Jewish Museum Berlin: JMB Journal Nr. 20

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JMB JOURNAL

2020 N 21


Coca-Cola und die dynamische Welle sind eingetragene Schutzmarken der The Coca-Cola Company.

VIELFALT STATT EINFALT. LIEBE STATT HASS. VEREINT STATT GETRENNT.

Zusammen eins


ISSN 2195 - 7002

OFFEN OPEN

ANFÄNGE – BEGINNINGS / JÜDISCHE OBJEKTE – JEWISH OBJECTS / KUNST – ART / INTERVIEWS / KINDERWELT – CHILDREN’S WORLD / RESTAURIERUNG – CONSERVATION / MEDIEN – MEDIA / 13 GESCHICHTEN – 13 STORIES / DANK – THANKS


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Editorial Editorial

aus Holz und wartet darauf, entdeckt, ergänzt und bespielt zu werden. Doch kleine und große Besucher*innen müssen sich noch gedulden: Wegen der neuen Regelungen für Museumsbesuche kann die Kinderwelt erst später ihre Türen öffnen. Einige der 150 kleinen und großen Tierskulpturen, die ANOHA bevölkern, stellen wir Ihnen aber in diesem Heft vor – um die Vorfreude zu steigern! So können Sie schon jetzt mehr zum Konzept und dem neuen Programm erfahren, das die Kinderwelt in Zukunft zu bieten hat. Das JMB hat sich neu erfunden! Ich wünsche Ihnen viel Freude, all das Neue beim Lesen dieses Hefts zu entdecken. Vor allem aber lade ich Sie herzlich ein, in die Lindenstraße zu kommen, alles mit eigenen Augen zu sehen und miteinander und mit uns darüber ins Gespräch zu kommen.

Hetty Berg Direktorin des Jüdischen Museums Berlin Director of the Jewish Museum Berlin

EN  The renovation of our core exhibition took over two years; a little longer still was the development and construction of ANOHA, the children’s world of the Jewish Museum Berlin. During this time, the motto was closed, but open, and so there was plenty to experience despite the major projects: special exhibitions on history, photography, art and everyday culture, workshops and discussion groups, concerts and family celebrations—a program that has shown the Jewish Museum Berlin time and again to be an open place in the colorful center of Berlin. We would like to thank our visitors who have remained loyal to us during the years of redesign and not less during the time of the closure due to the Corona pandemic. It was worth the wait! Our core exhibition is now open. This JMB Journal allows you a look behind the scenes of our museum: The chief curator of the permanent exhibition, Cilly Kugelmann, will guide you through the newly designed rooms in an interview and give you an insight into new focal points, scenography and media design. More than a thousand objects are shown in the exhibition—thirteen special exhibits and their extraordinary stories can be discovered in this issue. The fact that these exhibits can be viewed at all is due not least to our conservators: In their workshops they ensure that valuable objects are preserved and remain visible. A series of photos shows them at their meticulous work. Curator Michal Friedlander reflects on what a “Jewish object” actually is; and the Israeli artist Gilad Ratman explores German-Jewish identities in his work Drummerrsss. ANOHA, the children’s world of the Jewish Museum Berlin, will invite young visitors to the former flower market opposite the main building. At its center stands a huge, circular wooden ark waiting to be discovered—and played in! But unfortunately, due to the new regulations on visiting museums, our young visitors have to be patient and wait a little longer. To give you a taste, this JMB Journal presents some of the 150 small and large animal sculptures that stand, lie or fly around in ANOHA. Find out more about our special ark’s concept and the new program ANOHA will have to offer. The JMB has reinvented itself! I wish you much pleasure in discovering all the new things while reading our Journal. But above all, I cordially invite you to come to Lindenstraße, see everything with your own eyes and talk to us and others about it.

DE  Über zwei Jahre hat der Umbau unserer Dauerausstellung gedauert; noch ein wenig länger die Entwicklung und der Bau von ANOHA, der Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin. Während dieser Zeit galt das Motto „closed, but open“, und so gab es trotz der Großprojekte viel zu erleben: Sonderausstellungen zu Geschichte, Fotografie, Kunst und Alltagskultur, Workshops und Diskussionsrunden, Konzerte und Familienfeste – ein Programm, mit dem sich das Jüdische Museum Berlin immer wieder aufs Neue als ein offener Ort in der bunten Mitte Berlins gezeigt hat. Wir danken unseren Besucher*innen, die uns in den Jahren der Neugestaltung – und trotz der unerwarteten Pause des Kulturbetriebs wegen der Corona-Pandemie – die Treue gehalten haben. Das Warten hat sich gelohnt: Die neue Dauerausstellung ist nun eröffnet. Dieses JMB Journal erlaubt Ihnen Blicke hinter die Kulissen unseres Museums: Die Chefkuratorin der Dauerausstellung, Cilly Kugelmann, führt Sie in einem Interview durch die neu gestalteten Räume und gibt einen Einblick in Schwerpunkte, Szenografie und mediale Ausgestaltung. In der Ausstellung werden über tausend Objekte gezeigt – dreizehn besondere Exponate und ihre außergewöhnlichen Geschichten können Sie in diesem Heft entdecken. Dass diese Ausstellungsstücke überhaupt besichtigt werden können, verdanken wir nicht zuletzt unseren Restaurator*innen: In ihren Werkstätten sorgen sie dafür, dass Wertvolles erhalten und sichtbar bleibt. Eine Fotostrecke zeigt sie bei ihrer umsichtigen Arbeit. Was ein „jüdisches Objekt“ überhaupt ist, darüber reflektiert Kuratorin ­Michal­­Friedlander; und der israelische Künstler Gilad Ratman erkundet in seiner Arbeit „Drummerrsss“ deutsch-jüdische Identitäten. ANOHA, die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin, wird junge Besucher*innen in die ehemalige Blumengroßmarkthalle vis-à-vis dem Hauptgebäude einladen. Im Zentrum der Ausstellung steht eine kreisrunde, riesige Arche

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Seit jeher steht der Seit der Seitjeher jehersteht steht der Mensch bei uns im Mensch imim Menschbei beiuns uns Mittelpunkt. Mittelpunkt. Mittelpunkt.

Eine große Marke setzt nicht

Eine große Marke setzt nicht nur im Markt Zeichen. nur im Markt Zeichen. Eine Marke Eine große große Marke setzt setzt nicht nicht

Wie wichtig uns der Mensch ist, erkennen Sie nicht

nur nur im im Markt Markt Zeichen. Zeichen.

Wie wichtig uns der Mensch ist, erkennen Sie nicht nur an unserem Firmenlogo. Der faire und verantnur an unserem Firmenlogo. Der faire und verantWie wichtig uns der Umgang Mensch ist, nicht wortungsvolle miterkennen unseren Sie Mitarbeitern, wortungsvolle Umgang unseren Mitarbeitern, Wie wichtigmit uns der Mensch ist, erkennen Sie nicht an unserem Der fairewar undimmer verantKunden undFirmenlogo. Geschäftspartnern schon Kunden und nur Geschäftspartnern war immer schon nur an unserem Firmenlogo. Der faire und verantwortungsvolle Umgang mit unseren Mitarbeitern, einunserer fester Bestandteil unserer Unternehmenskultur. ein fester Bestandteil Unternehmenskultur. wortungsvolle Umgang mit unseren Mitarbeitern, Diesen Anspruch füllen wirAnspruch gerne auchfüllen außerhalb Kunden und Geschäftspartnern immer Diesen wir war gerne auchschon außerhalb Kunden und Geschäftspartnern war immer schon unserer Werkstore mit Leben. In Stiftungen, zahlein fester Bestandteil unserer Unternehmenskultur. unserer Werkstore mit Leben. In Stiftungen, zahlein fester Bestandteil unserer reichen Projekten und Partnerschaften machenUnternehmenskultur. wir Diesen Anspruch füllenund wir Partnerschaften gerne auch außerhalb reichen Projekten machen wir Diesen Anspruch füllen mit Herz und Engagement deutlich, dasswir wirgerne auch auch außerhalb unserer mit Leben. Indeutlich, Stiftungen, mit Werkstore Herz und Engagement dasszahlwir auch in Zukunft vorunserer allem aufWerkstore eins setzen: mit den Leben. Menschen. In Stiftungen, zahl-

reichen Projekten Partnerschaften wir in Zukunft vorund allem auf eins setzen:machen den Menschen. reichen Projekten und Partnerschaften machen wir mit Herz und Engagement deutlich, dass wir auch mit Herz und Engagement deutlich, dass wir auch in Zukunft vor allem auf eins setzen: den Menschen. in Zukunft vor allem auf eins setzen: den Menschen.


Inhalt Content

46 Michal Friedlander Das Jüdische Objekt The Jewish Object

5 Editorial Editorial 9 Grußwort Message Monika Grütters Staatsministerin für Kultur und Medien Minister of State for Culture and the Media

52 13 Dinge – 13 Geschichten 13 Objects­­—13 Stories 12

11 Grußwort Message Michael Müller Regierender Bürgermeister von Berlin Governing Mayor of Berlin

66 Im Netz Online

12 Stephan Pramme Jedes Objekt ein Universum Each Object a Universe 22 Interview Interview Hetty Berg Glückliche Zufälle Lucky Coincidences

60 Interview Interview Gilad Ratman Drummerrsss Drummerrsss

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68 Barbara Thiele Unsichtbares sichtbar machen Making the Invisible Visible 74 Ausstellungsvorschau Upcoming Exhibition

30 Danke Thank you Unsere Unterstützer*innen Our Supporters

76 Gelia Eisert Willkommen an Bord! Welcome on Board!

32 Interview Interview Cilly Kugelmann Schwerpunkte New Accents

82 Ane Kleine-Engel, Gelia Eisert, Barbara Höffer Ein ganzes Haus für eine Geschichte A Whole Building for One Story

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44 Cilly Kugelmann Eine Ausstellung macht sich nicht allein An Exhibition Isn’t Created Out of Thin Air

90 Führungen & Angebote für Schulen Guided Tours & Offers for Schools 90 Impressum Imprint 82


Unsere Debatten: Prävention

Lernendes System

Fortschritt

Beteiligung

Digitalisierung

Gesundheitskompetenz

Wie sieht das Gesundheitssystem von morgen aus?

www.landdergesundheit.de #landdergesundheit Eine Debatten-Plattform von Pfizer

Gesundheit ist wichtig. Aber ist das Gesundheitssystem auch so gut, wie es sein könnte? Was müsste verbessert werden? Und: Wie sieht die Gesundheit von morgen aus?


Grußwort Message

bedeutende Museum jüdischer Geschichte in Europa den jüdischen Bürgern eine Einladung sein, ihre Lebenswelten wiederzuerkennen und allen anderen Besuchern Wissen über die Reichhaltigkeit des Judentums mit auf den Weg geben. Ich wünsche dem Jüdischen Museum Berlin, dass es auch weiterhin ein Ort des Dialogs und der Vielstimmigkeit für zahlreiche interessierte Besucherinnen und Besucher bleibt!

Monika Grütters Staatsministerin für Kultur und Medien Minister of State for Culture and the Media

EN  “If the world is to contain a public space, it cannot be erected for one generation and planned for the living only; it must transcend the lifespan of mortal men.” This quote by the Jewish philosopher Hannah Arendt is doubly true for the Jewish Museum Berlin (JMB). As a public space, the Museum invites visitors to look and to understand, to question and to discuss. It is also a multigenerational space, for people of all ages and backgrounds. It is based on remembering the past, it engages with the present, and it opens paths into the future. The redesign of the core exhibition and future opening of the children’s world ANOHA represent significant steps toward the JMB’s future. It remains up-to-date, vibrant, and attractive—for its regular audience, as well as for new visitors and specific target groups such as children. That is why I’m so pleased to be able to support the core exhibition and children’s world with additional special funds amounting to nearly 30 million euros from my culture budget. The work of the JMB makes visible the diversity and complexity of Judaism in Germany. It makes the richness of Jewish culture just as visible as the shameful tradition of antisemitism and the civilizational collapse of the Holocaust. In doing so, the JMB also strives to impact controversial debates; it endeavors to make understanding and communication possible. This is precisely why its independence must never be in doubt. The Board of Trustees, which I chair, and the Academic Advisory Council are both committed to this goal. These bodies will continue to do everything possible to ensure that the content of the museum is autonomous, and to protect it from political interference. The largest and most significant museum of Jewish history in Europe can and must reflect the life-worlds of Jewish citizens and provide all other visitors with knowledge about the richness of Judaism. I hope that the Jewish Museum Berlin remains a place of dialogue and diverse voices for its numerous interested visitors!

