen offen, allen Jungen wohlbemerkt. Mädchen blieb die formelle Bildung noch verschlossen. Es standen Religion und Moral, aber auch Französisch und Mathematik auf dem Lehrplan. Und es gab jüdische und christliche Lehrer wie wohl auch Schüler. Ganz im Geist der Haskala, wie man an der Fassade auf einem Relief von Mendelssohn mit Gebetsschal sehen kann. Dort steht: „Nach Wahrheit suchen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun”. Unter Mendelssohns Namen steht außerdem: „Philosoph und Freund Lessings“, ein ungewöhnlicher Titel, Zeuge einer wohl ungewöhnlichen Freundschaft, Ausdruck einer Veränderung, der Emanzipation der jüdischen Gemeinde. Es entstand in Berlin ein bürgerliches Judentum, das zunehmend Mitbestimmung forderte, wie auch an der Erfolgsgeschichte der Familie Mendelssohn zu erkennen ist: Moses stammte aus ärmlichen Verhältnissen, Bildung und die Heirat mit Fromet ermöglichten ihm den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg. Bildung wurde, neben Besitz, zu einem zunehmend wichtigen Gut. Deshalb auch die Gründung dieser einzigartigen Schule.

Situated next to the cemetery and the site of the former old-age home is a school surrounded by a high fence. Jüdisches Gymnasium Moses Mendelssohn (Moses Mendelssohn Jewish High School) is written at the top of a glass entrance monitored by a camera. Carved in stone above this door is the inscription: “Knabenschule der Jüdischen Gemeinde” (Boys’ School of the Jewish Community). Today both girls and boys pass through this entranceway. The building has existed in its current form for 160 years, but the school itself was established at Mendelssohn’s instigation whilst he was still alive—in the period of Haskalah, or Jewish Enlightenment. The Freyschule (Free School), as it was called at the time, was open to everyone. Or rather, it was open to all boys, as girls were still excluded from a formal education. The curriculum included not only religion and ethics, but also French and mathematics. The teachers and students were both Jewish and Christian. This was in keeping with the Haskalah, as shown by a relief on the facade. It portrays Moses Mendelssohn in a prayer shawl together with the inscription: “Seek truth, love beauty, wish for good, and do your best.” Below Mendelssohn’s name we read: “Philosopher and friend of Lessing.” That is an exceptional title, proof of what was probably an exceptional friendship. It expressed an important change, the emancipation of the Jewish community. A Jewish bourgeoisie had emerged in Berlin, and Jews were increasingly demanding a say in matters. Nothing illustrates this better than the Mendelssohn family’s success story. Moses came from a poor background himself, and it was his education and marriage to his wife Fromet that enabled him to climb the social and economic ladder. In addition to property, education was an increasingly important asset—which explains the establishment of this unique school.

Etwas später machten die Salons von jüdischen Frauen wie Rahel Varnhagen deutlich, dass auch immer mehr Frauen ihre Bildung, wenn auch sehr begrenzt, einbringen konnten. Doch trugen sie ihren Teil dazu bei, dass Vielfältigkeit in einem Miteinander und nicht nur in einem Nebeneinander der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung entstand. Die Salons jüdischer Frauen wurden zu Freiräumen für Menschen über Grenzen der unterschiedlichen Konfessionen und Gesellschaftsschichten hinweg. Auch wenn viele dieser Grenzen erhalten blieben und der Weg zur endgültigen Emanzipation noch bis zur Weimarer Republik dauerte. Aber: 15 Jahre nur liegen zwischen der Vollendung und dem Ende der Gleichberechtigung mit der Machtübername Adolf Hitlers. Auch für die Mendelssohnsche Schule war, wie für alle jüdischen Schulen, mitten im Zweiten Weltkrieg

Continuity, Diversity, and No End

Sometime later, the salons organized by Rahel Varn­ hagen and other Jewish salonnières demonstrated that a growing number of women, too, were able to make use of their education, if in limited ways. They did their part to promote diversity among Jews and non-Jews, instead of maintaining two parallel worlds. Their salons united people across denominational and class boundaries, even if many of these boundaries continued to exist and full emancipation did not come until the Weimar Republic. Only fifteen years lay between the achievement and the end of emancipation through Hitler's rise to power. The end of the Mendelssohn School came in the middle of the Second World War, as was the case

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Schluss. Erst ein paar Jahre nach der Wiedervereinigung der Stadt, des Landes und auch der jüdischen Gemeinden in Ost und West, konnte sie erneut ihre Türen öffnen. Heute ist sie, wie zum Zeitpunkt ihrer Gründung, auch für nichtjüdische Schüler – und jetzt auch Schülerinnen – offen. Möglich war die Wiedereröffnung als jüdisches Gymnasium nur, weil sich die jüdischen Gemeinden durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion vergrößert hatten. Auch das keine Neuheit in der jüdischen Geschichte Berlins, denn bereits im 19. Jahrhundert erlebte die Stadt eine Einwanderung aus dem Osten, die schon damals zur Vielfältigkeit der Gemeinde beitrug. Es entstanden in ganz Berlin unzählige Einrichtungen – von der orthodoxen Betstube bis zum egalitär reformierten Tempel. Und was für Tempel!

for all Jewish educational institutions. The school did not reopen its doors until after the reunification of the country, the city, and the Jewish communities in East and West Germany. Today, it is once again open to non-Jewish students, as in its founding years, and, of course, also to girls. The only reason it was able to open again as a Jewish high school was that Berlin’s reunified Jewish community had grown larger due to immigration from the former Soviet Union. That, too, was nothing new in the city’s Jewish history. Berlin had experienced a wave of immigration from the East as early as the 19th century, and at the time, the influx had also increased the Jewish community’s diversity. Numerous institutions sprang up all across the city—from Orthodox prayer rooms to an egalitarian Reform temple. And what a temple it was!

Von der Schule in der Großen Hamburger Straße schauen wir um die Ecke und sehen die massive Kuppel der Neuen Synagoge über die Dächer ragen. Zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung, fünf Jahre vor der Gründung des Deutschen Reiches, sollte das Gebäude die gesamte jüdische Gemeinschaft Berlins unter der Kuppel mit ihrer goldenen Ornamentik und dem Davidstern vereinen. Sehr schnell wurde aber klar, dass im schmucken Tempel in der Oranienburger Straße die reformierte Gemeinde den Ton angab, nicht allein durch die dort installierte Orgel, sondern vor allem durch den Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874), der kurz nach der Eröffnung an die Gemeinde berufen wurde. Eine Spaltung innerhalb der Jüdischen Gemeinde vollzog sich mehr und mehr. Eine Auseinandersetzung, wie die Berliner jüdische Gemeinde sie auch heute kennt – und die letztlich auch einen Ausdruck von Vielfalt in sich hat. Die Neue Synagoge wurde mit ihrer Eröffnung zur Touristenattraktion; sie ziert bis heute Postkarten, die schon damals in alle Welt versendet wurden. Auch

Looking around the corner of the school on Grosse Hamburger Strasse, you see the massive golden dome of the New Synagogue with its Star of David towering over the rooftops. This handsome temple on Oranienburger Strasse was opened five years before the founding of the German Empire, and it was intended to unite Berlin’s Jewish community under a single roof. However, it soon became clear that the Reform community set the tone here, not only through the organ it installed, but mainly through Abraham Geiger (1810–1874), who was appointed rabbi shortly after the synagogue opened. There was a growing divide in the Jewish community, and the conflict that ensued resembles the one facing the community today. Ultimately this, too, is an expression of diversity. Soon after its opening, the New Synagogue became a tourist attraction. It was depicted on postcards that were sent around the world, and continues to be a common postcard subject today. This can be seen as yet another sign that the Jewish community was becoming increasingly integrated into the city of Berlin.

Die Neue Synagoge war im Berlin der 1920er-Jahre eine Touristenattraktion. Sie ziert hier ein Souvenir – ein Würfelpuzzle mit Berliner Sehenswürdigkeiten. The New Synagogue was a tourist attraction in Berlin in the 1920s. Beautifully illustrated on this souvenir—a cube puzzle with Berlin sights.

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Kontinuität, Vielfalt und kein Ende


das kann als Zeichen einer wachsenden Zughörigkeit der Gemeinde zur Stadt gedeutet werden. Diese Zugehörigkeit war keineswegs eine Selbstverständlichkeit, weder für alle Jüdinnen und Juden, noch für alle anderen Berliner*innen. Doch war es wohl eine Selbstverständlichkeit für den Reviervorsteher Wilhelm Krützfeld, in dessen Polizeirevier die Synagoge lag, den Mut zu beweisen, in der Nacht des 9. Novembers 1938 die Synagoge vor dem Feuer zu bewahren. Ihm war es zu verdanken, dass sie noch knapp zwei Jahre weiter genutzt werden konnte, bevor sie von den Nazis geschlossen wurde. Durch Bomben beschädigt, wurde sie Jahre nach dem Krieg abgerissen. Stehen blieb die Fassade ohne Kuppel – als Mahnung. Bis schon vor der Wieder­ vereinigung Deutschlands dort das Centrum J­udaicum geplant wurde. Unter der wieder errichteten goldenen Kuppel öffnen dort heute ein Museum, die ­Verwaltung der Jüdischen ­Gemeinde Berlins und eine egalitäre Synagoge ihre Pforten. Geleitet wird die Synagoge durch eine Rabbinerin. Auch das nicht zum ersten Mal: „Fräulein Rabbiner Regina Jonas“, so ihr Titel, arbeitete bis zu ihrer Deportation 1942 in der Neuen Synagoge, wenn sie auch keinen regulären Gottesdienst abhalten durfte.

This affinity was never a matter of course, for Jews or for other Berliners. But on the night of 9 November 1938, it was indeed a matter of course for the police officer W ­ ilhelm Krützfeld—chief of the precinct in which the s­ ynagogue was located—to gather his courage and save the building from fire. Thanks to him, Jews were able to use the synagogue for approximately two more years before it was finally closed by the Nazis. The building was ­damaged by bombs during the war and almost completely demolished afterwards, but the facade was left standing without its dome to serve as a memorial. Before the German reunification, plans were laid to establish the Centrum Judaicum there. The reconstructed synagogue now opens its gates to a museum, the administrative offices of the Jewish community, and an egalitarian synagogue, led by a ­female rabbi. That isn't a first either: “Fräulein Rabbiner Regina Jonas”, as she was called at the time, officiated at the New Synagogue—although she was not permitted to hold regular services—until she was deported in 1942. Regina Jonas (1902–1944) studied at Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (Institute for the Science of Judaism), which was founded at Abraham Geiger’s initiative not far from the synagogue. Reform rabbis and religion teachers studied there, and its scholars conducted research into the history, cultures, and languages of Judaism. Today the building is named after its last director, Leo Baeck (1873–1956). Regina Jonas was the world’s first female rabbi. She was ordained in 1935, and worked at a time when race laws were placing a growing burden on Jewish community life, Jews were going into exile, and the profession of rabbi was no longer protected by law. Due to Nazi legislation, diversity and the dialogue between the Jewish community and the city, as well as between Jewish and non-Jewish Germans, were becoming increasingly difficult, if not impossible. At times this diversity continued to have an impact to where Jews fled, or it ended abruptly when they were deported. Regina Jonas, for example, remained in Germany and was murdered in Auschwitz. Rabbi Leo Baeck survived Theresienstadt and emigrated to London after the war.

Regina Jonas (1902–1944) hatte in der auf Abraham Geigers Initiative hin gegründeten Hochschule für die Wissenschaft des Judentums studiert, wenige Schritte von der Synagoge entfernt. Hier wurden nicht nur Reformrabbiner sowie Religionslehrer ausgebildet, sondern es wurde auch zu Geschichte, Kultur und Sprachen des Judentums geforscht. Heute ist das Gebäude nach Leo Baeck (1873–1956) benannt, dem letzten Direktor der Hochschule. Regina Jonas war 1935 weltweit die erste Frau, die ordiniert wurde – und sie wirkte zu einem Zeitpunkt, als schon Rassengesetze das Leben der Gemeinde erheblich erschwerten, Menschen ins Exil flohen und der Beruf des Rabbiners nicht mehr gesetzlich geschützt war. Die Vielfalt und der Austausch zwischen der Gemeinde und der Stadt, zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Deutschen wurden durch die Gesetze der Nationalsozialisten erschwert und zunehmend unmöglich gemacht. Teilweise hat die Vielfalt

„Fräulein Rabbiner“ Regina Jonas (1902–1944), weltweit erste Rabbinerin, war bis 1942 in der Neuen Synagoge, ­Oranienburger Straße, tätig. “Fräulein Rabbiner” Regina Jonas (1902–1944), the world's first female rabbi, worked at the New Synagogue, Oranienburger Strasse, until 1942. Continuity, Diversity, and No End

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From there, speaking as a Jew who had witnessed and survived the destruction of his world, the end of his community, and the ordeals of the concentration camps, he declared that “the era of Jews in Germany is over.” However, soon after the war, Jewish community life reemerged in the eastern and western parts of Berlin. Jewish immigration, mostly survivors and refugees from eastern Europe, socalled “Displaced ­ Persons” (DPs), provided a foundation for rebuilding the Jewish communities after the Holocaust. When the Iron ­Curtain fell, new community members arrived from the former Soviet Union. And in recent years, a growing number of Israelis have come to Berlin, some of whom have joined the community. A sign next to the entrance to the Leo Baeck House indicates that the building is currently the headquarters of the Central Council of Jews in Germany, which represents the interests of Germany’s Jewish population. Is it a contradiction that the building is named after Leo Baeck? Not necessarily. When we glance up at the facade, three objects catch our eye: a large Star of David, the Lion of Judah above the door, and the cornucopias on both sides of the second-floor window. All symbolize the presence, strength, and diversity of the Jewish community, which has been part of Berlin’s history for 350 years. The present and future of the Jewish community lie in its capacity to resolve and withstand conflict, miscalculations, and division, and in the awareness of its own history, which we have explored on our walk. This awareness makes diversity and continuity possible in and outside the community. There is no end in sight!

durch Flucht an anderen Orten weitergewirkt – oder sie endete mit den Deportationen: Regina Jonas wanderte nicht aus und wurde in Auschwitz ermordet. Rabbiner Leo Baeck überlebte Theresien­stadt und emigrierte nach dem Krieg nach London. Von dort aus beschwor er das „Ende der Epoche der Juden in Deutschland”, als jemand, der das Ende seiner Welt, das Ende seiner Gemeinde und das Konzentrationslager erlebt und überlebt hatte. Doch ging schon bald nach dem Ende des Krieges ein jüdisches Gemeindeleben in Berlin weiter, sowohl im Osten wie auch im Westen der Stadt. Auch diesem Wiederaufbau der Berliner Gemeinden nach dem Holocaust lag die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus ganz Europa zugrunde, die meisten von ihnen Überlebende und Flüchtlinge aus Osteuropa, sogenannte „Displaced Persons“ (DP’s). Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen neue Gemeindemitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion und in den letzten Jahren zunehmend auch Israelis, von denen einige inzwischen zur Gemeinde gehören. Neben dem Tor des Leo-Baeck-Hauses weist ein Schild darauf hin, dass hier heute der Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland ist, der die Interessen der jüdischen Bevölkerung vertritt. Ist es ein Widerspruch also, dass das Gebäude den Namen ­Baecks trägt? Nicht unbedingt! Denn schauen wir an der Fassade hoch, so fallen uns drei Dinge ins Auge: ein großer Davidstern, der judäische Löwe über dem Tor und schließlich die beiden Füllhörner an den Seiten des Fensters darüber. Sie alle symbolisieren sehr deutlich die Anwesenheit der jüdischen Gemeinde, ihre Stärke und ihre Vielfalt, mit der sie seit 350 Jahren Teil der Berliner Geschichte ist. Die Gegenwart und Zukunft der Gemeinde liegt in dem Überwinden und dem Aushalten von Auseinandersetzungen, Fehleinschätzungen und Spaltungen – und im Bewusstsein ihrer Geschichte, deren Raum wir hier erkundet haben. Das ermöglicht heute eine Vielfalt und Kontinuität – innerhalb und außerhalb der Gemeinde. Da ist kein Ende in Sicht!

Alexander Green studierte Jüdische G ­ eschichte in Jerusalem, macht Stadtführungen in Berlin und arbeitet als freier Mitarbeiter in der Abteilung Bildung im Jüdischen Museum Berlin. Alexander Green studied Jewish History in Jerusalem, guides tours through Berlin and works as a docent for education at the Jewish Museum Berlin.

Das Leo-Baeck-Haus in Berlin Mitte. In dem Gebäude war einst die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ­untergebracht. Heute befindet sich hier der Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland. The Leo Baeck House in Berlin Mitte. The building once housed the Institute for the Science of Judaism. Today it is the headquarters of the Central Council of Jews in Germany.

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Kontinuitat, Vielfalt und kein Ende


Kennen Sie schon die Themenfeatures auf Jewish Places? Hier finden Sie spannende Online-Artikel zu Neo-Orthodoxie, der frühen Neuzeit oder passend zu dieser Ausgabe des JMB Journals: zu Berlin Mitte. Über die weiterführenden Links in den kuratierten Texten können Sie Jewish Places aus dem Blickwinkel der jeweiligen Thematik erkunden und so noch tiefer in die Materie einzutauchen. Dabei lernen Sie die dazugehörigen „Jewish places“ der Geschichte und Gegenwart kennen und können unterschiedliche jüdische Themen in der eigenen Umgebung verorten. Schauen Sie vorbei und entdecken Sie Ihren jüdischen Lieblingsort!

Have you seen the new featured topics content on the Jewish Places website? You'll find fascinating online articles about neo-Orthodoxy, the early modern period, or—just in time for this issue of the JMB Journal—the Mitte district of Berlin. Use the links in the curated texts to explore “Jewish places” from the perspective of your chosen topic, diving even more deeply into the story. You can get to know places past and present that are associated with the theme and find out more about other Jewish topics through locations in your own area. Visit the website and discover your own ­favorite Jewish place! (German only)

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Willkommen! And bienvenue! Welcome! Fremder, étranger, stranger Glücklich zu sehen Je suis enchanté Happy to see you Bleibe, reste, stay ...

Text

Cilly Kugelmann

DE  Mit diesen ersten Zeilen des Eröffnungsstückes aus dem Musical Cabaret begrüßte die erste Website des J­ üdischen Museums Berlin aus dem Jahr 2000 seine Online-­Besucherinnen und -Besucher, um sie mit dem leeren Gebäude von Daniel Libeskind als größte und einzige ­Attraktion bekannt zu machen. Mit der vielsprachigen Einladung an alle und der Aufforderung, das Museum nicht mehr zu verlassen, begann eine zwanzigjährige, außergewöhnliche Erfolgsgeschichte. Ihr Beginn allerdings erinnert an das Sprichwort vom Schwanz, der mit dem Hund wedelt: Bei der üblichen Abfolge einer Museumsgründung wird das Haus erst dann erbaut, wenn ein Konzept für den Inhalt vorliegt. In unserem Fall war das Gebäude bereits vorhanden, bevor sich die Idee zu einem eigenständigen Jüdischen Museum überhaupt materialisieren konnte. Umwege und Umdeutungen waren nötig. Unter der Anleitung des US-amerikanischen Direktors W. Michael Blumenthal und zwei leitender Kuratoren aus Neuseeland arbeitete ein großes Team an dem Inhalt, der den vom Publikum geliebten, unbespielten Libeskind-Bau füllen sollte. Die Botschaft von der Bedeutung und Wirkung des deutschen Judentums sollte in die leeren Räume einziehen, spielerisch und unterhaltsam umgesetzt, mit einem Einsatz von Medien, der damals noch recht neu war, und der auch heute noch in der neuen Dauerausstellung immer weiterentwickelt wird.

EN  With these first lines of the opening song from the musical Cabaret, the website of the Jewish Museum Berlin welcomed its visitors in 2000, introducing them to the empty building designed by Daniel Libeskind, at the time the museum’s greatest and only attraction. This multilingual introduction to every­one, telling them to stay in the museum, marked the beginning of an amazing twenty-year story of success. However, its start is ­reminiscent of the saying about the tail wagging the dog: Normally when a museum is founded, the building is not built until the concept for the contents has already been developed. In our case, the building was already standing before the idea of having an independent Jewish Museum could even materialize. Detours and reinterpretations were necessary. Under the direction of W. Michael Blumenthal, an American, and two leading curators from New Zealand, a large team worked on the content to fill the vacant yet nevertheless extraordinarily popular Libeskind building. The message of the significance and impact of German Judaism was to fill the empty rooms. It was to be expressed in a playful and entertaining manner, using media that was still rather new

Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin in Zusammenarbeit mit Hürlimann + Lepp Ausstellungen. Fotografie: Barbara Dietl, Berlin. Gestaltung: Atelier Frank, Berlin.