DE  „Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.“ Dieser Satz der jüdischen Philosophin Hannah Arendt trifft auf das Jüdische Museum Berlin (JMB) doppelt zu. Das Haus lädt als „Platz für die Öffentlichkeit“ zum Betrachten und Begreifen, zum Nachfragen und zum Diskutieren ein. Darüber hinaus ist es ein generationenübergreifender Ort für Menschen jeden Alters und jeder Herkunft. Er fußt auf der Erinnerung an die Vergangenheit, setzt sich mit der Gegenwart auseinander und eröffnet Wege in die Zukunft. Mit der Neugestaltung der Dauerausstellung und der baldigen Eröffnung der Kinderwelt ANOHA stellt das JMB wichtige Weichen für die künftige Arbeit. Es bleibt zeitgemäß, lebendig und attraktiv – sowohl für das Stammpublikum als auch für neue Gäste und spezifische Zielgruppen wie etwa Kinder. Ich freue mich deshalb sehr, dass ich Dauerausstellung und Kinderwelt mit zusätzlichen Sondermitteln in Höhe von fast 30 Millionen Euro aus meinem Kulturetat unterstützen konnte. Mit seiner Arbeit macht das JMB die Vielfalt und Vielschichtigkeit des Judentums in Deutschland anschaulich. Der Reichtum jüdischer Kultur wird ebenso sichtbar wie die traurige Tradition des Antisemitismus und der Zivilisationsbruch des Holocaust. Dabei verfolgt das JMB den Anspruch, auch kontro­ verse Debatten mit zu formen; sie sollen Verstehen und Verständigung ermöglichen. Gerade deshalb dürfen an seiner Unabhängigkeit keine Zweifel aufkommen. Diesem Ziel sind sowohl der Stiftungsrat unter meinem Vorsitz als auch der wissenschaftliche Beirat verpflichtet. Die Stiftungsgremien werden weiterhin alles tun, um die inhaltliche Autonomie des Hauses zu gewährleisten und es vor politischer Vereinnahmung zu schützen. So kann und soll das große und

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Grußwort Message

zugleich eine zentrale Aufgabe für Gegenwart und Zukunft deutlich werden zu lassen: Dass wir in Deutschland und insbesondere in Berlin jede Form von Antisemitismus entschlossen bekämpfen und ebenso entschieden für eine tolerante und weltoffene Gesellschaft eintreten müssen. Für den Aufbruch in diesem Jahr wünsche ich dem Jüdischen Museum Berlin mit seinem ganzen Team, seinen Freundinnen und Freunden, Förderinnen und Förderern und vor allem auch seiner neuen Direktorin Hetty Berg viel Erfolg.

Michael Müller Regierender Bürgermeister von Berlin Governing Mayor of Berlin

EN  The Jewish Museum Berlin was an attraction even before it opened as a museum. Daniel Libeskind’s new building impressed the public with its breathtaking design, while its exhibits on diverse aspects of Jewish life and culture were just as spectacular. With them, the Jewish Museum Berlin established itself as one of the city’s most popular museums. In addition to numerous exhibitions, its education programs deserve recognition and attention. They teach young people in particular about Jewish life, history, and culture and thus play an important role in the fight against antisemitism. Finally, with its library, collections, and academy programs, the museum has attracted important research projects and become the center of lively debate. Given this success, we are very happy to celebrate the opening of the new permanent exhibition, which will examine Jewish history in Germany from the Middle Ages to the present. The resurgence of antisemitism gives this exhibition special significance. One aspect of the museum’s work, keeping the history of German Jews alive and exploring the interplay between Jewish and non-Jewish culture, is more important than ever. And with the backdrop of the tensions in the Middle East, this is more difficult than ever as well. We will also soon have the pleasure of welcoming ANOHA, the children’s world of the JMB, as a new member of the museum family. ANOHA’s goal is to stimulate and encourage young people to reflect on respectful modes of coexistence and thus make an important contribution to diversity and the cosmopolitan nature of life in the city. I am certain that the Jewish Museum’s new projects will be just as successful at vividly and effectively illustrating Jewish life in Germany and Berlin, caught between cultural, economic, and scholarly achievement, on the one hand, and discrimination, persecution, and the Shoah, on the other. I am also certain the museum will make visitors aware of one important challenge facing us today and in the future: in Germany and especially in Berlin, we must be vigorous in fighting all forms of antisemitism and standing up for a tolerant and cosmopolitan society. I wish the Jewish Museum Berlin, its staff, friends, supporters, and, above all, its new director Hetty Berg every success with this year’s new undertakings.

DE  Das Jüdische Museum Berlin wurde bereits zur Attraktion, als es noch gar kein Museum war. Der Neubau von Daniel Libeskind beeindruckte allein durch seine atemberaubende Architektur. Nicht weniger spektakulär war, was das Haus zu den verschiedensten Aspekten jüdischen Lebens und jüdischer Kultur präsentierte. So sicherte sich das Jüdische Museum eine Spitzenstellung unter den beliebtesten Museen Berlins. Neben zahlreichen Ausstellungen verdienen die Bildungsprogramme eine besondere Würdigung, die vor allem junge Menschen über jüdisches Leben, jüdische Geschichte und Kultur aufklären und so eine wichtige Aufgabe im Kampf gegen Antisemitismus erfüllen. Darüber hinaus ist das Haus mit seiner Bibliothek, seinen Sammlungen und Akademieprogrammen Anziehungspunkt wichtiger Forschungsprojekte und lebhafter Debatten. Mit großer Freude erleben wir die Eröffnung der neuen Dauerausstellung. Zweifellos kommt dieser Ausstellung, die jüdische Geschichte in Deutschland vom Mittelalter bis in die Gegenwart beleuchtet, in Anbetracht des erstarkenden Antisemitismus eine besondere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ist die Aufgabe des Museums, an die Geschichte der deutschen Juden zu erinnern und die Wechselwirkungen zwischen jüdischer und nichtjüdischer Kultur darzustellen, wichtiger denn je – vor dem Hintergrund der Spannungen im Nahen Osten ist sie zugleich schwieriger denn je. Zudem werden wir mit der Kinderwelt ANOHA ein neues Mitglied der Museumsfamilie begrüßen können, das junge Menschen zum Nachdenken über ein respektvolles Miteinander anregen und ermutigen wird und so einen wichtigen Beitrag zur Vielfalt und Weltoffenheit Berlins leistet. Ich bin sicher, dass es dem Jüdischen Museum auch mit seinen neuen Projekten gelingen wird, jüdisches Leben in Deutschland und Berlin zwischen kulturellem, wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Glanz und Diskriminierung, Verfolgung und Schoa sehr anschaulich darzustellen. Und

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Jedes Objekt ein Universum Viele Gegenstände unserer Sammlungen tragen Spuren ihrer G ­ eschichte in sich, haben Versteck, Emigration und jahrzehntelange Aufbewahrung überdauert. ­ Unsere Restaurator*innen sorgen dafür, dass die wertvollen Gemälde, ­Dokumente, Kulturgüter und Textilien erhalten bleiben und im Museum gezeigt werden können. Werkstattporträts. Each Object a Universe Many of the objects in our collections bear traces of their own history. They have survived hiding places, emigration, and decades of storage. Our conservators ensure that the valuable paintings, documents, cultural artifacts, and textiles are preserved and can be shown in the museum. We profile them in their workshop. Fotos Photos

Stephan Pramme 12


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nicht mehr ablesbar ist. Im Kontext einer Restau­ rierung erforschen wir die Ursachen für das Schadensbild, erstellen ein Konzept und legen Test­ reihen an, um das Gemälde wieder in einen Zustand zu bringen, der es „lesbar“ macht – wie es der Künstler intendiert hat. Page 13: Barbara Decker, painting conservator Sometimes a painting may look unremarkable—but it may still be very exciting for us to work on it: changes in the material affect the appearance and stability of a work of art, and may cause its original intention to become illegible. In the context of a conservation treatment, we research the reasons for the damage, generate a plan, and draw up a series of tests in order to bring the painting back into a “legible” condition—as the artist intended it.

Seite 13: Barbara Decker, Gemälderestauratorin Manchmal sieht ein Gemälde unscheinbar aus – und trotz­ dem kann es für uns sehr spannend sein, daran zu arbeiten: Veränderungen im Material wirken sich auf das Erscheinungsbild und die Stabilität des Kunstwerks aus und verursachen, dass die originale Aussage

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Ava Hermann, Restauratorin für Textilien Wenn ich den Leuten zeige, was ich gemacht habe, sind sie oft irritiert: dass der Stoff nicht schön, nicht neu, sondern immer noch alt aussieht. Das sind wir alle nicht gewohnt, gerade im textilen Bereich, denn die Modebranche ist schnelllebig. Auf der Kippa einer Rabbinerin formen Strasssteinchen den Magen David – viele davon fehlen. Jetzt ist die Frage: soll ich sie ersetzen oder sichere ich den Ist-Zustand? Wenn ich ein historisches Textil in die Hände bekomme, dann tue ich alles dafür, dass es erhalten bleibt. Ein schöner Moment, wenn mir das gelingt. ­Ava­­ Hermann, textile ­conservator When I show people the results of my work, they’re often confused, because the fabric still looks old, not attractive or new again. This seems strange to everyone, particularly with textiles, because the fashion Jedes Objekt ein Universum


industry is so fast-moving. Take the following example: the sparkling stones on a female rabbi’s kippah form the Magen David, but many are missing. The question is: should I replace them or preserve the kippah in its current state? When I’m given a historical fabric, I do everything I can to preserve it. If I succeed, it’s a great feeling. Rüdiger Tertel, Metallrestaurator für kunstgewerbliche Objekte Die Objekte, an denen ich arbeite, sind keine antiken Funde, sondern Judaica, Silber- und andere Metallarbeiten aus der moderneren Geschichte. Ich tauche bei jedem Objekt in die Tiefen seiner Welt und entdecke immer andere Fragestellungen und Erzählungen. Man erkennt die Benutzung, findet alte Reparaturen oder Stempel. Auch müssen Spuren wie zum Beispiel Öl- und Kerzenreste an ­Judaica erhalten bleiben. Beim Res­ taurieren muss man sich selber Grenzen setzen und die Geschichte des Objektes in den Vordergrund stellen, um sie ablesbar zu erhalten. Ein Schritt weiter kann leicht ein Schritt zu viel sein. Rüdiger Tertel, metals conservator specialized in the applied arts The objects I work on aren’t ancient finds, but Judaica and objects made from silver and other metals from more modern periods. I immerse myself in the world of every object and always discover new stories and questions. You can see what it was used for and discover old repairs or stamps. Traces of the past must remain intact, such as oil residue or candle wax on Judaica. While treating an object, you need to set limits and focus on the history of the object in order to preserve this history in a comprehensible way. Sometimes one extra step is one step too many. Each Object a Universe

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I work primarily with plastics, natural fibers, wood, and metal in combination with other materials. The objects include typewriters, film projectors, furniture, and, in rare cases, musical instruments. For the core exhibition, I treated Rabbi Erwin Zimet’s lute. He played it at the Jewish convalescent home for poor women and their children in Lehnitz. When Zimet emigrated to England in November 1938, he took the lute with him. What fascinates me about this instrument is its beauty and the fact that it’s a very old type of instrument that symbolizes the early influences of the Middle East on Germanspeaking countries.