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Gestaltung: e o t . Berlin

at the time, and which is being developed ever further in the new core exhibition. As one of the most modern museums in Germany, the JMB has a large team of museum educators that attended (and still attend) to the thousands of school children and other groups that visit the museum each year. Donors, often emigrants and their descendants, contacted us and they can be certain today that their family treasures are in tender loving hands—strong bonds have been created around the world. An annual gala dinner; the top-class intonations concert series; the on.tour traveling educational program, the interactive platform Jewish Places; a Hanukkah market with puppet shows, music, and hands-on workshops; programs for all the different visitor groups; events range from jazz concerts and holiday arts-and-crafts events for children to international conferences with prominent participants, and today more than ever, take place online and digitally as well. And of course there are the collections. The ever-­ growing treasure of historical artifacts, many from estates of Jews who fled Germany, are restored, researched, and stored in the museum. They are evidence of the nuanced picture of everyday Jewish life in the nineteenth and early twentieth centuries. The collections are the foundation for our exhibitions: among them the new core exhibition, developed during the last years under the direction of Prof. Peter Schäfer and opened last year to great success, but also shows dealing with history, Jewish studies, art, cultural comparisons—either small pearls or challenging blockbusters. More than ninety exhibitions have been shown—and visited—in the museum over the last twenty years! The political profile of the museum was greatly influenced by W. Michael Blumenthal, who at thirteen had fled Germany with his parents. Not least because of his personal experience, he was keen to address the issues of migrantion and diversity. Thus the museum successfully established itself as a platform for an unhindered exchange of a wide spectrum of political positions. In 2012, the Academy of the Jewish Museum Berlin was founded, housed in the former wholesale flower market that was also rebuilt according to design plans by Daniel Libeskind. The overwhelming number of guests participating in the academy programs confirm the museum’s efforts as an institution with visionary, political farsightedness for the changes in Germany over the past two decades. Farsightedness—and new insights!—is guaranteed in ANOHA, the Children’s World of the JMB: During the

Bild: © bpk | Scala

Als eines der modernsten Museen in Deutschland verfügt das JMB über ein großes pädagogisches Team, das sich um jährlich Tausende von Schülerinnen und Schülern und andere Gruppen kümmert. Stifterinnen und Stifter, oft Emigranten und ihre Nachkommen, nahmen Kontakt auf und wissen heute ihre Familienschätze in liebevollen Händen – enge Bande wurden in aller Herren Länder geknüpft. Ein jährliches Gala-Dinner; die hochkarätige Konzertreihe intonations; das mobile Museumsprogramm ­on.tour, die interaktive Plattform Jewish Places; ein Chanukka-­Markt mit Puppenspiel, Musik und Kreativwerkstatt; Programme für alle Besuchergruppen, Veranstaltungen, die von Jazz-Konzerten, Bastelaktionen für Kinder bis hin zu inter­national und hoch­ karätig besetzten Konferenzen reichten und, heute mehr denn je online und digital, reichen. Und natürlich die Sammlungen. Der stetig wachsende Schatz historischer Artefakte, viele aus Nachlässen von aus Deutschland geflohenen Jüdinnen und Juden, werden heute im Museum restauriert, erforscht und bewahrt: Sie bezeugen ein differenziertes Bild jüdischen Alltagslebens im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Und sie sind Grundstock unserer Ausstellungen. Darunter die neue Dauerausstellung, in den vergangenen Jahren unter der Ägide von Prof. Peter Schäfer neu konzipiert und im letzten Jahr mit großem Erfolg eröffnet, aber auch historische, judaistische, künstlerische, kulturvergleichende Ausstellungen, kleine feine ebenso wie herausfordernde „Blockbuster“: Über 90 Schauen wurden in den letzten 20 Jahren im Museum gezeigt. Und besucht! Das politische Profil des Museums wurde von W. Michael Blumenthal geprägt, der im Alter von 13 Jahren mit seinen Eltern aus Deutschland geflohen war. Nicht zuletzt aus seiner persönlichen Erfahrung heraus war es ihm ein Anliegen, die Themen Migration und Diversität zu behandeln. Das Museum etablierte sich daher erfolgreich als Plattform für einen unbehinderten Austausch unterschiedlichster politischer Positionen: 2012 wurde die Akademie des Jüdischen Museums Berlin gegründet, untergebracht in der ebenfalls nach Plänen von Daniel Libeskind ausgebauten ehemaligen Blumengroßmarkthalle. Die überwältigend vielen Besucherinnen und Besucher der Akademieprogramme bestätigen die Arbeit des Museums als Institution mit visionärem, politischem Weitblick für die Veränderungen in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Für Weitblick – und neue Einblicke! – sorgt die neue Kinderwelt des JMB, ANOHA. Während der letzten Jahre ent-

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R. B. Kitaj, London by Night: Part 1, 1964 ( Detail) © R. B. Kitaj Estate. Stedelijk Museum, Amsterdam

Haltungen/ zur/rituellen/ Beschn/eidung 24/Oktober/2014 bis/1/März/2015

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Eine Ausstellung der Stiftung Jüdisches Museum Berlin in Zusammenarbeit mit der Kulturprojekte Berlin GmbH.

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Cilly Kugelmann war von 2002 bis 2017 Programm­direktorin sowie stellvertretende Direktorin des Jüdischen ­Museums Berlin. Sie ist Heraus­geberin mehrerer Bücher zur Nachkriegs­geschichte und zum Antisemitismus und hat als Chefkuratorin die neue Dauer­ausstellung des JMB geprägt. Cilly Kugelmann was Program Director of the Jewish Museum Berlin from 2002 to 2017. She published several books on post-war history and antisemitism and was the chief curator of the JMB’s new core exhibition.

stand nicht nur ein neuer Bau, sondern ein völlig neues Konzept: Seit diesem Sommer können hier schon die Jüngsten Archen bauen, Tiere retten und sich großen Themen wie Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Empathie spielerisch nähern. Dass auch das Jüdische Museum Berlin ins Kreuzfeuer polarisierender Kontroversen geriet, hängt im weitesten Sinne mit einer sich anbahnenden Umdeutung der Gedenkpolitik und einer sich radikalisierenden Anti-Antisemitismuskritik zusammen, deren Protagonisten verbissen um Deutungshoheit konkurrieren. In diesem Zusammenhang wurde die Frage, die sich jedes Jüdische Museum immer wieder stellt, geradezu stellen muss, nämlich die nach der Definition des „Jüdischen“, in den öffentlichen Medien diskutiert. Diese Konflikte führten am Ende dazu, dass Peter Schäfer, seit 2014 Direktor des Museums, sich 2019 gezwungen sah, seinen Hut zu nehmen, was zu einer weltweiten Solidaritätskundgebung der renommiertesten Gelehrten führte. Auch das gehört in eine Chronik der ersten 20 Jahre des Jüdischen Museums. Das Verständnis vom „Jüdischen“, vom „Judentum“ und von den „Juden“ wird wohl jede Generation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an einem Jüdischen Museum – wo auch immer in der Welt – wiederkehrend neu ermessen. Die einen möchten ein „jüdisches“ Museum für jüdische Besucherinnen und Besucher, andere suchen „jüdische Antworten“ auf universell wichtige Fragen in Geschichte und Gegenwart. Eine Befürchtung jedenfalls hat sich nicht bewahrheitet, die Marcel Ophüls in dem 1988 entstandenen Film Hotel Terminus über die schwierige Suche nach dem Kriegsverbrecher Klaus Barbie einem jüdischen Rechtsanwalt in New York gegenüber äußerte: „Is it true, that only Jews and Germans are interested in Jews and Germans?“ (Stimmt es, dass nur Juden und Deutsche an Juden und Deutschen interessiert sind?). Das Jüdische Museum Berlin hat diese Besorgnis eindrucksvoll entkräftet; in den vergangenen 20 Jahren haben 12,8 Millionen Besucherinnen und Besucher die Ausstellungen und Veranstaltungen besucht. Die überwiegende Mehrheit davon waren weder Juden noch Deutsche.

last years, not only a new building was created, but also a ­completely new concept: Since this summer, our youngest visitors can build arks, save animals, and playfully learn about major themes such as environmental protection, sustainability, and empathy. The fact that the Jewish Museum Berlin has ­sometimes been caught in the crossfire of polarizing controversies has to do in the broadest sense with an unfolding r­ einterpretation of the politics of remembrance and a radicalizing anti-antisemitism debate, the protagonists of which are obstinately competing for the supreme power of interpretation. Within this context, the question that every Jewish Museum repeatedly asks, and virtually must ask, was also discussed in the public media, namely, “What is ‘Jewish’?” In the end, this conflict led Peter Schäfer, who had been director of the museum since 2014, to feel compelled to resign in 2019, triggering an expression of solidarity by the most renowned scholars worldwide. That too belongs in the chronicle of the first twenty years of the Jewish Museum. The understanding of “Jewish,” “Judaism,” and “Jews” will be revisited and redefined by every generation of those working at a Jewish Museum—no matter where it is in the world. Some people want a “Jewish” museum to be for Jewish visitors, and others seek “Jewish answers” to questions with universal significance in the past and present. One fear, at least, proved to be unfounded. In the 1988 film Hotel Terminus, about the difficult search for the war criminal Klaus Barbie, Marcel Ophüls asked a Jewish lawyer in New York: “Is it true that only Jews and Germans are interested in Jews and Germans?” The Jewish Museum Berlin has refuted this notion most impressively. In the last twenty years, 12.8 million guests have visited the exhibitions and attended events, the vast majority of them neither Jews nor Germans.

Ausstellungsplakate von 2002 bis heute Exhibition posters from 2002 until today

Eine Ausstellung in Kooperation und mit Unterstützung der Boris Lurie Art Foundation, New York

NO With Mrs. Kennedy, 1964 (Detail) © Boris Lurie Art Foundation | Gestaltung: e o t . Berlin

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20 Jahre! 21 Objects! Seit Eröffnung des Museums im September 2001 ist die Sammlung des Hauses stetig gewachsen, durch Schenkungen und Erwerb. Anlässlich unseres 20-jährigen Jubiläums präsentieren wir 21 Objekte aus allen sammelnden Bereichen, ein besonderes Stück aus jedem Jahr zwischen 2001 und 2021: ein Hawdala-Besamim-Set der Goldund Silberschmiedin Paula Straus, einen Studentenausweis aus den letzten Jahren der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, das erste Selbstporträt der Fotografin Ilse Bing, ein praktisches Kochbuch für die jüdische Küche, Trachtenblusen aus der Familie Hahn, eine Zeichnung von Else Lasker-Schüler, eine Mütze des ­jüdischen Karnevalvereins in Köln. Entdecken Sie noch nie zuvor gezeigte Stücke!

Ever since the museum opened in September 2001 its collection has been steadily growing through gifts and acquisitions. On the occasion of our 20th anniversary, we are presenting twenty-one objects from all of the areas of the collection—a special exhibit from each year between 2001 and 2021: A Havdalah besamim set by the gold- and silversmith Paula Straus; a student identification card from the last years of Berlin’s College for the Science of Judaism; photographer Ilse Bing’s first self-portrait; a practical cookbook for Jewish cuisine; a traditional blouse from the Hahn family; a drawing by Else Lasker-Schüler; a cap from the Jewish Carnival association in Cologne, and many more. Discover these and other objects that have never before been shown to the public! jmberlin.de/20-jahre-21-objekte jmberlin.de/en/20-years-21-objects

THE BERLIN PRIZE

A M ER I C A N AC A D EM Y I N B ER LI N – Class of 2021 / 22 FA L L 2 0 2 1 MI CHAE L AB R AM OWIT Z

President, Freedom House L AN SAMANTHA CHAN G

Author; and Elizabeth M. Stanley Prof. of the Arts, Program in Creative Writing, University of Iowa

J O HAN E LVE RS KO G

CHANNIN G J OS E PH

Dedman Family Distinguished Prof., Prof. of History, Southern Methodist University

Author; and Lecturer of Journalism, University of Southern California

L AD E E H U B BARD

Prof. of History, Russian, and Slavic Studies, New York University

Author

YANNI KOTS O NI S

AMY KU RZ WE IL

Writer and Cartoonist J OY MILLI GAN

Prof. of Law, University of Virginia Law School

J UANA MARÍA RO D RÍGU E Z

Prof. and Chair of Ethnic Studies, University of California, Berkeley B E RTR ALL ROS S

Author; and Senior Reporter, ProPublica

ALEC MACGILLI S

Prof. of Law, University of Virginia Law School

DAMIÁN F E RNÁND E Z

TES S LE WI S

SPRING 2022 D E BO R AH AM OS

Intern. Correspondent, NPR; and Ferris Prof. of Journalism in Residence, Princeton University ARIE LL A AÏS HA A ZO U L AY

Prof. of Modern Culture and Media and of Comparative Literature, Brown University

JAVIE R A BAR AND IAR ÁN

L AWRE N CE D O U GL A S

James J. Grosfeld Prof. Associate Prof. of Global of Law, Jurisprudence, Studies and UC Faculty and Social Thought, Director Education Amherst College Abroad Program Office, D U YU N Chile and Argentina, University of California, Prof. of Composition, The Johns Hopkins Santa Barbara University; Composer, L AU RE N B E NTO N Vocalist, and PerforBarton M. Biggs Prof. mance Artist of History and Prof. of Law, Yale University

Associate Prof. of History, Northern Illinois University

Freelance Writer and Translator

James H. Ottaway Jr. Prof. of Music, Bard College; Co-Artistic Director, Bard Music Festival

C. Tierney Chair in Peace and Conflict Studies; Distinguished Prof., University of California, Irvine

ETE L S O LIN GE N CHRIS TOPHER H . GIBBS Thomas T. and Elizabeth

E RI C WES LE Y

Visual Artist

Apply for a 2022/23 Berlin Prize online at americanacademy.de/apply

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In the Shade of Oaks and Firs

IM SCHATTEN VON TANNE UND EICHE

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Der Aufklärer und Philosoph Moses Mendelssohn diskutierte und entspannte sich am liebsten im Grünen. In der Natur fand er Denkanstöße, in ­Berliner Gärten versammelte er Freunde. Man las sich vor, lobte und kritisierte einander oder gab sich einfach die Ehre, bis zum Sonnenuntergang. The celebrated Enlightenment philosopher Moses Mendelssohn loved to talk and relax ­surrounded by greenery. Nature gave him food for thought; the gardens of Berlin gave him a place to gather his friends. They read aloud to each other, handed out praise or criticism, or ­simply kept company until the sun went down. Text

Thomas Lackmann

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Seite 32: Ansicht des Venusbassins im ­Tiergarten, Jakob Philipp Hackert (1737–1807), um 1760 Page 32: View of the “Venus­ bassin” at the Tier­gar­ten, Jakob Philipp ­Hackert (1737–1807), ca. 1760 Anlage des Lustgartens Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Alten Dom, Kupfer­stich um 1800 von Peter Haas (1754–nach 1804), nach einer Zeichnung von L. Serrurier, 1799. Layout of the “Lustgarten” at the end of the eighteenth century with the Old Berlin Cathedral, copperplate en­graving around 1800 by Peter Haas (1754–after 1804), after a drawing by L. Serrurier, 1799.

DE  Wenn der strapazierte Stadtbewohner den Smog nicht mehr erträgt, strebt er raus aus grauen Mauern. Wem das Kindertoben im Haus auf die Nerven geht, der hält Ausschau nach einem Reservat: etwas Wiese, Beete, Sträucher, Bäume, eine Hütte. Doch vor der Erfüllung solcher Wünsche stehen Hürden, im 21. wie im 18. Jahrhundert – ohne hilfreiche Bekannte kein Laubenglück! „Selbst in den Stunden der Mitternacht, da sich mein Gemüth erholet, sauge ich noch immer den schädlichen Rauch der Königsstädte, der niemals unterlässt die Seele mit einem Schwindel der Weltgeschäfte anzustecken,“ schreibt Moses Mendelssohn im Herbst 1754 an einen gelehrten Kollegen: „0 Natur! Natur! Ich sehne mich nach dir! Du bist mein Vaterland, und eine bange Wemuth, die einem Heimweh nicht unähnlich ist, überfällt mich …“ Der bucklige Autodidakt Mendelssohn, dem übermäßiges Studium seit Kindheitsjahren die Gesundheit ­verdorben hat, steht uns eigentlich nicht als Hobby-Gärtner vor Augen, eher als bleicher Bücherwurm. Doch zum Zeitpunkt des sehnsüchtigen Mitternachtsseufzers erlebt der 25-jährige Fabrikbuchhalter und Philosoph gerade die beglückende Startphase seiner Freundschaft mit dem Dichter Gotthold E. Lessing und dem Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai: Die fruchtbaren Treffen der drei fanden oft im Grünen statt. Das passte zur Gartenlust des aufkommenden Bürgertums. Ab 1730 wandelten sich in Europa die Gartenkunst-Moden; im Kontrast zum geometrisch-absolutistischen Barockpark entstanden aufgeklärt-freiheitliche Landschaftskonzepte und Stimmungs-Inszenierungen des Wucherns und Wachsens. In Berlin hatte der Soldatenkönig den Lustgarten am Dom zum Exerzierplatz abrasieren, alle exotischen Pflanzen auslagern lassen. Sein Sohn Friedrich II. ließ nun dort wieder Kastanien pflanzen. Im vormaligen Lusthaus zogen die Börse ein und eine Bildhauerschule. Bäume und Skulpturen gaben dann wohl die Kulisse ab für einen Lustgarten-Spaziergang, bei dem sich eines Tages das debattierende „Dreigestirn“ Gotthold, Friedrich und Moses über den

EN  When stressed-out urbanites can no longer stand the smog, they try to escape from concrete walls. Nerves frayed by children running riot in the apartment, they go in search of an oasis: a scrap of lawn, a flowerbed, shrubs, trees, a summer house. But there are obstacles to that wish, whether in the twenty-first or the eighteenth century. To enjoy the delights of a garden cottage, you have to know the right people. “Even in the midnight hours, when my spirit is recuperating, I still draw in the noxious smoke of the great cities, which never ceases to infect the soul with the giddiness of the world’s commerce.” Moses Mendelssohn, writing to a fellow scholar in fall 1754, continued: “0h Nature! Nature! I long for you! You are my fatherland, and I am befallen by an anxious melancholy, not unlike homesickness …” Mention of the self-taught philosopher Mendelssohn with his hunched back, his health ruined by excessive studying since childhood, evokes the image of a pale bookworm rather than a gardening enthusiast. But when he wrote of his midnight wistfulness, the twenty-five-year-old scholar and factory accountant was in the exhilarating opening phase of his friendship with the poet Gotthold Ephraim Lessing and the publisher Friedrich Nicolai, and the three men’s fruitful conversations often took place in leafy spaces. That preference reflected the passion for gardens among the emerging bourgeoisie. After 1730, European landscaping fashions changed. After the geometrical, absolutist park of the Baroque era, gardens now began to be designed with a sense of intellectual freedom, creating the scenery for a mood of abundance and natural growth. In Berlin, the “Soldier King” Friedrich Wilhelm I had the pleasure garden next to the cathedral flattened into a parade ground, banishing all its exotic plants, but his son Friedrich II replanted horse chestnuts. What had once been the pavilion became home to the stock exchange and a sculpture school. It was probably against the backdrop of the new park’s trees and statues that the eloquent triumvirate of Gotthold, Friedrich, and Moses one day strolled and (to quote

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Im Schatten von Tanne und Eiche


„Laokoon zankte“ (wie Nicolai schreibt), Lessings kunsttheoretisches Buch-Projekt. Dass für Mendelssohn, den anschaulich formulierenden Selfmade-Intellektuellen, Sitzungen im Grünen nicht nur angenehm waren, sondern Denkimpulse lieferten, zeigt ein Text vom Januar 1756. Damals erscheint seine Rousseau-Übersetzung „Von der Ungleichheit unter den Menschen“ mit einem an Lessing gerichteten Nachwort: „Ich setzte den Fuß in den Garten, darinn ich Sie selten vergebens zu suchen pflegte, und den Augenblick stellt sich mir Ihre ganze Bildung lebhaft vor,“ heißt es da. „Sie, mein Freund, sind mit dem Garten einst in Ansehung des Raums verbunden gewesen …“ Vom praktischen botanischen Einsatz ist in Mendelssohns Freiluft-Berichten weniger die Rede. In der Laube suchte er weniger Ernte als Erholung – und seine Dialog-Werkstatt. Hier lasen die Freunde einander Gedichte und Essays vor, diskutierten über Gott und Welt. Immerhin wissen wir, dass Moses' Frau Fromet, der er 1761 im „wüsten Garten-Häuschen“ der Gugenheims zu Altona seine Gefühle gestanden hatte, für ihre Berliner Familie Konfitüren produzierte; vermutlich mit Obst aus Eigenanbau. Für Mendelssohn verband sich mit der Leckerei eher eine traumatische Erinnerung an schlimme Jahre, als ihm das Studieren krankheitshalber verboten war: Statt seiner Bücher sah er plötzlich Fromets Einweck-Töpfchen im Regal am Schreibtisch und „glaubte, lebendig todt zu seyn“. Moses selbst durfte als Jude zu seiner Zeit (ohne Sondererlaubnis, wie sie manchen „Schutzjuden“ ab 1762 gewährt wurde) kein Grundstück besitzen, aber er lädt Lessing nach Berlin ein: „Wenn Sie auf den Sommer gewiß zu