René Otto, Restaurator für Objekte aus Holz, moderne Materialien und technisches Kulturgut Ich arbeite hauptsächlich mit Kunststoffen, Naturfasern, Holz und Metall in Kombination mit anderen Werkstoffen. Schreibmaschinen und Filmvorführgeräte zählen dazu, auch Möbel und in seltenen Fällen Musikinstrumente. Für die Dauerausstellung habe ich die Laute des Rabbiners Erwin Zimet restauriert. Auf ihr spielte er im Jüdischen Erholungsheim Lehnitz für mittellose Frauen und ihre Kinder. Im November 1938 emigrierte er nach England und nahm die Laute mit. Was mich an diesem Instrument fasziniert, ist diese Schönheit, dieser sehr alte Typus von Instrument, das den frühen Einfluss des Nahen Ostens auf den deutschsprachigen Raum versinnbildlicht. René Otto, conservator of wooden objects, modern materials, and technical cultural objects

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Regina Wellen, Depotverwalterin Mein Lieblingsobjekt ist die Arbeit „archiv“ von Edmund de Waal. Ich habe dieses Kunstwerk sehr genau kennengelernt, da ich für seine Einzelteile – winzige Porzellanstücke, Schälchen und Alabasterplättchen – eine Aufbewahrung entwickelt habe, in der jedes fragile Kleinteil wirklich sicher und zuordenbar liegt. Das Betrachten, Gruppieren und Sortieren der feinen Scherben, manche mit vergoldeten Kanten, drückt genau aus, was ich als Erinnerungsarbeit empfinde. Das ist dann auch wieder ganz nahe an meinem Beruf, in dem ich eben auch Dinge einsortiere in dieser Erinnerungsinstitution, dem Museum.

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Regina Wellen, storage administrator My favorite object in the new exhibition is the work archiv by Edmund de Waal. I got to know it in great detail because I created a storage solution that holds each of the small, fragile pieces securely: the tiny porcelain shards, bowls, and alabaster plates. It also makes clear where each piece belongs in the work. Inspecting, sorting, and classifying the fine shards, some of which have gilt edges, is precisely what I regard as memory work. It is closely linked to my profession, in which I sort things in an institution of memory—this museum.

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Stephan Lohrengel, Papierrestaurator Das älteste Stück unserer Sammlung ist das „Sefer Sinai“, eine Handschrift auf Pergament aus dem Jahr 1391. Nur wenige so alte jüdische Objekte haben die Zerstörungen der Jahrhunderte überdauert. Das Pergament und die Schrift sind in einem sehr guten Zustand, man kann die hebräischen Zeilen auch nach über 600 Jahren noch lesen. Restaurieren heißt, nicht alles wieder neu und glänzend zu machen, sondern die vorhandene Substanz, in meinem Fall Papier, zu stabilisieren. Nicht immer sind restauratorische Eingriffe notwendig. Viel wichtiger sind gute Lagerung und das richtige Klima. Stephan Lohrengel, paper conservator The oldest object in our collection is the Sefer Sinai, a parchment manuscript from 1391. Only a few ancient Jewish objects have survived the ravages of the centuries. The parchment and the writ­ ing are in very good condition. Even after six hundred years, the Hebrew lines are still legible. Conservation doesn’t mean making everything new and shiny again, but stabilizing the available material, which in my case is paper. Treatments are not always necessary. What’s much more important is proper storage and the right climate conditions. Franziska Lipp, Restauratorin für Gemälde und polychrome Skulpturen Um ein Gemälde zu verstehen, untersuche ich es ausführlich, bevor ich konservatorische oder restauratorische Maßnahmen durchführe. Dabei finde ich manchmal Besonderheiten wie Finger­ abdrücke in der Farbe. Durch solche zufälligen Momente fühle ich mich näher am Schaffensprozess des Künstlers. Das Gemälde „Auf dem Weg ins Bethaus“

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von Jakob Steinhardt hatte eine stark beschädigte Leinwand mit zahlreichen Rissen. Diese habe ich unter dem Mikroskop geschlossen, i­ndem ich die Fäden mit ihrem jeweiligen Gegenstück verklebt habe. Franziska Lipp, conservator of paintings and polychrome sculptures In order to understand a painting, I examine it in great detail. Only afterward do I undertake conservation or preservation treatments. I sometimes discover special features such as fingerprints in the paint. These accidental finds give me the feeling of being closely connected to the artist’s creative process. The canvas of the painting On the Way to the Prayer House by Jakob Steinhardt was badly damaged and had numerous tears. I stabilized these under the microscope by gluing the torn threads together. Each Object a Universe

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Gesine Siedler, Buch- und Papierrestauratorin Ich restauriere Objekte haupt­ sächlich mit Japanpapier und Kleister: Bücher, Archivalien, Schachteln und Kunst auf Papier wie Grafiken und Malerei. Bei flachen Blättern geht es eher um den optischen Eindruck. Aber ein Buch, das muss man in die Hand nehmen, blättern können. Deshalb prüfe ich: Ist der Einband stabil, ist die Heftung in Ordnung, sind Seiten lose oder verknickt, gibt es Risse und Fehlstellen? Beim Ausstellungsbau werden diskrete, aber stabile Objekt­montagen benötigt. Auch dafür sind wir zuständig: dass die Exponate die Zeit der Ausstellung unbeschadet überstehen. Gesine Siedler, book and paper conservator I treat objects, mainly using Japanese paper and paste: books, documents from the archives, boxes, and art on paper such as graphic works and paintings. The visual effect is what’s important for flat sheets. But you have to be able to take a book in your hands and leaf through it. So I check to make sure: Is the binding stable? Are the pages loose or folded? Are there tears or losses? In exhibitions, objects are provided with mountings that are discreet but stable. We’re also responsible for that, making sure that the items on display emerge from the exhibition undamaged.

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Glückliche Zufälle Lucky Coincidences Ein Interview mit Hetty Berg An Interview with Hetty Berg

Hetty Berg, geboren 1961 in Den Haag, studierte Theater­ wissenschaften in Amsterdam und Management in Utrecht. Zunächst Kuratorin und Kulturhistorikerin am Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam, wurde sie 2002 zu seiner Museums-Managerin und Chef­ kuratorin. 2012 expandierte das Museum und wurde zum Jüdischen Kulturviertel in Amsterdam. Im November 2019 einstimmig vom Stiftungsrat des Jüdischen Museums Berlin als neue Direktorin berufen, übernahm ­Hetty Berg am 1. April 2020 die Leitung des Hauses. ­Hetty Berg, born in 1961 in The Hague, studied performance studies at the University of Amsterdam and management at the University of Utrecht. She worked first as a curator and cultural historian at the Jewish Historical Museum Amsterdam and from 2002 as the museum manager and chief curator. In 2012 the JHM expanded into the city’s Jewish Cultural Quarter. In November 2019, the Board of Trustees of the Jewish Museum Berlin unanimously voted to appoint her as the new Director. She assumed the directorship on 1 April 2020.


DE Frau Berg, zu Ihrem Amtsbeginn trafen Sie auf besondere Umstände: Die Stadt stand wegen der Corona-Pandemie still. Wie gestalteten sich Ihre ersten Tage am JMB? Ich hatte mir meinen Arbeitsbeginn natürlich anders vorgestellt! Das Museum war geschlossen, viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten von zu Hause aus. Aber ich habe gleich am ersten Tag mit über 100 Kollegen per Videokonferenz gesprochen und viele Fragen beantwortet. So konnte ich diese spezielle Zeit nutzen, um das Museum und die Mitarbeiter kennenzulernen. Aber das wichtigste war, dass wir zusammen Lösungen gefunden haben, wie wir während der Corona-Krise am besten miteinander arbeiten, obwohl der direkte, schnelle Austausch fehlte. Sie sind in den Nieder­ landen geboren und haben einen Großteil Ihres Lebens in Amsterdam verbracht. Was verbinden Sie mit Berlin? Wenn ich darüber nachdenke, hatten alle meine BerlinReisen mit jüdischer Kultur und Geschichte zu tun. Zum ersten Mal war ich im Sommer nach dem Fall der Mauer in Berlin; etwas längere Zeit verbrachte ich hier anlässlich der Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“ 1992. Zehn Jahre später, als wir die Neueröffnung des Jüdischen Historischen Museums (JHM) in Amsterdam vorbereiteten, unternahmen wir eine Studienreise zu allen jüdischen Orten und Gedenkstätten in Berlin. Ich erinnere mich an einen

EN großartigen Besuch im neu eröffneten, eindrucksvollen Jüdischen Museum Berlin (JMB), wo wir uns mit den damaligen Museums-Managern Ken Gorbey und Nigel Cox austauschten. Und natürlich kam ich nach Berlin, als am JMB die Ausstellung „Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics“ eröffnet wurde, denn ich hatte die ursprüngliche Ausstellung mitkuratiert. Trotz dieser Reisen habe ich Berlin erst vor relativ kurzer Zeit besser kennengelernt: 2016/17, als mein Partner, der Fotograf Frédéric Brenner, Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin war, lebte ich sieben Monate hier und hatte viele interessante Begegnungen. Ich war mit einem Forschungsprojekt befasst, für das ich die Dauer­ausstellungen am JHM in Amsterdam, am JMB sowie am Centrum Judaicum – Stiftung Neue Synagoge Berlin miteinander verglich und mir die Erneuerungsprozesse anschaute, die an diesen Museen im Gang waren. Warum sind Sie Kuratorin geworden? Als Studentin der Theaterwissenschaften musste ich Archivforschung betreiben. Das tat ich damals am JHM. Der Kurator Joel Cahen verhalf mir 1986 dort zu einem Praktikumsplatz. Als das JHM seinen Umzug in den Komplex der Aschkenasischen Synagoge vorbereitete, wo es seit 1987 untergebracht ist, forschte ich in zahlreichen Archiven überall in den Niederlanden nach Dokumenten und Fotos, die für die Dauerausstellung in Betracht kamen. Danach

Hetty Berg, starting as new Director of the JMB you were confronted with very special circumstances: the city—as almost all of Europe—was at a standstill because of the Corona pandemic. How were your first days at the JMB? Of course I had imagined my start at work quite ­differently! The museum was closed, many of its employees worked from home. But on the very first day I spoke with over 100 colleagues via video conference and answered many questions. So despite the special situation, I used this time to get to know the museum and the staff. But the most important thing was that together we found solutions on how best to

My first visit to Berlin was the summer after the Wall came down, but the first time I spent a little more time here was on the occasion of the exhibition Patterns of Jewish Life in 1992. Ten years later, preparing for the renewal of the Jewish Historical Museum (JHM) in Amsterdam, we took a study trip to all the Jewish sites and memorials in Berlin. I remember a wonderful visit to the newly opened and impressive JMB, where we talked with the museum’s managers Ken Gorby and Nigel Cox. Then, of course, I came to Berlin and to the JMB for the opening of Heroes, Freaks, and Super-Rabbis: The Jewish Dimension of Comic Art, because I was one of the curators of the initial exhibition.

Working for a Jewish museum in Germany is a very different matter from working for a Jewish museum in Amsterdam. work collaboratively during the Corona crisis, even though direct, personal exchange with each other was missing. You were born in the Netherlands and spent much of your life in ­Amsterdam. What are your impressions of Berlin? Thinking back, all my trips to Berlin were connected to Jewish culture and history.

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Despite these trips, I got to know the city properly only fairly recently. When my partner, photographer Frédéric Brenner, was a fellow at the Wissenschaftskolleg zu Berlin in 2016–2017, I spent seven months here and met many interesting people. I carried out a research project that compared the permanent exhibitions of Amsterdam’s Jewish Historical Museum, the Jewish Museum Berlin, and the New Synagogue Glückliche Zufälle


DE wurde ich Assistenzkuratorin. Und seitdem habe ich immer am JHM gearbeitet, bis vor Kurzem! Ich war in allen Bereichen der Museums­arbeit tätig, habe Dauer- und Wechselausstellungen mitgestaltet und leitete die Erneuerung des JHM in den frühen 2000erJahren. Ich blieb über 30 Jahre am Haus und wurde Chefkuratorin des ganzen Jüdischen Kulturviertels. Ich hatte nicht geplant, in der Museumswelt Karriere zu machen – es ergab sich so, einer dieser glücklichen Zufälle. Sie blicken also auf langjährige Erfahrung im Museumsbetrieb zurück – gibt es dennoch Neues, auf das Sie gespannt sind? Ja, für ein Jüdisches Museum in Deutschland zu arbeiten, ist etwas ganz anderes, als für ein Jüdisches Museum in Amsterdam – der historische und gesellschaftliche Kontext unterscheidet sich doch sehr. Das ist für mich emotional ein großer Schritt, und auch das bedeutet für mich der Wechsel nach Berlin. Durch meine wissenschaftliche Arbeit war ich allerdings dem JMB schon länger verbunden, und da ich seit so vielen Jahren im Museumsbereich tätig bin, kannte ich auch einige Kolleginnen und Kollegen hier bereits. Ich bin über diese Beziehungen und über die neuen, die ich nun aufbaue, sehr froh! Sie haben mir den Anfang in Berlin leicht gemacht. Ich freue mich vor allem, das, was ich bisher gemacht habe, aber auch viele neue Ideen hier einbringen zu können – Lucky Coincidences

EN Berlin—Centrum Judaicum, and looked into the rede­ velop­ment processes these museums had embarked upon.

in einem viel größeren ­Museum, das auch international von großer symbolischer Bedeutung ist. Sie waren viele Jahre Chefkuratorin des ­Jüdischen Kulturviertels in Amsterdam. Auch das JMB erstreckt sich über mehrere Gebäude und Orte. Sehen Sie Gemeinsamkeiten?