Nicolai) “quarreled about the Laocoon,” Lessing’s projected book on art theory. A text written in January 1756 indicates that Mendelssohn found the hours spent in green spaces not only pleasant, but inspiring. The self-made intellectual with a gift for lucid turns of phrase added an afterword to his translation of Rousseau’s Discourse on Inequality, addressed to Lessing: “I set foot in the garden, where I so rarely failed to find you, and thinking of that sight vividly recalls to me the whole of your cultivation,” he writes. “You, my friend, have since then been connected with the garden in my mind.” Mendelssohn’s reports from the outdoors have much less to say about matters of practical botany. In the arbor, he was looking not for successful harvests but for respite— and a workshop for debate. It was in green spaces that the friends read each other poems and essays and talked about everything under the sun. We do know that his wife Fromet (to whom he had declared his feelings in the “ramshackle summer house” of the Gugenheims’ garden in Altona in 1761) made preserves for her Berlin family using fruit she had probably grown herself. For Moses Mendelssohn, though, the sweet treats revived a traumatic memory of the harsh years when he had been forbidden to study due to ill health. On the bookshelf at his desk, he suddenly saw Fromet’s preserving jars lined up instead of his books, and believed he “was experiencing a living death.” As a Jew, without the special dispensation given to some “protected Jews” from 1762 on, Mendelssohn was not allowed to own a plot himself. However, his invitation to

„0 Natur! Natur! Ich sehne mich nach dir! Du bist mein Vaterland, und eine bange ­Wemuth, die einem Heimweh nicht unähnlich ist, überfällt mich …“ uns kommen, so wollte ich zum voraus einen Garten für uns miethen.“ Das Fleckchen sei „überaus schön“, verfüge über allen Komfort zum Logieren, liege nahe beim Garten Nicolais. Sogar im Winter lockt die Laube als Zuflucht. „Kommen Sie zu uns, wir wollen in unserm einsamen Gartenhause vergessen, daß die Leidenschaften der Menschen den Erdball verwüsten,“ drängt Mendelssohn Lessing an einem Januartag während des siebenjährigen (Welt-)Krieges. Als weitere Garten-Option für den überarbeiteten „Weltweisen“ und Kontor-Chef kam bald darauf das Angebot hinzu, in Lustschlösschen reicher Gönner die Beine baumeln zu lassen. Die Berliner Juden Daniel Itzig und Veitel Heine Ephraim verbreiteten damals, beauftragt vom König, als Pächter der staatlichen Geldproduktion minderwertige Münzen, wodurch sich Preußens Kriegskasse füllte. Sie profitierten selbst von dem Schwindel und wollten nun zur Image-Kosmetik Mendelssohn als Aushängeschild gewinnen. Die Gelegenheit zum Luxus-Chillen in Ephraims Garten am Schiffbauerdamm nimmt Mendelssohn wahr; dem lukraIn the Shade of Oaks and Firs

Lessing promised: “If you are certain to visit us in the summer, I will rent a garden for us in advance.” The spot was “exceedingly pretty,” offered every comfort in accommodation, and was close to Nicolai’s garden. Even in winter, the little cottage offered a tempting refuge. “Come and visit, let us forget in the solitude of our cottage that men’s passions are devastating the globe,” Mendelssohn urged Lessing one January day during the Seven Years’ War. A further way for the overworked philosopher and accountant to enjoy a moment in the garden soon arose, when rich patrons offered him the chance to forget his cares in their summer residences. At the time, the Jewish Berliners Daniel Itzig and Veitel Heine Ephraim, lessees of the state mint, were distributing debased coinage on the orders of the king, who needed to fill the Prussian war chest. They made their own profit from the fraud, and wanted to use Mendelssohn’s presence as an advertisement to smarten up their image. Mendelssohn accepted the opportunity to chill in luxury at Ephraim’s garden on Schiffbauerdamm, but he re-

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Die Itzigschen Gärten am ­Schlesischen Tor dienten Mendelssohn als Versteck für einen von der Jüdischen Gemeinde wie den preußischen Behörden gesuchten Bekannten. Karte von Johann Christoph Rhode, 1772 (Ausschnitt). The Itzig Gardens close to ­Schlesisches Tor once served ­Mendelssohn as a hiding place for an acquaintance wanted by both the Jewish community and the Prussian authorities. Map by Johann Christoph Rhode, 1772 (detail).

tiven Angebot, bei den Münzunternehmern einzusteigen, verweigert er sich. Trotzdem hält er Kontakt zu den Einflussreichen – für eine positivere Kooperation. So eine Chance bietet sich Jahre später bei der geheimen Aktion Parkasyl: Im feudalen Itzigschen Garten am Schlesischen Tor, wo es sogar ein Amphitheater gab, darf der Aufklärer einen von der Jüdischen Gemeinde und preußischen Behörden gejagten Dissidenten aus Polen vor Verfolgung und Ausweisung verstecken. Friedrich II. hatte 1742 begonnen, das Jagdrevier Tiergarten zum öffentlichen Lustpark umgestalten zu lassen. Heute ist Mendelssohn in der Süd-Ost-Ecke dieses Stadtwaldes neben der Lennéstraße verewigt, als Relief am Lessing-Denkmal von 1890. Damals befand sich sein „authentischer“ Tiergarten-Ort an der Nord-West-Ecke, wo jetzt die Königlich-Preußische Porzellanmanufaktur angesiedelt ist. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts führte dort Isaak Wulff, ein Dessauer Verwandter Mendelssohns, seine Kattunfabrik mit Bleich-Platz und schicker Sommerfrische. Der philosophische Fabrikant arbeitete am Tag im Kontor und kommt abends mit Fromet, die hier Mineralbrunnen trinken will, „in das anmuthige Landhaus meines Freundes“ zurück, in die „angenehmste Gegend des Thiergartens“. Wenn wir allerdings die genaue Lage des Mendelssohnschen Mietgartens suchen, führt die Spur eher ans andere Ende der Stadt: zu Friedrich Nicolai, dessen Nachbarschaft dem Herrn Moses so wichtig war. Das sommerliche „Lehmschloss“ oder „Blumenschloss“ seines Verlegerfreundes in der Lehmgasse (später: Blumenstraße) vor dem Frankfurter Tor steht seit den 1790er-Jahren im Adressbuch. Seit Beginn des Jahrhunderts hatte in diesem Weinbergund Laubenviertel der Stralauer Vorstadt die Gärtnerfamilie Bouché mehrere Gärtnereien, Obst- und Blumenpflanzungen entwickelt. „Der sternenklare Himmel glänzte über den stillen Gartenbäumen, und der Geruch der Bouchéschen Hyazinthenbeete wallte durch die kaum bewegte Luft“, wird die paradiesische Gegend beschrieben. Nicolai, für den keine weitere Gartenadresse auszumachen ist, dürfte hier schon in

fused the coin dealers’ lucrative offer to join their business. Nevertheless, he kept up contact with these influential men— though with an eye to a more positive collaboration. The chance arose years later, with an initiative to create a secret sanctuary: Itzig allowed Mendelssohn to protect a Polish dissident, sought by the Jewish community and the Prussian authorities, from persecution and expulsion by hiding him in the Itzigs’ baronial garden at Schlesisches Tor, which even had an amphitheater. In 1742, Friedrich II had begun remodeling the hunting grounds of the Tiergarten to create a public park. Mendelssohn is immortalized at the southeastern corner of the resulting inner-city woodland, next to Lennéstrasse, as a relief on the 1890 memorial to Lessing. In his own day, Mendelssohn’s “authentic” spot in the Tiergarten park was at the northwestern corner, where the prestigious porcelain manufacturer KPM is based today. In the last third of the eighteenth century, Isaak Wulff, a relation of Mendelssohn’s from Dessau, ran his calico factory there, complete with a bleaching ground and a chic summer residence. The philosophical industrialist Mendelssohn spent the day at the counting house, and in the evenings accompanied Fromet, who wanted to drink mineral water there, “to the charming country home of my friend,” set in the “most pleasant part of the Tiergarten.” Looking for the exact location of the Mendelssohns’ rented garden, the trail takes us to the other end of the city, to the garden of Friedrich Nicolai, whom Moses so dearly wanted as a neighbor. His publisher friend’s “Clay Palace” or “Flower Palace” in Lehmgasse (literally, Clay Alley, later called Blumenstrasse, Flower Alley) near Frankfurter Tor was listed in the register of Berlin addresses from the 1790s. Starting in the early eighteenth century, the horticulturalist Bouché family had created market gardens, orchards, and flower nurseries in this vineyard- and garden-filled section of Berlin’s Stralauer Vorstadt district, outside the old city gate. The area was a kind of paradise: “the starlit sky shone down onto the silent trees, and the scent of the Bouchés’ hyacinth

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Im Schatten von Tanne und Eiche


“You, my friend, have since then been ­connected with the garden in my mind.” den 1750er-Jahren sein erstes Laubenglück gefunden haben; gemeinsam mit dem Schreber-Nachbarn Mendelssohn, zu dessen gemietetem Wohnhaus an der Spandauer Straße laut Grundbucheintrag ein Wiesenstreifen beim Frankfurter Tor gehörte (der jedoch als Laubengarten nicht zu nutzen war). Die undokumentierten Gärten Mendelssohns, denen er später in spöttelnder Adels-Manier den Namen „Moses Ruh“ gab, sind vergessen, erhalten ist aber das Bild eines Fantasie-­ Gartens. Nachdem der junge Metaphysiker 1763 den ersten Preis der Königlichen Akademie der Wissenschaften gewonnen hatte, war sein Essay zur „Evidenz in den metaphysischen ­Wissenschaften“ gedruckt worden, illustriert durch einen ­Kupferstich. Auf dem sieht man parlierende Menschlein in einer allegorischen Erkenntnislandschaft der Arkaden, Ruinensäulen, Skulpturen und Bäume, mit wandernden Wolken über einem Büchertisch samt Globus und geometrischen Instrumenten. Für den säkularen Philosophen und Theologen Moses Mendelssohn verbinden sich Natur und Zivilisation zu einem Labor der Welt-Anschauung. In seiner Übersetzung des 65. Psalms („Wenn du so den Boden ebnest; / Tränkest ihre Furchen, / Senkest ein das Ausgepflügte; / Schmelzest es mit Regenguß; / Seegnest ihr Gewächs“) rühmt er den grünen Daumen des Schöpfers. Ebenso in seiner 14-strophigen „Ode zum Lobe Gottes. Nach einem Donnerwetter“ („So speisest Du mit mildem Blicke / Den Bürger eines Blatts, die Mücke, / den Sänger, der auf Zweigen hüpft …“). Auch im „Biur“, dem Kommentar seiner Pentateuch-Übersetzung, wird das biblische Bild von Gott als Gärtner ausgemalt: der einen „behaglichen Ort“ in einem „Landstrich gemäßigten Klimas, allerergötzlichst geschaffen, fett und üppig, eine prächtige Pflanzung des Ewigen. … einen Ort mit Bäumen, die mit ihren Zweigen die darunter Sitzenden beschirmen und beschützen.“ Doch das schönste Dokument Mendelssohnscher Gartenlust, sein einziges erhaltenes hebräisches Gedicht „Freundschaftsandenken eines vernunftreichen Mannes im Garten seines Gefährten“, bezieht sich auf kein mythologisches, kein berlinisches, kein Kopf-Reservat, sondern auf

beds floated through the barely moving air.” No other garden address can be identified for Nicolai, and he probably found his first green haven here as early as the 1750s, together with Mendelssohn—according to the land register, the Mendelssohns’ rented home on Spandauer Strasse included a strip of grass near Frankfurter Tor (though it could not be used for a summer house). Mendelssohn’s undocumented gardens, which her later called “Moses' Rest”, mocking aristocratic fashion, are now forgotten, but a picture showing the garden of his imagination has survived. The young metaphysician was awarded first prize by the Royal Academy of Sciences in 1763 for an essay on scientific metaphysics, which was then printed with a copperplate illustration. This shows little figures chatting in an allegorical landscape of knowledge with arcades, ruined columns, sculptures, and trees; clouds flit above a table holding books, a globe, and geometrical instruments. For the secular philosopher and theologian Moses Mendelssohn, nature and civilization combined to form a laboratory for contemplating the world. In his translation of Psalm 65, he extols the Creator’s green thumb: “When You prepare the earth this way; / Water its ridges, / Settle its plowed furrows; / Soften it with rain; / Bless its growth.” ­Likewise in his fourteen-stanza “Ode in Praise of God, After a Thunderstorm”: “Thus with a mild gaze You feed / The citizens of a leaf, the midge, / The singer that hops on the twigs … .” In the Biur, the commentary on his Pentateuch translation, Mendelssohn fills out the biblical image of God as a gardener, creator of a “comfortable place” on a “piece of land in a moderate climate, most delightfully formed, rich and luxuriant, a magnificent planting by the eternal one … a place with trees whose branches shelter and protect those who sit below.” But the most beautiful testament to Mendelssohn’s pleasure in gardens, his only surviving Hebrew poem, Souvenirs of Friendship from a Man of Reason in the Garden of His Companion, refers neither to a mythological garden, nor to one in Berlin or in the imagination, but to the estate of the

Illustration aus „Evidenz in den ­metaphysischen ­Wissenschaften“. Die alten Naturlehren, so Mendelssohn, seien durch den Fortschritt noch offen­sichtlicher überholt als die meta­ physischen Grundüberzeugungen. Illustration from Mendelssohn’s essay on scientific metaphysics. He notes that the old teachings on nature have now been overtaken by progress, even more obviously than have the ­fundamental beliefs of ­metaphysics. In the Shade of Oaks and Firs

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das Anwesen eines reichen Hannoveraners. Michael Salomon David, Finanzagent der welfischen Kriegskanzlei, hatte zum Besuch des berühmten Freundes aus Berlin ein stattliches Partyzelt aufgestellt. Die Dankverse des Geehrten zeigen den Aufklärer Mendelssohn als frommen Juden, Paradies-Theologen und zur Freundschaft begabten Naturgenießer. Zu erkennen ist der städtische Familienvater, für den das Laubenwesen schon deshalb nützlich ist, damit Kindergeburtstage ihm nicht die Wohnung verwüsten!

wealthy Hanoverian Michael Salomon David. David, financial agent to the Welf dynasty’s war office, marked the visit of his famous friend from Berlin by putting up an impressive party tent. In his poem of thanks for this honor, Mendelssohn appears as a pious Jew, a theologian of paradise, and a lover of nature with a talent for friendship. Between the lines, we also glimpse the urban paterfamilias for whom the city garden is vital if only to save his apartment from being wrecked by the children’s birthday parties.

Hier setze ich mich nieder, wo mir’s wohl gefällt. Lieber will ich heute ruhen / im Schatten von Tanne und Eiche Im Hof eines redlichen Mannes; Als wohnen in Lustsälen Auf Purpurpolstern / In törichten und ruchlosen Palästen. Erwacht meine Freunde! / Auf meine Geliebten! Werdet fröhlich munter! / Wann steht ihr auf, ihr Schläfer? * Die Sonne – machtvoll / Erleuchtet sie das Gesicht der Welt. Die Zeit der Lieder ist da! / Wie lange noch wollt ihr müßig sein?

I sit down here where it pleases me well. Today I prefer to rest / In the shade of fir trees and oaks, In the courtyard of an honorable man; Than to reside in halls of pleasure On crimson pillows / In foolish and nefarious palaces. Awake, my friends! / Rouse yourselves, beloved ones! Be happy and cheerful! / When will you rise, you slumberers?* The sun—powerfully / It lights up the face of the world. The time for songs has come! / How long will you be idle?

Laßt uns gehen in den lieblichen Garten / Aufsteigen zu der Freundschaft Wohnung, Da wollen wir in Liebe schwelgen / Im Zelt, das aufgeschlagen unser trauter Freund Und auf üppigem Hügel / aufgestellt. Aus den ausgesuchtesten Stämmen im Wald / Schlug seine Rechte seine Säulen, Holz, das nicht fault, suchte er aus.

Let us go into the sweet garden / Step up to the dwelling of friendship, There let us revel in love / In the tent our dear friend has pitched And on the lush hillside / raised. From the forest’s choicest timber / His right hand hewed its posts, He chose wood that will not rot.

Gedenke des Freundschaftsbundes, / Den wir beide geschlossen! Nie werde er von unsern Nachkommen gebrochen, / Ein ewiger unverweslicher Bund sei es. Rasen bekleidet den Grund ringsum, / Da werden unsre Kinder tanzen, Da unsre Kleinen spielen, / Und soll sich freuen auch unser Herz.

Remember the bond of friendship that / We two have forged! Never may it be broken by our descendants, / May the bond be eternal, incorruptible. Lawn attires the earth all around, / There our children will dance, There our little ones will play, / And our heart, too, will rejoice.

Thomas Lackmann lebt seit 1991 als Journalist, Historiker und Ausstellungsmacher in Berlin. Er schrieb Bücher zur Entstehung des Jüdischen Museums Berlin („Jewrassic Park“, Berlin 2000) und über die Nachkommen Moses Mendelssohns. Er engagiert sich für ein Museum, das deren Geschichte erzählt, die Mendelssohn-Remise am Gendarmenmarkt. Thomas Lackmann has lived in Berlin since 1991 and works as a journalist, historian, and exhibition organizer. He has written books about the establishment of the Jewish Museum Berlin (Jewrassic Park, Berlin: Philo Verlag, 2000) and about the descendants of Moses Mendelssohn. He is committed to a museum that tells their story, the Mendelssohn-Remise at the Gendarmenmarkt.

* Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften: Jubiläumsausgabe, Bd. 20, 1, Anmerkung 144, übers. von Rainer Wenzel, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2009. Der Übersetzer des Gedichts, Rainer Wenzel, hat in der Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften Mendelssohns darauf hingewiesen, dass der dreifache Weckruf in der ersten Strophe Worte aufnimmt, mit denen der Vorbeter sich im Morgengebet des Versöhnungstages an die Gemeinde wendet.

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* The translator of the poem from Hebrew into ­German points out that the threefold imperative in the first stanza draws on the prayer leader’s words to the congregation during morning prayers for Yom Kippur, the Day of Atonement. Im Schatten von Tanne und Eiche


Seit jeher steht der Seit der Seitjeher jehersteht steht der Mensch bei uns im Mensch imim Menschbei beiuns uns Mittelpunkt. Mittelpunkt. Mittelpunkt.

Eine große Marke setzt nicht

Eine große Marke setzt nicht nur im Markt Zeichen. nur im Markt Zeichen. Eine Marke Eine große große Marke setzt setzt nicht nicht

Wie wichtig uns der Mensch ist, erkennen Sie nicht

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AUSSTELLUNGSVORSCHAU UPCOMING EXHIBITION

„WIR TRÄUMTEN VON NICHTS ALS AUFKLÄRUNG“ “WE DREAMED OF NOTHING BUT ENLIGHTENMENT” Moses Mendelssohn (1729–1786), porträtiert von Johann Christoph Frisch (1738–1815), 1783, Öl auf Leinwand (Ausschnitt) Moses Mendelssohn (1729–1786), portrayed by Johann Christoph Frisch (1738–1815), 1783, oil on canvas (detail)

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Zuwanderer, Aufklärer und Selfmade-Intellektueller: Moses Mendelssohn war schon zu seiner Zeit eine europäische Berühmtheit und ist bis heute eine ­zentrale Gestalt des deutschen Judentums. Mit seinen christlichen Freundinnen und Freunden diskutiert Moses Mendelssohn Fragen aus Philosophie und Politik. Als Autor fordert er sein Publikum zum kritischen Denken auf. Als gesetzestreuer Jude verbindet er die Tradition mit den Ideen der Aufklärung, engagiert sich für weltliche Bildung und bürgerliche Gleichberechtigung für Juden als Juden. Seine Übersetzung der Tora macht religiöses Wissen allen zugänglich. Die Ausstellung präsentiert die Epoche der Aufklärung als Umbruchslabor: Menschenrechte, Meinungsfreiheit und die Vielfalt individueller Lebensentwürfe werden formuliert und eingefordert. Mit seinen Argumenten für die Emanzipation, für Minderheitenrechte und das Verhältnis von Staat und Religion eröffnet Mendelssohn den Weg in die Moderne – und provoziert bis heute Fragen zur jüdischen Identität. Die Ausstellung erzählt von Mendelssohns Leben in Berlin und zeigt ihn inmitten einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs als Integrationsfigur polarisierender Kräfte. 14. April bis 11. September 2022 Jüdisches Museum Berlin, Altbau 1. OG Gefördert durch die Lotto Stiftung Berlin

Immigrant, Enlightenment philosopher, and self-made intellectual: in his time, Moses Mendelssohn was already a European celebrity and he remains a central figure in German Judaism to this day. With his Christian friends, Moses Mendelssohn discussed philosophical and political questions. As an author he challenged his audience to think critically. As an observant Jew, he linked tradition with Enlightenment ideas, and championed secular education and civil equality for Jews as Jews. His translation of the Torah made religious knowledge accessible to all. The exhibition presents the era of the Enlightenment as a laboratory for radical change, in which human rights, freedom of opinion, and the diversity of individual ways of life were articulated and demanded. With his arguments for the emancipation of Jews, rights for minorities, and the relationship between religion and the state, Mendelssohn opened a path into modernity—and provoked questions about Jewish identity that persist to this day. The exhibition tells of Mendelssohn’s life in Berlin and shows him as a figure who integrated polarizing forces in the midst of historical upheaval and awakening. 14 April to 11 September 2022 Jewish Museum Berlin, baroque building, first floor With the support of Lotto Stiftung Berlin

jmberlin.de/ausstellung-moses-mendelssohn jmberlin.de/en/exhibition-moses-mendelssohn

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Shelly Kupferberg: Zwischen Chanukkia und Lametta Shelly Kupferberg: Christmas Tinsel and Hanukkah Lights Enkelin von Jeckes, Tochter von Sabres Life between Israel and (West) Berlin Interview & Photos: Sharon Adler Shelly Kupferberg ist 1974 in Tel Aviv geboren und in West-Berlin aufgewachsen. Im Interview, das an einem warmen Sommerabend in Tel Aviv und im herbstlichen Berlin stattfand, erzählt sie von Kindheit und Jugend, davon, wie sie 1989 die Öffnung der innerdeutschen Grenzen erlebt hat und was ihr jüdische Tradition bedeutet. Heute arbeitet Shelly Kupferberg als freie Redakteurin für Deutschlandfunk Kultur und moderiert auf rbbKultur tägliche Kultur- bzw. Live-Radiosendungen. Shelly Kupferberg was born in Tel Aviv in 1974 and grew up in West Berlin. In this interview, conducted on a warm summer evening in Tel Aviv and in autumnal Berlin, she discusses her childhood and youth, how she experienced the opening of the inner-­ German border in 1989, and the meaning Jewish tradition has for her today. Shelly Kupferberg works as a freelance editor for the radio station Deutschlandfunk Kultur and hosts daily cultural programs and live radio shows on rbbKultur.