Could you tell us why you became a curator?

Die Schönheit des Jüdischen Kulturviertels in Amsterdam liegt darin, dass es in fünf verschiedenen Gebäuden eine Vielzahl von Aspekten der niederländisch-jüdischen Geschichte und Kultur zusammenführt. Neben dem JHM gibt es zwei dem Gedenken an den Holocaust gewidmete Stätten, die Hollandsche Schouwburg und das Nationale Holocaust-Museum; dann die Portugiesische Synagoge, die zugleich aktive Synagoge und Bibliothek ist, und schließlich das JHM Kindermuseum. Diese Vielfalt an Orten und Inhalten zieht Besucherinnen und Besucher mit ganz unter­ schiedlichen Interessen an. Und das Gleiche gilt für das JMB: Es ist ein kultureller Knotenpunkt mit ganz verschiedenen Häusern und Räumen, darunter die Museumsgebäude selbst mit den diversen Ausstellungen, die Akademie, die Kinderwelt ANOHA, die Bibliothek und die Gärten. Die Veranstaltungen an diesen unterschiedlichen Orten richten sich jeweils an ein anderes Publikum und dennoch müssen sie auch insgesamt stimmig sein! Die Organisation ist also recht komplex, doch darin liegt eine wundervolle Chance, einander ergänzende Bereiche zu etablieren.

I studied Performance Studies, for which I had to do archival research. Through the archivist Joel Cahen, who was then curator at the JHM, I became an intern there in 1986. At the time, the JHM was preparing to move to the Ashkenazi synagogue complex, where it has been located since 1987. I did research in many different archives all over the Netherlands, looking for information, documents, and photos to be used in the permanent exhibition. After that, I became assistant curator. And I never left, or not till very recently! I worked in all aspects of museum affairs, including permanent and temporary exhibitions, and led the renewal of the JHM in the early 2000s. I ended up staying for more than thirty years and becoming chief curator. I didn’t plan for a career in the museum world, it happened by chance, just one of those lucky coincidences! You can certainly look back on many years of experience in museum work. Is there still something new that you’re looking forward to? Yes, working for a Jewish museum in Germany is a very different matter from working for a Jewish museum in Amsterdam— the historical and social context differs considerably.

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Emotionally, it’s a big step, and that, too, is part of the meaning of moving to Berlin for me! But through my research I had already engaged with the JMB’s work, and as I’ve been working in the Jewish museum world for many years, I know a number of colleagues here. I am very grateful for these relationships and for the new ones I am building. It made my start at the JMB much smoother. In particular, I’m greatly looking forward to contributing everything I’ve done in the past—along with many new ideas—to a much larger museum that also has great significance symbolically and internationally. You were chief curator of the Jewish Cultural Quarter in Amsterdam for many years. The ­Jewish Museum Berlin also extends across several buildings and sites. Do you see resemblances? The beauty of the Jewish Cultural Quarter in Amsterdam is that it combines so many aspects of Dutch Jewish history and culture within five different buildings: the Jewish Historical Museum; two Holocaust-­ related sites, the Hollandsche Schouwburg memorial and the National Holocaust Museum; the Portuguese Synagogue, an active synagogue and library; and the Children’s Museum. This variety of venues and content attracts visitors with very diverse interests. The same is true for the JMB: it’s a multi-venue cultural hub including the museum with different exhibitions, the academy, ANOHA, the


Ich war begeistert von der Vielfalt, in der sich jüdische Religion und Kultur hier zeigen. DE Die Herausforderung für das JMB besteht darin, dass seine verschiedenen Teile zusammenarbeiten müssen und nicht in Konkurrenz miteinander treten dürfen. Der gemeinsame Fokus muss immer auf dem Auftrag der Stiftung liegen: jüdisches Leben in Berlin und Deutschland zu erforschen und darzustellen sowie einen Ort der Begegnung zu schaffen. Es ist wichtig, bei der Verteilung von Aufmerksamkeit und Ressourcen eine gute Balance zu finden. Die Amsterdamer ­jüdischen Gemeinden sind sehr divers – was für Besonderheiten gibt es dort? Bestehen Ähnlichkeiten zu Berlin? Die jüdischen Gemeinden Amsterdams sind weitgehend eine Fortsetzung der jüdischen Gemeinden, die es dort vor dem Krieg gab: die aschkenasische und die portugiesisch-jüdische Gemeinde sowie die libe-

EN rale Gemeinde, die in den 1930er-Jahren von Berliner Juden gegründet wurde. Jüngere Entwicklungen, wie Beit Hachidusch, das Haus der Erneuerung, gehen auf die Initiative von Menschen zurück, die noch ein anderes Angebot suchen. Zudem gibt es in Amsterdam auch viele Israelis. Eine alternative Szene hat sich entwickelt, in der zum Beispiel junge Leute einmal im Monat ihren eigenen Minjan organisieren – oder das Oy Vey, ein inklusiver Treffpunkt, um heutige jüdische Kultur zu erleben. All das spielt sich aber in sehr kleinem Maß­ stab ab. Während meines BerlinAufenthalts 2016/17 nahm ich an Gottesdiensten in Synagogen verschiedener Ausrichtung teil. Ich war begeistert von der Vielfalt, in der sich jüdische Religion und Kultur hier zeigen – zum Teil in ganz unerwarteter Kulisse! Das Jüdische in Berlin ist im Wandel, sehr dynamisch, und eine neue

children’s world at the JMB, the library, and the gardens. Each venue’s activities target a different audience, yet at the same time they have to be coherent! That means the organization is complex, but it is a wonderful opportunity for the different aspects to complement each other. The challenge for the JMB is that the different venues must work together to fulfill the mission of the foundation: to research and present Jewish life in Berlin and Germany and to provide an open space for encounters. It is important to distribute attention and resources in a balanced way. The Jewish communities of Amsterdam are very diverse. What are the special features of that city, and are there similarities with Berlin? The Jewish communities of Amsterdam are largely a continuation of the prewar

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Jewish communities: the Ashkenazi and Portuguese Jewish communities and the Liberal community. More recent developments such as Beit Ha’Chidush (House of Renewal) are initiatives by people who are looking for a different offer. Also, today there are many Israelis in Amsterdam. There is an alternative scene, such as young people organizing their own minyan once a month or Oy Vey, an inclusive meeting place to experience contemporary Jewish culture. But this is all happening on a very small scale. During my stay in Berlin in 2016–2017, I attended services in many synagogues of various traditions. I was really excited by the range of different ways in which Judaism and Jewish culture are expressed in Berlin, including in unexpected settings. What is Jewish in Berlin is changing; it is very dynamic, and there is a new generation from Glückliche Zufälle


DE Generation tritt hervor, mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und einer Menge Ideen. Es wird viel darüber nachgedacht, was es heißt, hier jüdisch zu sein – sei es privat unter Freun­den oder öffentlich. Das ist einzigartig und hat natürlich viel mit Deutschlands Geschichte und Kultur zu tun. Das JMB kann einen positiven Beitrag zu dieser faszinierenden und vielschichtigen Entwicklung des jüdischen Lebens in Berlin leisten, die Berlin immer stärker zu einem Zentrum für Jüdinnen und Juden in Europa macht. Das JMB befindet sich mitten in einem Kiez, der stark im Wandel ist und enge Nachbarschaft von verschiedenen Kulturen und Religionen erfordert. Welche Chancen können sich dadurch ergeben? Das JMB hat eine beeindruckende Anzahl internationaler Besucher, und das ist natürlich großartig. Aber

EN ein Ziel muss es sein, auch das deutsche Publikum, die Berlinerinnen und Berliner zu erreichen – und das heißt auch die Leute aus diesem Kiez. Ich denke, dass die Kinderwelt ANOHA eine wichtige Rolle spielen wird, wenn es darum geht, diese Gruppen, also Berliner Familien aus der unmittelbaren Nachbarschaft aber auch aus anderen Stadtteilen, zu erreichen. ANOHA wird viele Schülerinnen und Schüler verschiedener Herkunft empfangen, Kinder, die vielleicht noch nie ein Jüdisches Museum besucht haben – oder vielleicht überhaupt noch nie ein Museum. Im besten Fall kommen sie mit ihren Familien zurück, so dass auch die Erwachsenen das Museum kennenlernen oder eine Ausstellung besuchen wollen. Inmitten der wachsenden Spannungen zwischen den vielfältigen Kulturen, die in einem Bezirk wie Kreuzberg zusammen leben, kann das Museum ein Ort der Begegnung, des

very diverse backgrounds with plenty of ideas. People think a lot about what it means to be Jewish here— whether privately among friends or publicly. That is unique and, of course, has a lot to do with Germany’s history and culture. The JMB can offer a positive contribution to this fascinating and multifaceted development of Berlin Jewry as a center for Jews in Europe. The JMB is located in the middle of a neighbor­ hood that is changing rapidly and calls for close relations between different cultures and religions. What opportunities does that create? The JMB has impressive numbers of international visitors, and of course that’s wonderful—but one of our goals has to be to reach a German audience as well: Berliners, and especially the people who live near

the museum. I think the new children’s world ANOHA will have an important role to play in reaching out to those groups, Berlin families from the streets right near the museum, but also from other parts of the city. ANOHA will welcome many school students with all sorts of different backgrounds, children who may never have been to a Jewish museum before—or perhaps never visited a museum at all. Ideally, they will come back with their families, so that the adults also get to know the museum or want to visit a particular exhibition. Surrounded by growing tensions between the diverse cultures coexisting in a district like Kreuzberg, the museum can be a place for people to encounter each other, exchange views, listen, and come to understand each other better. In recent years, discursive and participatory ideas

This variety of venues and content attracts visitors with very diverse interests. Lucky Coincidences

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DE Austauschs, des Zuhörens und gegenseitigen Verstehens sein. In den letzten Jahren werden häufiger diskursive und partizipatorische Ideen für Museen diskutiert und auch umgesetzt. Was halten Sie von solchen Ansätzen, und wo sehen Sie weitere Möglichkeiten? Museen haben eine dop­ pelte Aufgabe: einerseits, ihre Sammlungen zu pflegen, und anderseits, diese Sammlungen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Da Gesell­schaft und Publikum sich ständig wandeln, müssen Museen ihre Strategien, wie sie mit den Besucherinnen und Besuchern in Kontakt treten, immer wieder anpassen. Ein Museum kann heute nicht in derselben Weise an sein Publikum herantreten wie in den 1980er-Jahren, nicht einmal wie in den 2000erJahren! Deshalb finde ich es wichtig, dass wir all diese Arten, mit dem Publikum zu interagieren, erkunden – aber ohne die Prämisse, alles müsse immer partizipatorisch sein. Einer der bedeutsamsten Ansätze der letzten Jahre scheint mir, dass Museen verschiedene Blickwinkel kombinieren, dass Ausstellungen also multiperspektivisch sein können: Den Besucher­innen und Besuchern wird nicht ein einziges, vermeintlich maßgebliches Narrativ vorgesetzt, sondern sie begegnen ver­schiedenen Stimmen, Stand­punkten und ­Meinungen. Viele Museen bemühen sich, ihre Sammlungen online zugänglich zu

EN for museums have frequently been discussed and put into practice. What’s your opinion of such approaches, and where do you see additional opportunities?