Shelly Kupferberg in ihrem Kiez in Berlin im Herbst 2020. Shelly Kupferberg in her n ­ eighborhood in Berlin, autumn 2020.

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DE Sharon Adler: Wie hat deine Familie die Schoa überlebt und von wo aus ist sie nach Palästina emigriert? Woher kamen deine Großeltern? Shelly Kupferberg: Meine Großeltern stammten aus Wien, Berlin und Hildesheim. Sie sind alle, rechtzeitig bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, vor Hitler nach Palästina geflüchtet, zwischen 1933 und 1939. Und haben sich dann vor und nach der Staatsgründung in Israel kennengelernt. Meine Großeltern gehörten nicht zu denjenigen, die „nichts mehr mit Deutschland zu tun haben“ wollten. Sie sind schon relativ früh regelmäßig wieder nach Deutschland und Österreich zurückgefahren, natürlich mit großen Ambivalenzen und aus ganz unterschiedlichen Gründen. Du bist in Tel Aviv geboren, aber in West-­Berlin aufgewachsen. Wie kam es dazu, warum und wann bist du mit deiner Familie aus ­Israel nach Deutschland ­gegangen? Meine Eltern waren israelisch sozialisiert, während die Kupferbergs, also die Eltern meines Vaters, bis an ihr Lebensende ein Ivrit mit wahnsinnig deutschem Akzent gesprochen haben und wirkliche Jeckes waren.

EN Unglaublich deutsch, immer etepetete und super gekleidet. Man ging jeden Freitag ins Kaffeehaus, sonntags gab’s ein schönes Essen und es hatte alles seine Ordnung. Dann kam 1967 der Sechstagekrieg und 1973 der Yom-Kippur-Krieg. Beide Male wurde mein Vater als Soldat eingezogen. Ich bin Jahrgang 1974, das heißt, er war noch in Reserve und absolut unzufrieden mit der politischen Situation. Nach dem Yom-Kippur-Krieg hatte er eine Depression. Mein Großvater mütterlicherseits, Walter Grab, hat dann gesagt: „Wisst ihr was, ihr seid jung, ihr habt ein kleines Baby, vielleicht geht ihr einfach mal ein Jahr raus aus Israel.“ Und das ­haben sie gemacht. Und es lag nah, ins deutschsprachige Ausland zu gehen, weil mein Vater Deutsch konnte und dachte, er fände dort schnell einen Job. Eigentlich wollten meine Eltern in die Schweiz, weil sie dort Freunde hatten, aber das hat nicht geklappt. Mein Großvater hielt als Historiker oft Vorträge an verschiedenen Institutionen in West-Berlin und hat gesagt: „Geht mal nach West-Berlin, ich gebe euch ein paar Adressen und ein paar Telefonnummern. Da könnt ihr anrufen, das sind Freunde.“ So kamen meine Eltern 1975/76 nach West-Berlin.

Sharon Adler: How did your family survive the Shoah and where did they live before emigrating to Palestine? Where did your grandparents come from? Shelly Kupferberg: My grandparents came from Vienna, Berlin, and Hildesheim. All escaped Hitler before the start of the Second World War, emigrating to Palestine between 1933 and 1939. They met in Israel before and after it was established as a state. My grandparents were not the kind of immigrants who wanted nothing more to do with Germany. Early on, they regularly visited Germany and Austria—of course with ambivalent feelings and for very different reasons.

Kupferbergs—my father’s parents—spoke Hebrew with a thick German accent throughout their lives. They were real Yekkes, extremely German, fussy, and very well dressed. They went to the coffeehouse every Friday and had a wonderful meal on Sunday. Life was very orderly. Then came the Six-Day War in 1967 and the Yom Kippur War in 1973. My father was drafted both times. When I was born in 1974, he was still in the reserves. He was very dissatisfied with the political situation, and after the Yom Kippur War, he suffered from depression. My maternal grandfather, Walter Grab, said, “You know what, both of you are young, you have a small baby, maybe you should get out of Israel for a year.”

My parents were ­always very happy in West Berlin, until the Wall fell. You were born in Tel Aviv but grew up in West Berlin. What led to that? When and why did you leave Israel for Germany with your family? My parents were socialized as Israelis, but the

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And that’s what they did. It was only logical for them to go to a German-speaking country because my father spoke German and thought he would be able to get a job quickly. Actually, my parents wanted to go to Switzerland be­

Shelly Kupferberg


DE Sie wollten erstmal nur ein Jahr lang bleiben, aber sie fühlten sich so wohl, dass sie die Abreise immer weiter nach hinten verschoben, und irgendwann waren wir Kinder so groß, dass wir gesagt haben: „Wir wollen hier bleiben, das ist unser Zuhause.“

EN gemacht habe: „Warum geht ihr denn mit uns nicht in die Synagoge? Warum betet ihr mit uns nicht die Gebete?“ Unsere Eltern haben geantwortet: „Wir sind selbst nicht so aufgewachsen, wir sind Israelis.“ Ich wollte irgendwann mehr und bin dann auch ein

„Warum geht ihr denn mit uns nicht in die Synagoge?“ Und eigentlich waren meine Eltern in West-Berlin auch immer sehr glücklich, bis die Wende kam. Waren deine Eltern im West-Berlin der 1970er-­ Jahre politisch aktiv? Meine Eltern sind erstmal ganz bewusst nicht in eine jüdische Gemeinde ein­ getreten. Sie sind immer politisch links gewesen, auch in Bezug auf Israel. Meine Eltern waren Israelis. Sie waren natürlich schon Juden, aber wir haben die jüdischen Feste sehr säkular gefeiert. So, wie die meisten Christen Weihnachten feiern. Wir haben ein bisschen Chanukka gemacht und ein bisschen Pessach, vor allem für uns Kinder. Irgendwann kam ich in das Alter, in dem ich meinen Eltern Vorwürfe

Zwischen Chanukkia und Lametta

paar Mal mit der Jüdischen Gemeinde auf ­Machanot gefahren, auf diese Sommer­ camps, und habe völlig andere Infrastrukturen ­kennengelernt. Wie hast du dich gefühlt, als jüdisches Kind auf einer nicht-jüdischen Schule? Meine Schwester Yael und ich sind in Wilmersdorf auf das Friedrich-Ebert-Gymnasium gegangen. Wir waren dann meistens die einzigen Jüdinnen auf der Schule. Unsere Religion war nie ein Problem – im Gegenteil, es war eher so, dass die Lehrer wollten, dass wir unseren Mitschülern davon erzählten, wenn wir nach Israel fuhren. Es war eigentlich immer sehr wohlwollend, nie bösartig, wenn über-

cause they had friends there, but it didn’t work out. My grandfather, a historian, often gave lectures at different institutions in West Berlin and said, “Go to West Berlin. I’ll give you a few addresses and telephone numbers. You can call these people—they’re friends.” So, in 1975/76, my parents went to West Berlin. They originally only wanted to stay for a year, but they felt so at home that they kept postponing their departure, and at some point, we children were old enough to say, “We want to stay here. This is our home." And, actually, my parents were always very happy in West Berlin, until the Wall fell. Were your parents ­politically active in West Berlin in the 1970s? At first my parents deliberately didn’t join the Jewish community. They were always left-wing politically, even in terms of their views of Israel. My parents were Israelis. They were Jews, of course, but we celebrated the Jewish holidays in a very secular way—similar to how most Christians celebrate Christmas. My parents celebrated a little Hanukkah and a little Passover, especially for us kids. At some point, as I grew older, I criticized them:

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“Why don’t you go to the synagogue with us? Why don’t you say prayers with us?” My parents replied, “We didn’t grow up that way. We’re Israelis.” At some point I wanted more, and a few times I went to the machanot—the summer camps—with the Jewish community. And I got to know a completely different infrastructure. How did you feel as a Jewish child at a non-­ Jewish school? My sister Yael and I went to the Friedrich Ebert High School in Wilmersdorf. Most of the time we were the only Jewish girls at school. Our religion was never a problem. On the contrary, when we went to Israel, our teachers wanted us to tell our classmates about it. It was always well intended, never malicious. If anything, it was more pro-Jewish than antisemitic. But you also noticed a lot of inhibitions and taboos among the 1968 generation. For us, though, it was never really something that we experienced negatively or that became a problem. We weren’t brought up that way. We were raised in an open, multicultural household, based on the philosophy “Everyone is the way they are, and that’s fine.”


DE haupt eher philosemitisch als antisemitisch. Man merkte aber auch, da war viel Verklemmung, viel Tabu bei vielen Menschen der 1968er-Generation. Aber es war für uns eigentlich nie etwas, was negativ auffiel oder negativ zum Thema wurde. So wurden wir auch nicht erzogen, sondern eher multikulti, offen, nach dem Motto: „Jeder ist so, wie er ist, und das ist gut so.“ Und ich habe erkannt, als ich mit der Jüdischen Ge-

EN meinde auf den Machanot war, dass das schon ein sehr anderer Schnack war und auch nicht wirklich meiner. Dieser Kryptozionismus, so habe ich es immer genannt. Eine Verklärung auch von Israel. Ich fand das sehr unreflektiert und hatte auch entsprechende Diskussionen mit jüdischen Leuten in meinem Alter. Gleichzeitig hat das in der Pubertät, wo man auf Identitätssuche ist, irgendwas befriedigt, was ich von Zuhause nicht

I realized when I went to the machanot with the Jewish community that that was a very different scene and not really my scene, either—the crypto-Zionism, as I always called it, the idealization of Israel. I found it very shallow and discussed it with Jews my age. At the same time, in puberty, while I was searching for an identity, it satisfied something in me, all the things I didn’t know from home, celebrating Shabbat, the prayers, the songs …

everything associated with it. So I had a short phase where I thought, “Yes, this is it. This is where I feel at home.” I once even toyed with the idea of joining the Israeli army after graduating from high school, but when I got the draft notice because of my Israeli passport, it was totally clear to me that I couldn’t go through with it. Yet I felt traces of a longing that I felt was fulfilled when I

Shelly Kupferberg moderiert die Shimon-Peres-Preisverleihung 2019 im Berliner Rathaus am Interationalen Tag der Demokratie. Shelly Kupferberg moderates the 2019 Shimon Peres Award Ceremony at Berlin City Hall on International D ­ emocracy Day.

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Shelly Kupferberg


DE kannte: Schabbat zu feiern, die ganzen Gebete, die Lieder ... mit allem Drum und Dran. Also, ich hatte so eine kurze Phase, wo ich dachte: „Ja, das ist es. Hier fühle ich mich Zuhause.“ Ich habe dann auch mal mit dem Gedanken gespielt, nach dem Abitur in die israelische Armee zu gehen.

EN sicherung, wir müssen raus. Deutschland ist wieder groß, Deutschland wird wieder mächtig und das wird nicht gut.“ Das war total verstörend für Yael und mich. Wir m ­ ussten erstmal begreifen, was passiert war. In der Schule herrschte Ausnahmezustand. Alle waren total guter

Aber es gab so ­Anflüge von einer Sehnsucht ... Als dann der Einberufungsbefehl kam, weil ich einen israelischen Pass habe, war mir aber völlig klar: Das geht gar nicht. Aber es gab so Anflüge von einer Sehnsucht, die ich meinte erfüllt zu wissen, wenn ich hier irgendwie mehr partizipiere, nennen wir es so. Wie hast du die Öffnung der innerdeutschen Grenzen wahrgenommen? Bei der Öffnung der Mauer war ich 15 Jahre alt. Ich erinnere mich, wie mein Vater uns viel früher als sonst geweckt hat, und sehr panisch und seltsam war: „Kinder, es ist Zeit. Jetzt müssen wir das Land verlassen, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Die Mauer ist weg, das war immer unsere Lebensver-

Stimmung, nur Yael und ich hatten ein ganz beklommenes Gefühl und waren skeptisch. Und alle fragten uns: „Warum freut ihr euch denn nicht?“ Kurz darauf war mein Großvater bei uns. Er war auch der Ansicht, es sei nicht gut, wenn Deutschland wiedervereint ist, denn dann fühle es sich besonders mächtig, groß und stolz. Das Nationalgefühl würde wieder hochkommen. Er hat dann in einer Talkshow den legendären Satz gesagt: „Hitlers Panzer haben’s nur bis nach Stalingrad geschafft. Heutzutage braucht Deutschland keine Panzer mehr. Es hat die D-Mark und mit der D-Mark kommt es bis nach Wladiwostok.“

participated more—let’s just put it that way. How did you experience the opening of the inner-German border? I was fifteen when the Wall came down. I remember my father waking us up much earlier than usual. He was very panicky and strange: “Children, it’s time. We have to leave the country now— the time has come. The Wall is gone, which was always the guarantee of our safety, and now we have to get out. Germany is big again, it’s becoming powerful, and things aren’t going to turn out well.” It was really upsetting for Yael and me. Nothing was normal in school—everyone was excited and in a great mood. Only Yael and I felt anxious and skeptical. Everyone asked, “Why aren’t you happy?”

Du hast Jahre später, anlässlich der Ausstellung

My grandfather visited us shortly afterward. He didn’t think it was good for Germany to be reunified. Germans would feel especially powerful, large, and proud. Nationalist sentiment would return. Then he made the legendary remark in a talk show: “Hitler’s tanks only made it as far as Stalingrad. Germany doesn’t need tanks anymore. It has the deutschmark, and the deutschmark will make it as far as Vladivostok.” Years later, when the Amadeu Antonio Foundation organized the ex­ hibition “We didn’t have that—Antisemitism in the German Democratic Republic", you ­moderated an accompanying panel discussion. You asked what life was like for children with Jewish parents in East Germany. What moved you the most?

Dieses Interview basiert auf: „Shelly Kupferberg: Zwischen Chanukkia und Lametta. Enkelin von Jeckes, Tochter von Sabres – Leben zwischen Israel und (West-) Berlin“, Interview mit Shelly Kupferberg in: Deutschland Archiv, 13.11.2020. Es ist Teil der von der Bundeszentrale für politische Bildung und Sharon Adler herausgegebenen Reihe „Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, P ­ erspektiven“ und wurde für das JMB Journal gekürzt. https://www.bpb.de/318798 This interview was first conducted in German and published as: “Shelly Kupferberg: Zwischen Chanukkia und Lametta. Enkelin von Jeckes, Tochter von Sabres – Leben zwischen Israel und (West-)Berlin,” published 13 November 2020 in Deutschland A ­ rchiv Online. It is part of the series “Jüdinnen in Deutschland nach 1945: Erinnerungen, Brüche, Perspektiven” (Jewish Women in Germany after 1945: Memories, Ruptures, and Perspectives), edited by Sharon Adler and published by the German Federal Agency for Civic Education. It was shortened and translated for this publication. https://www.bpb.de/318798 Sharon Adler im Interview: jmberlin.de/interview-sharon-adler Interview with Sharon Adler: jmberlin.de/en/interview-sharon-adler

Christmas Tinsel and Hanukkah Lights

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DE der Amadeu Antonio Stiftung „Bei uns hat’s das nicht gegeben – Antisemitismus in der DDR“, eine Podiumsdiskussion moderiert. Du hast nachgefragt, wie es sich als Kind jüdischer Eltern in der DDR lebte. Was hat dich besonders bewegt? Einerseits, dass sie allesamt so sehr an ein besseres Deutschland glauben wollten. Aber auch die totale Verdrängung der eigenen Identität, um als ein Teil des vermeintlich besseren Deutschlands akzeptiert zu sein. Die Biografien dieser Menschen haben mich einfach berührt, wie man sich so heimlicherweise dann mal irgendwo zusammengefunden hat, um den einen oder anderen Feiertag zu begehen. Ende der 1980er-Jahre begannen die Planungen für ein Jüdisches Museum in Berlin. Um die Jahrtausendwende öffnete das JMB seine Türen, zunächst den leeren Libeskind-Bau, später seine Dauerausstellung. Welche Bedeutung hatte das Museum damals für dich? Welche hat es heute, 20 Jahre später? Als das JMB im Bau war, hat mich schon sehr interessiert, was da entsteht, und

EN sobald man die Gelegenheit hatte, in das noch leere Gebäude hineinzugehen, war ich mehrfach da und unglaublich angetan. Das war ein Ort, der mich sofort angesprochen und berührt hat – ich fand das Gebäude absolut faszinierend und habe auch für die ARD über seine Eröffnung berichtet. Im Laufe der Jahre wurde das Jüdische Museum Berlin für mich tatsächlich so etwas wie ein geistiges Zuhause, eine geistige Heimat in Berlin. Für mich ist das ein wichtiger Identifikationspunkt: Ich fühle mich da auf eine bestimmte Art aufgehoben, auch verstanden. Ich finde es total wichtig, dass das Museum so angenommen wird, international! In deinem Text „Oj Tannenbaum“ erzählst du, welche Herausforderung es heute als jüdische Mutter für dich ist, ­„seinen Kindern inmitten der Mehrheitsgesellschaft ein Stück eigene Tradition mit auf den Weg zu geben“. Hattest du damit Erfolg? Es ist nach wie vor total schwierig, mit Chanukkia und Dreidel gegen Weihnachten anzustinken! Also, meine Kinder sind interessiert, sie wissen, dass es mir ein Anliegen ist. Es ist mir wichtig, mit ihnen nach Israel zu fahren, damit sie

On the one hand, that they all wanted so much to believe in a better Germany, on the other, that they totally suppressed their own identities in order to be accepted as members of a supposedly better Germany. The biographies of these people moved me, how they secretly met to celebrate one festival or another.

ested in what was emerging. As soon as it was possible to visit the still empty building, I went several times and was incredibly impressed. It was a place that immediately touched me, that appealed to me. I thought the building was fascinating and r­ eported on the opening for the German public broadcaster ARD. Over the years, the

In the late 1980s, planning began for a Jewish museum in Berlin. At the turn of the millen­ nium, the JMB opened its doors, first presenting the empty Libeskind Building and later the permanent exhibition. What significance did the museum have for you at the time? What does it mean for you today, twenty years later?

Jewish Museum Berlin has become something of a spiritual home for me in Berlin. It’s an important place that I strongly identify with. I feel like I’m in good hands there, that I’m understood. I think it’s really important that the museum is so well received internationally!

I am a Jew, a Berliner, and a little bit Israeli.

When the JMB was under construction, I was very inter-

In “Oj Tannenbaum,” which you published in the Jüdische Allgemeine, you discuss how important it was for you as a little girl to have a

Sharon Adler, 1962 in Berlin geboren, ist Journalistin, Fotografin und Gründerin und Herausgeberin von AVIVA – Online Magazin für Frauen (www.aviva-berlin.de). Sie ist Vorständin der Stiftung ZURÜCKGEBEN. Stiftung zur ­Förderung jüdischer Frauen in Kunst & Wissenschaft (www.stiftung-zurueckgeben.de) und bisher einzige j­üdische ­Preisträgerin des Berliner Frauenpreises. Sharon Adler, born in Berlin in 1962, is a journalist and photographer. She founded and edits AVIVA, an online magazine for women (www.aviva-berlin.de). She is a board member of the Stiftung ZURÜCKGEBEN, a foundation for promoting Jewish women in art and science (www.stiftung-zurueckgeben.de), and the only Jewish winner of Berlin’s Award for Women.

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DE

EN

ein Gespür für das Land, die Religion und die jüdische Geschichte bekommen. Das finden sie toll. Allerdings hat sich meine Sicht ein bisschen geändert, insofern, als dass sich für mich Religion oder das Jüdische ein bisschen relativiert haben. Warum? Sagen wir so: Ich bin froh, dass ich das in mir habe und ich glaube und hoffe, dass es mich sensibilisiert für Themen. Das ist meine Art, Judentum zu leben. Ich hoffe, dass es mir eine andere Perspektive auf Dinge schenkt. So glaube ich zumindest. Alles, was sozusagen „Othering“ ist, defizitär gesprochen, das ist für mich ein Riesen-Reichtum. Das möchte ich meinen Kindern mit auf den Weg geben. Denn das haben mir

meine Eltern Gott sei Dank auch mitgegeben, sie haben es nie als Problem definiert, sondern immer als Chance, als Potential. Religion als solche sagt mir nicht mehr viel. Je älter ich werde, umso weniger. Vielleicht kommt das irgendwann wieder, ich bin gespannt. Aber dennoch ist es für mich meine Identität: Ich bin jüdisch. Ich bin eine Jüdin, ich bin Berlinerin, und ein bisschen Israelin.