machen, bieten Apps für den Museumsrundgang an, Online-Ausstellungen oder die Möglichkeit der öffentlichen Partizipation im Netz. Welche Vorteile hat die Digitalisierung für Museen? Die Digitalisierung bildet eine treibende Kraft im Wandel des Umgangs mit Kulturerbe. Das Digitale ist ein wesentliches Instrument, um neue Besucherinnen und Besucher zu erreichen, und das JMB ist eine Institution mit viel digitaler Erfahrung. Ein großartiges Beispiel dafür bietet die Internet-Plattform Jewish Places: Dort zeigt sich, wie die digitale Welt den Austausch mit dem Publikum verändert: Nutzerinnen und Nutzer nehmen eine aktive Rolle ein, sie können beitragen, was sie wissen, und Bilder und Filme hochladen. Über diese Website können Leute von überall aus an jüdischer Kultur teilhaben. In Amsterdam gibt es das Projekt Joods Monument – eine Plattform, die all denen gewidmet ist, die im Holocaust aus den Niederlanden deportiert und ermordet wurden. Auf der Website sind ihre letzten Adressen und weitere Informationen zu ihnen versammelt. Da die Seite mit der Sammlung des JHM verknüpft ist, finden sich dort auch Objekte aus dem Museum, die mit der Geschichte dieser Menschen in Bezug stehen. Vor einigen Jahren gründeten wir dazu eine Community, sodass jede und jeder dort Informationen hochladen kann – und die Website ist dadurch unglaublich gewachsen! Durch solche Angebote haben Museen möglicherweise mehr digitale als physische Besucherinnen und

Museums face a double task. On the one hand, they are the caretakers of the collections; on the other, they need to represent the collections to the public. Because societies and audiences change all the time, you have to adapt your strategies on connecting with the visitors. You can’t approach visitors in the same way as in the 1980s or even the 2000s. I think it’s important to explore all these ways of engaging with audiences, without saying that you always have to be participatory. One of the important new approaches of recent years is that exhibitions in a museum can be multi-focused, show multiple perspectives: the audience is not exposed to a single, authoritative narrative, but can

the potential advantages of digitalization for museums? Digitalization is a driving force in the transformation of the heritage field, and digital formats are a crucial way of reaching new visitors. The JMB is an institution with extensive experience in that respect. A wonderful example is the JMB’s platform Jewish Places, which shows how the digital world changes relationships with the audience. Visitors to the platform have an active role: they can contribute what they know and even upload images or film. People in any city can really engage with Jewish culture through the website. In Amsterdam, we have the platform Joods Monument, Jewish Monument. It is Holocaust-related and dedicated to all the Jews who were deported from the Netherlands and killed. On the platform you can find their last addresses and information about them. It is linked to the collection of the JHM, so you can also

Digitalization is a driving force in the transformation of the heritage field. experience different voices, viewpoints, and opinions. Many museums are trying to make their collections accessible online, offering apps to guide visitors around the museum and creating online exhibitions or the option of public participation through the Internet. What are

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find objects connected to the person’s history on the website. Several years ago we started a community for the platform, so everyone can upload information now—and it’s really grown. It’s incredible! Offers like these mean we can actually have many more digital than physical visitors. Digital visitors are Glückliche Zufälle


DE ­ esucher, sie bilden eine B eigene Zielgruppe. Aber es geht eben nicht nur ums ­digitale Präsentieren; was mir gefällt, ist der partizipatorische Aspekt: Zum Beispiel können Menschen Objekte, die sie online sehen, kommentieren. Diese Kommentare können für ein Museum wichtige Informationen zu den eigenen Sammlungen enthalten.

EN Andererseits steht es vor der Herausforderung, die dynamischen und kom­ plexen Entwicklungen in der gegenwärtigen deutschen und deutsch-jüdischen Gesellschaft aufzugreifen. Um dieser doppelten Aufgabe gerecht zu werden, muss es ein unabhängiges Forum und ein freier, aber auch geschützter Raum zum Austausch über alle relevanten

Das JMB sollte ein Ort sein, an dem Diskussionen mit Tiefgang und Inhalt stattfinden. Und die Sammlung – ob ­digitalisiert oder nicht – bleibt das Herzstück eines jeden Museums. Welche Rolle soll und kann das JMB in Ihren Augen in Berlin, aber auch in der deutschen, sich immer stärker polarisierenden Gesellschaft spielen? Das JMB muss weiterhin ein gesellschaftlich relevanter Ort bleiben, an dem ein offenes Miteinander und offene Debatten möglich sind. Ich sehe es in einem produktiven Spannungsfeld: Einerseits hat das JMB die Aufgabe, eine verlässliche Orientierung über jüdische Geschichte und Kultur in Deutschland zu bieten.

a target group in their own right, the largest audience most institutions will ever have. But it’s not only about showing: what I like a lot is the participatory aspect, as people can comment on objects they see online, and these comments may give the museum important information and insights into its own collections. After all, the collection—digitized or not—remains the core of any museum. In your view, what role can and should the JMB play in Berlin’s —and more broadly, ­Germany’s—increasingly polarized society?

gesellschaftlichen Themen sein. Dazu gehören unter anderem Exil und Migration, Ausgrenzung und Integration, Identität und Diversität. Das JMB sollte ein Ort sein, an dem Diskussionen mit Tiefgang und Inhalt stattfinden. Es sollte den Puls der Gesellschaft erspüren und ihn als Perspektive nutzen, um Kontext und historische Hintergründe zu vermitteln und unsere Besucherinnen und Besucher damit zu selbstständiger Reflexion anzuregen. Damit das funktioniert, ist es wichtig, allen Versuchen von politischer Einflussnahme und Vereinnahmung klar entgegenzutreten; nur so kann das Museum ein in alle Richtungen offenes Forum bleiben.

The JMB must continue to be a socially relevant lo­ cation where open encounters and open debates can take place. It is situated in a productive field of tension: on the one hand, its task is to provide a reliable guide to Jewish history and culture

in Germany; on the other, it faces the challenge of addressing the dynamic and complex developments in present-day German and German-Jewish society. To do justice to that dual mission, the JMB needs to be an independent forum and a free, protected space where all the relevant social issues can be discussed. Among other things, that includes exile and migration, exclusion and integration, identity and diversity. The JMB should be a place where conversations with real depth and substance can happen. It should take the pulse of society, and use that as a perspective to communicate contexts and historical background and encourage reflection. For that to work, it’s important to take a clear stand against all political attempts to exert influence or co-opt the museum; this is the only way the museum can remain a forum that is open to everyone.

Vielen Dank für das Gespräch! Thank you very much for the interview! Das Interview führten/ The interview was conducted by Marie Naumann & Katharina Wulffius

jewish-places.de joodsmonument.nl Lucky Coincidences

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DANKE THANK Y

‫תודה‬ Unser Dank gilt den zahlreichen Unterstützer*innen und langjährigen Weggefährt*innen des Jüdischen Museums Berlin.

We are grateful to the numerous benefactors and longstanding supporters of the Jewish Museum Berlin.

Ihr Engagement hat vielfältige Museumsprojekte ermöglicht und den Weg bereitet für die zukünftige Arbeit des Museums.

Your engagement has made many museum projects possible, laying the groundwork for the museum’s future endeavors.

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Danksagung


Gefรถrdert durch Funded by

YOU

Danksagung

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SCHWERPUNKTE NEW ACCENTS Ein Interview mit Cilly Kugelmann An Interview with Cilly Kugelmann Die neue Dauerausstellung des JMB trägt den Titel „Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland“. Auf 3.000 Quadratmetern wechseln sich im Aus­stellungs­rundgang histo­ rische Erzählung und Einblicke in jüdische Kultur und Religion ab. Wir sprachen mit der Chefkuratorin Cilly Kugelmann über neue Konzepte, moderne Gestaltung und die Herausforderung, Schwerpunkte zu setzen. The JMB’s new core exhi­bition is entitled Jewish Life in Germany: Past and Present. On 3,000 square meters, the exhibition tour alternates historical nar­rative with insights into Jewish culture and religion. We talked to Cilly Kugelmann, the exhibition’s chief curator, about new concepts, modern design and the challenge of setting new accents.


DE Frau Kugelmann, Sie sind Chefkuratorin der neu eröffneten Dauer­ ausstellung des Jüdischen Museums Berlin. Die vorige Ausstellung, die bis 2017 im JMB zu sehen war, war außerordentlich erfolgreich. Was hat sich in dieser Zeit verändert, was wird die neue Schau von der alten unterscheiden? Die jüdische Geschichte hat sich natürlich nicht ­geändert, aber wir setzen in unserer neuen Ausstellung einen anderen Schwerpunkt als zuvor. Außerdem arbeiten wir mit modernem Ausstellungs­design und einer Ausstellungs­architektur, die den Libeskind-Bau stärker einbezieht. Und wir verfolgen in der Ausstellung ein neues Konzept, in dem wir die Darstellung der historischen Epochen von der Präsentation spezifischer Themen innerhalb der ­jüdischen Kultur trennen. In den so­genannten Themenräumen können sich Besucher eingehend mit religiösen Aspekten des Judentums, mit Kunst, Musik oder unseren Familiensamm­­lungen beschäftigen. Die Ausstellung erzählt die Geschichte der Juden und Jüdinnen im deutschsprachigen Raum vom Mittelalter bis in unsere Gegenwart. Kann man angesichts einer so großen Zeitspanne überhaupt einen Schwerpunkt der Ausstellung benennen? Ja! Worauf wir jetzt viel Gewicht legen, ist das Zusammenspiel von Juden mit ihrer christlichen bzw. nichtjüdischen Umwelt. Die verschiedenen Ausprägun-

EN gen des Judentums haben sich zu jeder Zeit aus dieser Interaktion heraus gebildet; erkennen lässt sich das unter anderem daran, was von den christlichen Nachbarn übernommen wurde und welche theologischen Aspekte sich durch be­ wusste Abgrenzung herausgebildet haben. Wenn man einen Schwerpunkt unserer vielschichtigen Ausstellung festlegen möchte, dann diese permanente Wechselbeziehung. Natürlich ist unsere Perspektive dabei immer eine jüdische. Dabei sind aus kuratorischer Sicht – wie in jeder Ausstellung – drei Gesichts­ punkte besonders zu berücksichtigen: Das Thema muss relevant sein, es muss dreidimensional, also durch Objekte, darstellbar sein, und es sollte die eigenen Sammlungen einbeziehen. Vor allem für die Alte Geschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es aber nur wenige Objekte. Um das zu kompensieren, setzen wir stark auf audiovisuell aufbereitetes Material wie Präsentationen über Videoscreens, Modelle mit Projektionen oder Grafikexponate. Könnten Sie skizzieren, was die Besucher*innen in den Räumen, die sich mit der jüdischen Geschichte befassen, erwartet? Der historische Teil der Ausstellung beginnt im frühen Mittelalter. Es ist nicht ganz klar, wann sich erste ­jüdische Gemeinden im nördlichen Mitteleuropa ansiedelten, einem Gebiet, das unter dem Namen Aschkenas in die Geschichte eingegangen ist. In der

Cilly Kugelmann, you are chief curator of the Jewish Museum Berlin’s new core exhibition. The exhibition presented at the JMB up to 2017 was extraordinarily successful. What has changed, and what will make the new show different from the previous one? Jewish history hasn’t changed, of course—but our new exhibition accents things differently than before. We are also working with modern exhibition design and an exhibition architecture that integrates the Libeskind building closely. Additionally, the exhibition is based on a different model, in that we separate out the portrayal of historical epochs from the presentation of particular themes in Jewish culture. In the theme-

non-­Jewish, environment. In every era, the various forms of J­ udaism have taken shape out of that interaction. There are indications of this in what was adopted from Christian neighbors and what theological elements evolved out of a conscious process of demarcation. If I had to pick one focal point out of our multilayered exhibition, it would be that continual interrelationship. Of course, the perspective we take is always a Jewish one. Within this framework, three points have to be carefully borne in mind—just as in any exhibition: the topic has to be relevant; it has to be capable of three-dimensional representation, that is, representation through objects; and it should integrate the museum’s own collections. But for the period from antiquity, especially, and up to

The exhibition’s archi­ tecture integrates the Libeskind building closely. based spaces, visitors can explore religious aspects of Judaism in depth and think about art, music, or discover our family collections. The exhibition tells the story of Jews in the­ German-speaking area from the Middle Ages up to the present day. Given such a long span of time, is it even possible to name a single core emphasis of the exhibition? Yes! What we now stress is the interaction of Jews with their Christian, or