Christmas tree and what a challenge it is for you as a Jewish mother today to pass some of your own traditions to your children in mainstream society. Have you succeeded? It’s still very difficult to compete against Christmas when all you have is dreidels and Hanukkah lights! My children are interested, they know that it’s a concern of mine. It’s important for me to go to Israel with them so they can get a feel for the country, the religion, and Jewish history. They think that’s great. But my perspective has changed a bit in the sense that religion and Jewishness have become more relative. Why? Let’s put it this way:

I’m happy that these things are part of me, and I believe and hope they’ve made me more sensitive to certain issues. It’s my way of living Judaism. I hope it gives me a different take on things. At least that’s what I think. Everything that’s linked to “othering”—seen in a positive light—can be enriching. That’s what I want to give my children because that’s what my parents, thank God, gave me. They never defined it as a problem, but always as an opportunity, as potential. Religion per se doesn’t mean much to me anymore. The older I get, the less important it is. Maybe that will change again—I’m curious. But for me, it’s my identity: I’m Jewish. I’m a Jew, a Berliner, and a little bit Israeli.

. T R Ö H E G . KULTUR . T K N U F E G N WERDEN AUGEN MACHEN. DEINE OHRE

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ZERHEILT

HEALED TO PIECES 51


Frédéric Brenner erzählt bereits seit über 40 Jahren mit seinen Fotografien vom j­üdischen Leben in aller Welt. Seit 2018 erkundet der international bekannte Fotograf nun Berlin als Bühne ­verschiedener Inszenierungen des Jüdischen. Sein fotografischer Essay „ZERHEILT“ ist vom 3. September 2021 bis 13. März 2022 im ­Jüdischen M ­ useum Berlin zu sehen. Follow­ ing more than f­ orty years of photographic storytelling of J ­ ewish life around the world, the inter­nationally ­acclaimed photographer F ­ rédéric Brenner has spent the last three years exploring Berlin, a stage for a vast ­spectrum of expressions and performances of ­Judaism. His photographic essay ZERHEILT: HEALED TO PIECES will be on show from 3 September 2021 through 13 March 2022 at the Jewish Museum Berlin.

Text

Frédéric Brenner

Ohne die ­Blätter h ­ ätte Without the leaves I ich nicht b ­ egonnen. wouldn't have started. DE  Im Herbst 2016 zogen mich bei einem Spaziergang in Berlin raschelnde Blätter in ihren Bann. Es war, als ich gerade ziellos in einer Gegend umherlief, in der ich gar nicht sein wollte und in der ich womöglich auch nicht geblieben wäre, hätte ich nicht kürzlich auf einem Teebeutelanhänger den Sinnspruch „Lasse die Dinge zu Dir kommen“ gelesen. Die über den Bürgersteig wehenden vertrockneten Blätter waren die ersten Dinge, die auf mich zukamen; sie passten genau zu meinem Gemütszustand und einer aufkeimenden fotografischen Idee. Ich verbrachte von diesem Augenblick an jeden Tag Stunden damit, sie zu beobachten und zu fotografieren – ihre Struktur, ihre Farben, ihre Bewegungen, ihre unterschiedlichen Stadien der Zersetzung. Dem Verfall preisgegeben, erinnerten sie mich an die Kraft der Hingabe, des nicht mehr Hetzens, sondern Vertrauens, Loslassens, Zuhörens und schließlich Annehmens. Sie gaben damit den Ton für ein neues Projekt vor, auf das ich mich, ohne es zu wissen, bereits eingelassen hatte. Es war beinahe, als würden die Fotografien anfangen, mich aufzunehmen und nicht ich sie. Die Blätter begleiteten mich in Berlin die ganze Zeit, während ich mich durch mein Vorhaben treiben ließ. Sie führten mich zu dem ersten Porträt: einem Mann, der wie ein gefallenes Blatt auf den Boden gesunken zu sein scheint.

EN  In autumn 2016, while walking in Berlin, I fell under the spell of rustling leaves. It happened while I was moving aimlessly, not seeking anything, in a place where I didn’t really want to be and where I might not have stayed had it not been for a fortune printed on the label of a teabag: “Lasse die Dinge zu Dir kommen” (Let things come to you). The decaying leaves blown over the pavement were actually the first things that came to me; they immediately resonated with my state of heart and with an emerging vision of photography. I began to spend hours a day observing and photographing them—their structure, their colors, their movement, their varying states of decomposition. Designed to fall, they reminded me of the power of surrender, of no longer hunting, but rather trusting, letting go, listening, and then embracing. They thus set the mode for a new project, on which, without knowing it, I had already embarked. It was almost as if the photographs were starting to take me more than I was taking them. Leaves were always with me in Berlin, as I was blown through this endeavor. They guided me to the first portrait: a man who seems to have dropped to the ground like a falling leaf. After thirty years of exploring the way in which Jews in Diaspora lived with a portable identity, and another ten years questioning the promise attached to the land of Israel,

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ZERHEILT


Nach dreißig Jahren der Beschäftigung damit, wie Jüdinnen und Juden in der Diaspora mit einer mobilen Identität leben, und weiteren zehn Jahren, in denen ich die mit dem Land Israel verbundenen Verheißungen hinterfragte, entdeckte ich in Berlin ein neues und überraschendes Kapitel meiner Forschungs- und Entdeckungsreise zu den Dissonanzen des Judentums. Ein Jahr als Artist-in-Residence am Wissenschaftskolleg zu Berlin fühlte sich an, als wäre ich in ein Straßentheaterstück hineingestolpert, ein Erlösungsdrama, das in eines der berühmten Opernhäuser der Stadt passen würde, teils Moralitätenspiel, teils Maskenstück, teils Gedächtnistheater – alles dargeboten über einem Abgrund. Dass Berlin zu einer erlösungssüchtigen Stadt geworden ist – und dass der Jude in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfigur darstellt –, zeigt sich an der „Holocaustmahnmal-Epidemie“ in der Stadt und anderen Gedächtnispraktiken. Deutschland hat wie keine andere Nation in Europa eine bewundernswerte Vergangenheitsbewältigung betrieben, bei der Berlin, wo die Vernichtung der Juden geplant und organisiert wurde, im Mittelpunkt steht. Die jüdische Bevölkerung der Stadt hat in den letzten drei Jahrzehnten einen beträchtlichen Zuwachs an Größe und Diversifizierung erfahren. Neben den gebürtigen deutschen und den nach dem Krieg eingewanderten osteuropäischen Jüdinnen und Juden leben hier auch jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Anfang der 1990er-Jahre nach Berlin kamen, sowie israelische Jüdinnen und Juden, die seit der Jahrtausendwende zunehmend hierherziehen. Zudem wird das Judentum überall inszeniert und zelebriert, vom Theater über Klezmer bis zur jüdischen Küche, doch dieses „jüdische Revival“ fühlt sich oft weniger wie ein Akt der Heilung als wie eine neue Form der Entstellung an – die der Dichter Paul Celan mit den Worten beschrieb: „Sie haben mich zerheilt!“ Das Bedürfnis der Deutschen, eine mit Schuld überladene Geschichte aufzuarbeiten, hat zu einem Übereifer geführt, die Leere zu füllen und zu repräsentieren, was nicht repräsentiert werden kann, weil diese Leerstelle einfach unerträglich ist. Sergej Lagodinsky, ein aus der Sowjetunion emigrierter jüdischer Gemeindevorsteher, formuliert es so: „Die Juden sind zu einer Projektionsfläche geworden, mit der die Deutschen ihre eigenen Dämonen zum Schweigen bringen wollen.“ Für manche Deutsche bedeutet sich selbst zu erlösen, dass sie sich mit den Juden versöhnen müssen, während es für andere bedeutete, zum Judentum zu konvertieren. „Es gibt eine Tendenz, sich mit den Opfern zu identifizieren“, sagt Cilly Kugelmann, die ehemalige Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin. „Emotional wird man selbst zum Opfer und tilgt die Taten seiner Vorfahren.“ Für Elad Lapidot, einen in Berlin lebenden israelischen Philosophen, „sind die Protestanten des neunzehnten Jahrhunderts keine Antisemiten oder Philosemiten mehr. Sie sind Juden geworden. Sie haben die Andersheit eliminiert, indem sie selbst zum Anderen wurden.“ Es gibt in Berlin eine wachsende Zahl deutscher Christinnen und Christen, die zum Judentum konvertiert sind; einige Männer und Frauen gingen sogar noch weiter, indem sie ordiniert wurden und eine neue Generation von Rabbinerinnen und Rabbinern in Europa ausbilden, viele HEALED TO PIECES

I have discovered in Berlin a new and surprising chapter in my journey to trace and examine the dissonance of Jewishness. To spend a year in Berlin as an artist-in-residence at the Wissenschaftskolleg zu Berlin felt like stumbling into a piece of street theater, a drama of redemption fit for one of the city’s famous opera houses, part morality play, part masquerade, part theater of memory—all performed above an abyss. That Berlin has become a city bent on redemption— and that the Jew represents a key figure in this realm—is evi­ dent from the city’s “epidemic of Holocaust memorials” and other commemorative practices. Germany, like no other nation in Europe, has undertaken an admirable quest “to come to terms with the past” (Vergangenheitsbewältigung), and in this process, Berlin, where the extermination of the Jews was planned and carried out, takes center stage. The city’s Jewish population has experienced, in the past three decades, a considerable growth in size and diversification. Alongside the native German Jews and the Eastern European Jews who immigrated after the war, Berlin is now home to former Soviet Jews who came after the collapse of the Iron Curtain in the early 1990s, and Israeli Jews who have been relocating here in growing numbers since the turn of the century. Moreover, Jewishness is being staged and celebrated everywhere, from theater to klezmer to Jewish cooking, but this “Jewish revival” often feels less like an act of healing than some novel form of disfigurement—to put it in the words of the poet Paul Celan: “Sie haben mich zerheilt!” (They have healed me to pieces!). The desire of Germans to come to terms with a history overloaded with guilt has led to a rush to fill the void, to represent what cannot be represented, because to experience this absence is just unbearable. In the words of Sergey Lagodinsky, a Jewish community leader who emigrated from the Soviet Union, “The Jews have become a projection screen with which the Germans try to silence their own demons.”

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von ihnen ebenfalls konvertiert. So werden zwei der bedeutendsten Synagogen in Berlin von Konvertiten geleitet, und ein beträchtlicher Teil der Gemeindemitglieder ist ebenfalls erst kürzlich zum Judentum konvertiert. „Es ist furchtbar, alle lieben sie die Juden“, sagt Irene Runge, eine deutsche Jüdin aus der ehemaligen DDR. Für Konvertitinnen und Konvertiten, die sich zum Judentum bekennen, bedeutet das oft auch, sich zum Zionismus zu bekennen. Diejenigen, die weiterhin ein säkulares Leben führen, könnte man wohl eher als zum Zionismus Konvertierte bezeichnen. Doch wenn sie sich zu diesem Schritt entschließen, treffen ihre Träume von Harmonie auf Widersprüche. Der Zionismus war und ist bis zu einem gewissen Grad immer noch eine Reaktion auf Intoleranz und Verfolgung in Europa und anderswo, und gleichzeitig hat er sich heute zu einer Herausforderung für die Ideale des kosmopolitischen Multikulturalismus entwickelt. „Sie glauben, dass sie dem Kampf entkommen sind“, sagt Gesa Ederberg, Rabbinerin der Synagoge in der Oranienburger Straße und selbst Konvertitin, „und sie landen mitten in einem anderen Kampf.“ Gleichzeitig verzeichnet Berlin einen stetigen Zuzug von Israelis, von denen sich viele keinen Illusionen über den Zionismus mehr hingeben, was zu einem tiefgreifenden Paradox führt: Deutsche Zionistinnen und Zionisten und postzionistische Israelis träumen von der Rückkehr zu einem idealisierten Weimar. Manche sagen, Israelis ziehe es nur nach Berlin, weil es eine bezahlbarere Version von Tel Aviv sei. Doch ist ­offensichtlich, dass viele von ihnen Israel deshalb verlassen, weil sie hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Zukunft des Landes alle Hoffnung verloren haben und nicht

For some Germans, to redeem themselves means they have to redeem their relationship with the Jews, while for others this has meant converting to Judaism. “There is a tendency to identify with the victims,” says Cilly Kugelmann, the former program director of the Jewish Museum. “Emotionally, you become a victim yourself and you erase the deeds of your forefathers.” For Elad Lapidot, an Israeli philosopher living in Berlin, “the Protestants of the nineteenth century are no longer anti-Semites nor philo-Semites. They have become Jews. They have eliminated otherness by becoming the other.” Berlin is home to a growing number of German Christians who have converted to Judaism; some men and women have gone even further, becoming rabbis and training a new generation of rabbis in Europe, many of them also converts. Indeed, two of the most famous synagogues in Berlin are led by converts, and a significant portion of the congregants are also recent converts to Judaism. “It’s horrible, they all love the Jews,” says Irene Runge, a German Jew from the former German Democratic Republic (GDR). For converts to embrace Judaism, it often means also embracing Zionism. Those who choose to remain secular might be better described as converts to Zionism. But in taking that step, their dreams of harmony encounter dissonance. Zionism was, and to some extent remains, a reaction to intolerance and persecution in Europe and beyond, while at the same time it has also evolved into a contemporary challenge to the ideals of cosmopolitan multiculturalism. “They think they escaped wrestling,” says Gesa Ederberg, Rabbi of the Oranienburger Straße synagogue, herself a convert, “and they land in the middle of another wrestling.” At the

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zu ­Komplizen einer Regierung werden wollen, die ihrer Ansicht nach ein anderes Volk, nämlich das palästinensische, unterdrückt. „Die jungen Israelis haben das Gefühl, dass ihnen etwas in ihrem Leben genommen wurde, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hätten“, sagt der Historiker Dan Diner. „Sie sind hier, um nach etwas zu suchen, das von einer Ideologie ­verdrängt und unterdrückt wurde, die den DiasporaJuden erlösen und einen neuen Juden schaffen wollte.“ Dass in Berlin eine nennenswerte Zahl von Palästinenserinnen und Palästinensern lebt – Geflüchtete aus Israel, dem Libanon, Syrien und manchmal auch aus allen drei Ländern –, macht die Geschichte noch komplizierter und bringt die Begriffe von Opfer und Täter, von Versöhnung und Erlösung durcheinander. „Mit Juden verbindet die Deutschen eine wunderbare Geschichte: Liebe – Schoa – Erlösung“, sagt Yossi Bartal, ein Israeli, der in Berlin eine Plattform für den israelisch-palästinensischen Dialog gegründet hat. „Palästinenser sind eine Störgröße.“ Viele Israelis bleiben gegenüber dem Land, das sie verlassen haben, ambivalent, aber ebenso gegenüber dem Land, in dem sie sich niedergelassen haben, weil sie befürchten, dass sie immer nur Figuren im Stück von jemand anderem bleiben werden – Juden für Deutsche statt deutsche Juden. Und so wird Berlin zu einem weiteren Laboratorium für „den neuen Juden“. Diese sich überschneidenden Vektoren sozialer und emotionaler Traumata haben Berlin in einen Brutkasten von Paradoxien und Dissonanzen verwandelt, in dem Gruppen und Individuen versuchen, einer überfrachteten Geschichte zu entkommen und sich in einer offenen Gesellschaft, die ein Nebeneinander aller Narrative erlaubt, neu zu erfinden: der australische Opernregisseur, der sich selbst als „schwules jüdisches Känguru“ bezeichnet und sich zur Aufgabe macht, „den Finger tief in die deutsche Wunde zu legen“; die palästinensische Frau, die mit einem israelischen Pass, einem

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same time, Berlin has seen a steady influx of Israelis, many of whom are disenchanted with Zionism, offering a profound paradox: German Zionists and post-Zionist Israelis dreaming of a return to an idealized Weimar. Some say that Israelis are drawn to Berlin merely because it is a more affordable version of Tel Aviv. But it is obvious that many are leaving Israel because they have lost all hope in the political and economic future of the country and don’t want to be accomplices of a government they see as oppressing another people, the Palestinians. “Young Israelis have the feeling they were emptied of something in their beings that they don’t even recognize,” says historian Dan Diner. “They are here to search for something which was avoided and repressed by an ideology that wanted to redeem the Diaspora Jew and create a new Jew.” The presence in Berlin of a significant community of Palestinians—refugees from Israel, Lebanon, and Syria, and sometimes all three—complicates the story even more, scrambling notions of victim and perpetrator, reconciliation and redemption. “With Jews, Germans have a wonderful story: Love – Shoah – Redemption,” says Yossi Bartal, an Israeli who created a platform for Israeli-­Palestinian dialogue in Berlin. “Palestinians are a disturbance.” Many Israelis remain ambivalent about the country they have left, but no less about the country in which they have settled, worrying that they will always remain characters in someone else’s play—Jews for Germans rather than German Jews. And so Berlin becomes yet another laboratory for “the New Jew.” These crisscrossing vectors of social and emotional trauma have turned Berlin into an incubator of paradox and dissonance, as groups and individuals try to escape an overloaded history and reinvent themselves in an open society that allows all narratives to coexist: the Australian opera director who declares himself a “Jewish gay kangaroo” and makes it his task “to put his finger deep in the German wound”; the

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Symbol für die Katastrophe ihrer Familie, nach Deutschland einwandert; der israelische Philosoph, der sich rühmt, Teil der „ersten Alija“ von Israel nach Deutschland gewesen zu sein, und für den die eigentliche Situation des Juden die eines Fremden ist; der deutsche christliche Konvertit, der Rabbiner wird und das erste Institut für jüdische Theologie im Nachkriegsdeutschland gründet; die israelische Psychoanalytikerin, die sich für das marokkanische Erbe ihrer Mutter schämt und sich stattdessen mit den aschkenasischen Wurzeln ihres Vaters identifiziert, sich aber nach ihrem Umzug nach Berlin und der Heirat mit einem deutschen Christen der inneren Täterin stellt und ihre arabische Identität annimmt; die deutsche Jüdin, deren Eltern aus Nazi-Deutschland nach New York flohen und die nach dem Krieg zurückkehrt, um den sozialistischen Traum der DDR zu verwirklichen, Stasi-Agentin wird und jetzt Redakteurin der lokalen Zeitschrift Chabad ist; die New Yorkerin, die sich in Berlin niederlässt und mir als Lieblings-Holocaustüberlebende der deutschen Gesellschaft vorgestellt wird. Im Balanceakt zwischen deutscher Erlösung und jüdischer Neufindung erlebt Berlin einen historischen Augenblick, doch bedeutet das den Anfang oder das Ende von etwas? Verlieren die Juden für die Deutschen bereits ihre symbolische Funktion? Haben Jüdinnen und Juden gerade in dem Augenblick von Deutschland zu träumen gewagt, in dem die Welt begann, sich von der Erinnerung an die Schoa abzuwenden und in einem neuen Rausch des ethnischen und religiösen Hasses zu versinken? Erleben wir, wie manche behaupten, einen Abgesang, einen Schwanengesang – einen Schwanengesang ohne Dekadenz? Sicher ist, dass die Fragen, die Berlin aufwirft, weit über seine Grenzen hinaus ausstrahlen. Berlin ist heute Sinnbild für etwas Größeres, eine Art Theatrum Mundi, ein universelles Drama der Andersheit, das eine besondere Eindringlichkeit und Spannung entwickelt.

Palestinian woman who immigrates to Germany on an Israeli passport, a symbol of her family’s catastrophe; the Israeli philo­sopher who prides himself on being part of the “first Aliyah” from Israel to Germany and for whom the very condition of the Jew is to be a stranger; the German Christian convert who becomes a rabbi and founds the first Jewish School of Theology in postwar Germany; the Israeli psychoanalyst who feels ashamed of her mother’s Moroccan heritage, identifying instead with her father’s Ashkenazi roots, but who, after moving to Berlin and marrying a German Christian, confronts the perpetrator within and embraces her Arab identity; the German Jew, whose parents fled Nazi Germany to New York, returns after the war to realize the socialist dream of the GDR, becomes a Stasi agent, and now edits the local Chabad magazine; the New Yorker who settles in Berlin and is presented to me as the Holocaust survivor pet of German society. Poised between German redemption and Jewish reinvention, Berlin is experiencing a historic moment, but is it the beginning of something or the end? Are the Jews already losing their symbolic function for the Germans? Have Jews dared to dream of Germany just as the world has begun to turn its back on the memory of the Shoah and indulge in a new frenzy of ethnic and religious hatred? Are we witnessing, as some argue, the Abgesang, the swan song—a swan song without decadence? What is clear is that the questions posed by Berlin resonate far beyond its borders. Berlin today is emblematic of something larger, a kind of Theatrum Mundi, a universal drama of otherness that takes on a particular vividness and tension here in Berlin. Here, again, I was reminded that the grandest drama— and most profound struggle—is to be found in intimacy; and photography is ultimately the art of exploring what Fernando Pessoa called “the outstretched colony of our being.” In the words of the American photographer Edward Weston, “What

Alle Bilder stammen aus dem fotografischen Essay ­„ ZERHEILT“ von Frédéric ­Brenner, Jüdisches Museum Berlin, erworben mit Unter­ stützung der Freunde des Jüdischen Museums Berlin. All images taken from the ­photographic essay ­ZERHEILT: HEALED TO PIECES by Frédéric B ­ renner, Jewish ­Museum Berlin, purchased with the support of the Friends of the Jewish Museum Berlin.

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Hier in Berlin wurde ich wie auch anderswo daran erinnert, dass das größte Drama – und die intensivsten Kämpfe – in der Intimität zu finden sind; und Fotografie ist letztlich die Kunst, das zu erforschen, was Fernando Pessoa „die weitläufige Kolonie unseres Seins“ nannte. Der amerikanische Fotograf Edward Weston drückte es so aus: „Was könnte intimer sein als die Nahaufnahme eines Objekts oder sich bei der Arbeit an einem Porträt in absoluter Übereinstimmung mit den Gefühlen eines Menschen zu befinden?“ Und je näher jemand an einen anderen Menschen herankommt, desto stärker entledigen sich beide der Illusion eines singulären Selbst und entdecken die Vielheit; wahre Intimität ist kein Triumph über Entfremdung, sondern die Entdeckung der vielen Fremden im eigenen Inneren. Das Entfremdet-Sein zu wagen, anstatt an Fiktionen festzuhalten, an Erzählungen, die wir ersonnen haben, um das Unerträgliche zu überbrücken, die dissonante, sich ständig verändernde Wirklichkeit innen und außen, die Bruchstücke, die nie wieder zusammengefügt werden können – das ist die einzige Erlösung, das einzige Zerheilt. Die Vergangenheit, die Geister, Opfer und Täter, Exil und Migration, Andersheit, Gleichheit, Umkehrung, Bekehrung, Erlösung, Aneignung, Gedenken, Feier, Performance, Identität, Angst, Territorium, Trompe l'œil, Unterhaltung, Tyrannei der Repräsentation, Kommerzialisierung, Fragmentierung, Verwirrung, Auflösung, Chaos und, natürlich, die Blätter … Wie kann man all dem gerecht werden und trotzdem der Versuchung widerstehen, einen Sinn darin zu finden? Ich habe versucht, mich mit meiner Kamera durch diese Konstellation von ungelösten Spannungen und sich auflösenden Grenzen zu bewegen – in Erzählungen einzutauchen, ohne einer von ihnen verpflichtet zu sein, mich auf Gespräche einzulassen, die in den Fotografien und Texten ihren Widerhall finden – aber vor allem die Einladung anzunehmen, dem „Gemurmel des Unsichtbaren“ zu lauschen und zu wagen, mich in die Leere zu versenken.

could be more intimate than the close-up study of an object, or being in absolute accord with someone’s emotion when working on a portrait?” And the closer you get to another human being, the more you both cast off the illusion of the singular self and reveal multitudes; true intimacy is not a triumph over estrangement, but the discovery of the many strangers within. To dare to be estranged rather than to hold on to fictions, to narratives that we have carved to bridge the unbearable, the dissonant, ever-changing reality inside, outside, the fragments which can never reconcile—this is the only redemption, the only Zerheilt. The past, the ghosts, victims, perpetrators, exile and migration, otherness, sameness, inversion, conversion, redemption, appropriation, commemoration, celebration, performance, identity, fear, territory, trompe l’œil, entertainment, tyranny of representation, commodification, fragmentation, confusion, disintegration, chaos, and, of course, the leaves … How to do justice to all this and still resist the temptation to make sense of it? I have attempted to move through this constellation of unresolved tensions and dissolving boundaries with my camera—immersed in narratives, but not bound by any of them, engaging in conversations of which the photographs and words are echoes—but most of all, embracing the invitation to listen to that “mumble of the invisible” and daring to lean into the void.

Frédéric Brenner

Frédéric Brenner: ZERHEILT Herausgegeben von / edited by Oren Myers Texte von / texts by: Frédéric Brenner & Elad Lapidot Leinen / Linen Hardcover 168 Seiten / Pages; 142 Bilder / Images Englisch / English ISBN 978-3-7757-5103-2

pearances and representations of as a case study for the human condition, ars exploring Berlin—a stage for a vast of Jewishness. In his new photographic old-timers, converts, immigrants, and are just passing through. Via a series of aradox and dissonance, he reflects on ds light on an ever-so-present absence. polyphonic, sometimes bizarre and of displacement and estrangement,

Frédéric Brenner is known for exploring questions of longing, belonging and exclusion. His major opus, Diaspora: Homelands in Exile is the result of a twentyfive-year search in over forty countries to create a visual record of the Jewish people at the end of the twentieth century, a case study of the human condition. Brenner initiated an international photographic project “This Place”, in which he invited eleven other artists to join him in exploring Israel and the West Bank as place and metaphor, adding his own contribution “An Archeology of Fear and Desire”. He lives in Berlin and Jerusalem. This text is taken from the publication “ZERHEILT”, published by Hatje Cantz, August 2021. www.hatjecantz.de

jmberlin.de/ausstellung-zerheilt jmberlin.de/en/exhibition-zerheilt HEALED TO PIECES

Frédéric Brenner ist bekannt für seine f­ otografische Erforschung von Sehnsucht, Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein. Sein bekanntestes Werk „Diaspora, Homelands in Exile“ ist Resultat einer 25-jährigen Recherche in über 40 Ländern, um ein visuelles Gedächtnis jüdischer Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts zu schaffen, als eine Betrachtung der Conditio humana im Allgemeinen. Brenner war Initiator des i­nternationalen Foto-Projekts „This Place“, in dem er elf andere Künstler und Künstlerinnen einlud, Israel und die West Bank als Ort und Metapher zu erforschen; sein eigener Beitrag zu dem Projekt war das Werk „Eine Archäologie der Angst und des Begehrens“. Er lebt und arbeitet in Berlin und Jerusalem. Dieser Text stammt aus der Publikation „ZERHEILT“; erschienen bei Hatje Cantz, August 2021. www.hatjecantz.de

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NOMADIN

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Vom 4. Juni bis 10. Oktober 2021 zeigt das Jüdische Museum Berlin „Yael Bartana – Redemption Now“. Das zentrale Werk der Ausstellung, „Malka Germania“, ist eine Auftragsarbeit für das J ­ MB; es zeigt die Ankunft einer androgynen messianischen Figur in Berlin, die eine Reihe von Veränderungen in der Stadt bewirkt.

Vergangenheit und Zukunft implodieren in eine veränderte Gegenwart. From 4 June to 10 October 2021, the Jewish Museum Berlin ­presents Yael Bartana—Redemption Now. Its central work, ­Malka Germania, was commissioned by the JMB; in it, an androgynous messianic figure arrives in Berlin and brings about a series of changes in the city.

The past and future implode into an alternative present. Im Gespräch über Berlin mit Yael Bartana Talking about Berlin with Yael Bartana

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DE JMB: Sie leben nun bereits seit vielen Jahren in Berlin (und Amsterdam) – was hat Sie hergeführt? Yael Bartana: Seit ich Israel in den 1990er-Jahren ­verließ, habe ich an vielen Orten gewohnt und bin an viele Orte gereist: Im Herzen bin ich eine Noma­din. Ich möchte immer unterwegs sein, woanders sein. Doch manchmal entscheidet das Leben für dich. Also bin ich einstweilen hier. Was ist Berlin für Sie? Berlin ist bequem und unbequem zugleich. Es ist sehr aufgeladen und voller Geister, Gewalt und Trauma – das fühle ich. Zu dem kommt noch, dass mein Vater (‫ז“ל‬,) mir einmal gesagt hat, dass er nie einen Fuß auf deutsche Erde setzen würde – und so trage ich

EN die funktionieren. Trotzdem bin ich in den letzten Jahren aus praktischen Gründen irgendwie in einer Umgebung gelandet, in die ich nicht gehöre. Andererseits unterstützt das Fremdsein, die Außenseiterrolle auch meine Arbeits­ weise. Es ist einfacher, aus der Distanz zu beobachten! In Ihrer Arbeit „Malka Germania“ sehen wir bestimmte Orte in Berlin: das Brandenburger Tor, aber auch den ehemaligen Flughafen Tempelhof und das Strandbad Wannsee. Sind das Ihre zentralen Bezugspunkte, wenn Sie an Berlin denken? Ich glaube, in touristischer und historischer Hinsicht weiß jeder, was der Reichstag oder das Brandenburger Tor ist, und ich habe für den

Berlin ist sehr aufgeladen, voller Geister, Gewalt und Trauma – das fühle ich. immer ein gewisses Schuldgefühl mit mir. Ich ziehe hier einen Sohn groß, schon dadurch ist Berlin einer meiner Heimatorte. Berlin bietet auch viele Vorteile: Ich liebe es, hier Fahrrad zu fahren, ich mag die Bäume und Parks. Wenn ich die bisweilen unfreundliche Haltung in der Stadt ignoriere, kann ich sagen, dass ich hier ein sehr leichtes Leben führe. Mein Sohn bekommt eine gute Schulbildung, und wenn er achtzehn ist, wird er nicht zur Armee eingezogen. Und es gibt hier viele Dinge,

Film historisch relevante und bekannte Orte gewählt. Allerdings musste ich bei der Erzählung einiges umstellen: Am Anfang sollte Malka auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof ankommen, aber das Gefühl einer Ankunft, eines Beginns, stellte sich einfach nicht ein, es funktionierte als Bild nicht. Außerdem ist das Flughafengebäude ganz klar ein Nazi-Bau. All diese Nazi-Bezüge … Zunächst wollte ich keine derartig aufgeladenen Orte einbauen. Das gilt auch für das Strandbad Wannsee.

JMB: You have been living in Berlin (and Amsterdam) for many years now; what brought you here? Yael Bartana: Since I left Israel in the 1990s I have lived in and traveled to many places: In my heart I am a nomad. I always want to be on the move, to be somewhere else. But sometimes life decides for you. So, for now, I am here. What is Berlin to you? Berlin is comfortable and uncomfortable at the same time. It is so charged and full of ghosts, violence and trauma and I feel it. Plus, my father (‫ז“ל‬,) had said to me he would never step on ­German soil—so I carry some form of guilt. I am raising a son here, so Berlin turns out to be one of my homes. There are a lot of advantages to Berlin: I love cycling here and I like the trees and parks. If I ignore the sometimes-unfriendly attitude in the city, I would say I have a very easy life here. My son is receiving a good education, and when he is 18 he will not be drafted to the army. And there’s many things here that work. And yet somehow for the last years and for practical reasons I ended up in a climate I don’t belong to. On the upside, being foreign, an outsider, helps me with the way I work, too. It is easier to observe from a distance! In your work Malka Germania we see certain places in Berlin: The Brandenburg Gate but also the former Tempel­ hof Airfield and the Strandbad Wannsee. Are these your focal points when you think of Berlin?

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I think, in terms of tourism and history, everybody knows what the Reichstag or the Brandenburg Gate is, and I chose historically relevant and well-known places for the film. However, I had to shuffle a lot of the storytelling: In the beginning, Malka was to arrive at the Tempelhof Airfield, but the feeling of an arrival, a beginning, just wasn’t there, it didn’t work as an image. Also, the Airfield’s building is so clearly a Nazi building. All the Nazi references …. First, I didn’t want to include such charged locations. It’s the same with Strandbad Wannsee. But it’s an obvious element, everything is very controlled, very German. At Wannsee you even have the famous chair, the Strandkorb—it couldn’t be more German! When I personally think of Berlin, what comes to mind … Well, for me the Reichstag was always the main thing. Then the monument, that is, the Holocaust Memorial. The first time I was in Berlin, I was impressed by the mess, the roughness, but I felt free because of the wide streets—coming from Amsterdam, where everything is cute and tiny. Speaking of the Holocaust Memorial … For many years, discussions have been going on about the culture of remembrance in Germany. Do you think this Memorial works? What would you change if you could? I think the main thing is to understand the loss, how to deal with this massive loss. I would create an area, wide, with nothing in it. Something to really create emotions towards a void. The expeNomadin


DE Aber es ist ein naheliegendes Element, alles ist sehr kontrolliert, sehr deutsch. Am Wannsee gibt es sogar das berühmte Sitzmöbel, den Strandkorb – deutscher könnte es nicht sein! Wenn ich persönlich an ­Berlin denke, was fällt mir da ein … Na ja, der Reichstag war für mich immer die Haupt­sache. Dann das Mahnmal, das Holocaust-Denkmal. Als ich das erste Mal in Berlin war, beeindruckten mich der Schmutz und die Rauheit, aber dank der breiten Straßen fühlte ich mich befreit – ich kam ja aus Amsterdam, wo alles süß und klein ist. Zum Thema Holocaust-­ Mahnmal … Seit vielen Jahren wird über die Erinnerungskultur in Deutschland diskutiert. Finden Sie, dass das Mahnmal funktioniert? Was würden Sie verändern, wenn Sie könnten? Ich glaube, das Wichtigste ist, den Verlust zu verstehen und wie man mit diesem gewaltigen Verlust umgeht. Ich würde eine große, leere Fläche anlegen, auf der sich nichts befindet. Etwas, das tatsächliche Empfindungen angesichts einer Leerstelle erzeugt. Die Erfahrung des Holocaust-Mahnmals, wenn man in ihm herumgeht, ist meiner Meinung nach nicht falsch; auch wenn ich weiß, dass viele Leute es nicht mögen. Ich bin immer dafür, Gefühle zu erzeugen, denn was geschehen ist, ist extrem emotional. Aber wie handhabt man das, wenn es um Politik geht? Wie klärt man auf? Lehrt Geschichte? Es ist schwierig, und ich habe keine eindeutige Lösung dafür. Nomad

EN Welche Erfahrungen haben Sie mit Dreharbeiten in Berlin gemacht? Wir hatten mit einer ganzen Reihe seltsamer Einschränkungen und viel Bürokratie zu kämpfen. Anscheinend sind Esel und Kamele an den meisten öffentlichen Sehenswürdigkeiten und Gedenkstätten Berlins nicht besonders willkommen. Während des Corona-Lockdowns filmten wir weiter und hatten häufiger mit der Polizei zu tun. Und als wir morgens um sieben in der Nähe des Reichstags filmten, dauerte es fünf Minuten, bis der Wachschutz auftauchte: „Sie dürfen den Reichstag nicht filmen!“ Aber niemand hat uns je ein Bußgeld ­auferlegt. In meiner Straße wurde es dann spannender: Ich habe ein paar Probeaufnahmen gemacht, und wir haben die hebräischen Straßenschilder eine Weile hängen lassen. Die Leute wurden wirklich neugierig. Einer, der vorbeikam, meinte: „Oh, ich arbeite bei dieser Organisation, und ich habe nichts gegen die Juden, aber …“ Das war natürlich schräg! Es wäre sehr aufschlussreich, in einigen Vierteln versuchsweise hebräische Straßenschilder aufzustellen, um zu sehen, was geschieht. Denn bei den Passant*innen gibt es eine große Bandbreite an Reaktionen, wenn sie die Schriftzeichen sehen. Etwas Ähnliches ist uns bei den Dreharbeiten zu dem Projekt „Jewish Renaissance Movement“ in Polen begegnet: Dort haben wir einen zusätzlichen Film hinter den Kulissen gedreht und die Bevölkerung nach ihrer Meinung gefragt. Aus anthropologischer Sicht war

rience of the Holocaust Memorial is not bad when you go in it, I think; although I know a lot of people don't like it. I am all for creating emotions, because what happened is extremely emotional. But how do you handle that when it all comes down to politics? How to educate? Teach history? It is difficult, and I don’t have a specific solution.

would be very interesting to make a test and to set up Hebrew street signs in some areas and see what happens. Because passers­ by have a wide range of reactions facing the letters. We encountered something similar while filming the project Jewish Renaissance Movement in Poland: There, we made an extra film behind the scenes and asked the residents what they were

Apparently, ­donkeys and camels are not very welcome in most of Berlin’s ­public landmarks and memorials. What was your experience filming in Berlin? We had to deal with a lot of odd restrictions and bureaucracy. Apparently, donkeys and camels are not very welcome in most of Berlin’s public landmarks and memorials. During the pandemic lockdown we continued filming and encountered a lot of Police. And, when filming next to the Reichs­tag, at seven in the morning, it took security five minutes to show up: “You’re not allowed to film the Reichstag!” But nobody ever fined us. In my street it became more interesting: I did some shooting tests and we left the Hebrew street signs in place for a bit. People came and got really curious. One guy came along and said: “Oh, I work in this organization, and I have nothing against the Jews, but…” It was obviously weird! It

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thinking. It was incredibly interesting from an anthropological point of view: There were a lot of fears. People said, oh, the Jews are back, they’re going to take our homes, and all that. Actually, I wasn’t surprised. Europe does not exist without antisemitism. I feel, if Europe stopped having antisemitism, it wouldn’t be Europe anymore—antisemitism is part of the European DNA. It’s like patriarchy: You’d need a massive transition; something would have to radically change in order to get rid of it. Do you think Berlin is important for the art scene? Yes, it’s important! Although I feel that I missed the “­ party” and the city is becoming more and more a capitalist’s paradise. Yet, Berlin is big enough to create opportunities and


DE das unglaublich interessant: Es gab viele Ängste. Die Leute sagten, oh, die Juden sind zurück, sie werden uns die Häuser wegnehmen, und all diese Dinge. Um ehrlich zu sein, war ich nicht überrascht. Europa existiert nicht ohne Antisemitismus. Ich habe das Gefühl, wenn es in Europa keinen Antisemitismus mehr gäbe, wäre es nicht mehr Europa – Antisemitismus gehört zur europäischen DNA. Es ist wie beim Patriarchat: Man bräuchte einen grundlegenden Wandel; irgendetwas müsste sich radikal ändern, um ihn loszuwerden. Glauben Sie, dass Berlin für die Kunstszene ­wichtig ist? Ja, Berlin ist wichtig! Auch wenn es mir scheint, dass ich die „Party“ verpasst habe und die Stadt immer mehr zum Paradies für Kapitalisten wird. Aber Berlin ist groß genug, um dennoch viele Möglichkeiten zu eröffnen, und für junge Künstler ist es ein guter Platz zum Leben. Es gibt eine vielfältige alternative Szene und Unterstützung durch den Senat. Außerdem ist Berlin für viele Bevölkerungsgruppen zum Exil geworden, was den kulturellen Dialog bereichert. Was mich persönlich betrifft, so hat das Jüdische Museum Berlin meine Arbeit sehr gefördert, diese Unterstützung

EN hätte ich von einem anderen Museum nicht bekommen. Sie haben einmal gesagt, Sie erwarten, dass die Hälfte der Leute „Malka Germania“ hassen und die andere Hälfte den Film lieben würde. Glauben Sie, dass Ihre Arbeit angesichts der derzeitigen politischen Situation anders wahrgenommen werden wird? Bislang habe ich nur positive Reaktionen bekommen! Jede Situation hat Einfluss darauf, wie meine Arbeit wahrgenommen wird – die Menschen reagieren sehr emotional. Auch die Ambivalenz, die ich in meine Arbeiten einbeziehe, irritiert die Leute und regt sie sogar auf: „Was will sie?! Was meint sie?!“ sind Reaktionen, die ich häufig höre. „Malka Germania“ hält außerdem sehr, sehr viele Geschichten bereit, man kann die Arbeit auf verschiedenste Weise lesen. Ich hoffe, dass die Leute das verstehen und sich eine eigene Geschichte ausdenken: Gehen die Deutschen wegen Malka? Gehen sie, weil die Stadt „Germania“ aus dem Wannsee aufgetaucht ist? Handelt es sich um einen Aufbruch oder um eine Rückkehr? Ich bin gespannt, wie das Publikum reagiert!

for young artists it’s a good place to be. There are many alternative scenes and support from the Senate. Also, Berlin became an exile city for many communities, which enriches the cultural discourse.

lence I include in my works confuses people and even upsets them: “What does she want?! What does she mean?!” are reactions I hear a lot. Malka Germania, too, has many, many stories, you

“What does she want?! What does she mean?!” are reactions I hear a lot. Personally, the Jewish Museum Berlin has been a massive supporter of my work—I wouldn’t be able to get that from another museum. You once said that with Malka Germania you ­expected half of the people to hate it and the other half to love it. Do you think your work will be perceived differently due to the current political situation? So far, I’ve only got positive reactions! Any and every situation will affect how my work is received—people react very emotionally towards it. Also, the ambiva-

can read it in many ways. I hope people will understand that and that they can make up their own story: Are the Germans leaving because of Malka? Are they leaving because the city of “Germania” arose out of the Wannsee? Is it a departure or a return? I’m curious what the audience will say! Thank you for the ­interview!

Das Interview führte / The interview was conducted by Marie Naumann

jmberlin.de/ausstellung-yael-bartana jmberlin.de/en/exhibition-yael-bartana

Danke für das Gespräch!