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the mid-nineteenth century, there are actually very few objects. To compensate for that, we make a lot of use of audiovisual material such as video presentations, models involving projection, and graphics. Could you give us an idea of what visitors can expect to see in the rooms on Jewish history? The historical part of the exhibition begins in the early Middle Ages. It is not entirely clear when the first Schwerpunkte


DE Ausstellung behandeln wir diese Frage in einem fiktiven jüdisch-christlichen Streitgespräch: Wer war zuerst da? Sicher ist aber, dass in einigen mittelalterlichen Städten Juden und Christen in enger Nachbarschaft zusammenlebten. Eine interessante Quelle hierfür ist das „Sefer Chassidim“, das „Buch der Frommen“. Das ist eine Art Handreichung einer Gruppe frommer Juden mit Anweisungen zum alltäglichen Leben im mittelalterlichen Deutschland. Das Buch gibt ganz praxisnahe Vorgaben, wie sich Juden gegenüber Christen zu verhalten haben, zum Beispiel wann man einen Christen um Hilfe bitten darf, oder wie man sich verhält, wenn man einer Kirche gegenüber tritt, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie sei für Juden ein heiliger Ort. Gleichzeitig zeigt sich im Mittelalter auch feindselige Gewalt gegenüber dem Judentum. Zum Beispiel über den Vorwurf der sogenannten Hostienschändungen: Juden verletzten und töteten angeblich den Leib Jesu durch das Messerstechen einer Hostie. Das sind sehr krasse Bilder, die das christlich-jüdische Verhältnis ebenfalls beschreiben. Wir zeigen also beides: ein nachbarschaftliches Nebeneinander ebenso wie den Umgang mit Verfolgung und Mord. Sie haben diese frühen Verfolgungen einmal als Urkeim des Antisemitismus bezeichnet. Ja – genauer beginnt da der Antijudaismus. Das Christentum sieht sich selbst in der Nachfolge des Judentums, was den Bund New Accents

EN mit Gott betrifft. Das wird schon durch die christlichen Bezeichnungen „Altes“ und „Neues“ Testament deutlich. Die christliche Kirche ist in einen neuen Machtanspruch getreten – und diese Macht muss den Juden gegenüber immer wieder bestätigt werden. In der Ausstellung

Jewish communities settled in northern central Europe, a region that has come to be known as “Ashkenaz”. In the exhibition, we address that question in a fictional dispute between a Jew and a ­Christian: Who was here first? What we do know is that in some medieval

place for Jews. At the same time, we also find hostility and violence against Jews in the Middle Ages. This was expressed in, for example, allegations of “host desecration”, whereby Jews were accused of injuring or killing the body of Jesus by stabbing

zeigen wir die beiden allegorischen Figuren Synagoga und Ecclesia; die Ecclesia steht für die triumphale Kirche, die Synagoga ist der Antitypus, das entmachtete und gedemütigte Judentum. Am Beispiel von mittelalterlichen Illustrationen zeigen wir aber auch, wie Juden mit dem negativen, christlichen Bild vom Judentum umgegangen sind und es positiv umgedeutet haben.

towns, Jews and Christians lived together in close proximity. An interesting source for that is the ­­Sefer Hasidim, the B ­ ook of the Pious. This is a kind of handbook written by a group of pious Jews with instructions on everyday life in medieval Germany. The book gives very practical guidelines as to how Jews should behave towards Christians—for example, when a Christian may be asked for help, ­or how to conduct oneself near a church to avoid anybody thinking it is a holy

the altar bread. These are very stark images, but they characterized the ChristianJewish relationship as well. So we show both aspects: neighborly coexistence, and the confrontation with persecution and murder.

Das Mittelalter endete mit Vertreibungen, Verfolgungen und Mord. Die

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You once described these early persecutions as the “germ” of antisemitism. That’s right—or more pre­cisely, they are the beginning of anti-Judaism. Christianity saw itself as


DE aschkenasischen Juden flohen größtenteils nach Norditalien und Ost­ europa. Warum haben sich Juden in der Frühen Neuzeit wieder in Aschkenas angesiedelt? Zwischen dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit fanden Gewalttaten statt, die für diese Zeit in ihrer vernichtenden Wirkung dem Holocaust nahekommen. Später kam es zu einer allmählichen Wiederansiedlung von Juden, hauptsächlich in ländlichen Teilen von Aschkenas, und vor allem aus finanziellen Gründen: Juden waren für die Landesherren über die Einnahmen besonderer Steuern und Abgaben ein „lukratives Geschäft“. Hier befinden wir uns in der Periode des Absolutismus: Viele Kleinstaaten mit absolutistischen

EN ihren Einfluss zum Wohle ihrer Gemeinden. Wir zeigen dieses Prinzip anhand einiger Beispiele – auch dem einer Frau, der berühmten Madame Karoline Kaulla, einer begnadeten Unternehmerin, die als Fürsprecherin ihrer Gemeinde in Hechingen bekannt geworden ist. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes ­Gutenberg hatte ab der Mitte des 15. Jahrhunderts die Welt verändert und schuf einen neuen Beruf. Die Verbreitung hebräischer und jiddischer Schriften stieg an. Am Beispiel eines Wanderdruckers zeigen wir die neuen Textformate und auch, wo sich die neu erschlossenen Leserkreise befanden. Vor allem aber bestand die ökonomische Grundlage der meisten Juden auf dem Land im regionalen Handel.

Juden waren für die Landesherren über die Einnahmen besonderer Steuern und Abgaben ein „lukratives Geschäft“. Herrschern, die willkürlich eigene Gesetze erließen. Diese absolutistischen Herrscher führten Kriege und statteten ihre Höfe luxuriös aus. Eine kleine Gruppe talentierter, jüdischer Kaufleute wurde zu sogenannten Hoffaktoren, die sich im Auftrag der Höfe um Luxusgüter und Kriegsfinanzierung kümmerten. Diese Hoffaktoren gehörten jüdischen Gemeinden an und nutzen in der Regel

Die Frühe Neuzeit endet in Europa mit der Französischen Revolution – und auch in der Ausstellung wird sie mit dem Schlagwort „Egalité“ aufgegriffen. Der Begriff bildet den Auftakt für das nächste historische Bild, die Zeit der Aufklärung. Sie beginnt mit der Emanzipation, also mit der Loslösung vom sakralen Kern des Judentums und der Bewegung in die säku-

having succeeded Judaism in the covenant with God. That becomes evident in the Christian terms ­­­­­­­­­­­“Old ­Testament” and “New ­Testament”. The Christian Church staked a new claim to power—and that power had to be reaffirmed

Between the Middle Ages and the early modern period, acts of violence took place that, in the context of their era, come close to the Holocaust in their destructive impact. Later on, Jews gradually began to resettle the region, mainly in rural

towards the Jews again and again. In the exhibition, we show the two allegorical figures Synagoga and ­Ecclesia: Ecclesia stands for the triumphant Church, while Synagoga is her anti­ thesis, disempowered and humiliated Judaism. But we also show, through the example of medieval book illustrations, how Jews dealt with the negative Christian image of Judaism and reinterpreted it in a positive way.

parts of Ashkenaz and mainly for financial reasons: for the rulers of these territories, Jews were a lucrative business opportunity because they had to pay special taxes and levies. We have now reached the period of absolutism, when the German lands were made up of many small states under absolutist rulers who could issue whatever laws they liked. The territorial lords waged expensive wars and maintained elegant courts. A small group of talented Jewish merchants became “court factors”, whose job was to arrange the supply of luxury goods and military funding for the court. These court factors belonged to Jewish communities, and

The Middle Ages ended with expulsions, persecutions, and murder. Most of the Ashkenazi Jews fled to northern Italy and eastern Europe. Why did Jews come back to settle in Ashkenaz in the early modern period?

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Schwerpunkte


DE lare Gesellschaft hinein. In Frankreich wurden Juden nach der Revolution rechtlich den übrigen Bürgern gleichgestellt. In Deutschland dauerte dieser Prozess mehr als 100 Jahre. In den über 300 verschiedenen deutschen Ländern wurde eine Emanzipations-Gesetzgebung mal verabschiedet und wieder zurückgenommen, mal überhaupt nicht eingeführt. Erst die Reichsgründung 1871 machte aus den deutschen Juden gleichberechtigte Bürger. Während dieses langen Zeitraums wurde die rechtliche Gleichstellung immer wieder mit Forderungen verknüpft: Juden mussten sich zuerst als fähig erweisen, die „Leitkultur“ sollte erst gelernt werden. Das ist das deutsche Prinzip, bevor man Rechte gewährt. Da zeigen sich Parallelen zur heutigen Zeit, wenn man an die Diskussion um die Integration von Flüchtlingen denkt. Das Thema der Epoche ist also: Wie öffnete sich die Gesellschaft, um Juden gleiche Rechte zu gewähren, und wie verarbeiten es Juden intern? Welche Konflikte hatten sie, wo begrüßten sie neue Chancen, wo sahen sie Nach­teile? In dieser Epoche gab es zum ersten Mal die Möglichkeit, weithin sichtbare und prächtige Synagogen zu bauen. Zugleich wurde die Gottesdienst-Liturgie dem christlichen Vorbild angepasst, einschließlich neuer Kompositionen. Eine VirtualReality-Installation wird Besuchern der Ausstellung Gelegenheit geben, in einigen dieser inzwischen nicht mehr vorhandenen Sakralbauten spazieren zu gehen. Der Erste Weltkrieg war für viele Juden eine BestätiNew Accents

EN gung ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft. Eine große Sammlung von Auszeichnungen und Ehrungen in Form von Medaillen, die in den Familien aufbewahrt wurden, dokumentieren den Stolz, als deutsche Juden am Krieg für das Vaterland dabei gewesen zu sein. Wir haben es hier mit einer Epoche der Akkulturation, der Anpassung an die deutsche Umgebungskultur, zu tun, um die alle einzelnen Themen kreisen, die hier präsentiert werden. Der Raum endet mit einer Filminstallation zur Weimarer Zeit. Was wird dort gezeigt? Diese ereignisreichen 15 Jahre werden in drei Kapiteln dargestellt: Es geht um die damals als gelungen interpretierte Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft und um die parallele Entstehung eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins, der „Jüdischen Renaissance“. Wir gehen aber auch auf den neuen Typus des politischen Antisemitismus ein, der die Jahre der Weimarer Republik überschattete. In der Ausstellung reicht also, was Sie als die Epoche der Emanzipation bezeichnen, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1933. Weshalb? Nicht alle Historiker werden dieser Einteilung zustimmen. Aber wir begreifen diese lange Zeit in unserer Ausstellung nicht als historische Periodisierung, sondern als Epochenbild, das die Zeit zwischen zwei Polen darstellt: Vom Beginn des Kampfes um recht-

they generally used their influence for the benefit of their community. W ­ e present this situation using several examples—including the case of a woman, the celebrated Madame ­Karoline Kaulla. She was a gifted entrepreneur who became famous as an advocate for her community in the southern German town of Hechingen. From the mid-fifteenth century on, Johannes Gutenberg’s invention of the printing press changed the world; it also created a whole new profession. The dissemination of ­Hebrew

begins with emancipation— that is, a detachment from the sacred core of Judaism and a movement into secular society. In France, Jews acquired legal equality with all other citizens after the Revolution. In Germany, that process took another century. In the more than three hundred German territories, emancipatory legislation might be passed but then reversed, or never instituted in the first place. It was only with German unification in 1871 that Jews gained equal citizenship. Many times throughout that long period, legal equality was made con-

The case of an itine­ rant printer shows what the new textual formats looked like and where the new readerships were located. and Yiddish writings expanded. The case of an itinerant printer shows what the new textual formats looked like and where the new readerships were located. Most Jews, though, earned their living in the countryside on the basis of regional trade. For Europe, the early modern era ended with the French Revolution, which appears in the exhibition in the slogan Egalité. The term Egalité introduces the next historical segment, the era of Enlightenment. It

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tingent on the Jews fulfilling some particular requirement: first they had to prove they were capable of citizenship; first they had to learn to conform to the dominant culture, and so on. That’s the German principle, before rights will be granted. You can see present-day parallels in the debate about the integration of refugees. So the theme of this epoch is: How did society open up to grant Jews equal rights, and how did Jews process that internally? What conflicts did they experience, what new opportunities did they welcome, what


DE liche Gleichstellung bis zur Abschaffung aller Rechte im Nationalsozialismus, die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann.