Yael Bartana wurde 1970 in Israel geboren und lebt zurzeit in Amsterdam und Berlin. Ihre Arbeiten wurden weltweit ausgestellt und sind in internationalen Sammlungen vertreten. Yael Bartana ist bekannt für ihre Auseinandersetzung mit der v­ isuellen Sprache von Identitäts- und Erinnerungspolitik, Nationen und gesellschaftlichen Bewegungen. Yael Bartana was born in Israel in 1970 and currently lives in Amsterdam and Berlin. Her works have been exhibited worldwide and form part of international collections. Yael Bartana is known for exploring the visual languages of identity and ­memory politics, nations, and social movements.

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Standbild aus „Malka Germania“, Yael Bartana, Auftragsarbeit für das Jüdische Museum Berlin, 2020 Film Still from Malka Germania, Yael Bartana, commissioned work for the Jewish Museum Berlin, 2020

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AUSSTELLUNGEN & BEGLEITPROGRAMM EXHIBITIONS & PROGRAM This large-scale solo exhibition of the contemporary artist Yael Bartana investigates the power of imagination and art’s redemptive ­potential. For more than twenty years, ­Bartana has been inquiring into grand historical narratives that help to constitute national and other collective identities. The show brings together more than fifty early and more recent works, including video installations, photo­ graphs, and neon works. At the core of the show is the commissioned video work Malka Germania, which Bartana conceived for the Jewish Museum and produced at historically charged locations across Berlin. 4 June to 10 October 2021 / baroque building, first floor

MALKA, WHO? Podcast In Gesprächen mit der Künstlerin, dem Kuratorenteam und Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft begibt sich der ausstellungsbegleitende Podcast „Malka, Who?“ – Malka, wer? – auf die Spur der Hauptfigur aus Yael Bartanas Auftragswerk „Malka Germania“. Zu finden auf allen Podcast-Plattformen und unter www.jmberlin.de/malka-who

YAEL BARTANA – REDEMPTION NOW Die erste umfassende Werkschau der Künstlerin Yael Bartana untersucht das erlösende Potenzial der Kunst und unserer Vorstellungskraft. Seit über zwanzig Jahren erforscht Bartana die großen historischen Erzählungen, die dazu beitragen, nationale und andere kollektive Identitäten zu formen. Die Ausstellung vereint über 50 frühe und neuere Werke, darunter Videoarbeiten, Fotografien und Lichtskulpturen. Kernstück der Ausstellung ist die Auftragsarbeit „Malka Germania“, die Bartana eigens für das Jüdische Museum Berlin konzipiert und in Berlin an geschichtsträchtigen Orten filmisch umgesetzt hat. 4. Juni bis 10. Oktober 2021 / Altbau, 1. OG

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In conversations with the artist, the curatorial team, and personalities from art and science, the podcast accompanying the exhibition sets out on the trail of Yael Bartana’s main ­character of the work Malka Germania. Find the podcast on all podcast platforms and at www.jmberlin.de/malka-who

jmberlin.de/ ausstellung-yael-bartana jmberlin.de/en/ exhibition-yael-bartana Ausstellungen & Begleitprogramm Veranstaltungen


ZERHEILT

Ein fotografischer Essay von Frédéric Brenner

HEALED TO PIECES

A Photographic Essay by Frédéric Brenner Frédéric Brenners fotografischer Essay ­„ ZERHEILT“ porträtiert Menschen, die Berlin zu ihrer Heimat gemacht haben oder nur vorübergehend hier leben – Neuankömmlinge, Alteingesessene, Konvertit*innen, Zugewanderte und andere. Auch die Stadt selbst wird fragmentarisch in den Blick genommen – als Inkubator für Dissonanzen und widerstreitende Narrative zwischen Vergangenheitsbewältigung und dem Wunsch nach Erlösung. 3. September 2021 bis 13. März 2022 / Eric F. Ross Galerie

Frédéric Brenner’s new photographic essay, ZERHEILT: HEALED TO PIECES, portrays in­ dividuals—newcomers, old timers, converts, immigrants and others—who have made Berlin their home or are just passing through. Via a series of fragmentary insights into this incubator of paradoxes and dissonances, he reflects on conflicting narratives of redemption. 3 September 2021 to 13 March 2022 / Eric. F. Ross Gallery

CHEWRUTA: ZERHEILEN

Eine Einladung zum gemeinsamen Lernen

HEVRUTAH: HEALING TO PIECES

An Invitation to Communal Learning Chewruta bedeutet soviel wie „Freundschaft“ und ist in der heutigen jüdischen Praxis ein Sich-Gesellen zum Zweck des gemeinsamen Studierens eines Texts. Begleitend zur Fotoausstellung „ZERHEILT“ von Frédéric Brenner haben Besucher*innen die Möglichkeit, mit den Protagonist*innen der Fotografien über einen Text zu sprechen: An einem runden Tisch können sie aktiv an der Diskussion teilnehmen oder einfach im Raum den Gesprächen zuhören. Hevrutah means "friendship" and is in t­ oday's Jewish practice a get-together with the purpose of studying and discussing a text. ­Accompanying the photo exhibition ZERHEILT: HEALED TO PIECES by F ­ rédéric Brenner, visitors have the opportunity to join protagonists of the photographs in discussing a text: at a round table they can actively participate or simply listen to the conversation. Termine / Dates 6. Oktober 2021, 19 Uhr 6 October 2021, 7 pm Gedächtnis/Ort Memory/Place Yemima Hadad, Netanel Olhoeft, Dekel Peretz & Barbara Steiner Texte von Paul Celan, Pierre Nora und anderen Texts by Paul Celan, Pierre Nora and others 4. Dezember 2021 4 December 2021 Anderssein/Verantwortung Otherness/Responsibility Januar bis Februar 2022 January to February 2022 Heimat/Diaspora Home/Diaspora März 2022 March 2022 Künstlergespräch mit Frédéric Brenner Artist Talk with Frédéric Brenner jmberlin.de/ ausstellung-zerheilt jmberlin.de/en/ exhibition-zerheilt

#JMBERLIN Exhibitions & Program Events

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BERLIN CULTURE MAPS Bereits seit der Gründung des Museums im Jahr 2001 unterstützen die Freunde des Jüdischen Museums Berlin das Haus mit großem Engagement. Zum 20-jährigen Jubiläum haben wir einige Freund*innen gebeten: Zeichnen Sie Ihre liebsten Kulturorte in Berlin! Ever since the museum was founded in 2001, the Friends of the Jewish Museum Berlin have supported it with tireless dedication. For the m ­ useum’s 20th anniversary, we asked several Friends to sketch their favorite cultural sites in Berlin. Dr. Walter Guth, seit 1985 Berliner, ein Freund des JMB seit 2010 Über die V ­ eranstaltungen des Freundeskreises be­komme ich intensive Einblicke in die Museumsarbeit. Die Exkursion nach ­Wrocław/Breslau ist mir in schönster Erinnerung, ebenso alle Führungen der Kurator*innen durch die Ausstellungen des JMB. Für die Zukunft wünsche ich mir weiterhin Veranstaltungen, die Fragen aufwerfen, sie dürfen durchaus kontrovers sein! Ich freue mich auf viele interessante Begegnungen.

1 Liebermann-Villa 2 Museum Berggruen 3 Museum Scharf-Gerstenberg 4 Schaubühne 5 c/o Galerie 6 Literaturhaus

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Akademie Bauhaus-Archiv Gropius Bau Berliner Ensemble Deutsches Theater Maxim Gorki Theater

13 Konzerthaus 14 Kulturforum 15 Freie Volksbühne 16 JMB 17 Berlinische Galerie 18 Pierre Boulez Saal

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Dr. Walter Guth, Berliner since 1985, a friend of the JMB since 2010 Through the events of the Friends, I gain intensive insights into the work of the museum. I have very fond memories of the excursion to Wrocław/Breslau, as well of the curator tours through the JMB exhibitions. For the future I wish for further events that raise questions—by all means controversial ones! I am looking forward to many interesting encounters.

Freunde des JMB


Yasna Aksenova, seit 2019 Berlinerin, eine Freundin des JMB seit 2020 Ich bin ausgebildete Judaistin, und die Unterstützung des JMB ist mir eine Herzensangelegenheit. Für mich persönlich bedeutet die Mitgliedschaft eine Möglichkeit mich und meine Expertise und Leidenschaft einzubringen. Beim digitalen Workshop „Katastrophe. Historische Fotos lesen“ konnten wir uns aktiv an einer Diskussion beteiligen. Die Gelegenheiten mit anderen Freund*innen des JMB in Austausch zu treten schätze ich sehr. Yasna Aksenova, Berliner since 2019, a friend of the JMB since 2020 I studied Jewish Studies and supporting the JMB is very dear to my heart. For me personally, membership offers the opportunity to get involved by sharing my expertise and my passion. In the digital workshop ­“Catastrophe: Reading Historical Photos” we were able to actively participate in a discussion. I value the opportunities to share ideas and experiences with other Friends of the JMB.

Noch kein*e Freund*in? Finden Sie heraus, welche Vorteile Sie erwarten und werden Sie Mitglied bei den Freunden des JMB! Not a Friend yet? Find out what perks await you and become a member! jmberlin.de/mitgliedschaft-freunde jmberlin.de/en/friends-of-the-jewish-museum-berlin

Friends of the JMB

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Freunde des JMB


Christiane von Bargen, seit 1987 Berlinerin, eine Freundin des JMB seit 2015 Ich engagiere mich bei den Freund*innen des JMB, weil ich das Museum wunderbar finde: Jüdische Geschichte in Berlin und Deutschland darf nie vergessen, Kultur muss immer unterstützt werden. An einem unserer Hochzeitstage haben wir mit den Freunden des JMB einen wunderbaren Ausflug nach Potsdam gemacht, der seinen Höhepunkt in einer Führung des neu eröffneten Museum Barberini fand. Experimentierfreudigkeit, Vielfalt und Furchtlosigkeit – das wünsche ich dem JMB für die nächsten 20 Jahre.

Friends of the JMB

Christiane von Bargen, Berliner since 1987, a friend of the JMB since 2015 I am involved with the Friends of the JMB because I think the museum is wonderful. Lest we forget Jewish history in Berlin and in Germany. And culture must always be supported. On one of our wedding anniversaries, we took a wonderful trip with the Friends of the JMB to Potsdam. The highlight was a guided tour through the newly opened Barberini ­Museum. Diversity, fearlessness, and joy in experimentation—that’s what I wish for the next twenty years for the JMB.

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Eial Lazarovic, seit 1998 Berliner, ein Freund des JMB seit 2002 Unseren Preview-Besuch der ANOHA-Kinderwelt werde ich nie vergessen: eine wahrhaftige Reise in die biblische Geschichte. Die originellen und liebevoll gestalteten Tierskulpturen haben uns verzaubert. Die Projekte des Freundeskreises fördern den generations- und religionsübergreifenden Dialog. Das Geschehene sichtbar zu machen und gleichzeitig Möglichkeiten des Miteinanders aufzuzeigen sind Leistungen des JMB, die mein Engagement motivieren. Für die Zukunft: Tikkun Olam! Lassen Sie uns weiterhin zur Verständigung und Heilung der Welt beitragen.

Eial Lazarovic, Berliner since 1998, a friend of the JMB since 2002 I’ll never forget our pre­ view visit to the ANOHA ­Children’s World: truly a journey into the biblical s­tory. The original and fondly designed animal sculptures were enchanting. The pro­ jects of the Friends support the inter­generational and interreligious dialogue. Making history visible and at the same time pointing out opportunities for collaboration are achievements of the JMB that motivate my involvement. For the future: Tikkum olam! Let us con­ tinue to contribute to mutual understanding and repairing the world.


Sabine Haack, seit 2003 Potsdamerin, eine Freundin des JMB seit 2009 Für mich gibt es kein anderes Museum, das einen so komplexen und wichtigen Vermittlungsauftrag hat. Begegnungen mit Menschen und ihrem kulturellen Schaffen, historischer Kontext, Aufklärung, Haltung. Das Museum belegt mit allem, was es macht, dass Kunst, Kultur und Gesellschaft eng zusammenhängen. Besonders eindrücklich ist mir in Erinnerung, als 2007 die damals aktuellen Bilder aus Darfur an die Außenwand des Museums projiziert wurden. Ein starker Eindruck und ein eindringlicher Appell gegen Hass und eskalierende Gewalt.

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Sabine Haack, Potsdamer since 2003, a friend of the JMB since 2009 For me, no other museum has such a complex and important educational mission. Encounters with people and their cultural works, historical context, educational work, attitudes. In everything it does, the museum confirms that art, culture, and society are all very closely connected. Something that particularly impressed me was in 2007, when very current photos from Darfur were projected onto the front façade of the museum. That left a strong impression and an urgent appeal to ­oppose hatred and escalating ­violence. Freunde des JMB


Beatrice Wallaschek, Berlinerin seit Geburt, eine Freundin des JMB seit 2013 Meine persönlichen Highlights sind die Konzerte, die im JMB stattfinden, das Kammermusikfestival „intonations“, Jazz in the Garden, das Konzert der Familie Lasker Wallfisch. Ich wünsche mir, dass alles so bleibt wie es ist, die Arbeit des Hauses ist wunderbar. Beatrice Wallaschek, ­native Berliner, a friend of the JMB since 2013 My personal highlights are the concerts that take place in the JMB: the intonations chamber music festival, Jazz in the Garden, the concert with the Lasker Wallfisch family. I wish that everything remains as it is; the work of the museum is wonderful.

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THANK YOU FOR 20 YEARS OF PASSIONATE COMMITMENT

B FÜR 20 JAHRE LEIDENSCHAFTLICHES ENGAGEMENT

WIR SAGEN DANKE 72

Danksagung


Ihre Unterstützung ermöglicht die wichtige Arbeit und zahlreiche Projekte des Jüdischen Museums Berlin. Your support makes possible the important work and numerous projects of the Jewish Museum Berlin.

KINDERWELT ANOHA BILDUNG UND OUTREACH EXHIBITIONS SAMMLUNGEN VERANSTALTUNGEN CHILDREN’S WORLD

INKLUSION WEBSITE UND JMB APP

W. MICHAEL BLUMENTHAL AKADEMIE

Bleiben Sie dabei – Mehr über unsere Pläne für die Zukunft erfahren Sie unter jmberlin.de/2025 Stay involved – Learn more about our future plans at jmberlin.de/en/2025 Danksagung 73


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Artikel_Headline_DE


„Erziehung der Kundschaft zum guten Ge­ schmack“ – das Ziel des im ­Oktober 1900 gegründeten Verbands ­Berliner Spezialgeschäfte zeugt vom Selbstbewusstsein vieler Einzelhändler, deren oft luxuriös ausgestattete Läden mit Lederwaren, Mode, Accessoires, Einrichtungsgegenständen und Haushaltswaren rund um die Leipziger Straße angesiedelt waren – um die Jahrhundertwende die ­Einkaufsmeile ­Berlins. When the ­Berlin Association of Specialized Stores was founded in O ­ ctober 1900, its stated aim was to teach customers good taste. That aspiration ­testifies to the self-confidence of the retailers ­whose ­often luxuriously appointed stores, ­selling leather goods, ­fashion, accessories, ­furnishings, and house­hold items, clustered around ­Leipziger Strasse—Berlin’s top shopping boulevard at the turn of the twentieth century. Text

Leonore Maier DE  Die Leipziger Straße im Berlin der 1880er-Jahre war durch den Bau der geschienten Pferdebahn und die ­Einführung elektrischer Beleuchtung zu einer boomenden Geschäftsmeile geworden. Hier befand sich auch das 1864 gegründete Unternehmen für Luxus- und Lederwaren Albert Rosenhain. Sein Aufstieg ist exemplarisch für zahlreiche Einzelhandelsgeschäfte, die sich im Zuge der Verwandlung Berlins zur modernen Metropole von kleineren Familienbetrieben zu bedeutenden mittelständischen Unternehmen entwickelten. Maßgeblich verantwortlich für den Aufbau der Marke Albert Rosenhain war Egon Sally Fürstenberg. Als der

EN  In the 1880s, with the arrival of electric lighting and the horse-drawn streetcar rails, Leipziger Strasse in Berlin became a vibrant retail strip. It was there that the company Albert Rosenhain, a retailer of luxury and leather goods founded in 1864, had its store. Rosenhain’s rise exemplifies the fortunes of many retailers that grew from small family businesses to respected medium-sized companies in the course of Berlin’s transformation into a modern metropolis. The key figure in building the Albert Rosenhain brand was Egon Sally Fürstenberg. When he started work in the firm as a salesman in 1879, aged nineteen, product advertising was still in its infancy. The ambitious young clerk thought up

Zeitloses Design Diese Handtasche stammt aus einem der Berliner Geschäfte von Albert Rosenhain und gehörte Amy Kroner, einer ­Stammkundin. Mit ihrer Familie emigrierte sie 1933 nach Großbritannien. Ihr jüngster Sohn Sidney begann 1936 eine ­Ausbildung in der Londoner Filiale von Albert Rosenhain. Timeless design This handbag comes from one of Albert Rosenhain’s Berlin stores. It belonged to regular customer Amy Kroner, who ­emigrated to Britain with her family in 1933. In 1936, her youngest son Sidney began an apprenticeship at the London branch of Rosenhain’s.

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1­9-jährige Verkäufer 1879 im Geschäft anfing, steckte die Produktwerbung noch in den Kinderschuhen. Der ambitionierte junge Angestellte verfolgte neue Ideen, um im heftiger werdenden Konkurrenzkampf die Kundschaft anzuwerben: Er dekorierte die Schaufenster, schaltete Reklame und Inserate im Berliner Adressbuch und in der Tagespresse und etablierte mit der Herausgabe des ersten Produktkataloges das Versandgeschäft, das sich zu einem Grundpfeiler des Firmenumsatzes entwickeln sollte. Mitte der 1880er-Jahre findet man darin erstmals „Neuheiten“ annonciert – Produkte aus aller Welt, die exklusiv bei Rosenhain zu erwerben waren und zu einem Markenzeichen der Firma wurden. Die Waren enthielten bis auf wenige Ausnahmen keine Hinweise auf die Hersteller. Die Firma vertrieb sie in Lizenz unter ihrem Namen und bürgte damit für Qualität. Ab 1888 Teilhaber des Unternehmens, heiratete Egon Fürstenberg zwei Jahre später Rosa, das einzige Kind des Gründerpaars Albert und Lina Rosenhain – eine Verbindung, die im bürgerlichen Milieu mit ihren ökonomischen Vorteilen für beide Seiten nicht untypisch für die Zeit war. Wie schon sein Schwiegervater, trat Fürstenberg früh dem 1879 gegründeten und bis heute bestehenden Verein ­Berliner Kaufleute und Industrieller bei, deren Vorstand er später angehörte. Der Verein war als Interessenvertretung des Berliner Wirtschaftsbürgertums aus Handel und Industrie tätig, viele mittelständische jüdische Unternehmer, vor allem aus der Textilbranche, gehörten zu seinen Mitgliedern. Die Zeit um 1900 markierte in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur in der Firmengeschichte. Zusammen mit seinem Bruder Gustav führte Egon ­Fürstenberg nun das Geschäft unter dem Namen des Firmengründers weiter. War Albert ­Rosenhain 1896 auf der Berliner Gewerbe­ausstellung noch als „Lederwaarenfabrik“ angekündigt, so erfuhr das Sortiment in den Folgejahren eine erhebliche Erweiterung: Neben dem Kerngeschäft des Verkaufs von Lederwaren und Reiseartikeln waren Bijouteriewaren, Haushaltungsgegenstände, Schreib-, Korb-, Holz-, und Glaswaren, Beleuchtungsgegen-

new ideas to attract patrons in the intensifying competition for customers. He decorated the store windows, placed notices in the daily newspapers, advertised in Berlin’s directory of addresses, and published Rosenhain’s first product catalog, establishing the mail order business that would later become one of the mainstays of the company’s turnover. In the mid-1880s, the first “novelties” were advertised— products from all over the world that could be bought only at Rosenhain’s. They became a hallmark of the company. With very few exceptions, these items did not carry the manufacturer’s mark. Rosenhain’s sold them under its own name through licensing agreements, thus assuring customers of their quality. Egon Fürstenberg was made a partner in 1888, and two years later he married Rosa, the only child of the founders Albert and Lina Rosenhain. This kind of marriage, offering economic advantages on both sides, was not unusual in bourgeois circles at the time. Just as his father-in-law had done, Fürstenberg soon joined the Association of Berlin Merchants and Industrialists (Verein Berliner Kaufleute und Industrieller), founded in 1879 and still existing; he later served on its board. The association represented the interests of Berlin’s mercantile middle class in the fields of trade and industry. Its members included many Jewish owners of small and medium-sized businesses, especially in textiles. The period around 1900 marked a new chapter in the history of the Rosenhain company in several ways. Egon Fürstenberg and his brother Gustav now ran the business, retaining the founder’s name. In 1896, the trade fair in Berlin presented Albert Rosenhain as a “leather goods factory,” but in the years that followed the range of products was greatly expanded. Alongside its core business selling leather goods and travel accessories, Rosenhain’s could now tempt customers with jewelry, household items, stationery, wickerwork, wood and glass products, lighting, silver and gold articles, works of art and applied arts, sporting goods, joke items, and optical devices. The store prided itself on being the home of gifts, of “beautiful things,” where there was something for every

Geldbörse von Walter Blumenthal (1867–1942) mit Signet Albert Rosenhain, ca. 1900/1910 Im August 1942 verhaftete die Gestapo Walter und Elisabeth Blumenthal in der Charlottenburger Wielandstraße 17. Eine Nachbarin beobachtete, wie kurz vor ihrem Abtransport etwas aus dem LKW auf die Straße geworfen wurde. Sie fand diese Geldbörse mit dem Monogramm WB, sie enthielt Fotos und Dokumente der Familie. Das Ehepaar Blumenthal wurde nach Theresienstadt deportiert und später in Minsk ermordet. Wallet belonging to Walter Blumenthal (1867–1942) with the Albert Rosenhain stamp, ca. 1900/1910 In August 1942, the Gestapo arrested Walter and Elisabeth Blumenthal at Wielandstrasse 17, Charlottenburg. Just before they were taken away, a neighbor saw something being thrown from the truck onto the street. She found this wallet, with the monogram “WB.” It contained family photos and documents. The Blumenthals were deported to Theresienstadt and later murdered in Minsk.

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stände, Silber- und Goldwaren, Kunstund Kunstgewerbliche Gegenstände, Sport- und Scherzartikel sowie Optische Geräte im Angebot. Albert Rosenhain empfahl sich als das Haus der Geschenke, der „schönen Dinge“, wo für jeden Geschmack, jede Gelegenheit und jeden Geldbeutel etwas zu finden war. Kurz vor der Jahrhundertwende begann auch mit den Eröffnungen von Wertheim und Tietz die Ära der großen Warenhäuser in Berlin – eine Herausforderung für den Einzelhandel. Die Warenhauspaläste erhitzten die Gemüter – in einer Fülle von Publikationen wurde die positive wie negative Faszination durch die „Konsumtempel“ heftig diskutiert. Einige Kaufleute, darunter Egon Fürstenberg, reagierten im Oktober 1900 mit der Gründung des Verbands Berliner Spezialgeschäfte. Wiewohl eine Reaktion auf die Konkurrenz der Warenhäuser, distanzierte sich der Verband von Anti-Warenhaus-Polemik im Handel. Er propagierte hingegen die Professionalisierung: bei der Ausbildung des Personals sowie der Kundenwerbung in Form von Reklame und aufwändigen Schaufensterdekorationen. Auch die „Erziehung der Kundschaft zum guten Geschmack“ war dem Verband ein großes Anliegen: Hier arbeiteten die Geschäftsleute mit der Höheren Fachschule für Dekorationskunst zusammen, die 1911 in Kooperation mit dem Deutschen Werkbund und dem Verband für das Kaufmännische Unterrichtswesen gegründet worden war. Die Strategie des Verbands Berliner Spezial­ geschäfte und seiner 250 Mitglieder ging auf: „Was wurde nicht alles befürchtet für die Leipziger Straße, befürchtet, als das erste Warenhaus hier im Entstehen begriffen war! Und was war die Folge? Die

taste, every occasion, and every budget. It was also shortly before the turn of the century that Wertheim and Tietz opened their doors, ushering in the era of Berlin’s great department stores. This faced smaller retailers with a challenge. The palatial department stores drew fierce controversy, and a flood of publications debated the positive and negative fascination exerted by the “temples of consumption.” A group of merchants, including Egon Fürstenberg, responded by founding the Association of Berlin Specialized Stores (Verband Berliner Spezialgeschäfte) in October 1900. Although this move was a reaction to the new competition from the department stores, the association did not join in the anti–department store polemics circulating in the retail trade. Instead, it called for professionalization, both in staff training and in customer acquisition through advertising and sophisticated shop window decoration. The aim of “teaching the customers good taste” was also close to the association’s heart. To achieve it, the members worked with Berlin’s technical college for decorative art, which was established in 1911 in cooperation with the craftsmen’s association Deutscher Werkbund and the Verband für das Kaufmännische Unterrichtswesen, a body promoting commercial training. The strategy of the Specialized Stores Association and its 250 members bore fruit: “There were so many fears about the future of Leipziger Strasse when the first department store was being built! And what happened? At the very same time, specialized stores proliferated, constantly managing to outshine each other in the splendor of their displays, the magnificence of their fittings. Anyone strolling through Leipziger

Stadtrundfahrt mit Reklame Albert Rosenhain und das Leinen- und Wäschehaus F. V. Grünfeld nutzten die „Wallroth-Autos“, um für ihre Geschäfte in der Leipziger Straße zu werben. Die Autos boten Rundfahrten durch Berlin an, das Foto entstand im Jahr 1913 an einer Haltestation Unter den Linden. Sightseeing tour with advertisements Albert Rosenhain and the linen specialists F. V. Grünfeld used the Wallroth “sightseeing cars“ to advertise their Leipziger Strasse stores. These buses offered tours around Berlin. The photo was taken in 1913 at one of the stops on Unter den Linden. Wenn Sie schöne Dinge lieben

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Produktkatalog „Wenn Sie schöne Dinge lieben“ von Albert Rosenhain, 1930er-Jahre Albert Rosenhain product catalog “Wenn Sie schöne Dinge lieben” (Do you love beautiful things?), 1930s


Blick in den Verkaufsraum für Lederwaren und Reiseartikel sowie die Versand-Expedition bei Albert Rosenhain in der Leipziger Straße Die Abbildungen entstammen einem Sonderdruck zur Firmengeschichte in der Reihe „Die Entwickelung Gross-Berlins. Die Führenden und ihr Werk“, Herausgeber: Archiv für Kunst & Wissenschaft, Chefredakteur Maximilian Rosen, ca. 1909. Views of the leather goods and travel accessories showroom and the mail-order dispatch room at ­Rosenhain’s, Leipziger Strasse The photos come from a publication on the company’s history in the series Die Entwickelung Gross-Berlins. Die Führenden und ihr Werk, edited by Maximilian Rosen for the publisher Archiv für Kunst & Wissenschaft, ca. 1909.

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gleichzeitige Vermehrung der Spezialgeschäfte, die einander in der Pracht ihrer Auslagen, in der Großartigkeit ihrer Einrichtungen fortwährend zu überbieten verstehen. Wer jetzt durch die Leipziger Straße schlendert, kann an ihren Schaufenstern einen ordentlichen Lernkursus über das gegenwärtige Kunstgewerbe in seinem weitesten Umfange praktisch durchmachen.“1 Als sich während der Weimarer Republik im Berliner Westen ein zweites Geschäftszentrum etablierte, folgten etliche alteingesessene Spezialgeschäfte aus der Leipziger Straße dem Zug der Kundschaft nach „Berlin W.“ und errichteten dort Zweigstellen – darunter auch Rosenhain im Jahr 1928 am Kurfürstendamm. Eine der Kundinnen war Marlene Dietrich: Viele ihrer Koffer – heute in der „Marlene Dietrich Collection Berlin“ der Deutschen Kinemathek – stammen aus dem dortigen Geschäft. Charakteristisch für viele erfolgreiche Unternehmerpersönlichkeiten seiner Generation, hatte Egon Fürstenberg innerhalb kurzer Zeit den Aufstieg zum umtriebigen Akteur im Wirtschaftsleben der expandierenden Reichshauptstadt geschafft. Wie gut er in der Berliner Stadtgesellschaft und deutschlandweit branchenspezifisch vernetzt war, zeigen die umfangreiche Glückwunschpost und viele Zeitungsartikel aus dem Jahr 1930 anlässlich seines 70. Geburtstags und 50-jährigen Firmenjubiläums. 2 Alle sind sie dort unter den Gratulantinnen und Gratulanten zu finden: die Produzenten der bei Rosenhain verkauften Produkte, das Personal und ehemalige Angestellte oder Stammkundinnen des Hauses. Man findet Grüße der Klubs, in denen Fürstenberg Mitglied war, von jüdischen wie nichtjüdischen Organisationen, die er durch Spenden unterstützte sowie von langjährigen Geschäftskollegen und Mitstreitern aus der Handels- und Bankenwelt. Viele Zuschriften verdeutlichen, dass der Jubilar und das Haus Albert Rosenhain mit den Produzenten seiner Verkaufsartikel durch jahrzehntelange Geschäftskontakte

Strasse nowadays and looking through the store windows will receive a proper practical course on the contemporary applied arts in their broadest scope.”1 During the Weimar Republic, a second shopping hub took shape, further west. Many well-established specialized companies followed their customers’ migration from Leipziger Strasse to “Berlin W.” by opening branches there. Rosenhain’s opened a subsidiary on Kurfürstendamm in 1928. Its customers included Marlene Dietrich: many of her suitcases— today held in the Deutsche Kinemathek’s Marlene Dietrich Collection Berlin—were bought there. Like other successful entrepreneurs of his generation, Egon Fürstenberg very quickly became an active player in the economic life of Germany’s rapid­­ly expanding capital. He had excellent contacts in Berlin society and in the retail sector countrywide, as can be seen from the numerous congratulations and newspaper articles that marked his seventieth birthday and the company’s fiftieth anniversary. The list of well-wishers is long and varied, including manufacturers of the goods sold at Rosenhain’s, past and present employees, and the store’s most faithful customers. 2 We find greetings from the clubs where Egon Fürstenberg was a member, from Jewish and non-Jewish organizations that he supported through donations, and from long-time colleagues and business allies from the world of trade and finance. The correspondence shows that Egon Fürstenberg and the Albert Rosenhain company had nurtured business contacts with the producers of its goods for many decades. Among these manufacturers are some famous companies that still exist today, such as Elizabeth Arden, which had operated beauty salons in Europe since 1922, the cutler Henckels Solingen, porcelain manufacturer Rosenthal, and jeweler Gustav Braendle, Theodor Fahrner Estate, well-known for its collaboration with artists of the art nouveau style. In the letter Egon received from the Association of Berlin Merchants

Geschenk des Verband Berliner Spezialgeschäfte für ihren Vorsitzenden Heinrich Grünfeld, 1912 Auch der Name E. S. Fürstenberg findet sich auf der Plakette, die dem Chef des Leinen- und Wäschehauses Grünfeld anlässlich seines 50-jährigen Firmenjubiläums überreicht wurde. Beide waren langjährige Mitstreiter für die Interessen des Berliner Einzelhandels. Gift from the Association of Berlin Specialized Stores to their chairman, Heinrich Grünfeld, 1912 The name E. S. Fürstenberg is among those on the plaque presented to the owner of Grünfeld’s, which sold linen, to mark his ­company’s fiftieth anniversary. Both Grünfeld and Fürstenberg were long-standing campaigners for the i­nterests of Berlin’s retail trade. 1 Isidor Kastan, Berlin wie es war, 2. Auflage, Verlag Rudolf Mosse, Berlin 1919. 2 Glückwunschpost und Zeitungsartikel befinden sich als Dauerleihgaben der Familie Fürstenberg im JMB. Wenn Sie schöne Dinge lieben

1 Isidor Kastan, Berlin wie es war, 2nd edition (Berlin: Rudolf Mosse, 1919). 2 Greetings and newspaper articles are on permanent loan from the Fürstenberg family to the JMB.

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verbunden waren. Unter ihnen findet man einige bekannte Namen von Firmen, die heute noch bestehen wie Elizabeth Arden, seit 1922 mit Schönheitssalons in Europa vertreten, die Firma Henckels, Solingen, die Porzellanfabrik Rosenthal oder die Schmuckfirma Gustav Braendle, Theodor Fahrner Nachf., bekannt für ihre enge Zusammenarbeit mit Künstlern des Jugendstils. Im Schreiben des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller wird gar vom Rosenhainschen Geschäft als einem „Wahrzeichen Berlins“ gesprochen und dem Jubilar für alles das, was er „für die Entwicklung des Berliner Wirtschaftslebens getan“ hat, gedankt. 1933 eröffnete eine Rosenhain-Filiale in Amsterdam: einer der vier Fürstenberg-Söhne übernahm dort die Geschäftsleitung und pendelte zwischen den beiden Standorten hin und her. Im August 1935 fotografierte Werner Fritz Fürstenberg unter hohem Risiko antisemitische Schilder, Plakate und Stürmer-Kästen, an denen er während seiner Fahrt zwischen Berlin und der niederländischen Grenze vorbeikam. Abzüge dieser Fotos übergab er dem Jewish Central Information Office in Amsterdam, das Informationen über Nazi-Deutschland und die Verfolgung der deutschen Jüdinnen und Juden sammelte und dokumentierte. 3 Kurz vor „Arisierung“ und Zwangs­­verkauf der Berliner Firma im Juni 1938 erschien ein letzter Warenkatalog des Luxus- und Lederwarengeschäfts Albert Rosenhain. Den Zeiten zum Trotz spannt er den Bogen zurück bis in die Jahre vor der Reichsgründung: „Als Berlin noch nicht Reichshauptstadt war kauften die Berliner schon ihre Geschenke bei ­Rosenhain.“ Egon Fürstenberg starb 1942 im Amsterdamer Exil. Das „arisierte“ Geschäft existierte unter dem Namen ­Reiwinkel noch bis 1943 und wurde, wie fast die gesamte Leipziger Straße, bei einem Bombenangriff zerstört. Heute erinnert dort nichts mehr an den blühenden Berliner Einzelhandel vor dem Krieg.

and Industrialists, the Rosenhain store is called a “Berlin landmark” and the jubilarian is thanked “for everything you have done for the development of Berlin’s economic life.” A branch of Rosenhain’s opened in Amsterdam in 1933 and one of the four sons, Werner Fritz Fürstenberg, became its manager, commuting between the two locations. In August 1935, at great risk to himself, he photographed the antisemitic signs, posters, and display cases of the Nazi paper Stürmer that he passed as he traveled between Berlin and the Dutch border. He gave prints of these photographs to the Jewish Central Information Office in Amsterdam, which was collecting and documenting information on Nazi Germany and the persecution of German Jews. 3 Shortly before the “Aryanization” and forced sale of the Albert Rosenhain company in June 1938, one last catalog of the Berlin luxury and leather goods store appeared. Defying the mood of the day, it traced the company’s history back to the years before Bismarck had unified the nation: “Even before Berlin was the capital of the Empire, Berliners were already buying their gifts at Rosenhain’s.” In 1942, Egon Fürstenberg died in exile in Amsterdam. Now trading under the name ­Reiwinkel, the “Aryanized” business survived until 1943, when it was destroyed by bombing along with almost the entire Leipziger Strasse. Today, nothing there recalls the flourishing of Berlin’s retail sector before the war.

Leonore Maier ist seit 1999 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin in den Sammlungen des JMB. Die Geldbörse von Walter Blumenthal gehörte zu den ersten Objekten, die ihr übergeben wurden und deren überlieferte Geschichte sie für das Museum dokumentierte. Das Firmensignet im Innern war zugleich der Auslöser, sich mit der Geschichte von Albert Rosenhain zu beschäftigen.

Egon Sally Fürstenberg (1860–1942) kurz vor seinem Tod in Amsterdam, November 1941 Zwei seiner Söhne kamen 1956 auf Wunsch des Oberbürgermeisters Ernst ­Reuter nach Berlin, um eine Wiedereröffnung ihres Geschäfts zu prüfen. Dazu ist es nicht gekommen. Egon Sally Fürstenberg (1860–1942) in Amsterdam, shortly before his death, November 1941 Two of Fürstenberg’s sons visited Berlin in 1956, at the invitation of the governing mayor, Ernst Reuter, to look into reopening their store. This did not come to pass. 3 Die komplette Serie von 26 Fotos ist im Raum „Katastrophe“ der Dauer­ ausstellung des JMB zu sehen; siehe auch dazu Christoph Kreutzmüller/­ Theresia Z ­ iehe, „Crossing Borders in the Summer of 1935: Fritz Fürstenberg’s Photographs of Persecution in National Socialist Germany“, in: The Leo Baeck ­Institute Year Book 64 (2019) Nr. 1, S. 73–89. Heute sind die Bilder Teil der Wiener Library.

Leonore Maier has been a ­researcher and curator for the JMB collections since 1999. Walter Blumenthal’s wallet was among the first objects that she received and whose story she documented for the museum. It was the stamp inside the wallet that inspired her to investigate the history of the Albert Rosenhain company.

3 The complete series of 26 photos can be seen in the chapter "Catastrophe" of the JMB's permanent exhibition; cf. Christoph Kreutzmüller/Theresia Ziehe, “Crossing Borders in the Summer of 1935: Fritz Fürstenberg’s Photographs of Persecution in National Socialist Germany”, in: The Leo Baeck Institute Year Book 64 (2019) No. 1, pp. 73–89. Today, the photos are part of the Wiener Library.

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Titelblätter der Hauptpreisliste von Albert Rosenhain (oben), 1938, und der Firma Reiwinkel (unten), 1939 Zu sehen sind die Titelblätter der Hauptpreislisten vor und nach der „Arisierung“. In nahezu identischem Design und mit den gleichen Produkten erschien der Katalog von 1939 unter dem neuen Namen des Geschäfts, hier noch mit Verweis auf den bekannten Firmennamen, der später verschwindet. Covers of the catalogs for Albert Rosenhain (top), 1938, and Reiwinkel (bottom), 1939 The two main images show the catalog covers before and after “Aryanization.” From 1939, the catalog appeared under the new company name, featuring an almost identical design and the same products. There is still a reference here to the firm’s well-known original name, which disappears in later years. Wenn Sie schöne Dinge lieben

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INTERNATIONALE KONFERENZ INTERNATIONAL CONFERENCE JÜDINNEN UND JUDEN ENTLANG DER SEIDENSTRASSE

Migrationsrouten, Zwischen-Räume und Zwischen-Positionen

JEWS ALONG THE SILK ROAD

Migration Routes, Entangled Spaces, and In-between Positions Wie leben Jüdinnen und Juden zwischen Baku und Berlin, zwischen Taschkent und Teheran, Duschanbe und Tel Aviv? Im Rahmen der dreitägigen internationalen Konfe­renz nähern wir uns den wenig bekannten G ­ eschichten der Flucht, Deportation und Migration zwischen Europa und Asien, sowie den Erfahrungen von Nachbarschaft und religiöser Alltagspraxis (post-)sowjetischer Jüdinnen und Juden aus dem Kaukasus und Zentralasien – Gegenden, die auf den Routen der historischen und neuen Seidenstraße liegen. Wie sind diese Erfahrungen und Biografien von sowjetischem Orientalismus und Kolonialismus, Antisemitismus und Rassismus geprägt, und wie verhalten sie sich zu jüdischen Erfahrungen im Iran, in der Türkei, in Marokko oder Indien? Wir widmen uns den Erinnerungen und Erfahrungen des Zusammenlebens im sowjetischen und globalen Süden und fragen danach, wie diese Geschichten die Erzählungen jüdischen und post-migrantischen Lebens in Deutschland und Europa im 21. Jahrhundert verändern. Den Eröffnungsvortrag hält Prof. Dr. Atina ­Grossmann (The Cooper Union in New York City) Eine Tagung des Jüdischen Museums Berlin in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und interStudien (ZOiS, Berlin) und dem Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

How do Jews live between Baku and Berlin, between Tashkent and Tehran, Dushanbe and Tel Aviv? During the three-day international conference, we would like to approach the little-known stories of flight, deportation and migration between Europe and Asia, the experiences of neighborhood and religious everyday practices of (post-) Soviet Jews from the Caucasus and Central Asia—areas that lie on the routes of the historic and new Silk Road. How are these experiences and biographies shaped by Soviet Orientalism and colonialism, antisemitism and racism, and how do they relate to Jewish experiences in Iran, Turkey, Morocco or India? We are looking at the memories and experiences of living together in the Soviet and global South and are asking how these stories change the narratives of Jewish and post-­ migrant life in the 21st century in Germany and Europe. The opening lecture will be given by Prof. Dr. Atina Grossmann (The Cooper Union in New York City). A conference of the Jewish Museum Berlin in cooperation with the Centre for Eastern European and International Studies (ZOiS, Berlin) and the Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION at the Europe-University Viadrina Frankfurt (Oder). 10 October 2021, 5 pm to 12 October 2021, 8 pm W. Michael Blumenthal Academy

10. Oktober 2021, 17 Uhr bis 12. Oktober 2021, 20 Uhr W. Michael Blumenthal Akademie jmberlin.de/konferenz-juedinnen-seidenstrasse jmberlin.de/en/conference-jews-along-silk-road

Impressum / Credits © 2021, Stiftung Jüdisches Museum Berlin Herausgeberin / Publisher: Stiftung Jüdisches Museum Berlin Direktorin / Director: Hetty Berg Redaktion / Editors: Marie Naumann, Katharina Wulffius Email: publikationen@jmberlin.de Übersetzungen ins Englische / English Translations: Adam Blauhut (S./pp. 20–26, 43–49), Allison Brown (S./pp. 8–16, 28–31, 66–71), Kate Sturge (S./pp. 5, 27, 33–38, 74–81) Übersetzungen ins Deutsche / German Translations: Sylvia Zirden (S. /pp. 52–62) Englisches Korrektorat / English Proof Reading: Rebecca Schuman Layout: Eggers + Diaper, Potsdam Druck / Printed by: Medialis, Berlin ISSN: 2195-7002 Gefördert durch / Sponsored by

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