EN war der Umstand, dass er Regierungspolitik wurde. Damit waren die Juden dem Staat nun schutzlos ausgeliefert. Neben dieser „rechtlichen“ Ebene gab es wieder

Die Darstellung des Nationalsozialismus ist eine besondere Herausforderung. Wie wird die NS-Zeit dargestellt? Im dem Raum, der mit „Katastrophe“ überschrieben ist, gibt es eine eindrückliche Installation: 962 antijüdische Gesetze und Maßnahmen werden den Hintergrund für die Ausstellung bilden. Das Neue am Antisemitismus der Nazis

und wieder gewaltförmige Angriffe auf Juden, die wir auf einer großen Karte des Deutschen Reiches zeigen. Die Darstellung des National­sozialismus ist eine besondere Herausforderung, nicht nur in einem Jüdischen Museum. Wir müssen hier die Gefühle hochbetagter Menschen einbeziehen, die den Holocaust erlebt haben, und die ihrer

­disadvantages did they fear? In this period, it became possible for the first time to build magnificent and highly visible synagogues. At the same time, the liturgy of the service was adapted to a Christian model, including new musical compositions. A virtual reality installation will enable visitors to take a stroll in one of these sacred buildings, which no longer exist in bricks and mortar. For many Jews, the ­First World War confirmed their integration into German society. A large collection of accolades and honors, in the form of medals handed down within families, documents their pride in having taken part in the war for the Fatherland as German Jews. This was an epoch of acculturation—of adaptation to the surrounding German culture. That forms the nexus of all the various themes

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we bring together in this part of the exhibition. The segment ends with a film installation on the Weimar period. What does it show? The Weimar Republic’s fifteen eventful years are portrayed in three chapters. There’s the integration of Jews into German society, which was regarded as successful at the time, and in parallel the emergence of a new Jewish self-confidence, the “Jewish Renaissance”. And then there’s the new type of political antisemitism that cast its shadow over the ­Weimar years. So in the exhibition, what you call the epoch of emancipation lasts from the end of the seventeenth century right up to 1933. Why is that?

Schwerpunkte


DE Nach­kommen. In den letzten Jahrzehnten waren Ausstellungen und Publikationen bei der Behandlung der NS-Zeit darum bemüht, das einzelne Schicksal, die individuelle Lebensgeschichte ins Zentrum zu stellen. „Den Zahlen ein Gesicht geben“ oder „Aus Nachbarn wurden Juden“ waren Titel solcher Perspektiven. So wichtig individuelle Lebensgeschichten auch sind, haben wir auch viel Wert auf die politische Entwicklung dieser Jahre gelegt. Wir zeigen in unserer Ausstellung also beides: die Struktur des nationalsozialistischen Staats und einzelne biographische Fallbeispiele von jüdischen Familien, die deutlich machen, was die verheerenden Bedingungen dieser Jahre für ihr Leben bedeuteten. Im Gegensatz zur vorherigen Ausstellung gliedern wir die NS-Zeit jetzt in drei große „Kapitel“: Die Zeit von 1933 bis zur sogenannten „Kristallnacht“ im November 1938, Jahre, in denen sich viele Juden noch fragten, ob sie bleiben oder doch lieber eine Zukunft außerhalb Deutschlands planen sollten. In die Zeit vom November 1938 bis 1941 fällt der Kriegsbeginn, in der sich die Verschärfung antijüdischer Maßnahmen bis zur Unerträglichkeit zuspitzte und der Versuch Deutschland zu verlassen zu einem verzweifelten Glücksspiel wurde. Der Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion bildet den Auftakt des dritten Abschnitts: Seit 1941 zeichnete sich das ab, was wir heute Holocaust nennen, die systematische Ermordung aller Juden im gesamten Einzugsbereich der Nazis. New Accents

EN Sie sagten eingangs, dass der Schwerpunkt der Ausstellung auf den jüdisch-nichtjüdischen Wechselbeziehungen läge. Kann man im Zusammenhang von ­Holocaust und auch während der unmittel­ baren Nachkriegszeit überhaupt noch von Beziehung sprechen? Selbstverständlich, wenn ­es auch um eine sehr einseitige, durch die Nazis aufgezwungene „Wechselbeziehung“ ging, in der den Juden am Ende keine sinnvollen Handlungsalternativen mehr blieben. Die Zeit nach 1945 wird in der neuen Ausstellung mehr Raum einnehmen als in der letzten. Hier beschreiben wir einen Bogen vom Kriegsende bis zur vorläufig letzten großen Einwanderungswelle russischsprachiger Juden. Unser Blick auf die Nachkriegsgeschichte beginnt mit Fotografien und Zeugnissen von Überlebenden der Massenvernichtung. Die Themen Rückerstattung und Wieder­gutmachung werden am Beispiel zweier sehr unterschiedlicher Fälle aufgegriffen. Ein wichtiges Schlaglicht gilt der Beziehung zwischen Deutschland, Israel und den Juden in Deutschland, die ein markantes Dreieck in der „Bewältigung der Vergangenheit“ bilden, den Auseinandersetzungen um die politische Verantwortung Deutschlands für den Holocaust. Welche Rolle spielt Israel darin? In der deutschen Nachkriegsgeschichte wurden Schuld und Verantwortung

Not all historians will agree with our categorization. But in the exhibition, we see this long stretch of time less as a historical periodization than as a picture of an epoch, representing the time between two poles: from the beginning of the Jews’ struggle for legal equality to the abolition of all their rights under Nazism, a process that began when the Nazis took power in 1933. How do you portray the Nazi period? In the room titled ­Catastrophe, there is a powerful installation: 962 anti-Jewish laws and policies form the backdrop for the display. What was new about the antisemitism of the Nazis was that it became government policy. That meant the Jews were now completely at the mercy of the state. Alongside this “legal” dimension, there were countless attacks on Jews in the shape of

descendants. In recent decades, exhibitions and publications about the Nazi era have tried to turn the spotlight onto individual destinies, individual life stories. “Giving Faces to the Numbers” or “From Neighbors to Jews” were the kinds of titles chosen. But important as individual life stories surely are, we also place value on showing the political developments in those years. As a result, our exhibition addresses both the structure of the Nazi state and individual bio­ graphical studies of Jewish families, revealing how the devastating conditions of the Nazi years impacted on their lives. In contrast to the previous permanent exhibition, we have now arranged the Nazi period in three broad chapters. The first runs from 1933 until the violence of ­Kristallnacht on 9 ­ November 1938. These were years when many Jews still wondered whether they could

Our exhibition addresses both the structure of the Nazi state and individual biographical studies of Jewish families. physical violence, which we show on a large map of the ­German Reich. Representing Nazism poses a special challenge, and not only in a Jewish museum. We have to take account of the feelings of aged people who experienced the H ­ olocaust, and of their

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stay in Germany or should plan for a future abroad. The period from November 1938 to 1941 includes the outbreak of war, when the growing harshness of anti-Jewish measures escalated to unbearable proportions and attempts


DE für die Verbrechen des Nationalsozialismus vor allem über die bilateralen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland abgehandelt, und nicht etwa über die Juden, die nach Kriegsende noch in Deutschland lebten. Allein der Umstand, dass der Staat Israel gegründet wurde, hat das Selbstverständnis der Juden überall

EN palästinensischen und dem deutschen Terrorismus der 1970er-Jahre hinterließ Spuren, die noch heute in der Bewachung jüdischer Einrichtungen sichtbar sind. Unsere Präsentation wird, denke ich, Anlass zu kontroversen Diskussionen geben – was für jede Ausstellung und jede Veröffentlichung zu erwarten und wichtig ist.

Die Gründung des Staates Israel hat das Selbstverständnis von Juden in aller Welt nachhaltig verändert. in der Welt nachhaltig verändert. Juden und Judentum haben durch die Gründung des Staates Israel ein physisches, religiöses und kulturelles Zentrum bekommen. Wie gleichermaßen hochinteressant und prekär dieses Dreieck ­– ­Israel, Deutschland, in Deutschland lebende Juden – war, können wir in seiner Tiefendimension nicht zeigen. Wir greifen daher einige wichtige Ereignisse heraus, die für das Ganze stehen, zum Beispiel die Flugzeugentführung 1976, an der auch die Rote Armee Fraktion beteiligt war, und die in Entebbe endete. Die Verbindung zwischen dem

Das Segment Antisemitismus in der Ausstellung beginnt mit dem Zitat von Theodor W. Adorno: „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“. Wie behandeln Sie dieses Thema? Uns war ein Modul wichtig, das den Antisemitismus aus einer nicht plakativen Perspektive zeigt. Wir möchten unserem Publikum vermitteln, was für ein schwer zu behandelndes Thema Antisemitismus ist. Man kann nicht nur Bilder angucken und sagen: „Ja, das ist antisemitisch.“

to leave Germany became a desperate gamble. The beginning of the war against the Soviet Union marks the start of the third chapter. From 1941, what we now call the H ­ olocaust began to take shape: the systematic murder of all Jews wherever the Nazis took control. You said at the beginning that the exhibition focuses on the relationship between Jews and nonJews. But is the term “relationship” really justified in the context of the Holocaust or in the immediate postwar period? Most certainly, even if it was a very one-sided relationship, enforced by the Nazis, in which no meaningful options ultimately remained open to the Jews. The period after 1945 takes up more space in the new exhibition than it did in the old one. We trace an arc from the end of the war up to the most recent wave of immigration of Russian­speaking Jews. Our view onto postwar history begins with photographs and testimonies of survivors of the mass destruction. We exemplify the topics of restitution and reparations through two very different cases. An important emphasis is placed on the relationship between Germany, Israel, and the Jews in

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Germany, a striking triangle in the project of “working through the past”—that is, debates around Germany’s political responsibility for the­ ­Holocaust. What role does Israel play in that? In postwar German history, culpability and responsibility for the crimes of Nazism were negotiated mainly within the bilateral relationship between Israel and Germany, and not with the Jews who still lived in Germany after the end of the war. The very fact that the State of Israel was founded changed the self-image of Jews all over the world forever. Thanks to Israel, Jews and Judaism now have a physical, religious, and cultural center. The postwar triangle of Israel, Germany, and Jews living in Germany was both fascinating and extremely precarious, something that we can’t show in all its breadth and depth. Instead, we pick out particular important events to stand for the whole. An example is the 1976 hijacking that ended in Entebbe, in which the German radical Red Army Fraction played a part. The links between Palestinian and German terrorism of the 1970s left traces that are still visible today, in the fact that J­ ewish institutions are protected by security guards.

Schwerpunkte


DE In einer filmbasierten Medienstation diskutieren wir deshalb anhand von vier Beispielen die Frage: „Was macht Antisemitismus eigentlich aus?“ Dabei geht es nicht nur um unstrittige Formen des Antisemitismus, sondern auch um Ereignisse, über deren anti­ semitischen Charakter sich streiten lässt. Wir möchten damit ein wenig tiefer in die Materie einsteigen und unserem Publikum zeigen, dass man sich nicht mit voreiligen Urteilen begnügen muss. Wir haben viel über die Epochenbilder der Ausstellung gesprochen. Es wird auch Themen­ räume zu kulturellen und religiösen Aspekten des Judentums geben. Ja, diese Themenräume haben eine wichtige Funktion. Theoretisch könnte man jeder historischen Epoche auch die jeweiligen Aspekte des religiösen Lebens zuordnen und die Veränderungen in dieser Hinsicht zeigen, was aber aus unterschiedlichen Gründen sehr schwer ist, nicht zuletzt, weil man von einem Thema viel verstehen muss, um die historisch bedingten Veränderungen zu verstehen. In eigenen Räumen können wir jedoch jüdische Themen, wie zum Beispiel die Heiligen Schriften und deren Bedeutung im jeweiligen Alltag,

New Accents

EN intensiver und grundsätzlicher behandeln. Die Besucher können in unserer Ausstellung ein deutliches Bild davon bekommen, was das Jüdische am Judentum ist, was der Schabbat bedeutet, oder wie unterschiedlich man mit religiösen Geboten und Verboten umgehen kann. Auch den sogenannten Ritualobjekten haben wir einen Themenraum gewidmet: Wir stellen sie sehr sichtbar und prächtig in einer spektakulären Vitrine aus, unter der Frage „Welche Objekte sind im Judentum heilig?“. Themenräume bieten eine glänzende Gelegenheit, schöne Objekte in einer besonderen Ausstellungsgestaltung zu präsentieren. Das sind sehr eindrucksvolle Räume! Gibt es für Sie etwas, was das Judentum über die Jahrtausende hinweg ausgezeichnet hat? Gibt es etwas, was immer unverändert blieb? Das, was unverändert blieb, ist für mich eine Fähigkeit. Und zwar die Fähigkeit der Juden zur Flexibilität, sich immer wieder zwischen Tradition und Wandel in eine neue Situation hineinzufinden. Das Traditionelle liegt natürlich in den Geboten (und es gibt ja viele, die sich nicht daran halten). Aber es gibt da noch etwas – und jetzt ist jedes Wort falsch –, was man in der Weimarer

I think our presentation will prompt controversial discussions—something that is both important and to be expected for every exhibition and every publication. The section on antisemitism in the exhibition begins with a quote from Theodor W. Adorno: “Antisemitism is the rumor about the Jews.” How do you approach this theme? It was important to us to have a module that doesn’t show antisemitism from a simplistic perspective. We would like to convey to visitors how difficult the topic of antisemitism is to deal with. You can’t simply look at pictures and say: “Yes, that’s antisemitic.” In a film-based media station, we use four examples to discuss the question of what actually constitutes antisemitism. They don’t address only incontrovertible forms of antisemitism, but also events that invite arguments about whether or not they

We have talked a lot about the structure of epochs in the exhibition, but there will also be thematic spaces on cultural and religious aspects of Jewish life. Yes, these thematic rooms have an important function. Theoretically, we could have classified each historical epoch under the relevant aspect of religious life, and shown historical changes through that prism, but it would be very difficult for a range of reasons—not least because you need to know a lot about a theme before you can understand historically conditioned changes within it. In the dedicated thematic spaces, we can pay more profound and detailed attention to Jewish themes such as the Holy Scriptures and their significance in the everyday life of a particular period. In our exhibition, visitors can gain a clear idea of what being Jewish means in everyday life, what is meant by Shabbat, or how different-

“Antisemitism is the rumor about the Jews.” are antisemitic. Our aim is to dig a little more deeply into the matter, and to show our audience that it’s possible to go beyond hasty judgments.

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ly people deal with religious laws and prohibitions. We have also devoted a thematic room to ­ceremonial


DE Republik „den Stamm“ genannt hat. Auch in der Antike wurde das Judentum als Stammesreligion bezeichnet – das ist etwas anderes als das Christentum, das mit Christi Geburt als universelle Religion in die Welt getreten ist. Das Judentum hat gleichzeitig eine universelle und eine partikulare Komponente. Die Haltung zu dem einen oder anderen Aspekt des Judentums hat sich in der Geschichte immer wieder verändert, von einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sozusagen eine Mauer um sich gezogen hat, bis hin zu einer Gruppe in einer modernen Gesellschaft wie heute, die immer noch eine Form von Zusammengehörigkeit empfindet und oft nicht erklären kann, warum. Gibt es etwas, von dem Sie sich wünschen, dass es als Erkenntnis von den

EN Besucher*innen mit­ genommen werden soll? Ich glaube, die wichtigste Erkenntnis ist immer ein bisschen trivial: Kulturen entstehen nicht aus sich allein heraus. Kulturelle, religiöse oder säkulare Ausprägungen entstehen immer in der aktiven Auseinandersetzung mit anderen, mit der Mehrheitskultur zum Beispiel. Man reibt sich aneinander, an dem, was die anderen tun oder sagen. Und so bildete sich auch das Judentum, wie wir es heute kennen, in diesem Spannungsverhältnis heraus. Unsere Besucher werden an verschiedenen historischen Beispielen und Präsentationen dieses Spannungsverhältnis entdecken und einen Eindruck vom Entstehen des deutschen Judentums und der Geschichte der Juden in Deutschland bekommen.

objects. We display them very visibly in all their splen­ dor, in a spectacular case presented according to their importance in terms of their holiness. Theme-based rooms offer a great opportunity to present beautiful objects within a very special exhibition design. They promise to be impressive spaces! Do you see something that has characterized Judaism and Jewish life over the millennia? Is there something that has always remained unchanged? For me, what has remained unchanged is a capacity: the Jews’ capacity to be flexible, to find their way in constantly new situations, navigating between tradition and transformation. Of course, the traditional aspect lies in the laws (and there are many people who don’t keep those). But there’s something else— and no term is really suitable: in the Weimar Republic, it was called “the tribe”. In antiquity, too, Judaism was described as a tribal religion—unlike Christianity, which entered the world as a universal religion with Christ’s birth. Judaism has

Cilly Kugelmann war von 2002 bis 2017 Programm­ direktorin sowie stellvertretende Direktorin des JMB. Sie ist Herausgeberin mehrerer Bücher zur Nachkriegs­ geschichte und zum Antisemitismus und hat als Chefkuratorin die neue Dauerausstellung des JMB geprägt.

a component of universality and a component of particularity at once. Stances on those two aspects of Judaism have changed again and again over history, from feeling affiliated to a group that built a kind of wall about itself, right up to a group in today’s modern society, where people still sense a form of belonging, but often can’t explain quite why. Is there a particular insight that you hope visitors will gain from the exhibition? I think the most important insight is always a little obvious: cultures do not arise out of themselves alone. Cultural, religious, or secular characteristics always evolve in an active confrontation with others­—for example, with the majority culture. There is friction between people, between what different people do or say. And Jewish life as we know it today has emerged out of that tension. Through a range of historical examples and presentations, our visitors will discover this relationship of tension and gain an impression of how German-Jewish life and the history of the Jews in Germany took shape.

Wir danken für das Gespräch! Thank you for the interview!

Cilly Kugelmann was Program Director of the Jewish Museum Berlin from 2002 to 2017. She published several books on post-war history and antisemitism and is the chief curator of the JMB’s new core exhibition.

Das Interview führten / The interview was conducted by Marie Naumann & Katharina Wulffius

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Priorities

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EINE AUSSTELLUNG MACHT SICH NICHT ALLEIN AN EXHIBITION ISN’T CREATED OUT OF THIN AIR

Text

Cilly Kugelmann Eine Ausstellung macht sich nicht allein. Sie braucht ein großes Team und eine enorme Kompetenzvielfalt einzelner Gewerke, vergleichbar mit der Produktion eines Kinofilms. Für ein Ausstellungsimpressum aller Beteiligten wäre ein minutenlanger Abspann nötig.

An exhibition isn’t created out of thin air. Like the production of a film, it requires an extensive team and an enormous range of expertise from many disciplines. If all the contributors were to be listed in the closing credits, it would take several minutes.

DE  Für das Herstellen einer interessanten Dauerausstellung bedarf es detaillierter Kenntnisse zu unterschiedlichen Themen, konzeptionelle Fähigkeiten, die Lust, um die Ecke zu denken, visuelle Fantasie und, vielleicht am allerwichtigsten, Humor und die Kunst sich zu beschränken. Frustrationstoleranz, Überredungskünste, das Aushandeln von widersprüchlichen Vorstellungen – kurz: starke Nerven – gehören ebenfalls dazu. Ohne Sammlung geht es auch nicht. Die muss entweder vorhanden sein, oder Lücken müssen durch Funde in anderen Museen geschlossen werden. In den vergangenen 20 Jahren hat das Jüdische Museum Berlin eine beachtliche Sammlung zusammengetragen, in deren Zentrum Nachlässe von aus Deutschland geflüchteten jüdischen Männern und Frauen stehen. Briefe, Tagebücher, Fotografien, Dokumente und Gegenstände von Familien aus aller Welt fügen sich zu einer Alltagsgeschichte des deutschen Judentums vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts zusammen. Für eine Ausstellung, die in der Spätantike ihren Anfang nimmt, reicht das dennoch nicht aus. Umfangreiche Recherchen müssen angestellt werden, um zusätzliche Objekte zu finden, deren Geschichte sich fürs Geschichtenerzählen eignen. Vor etwa fünf Jahren haben die Sammlungskuratorinnen und -kuratoren des Museums zusammen mit weiteren

EN  The creation of an interesting permanent exhibition requires detailed knowledge of a variety of topics, conceptual skills, a pleasure in thinking out of the box, visual imagination, and—perhaps most importantly—both a sense of humor and the ability to rein oneself in. Other important qualities are a high tolerance of frustration, persuasive powers, and the ability to manage contradictory ideas—in brief, steady nerves. A collection is also necessary. If it does not exist, the gaps must be filled with finds from other museums. Over the past twenty years, the Jewish Museum Berlin has put together an impressive collection that focuses on objects from Jewish men and women who fled Germany. Letters, diaries, photographs, documents, and objects from families all over the world capture the everyday history of German Jewry from the late nineteenth to the mid-twentieth centuries. However, this is not enough for an exhibition that begins in Late Antiquity. We had to conduct extensive research in order to find additional objects with a history suitable for story-telling. Around five years ago, the curators of the collection began discussing the structure and content of a new permanent exhibition with other scholars. Around two decades ago, the Jewish Museum Berlin had developed and produced its first permanent exhibition at breathtaking speed in less than

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Fachwissenschaftlern begonnen, Struktur und Inhalte einer neuen Dauerausstellung zu diskutieren. Nachdem die erste Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin vor knapp zwei Jahrzehnten in einem atemberaubenden Zeitraum von weniger als anderthalb Jahren konzipiert und produziert wurde, wollten wir diesmal mehr Zeit zum Nachdenken haben. Wir haben uns sehr früh für ein Gestaltungsbüro entschieden, um die Ausstellung in enger Zusammenarbeit mit den Architektinnen und Grafikern zu entwickeln. Die Arbeitsgemeinschaft chezweitz GmbH / Hella Rolfes Architekten BDA war uns ein kreativer und kundiger Partner. Ein Team aus den erfahrenen Kuratorinnen, Restauratorinnen, Registrars, Technikern, Managerinnen und Administratoren des Museums, zeitlich befristeten Historikerinnen und Mitarbeitern bei der Recherche und dem Copyright hat sich viel Zeit genommen, einen historischen Rundgang zu entwickeln, der unsere Besucherinnen und Besucher für die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Deutschland begeistert. In der Auseinandersetzung mit dem nicht einfach zu bespielenden Museumsbau von Daniel Libeskind waren die Fachkenntnisse des Gebäudemanagements und der IT unverzichtbar. Nicht alle, die das Projekt mit uns angefangen haben, sind auch geblieben; „production babies“, Abwerbungen, Neuzugänge und Forschungsvorhaben haben das Team immer wieder neu gemischt. Manchmal sah es so aus, als würden wir mit dem Berlin-Brandenburg-Flughafen konkurrieren. Im April 2020 hat Hetty Berg die Leitung des Museums übernommen und die Ausstellung auch zu ihrem Anliegen gemacht. Ohne ihr Engagement, die bewundernswerte Geduld und Ausdauer aller Kolleginnen und Kollegen hätten wir viele Krisen nicht bewältigt. Von Anfang an waren die Museumspädagogen und die Kolleginnen der Visitor Experience in das Projekt einbezogen, die ihre Erfahrungen mit Schüler- und Besuchergruppen eingebracht haben. Bei der Entwicklung der zahlreichen Medienstationen und einer neuen JMB App, die durch die Ausstellung führt, waren die Kolleginnen aus der Abteilung Digital & Publishing von unschätzbarem Wert. Die Verwaltung hat Berge versetzt, das ganze Haus war in das Projekt involviert. „Hinter der Bühne“ wurden Papiere geschrieben, ausgerechnet und abgerechnet, Verträge entworfen, bestellt und veranlasst, nicht selten wurde auch gestritten, weil, wie immer, weder die Fantasie noch ein Budget zu kontrollieren ist. Die Kolleginnen und Kollegen, bei denen die Fäden dieses komplexen Unternehmens zusammengelaufen sind, waren nicht immer zu beneiden. Oft haben sie bis spät in die Nacht gearbeitet und die undankbare Aufgabe übernommen, den Säumigen auf die Füße zu treten.

one and a half years. This time around, we wanted more time for reflection. We decided early on to engage a design office so that we could develop the exhibition in close collaboration with architects and graphic artists. The companies that joined forces for this venture, the partnership of chezweitz GmbH and Hella Rolfes Architekten BDA, have served as creative and expert partners ever since. A team of experienced museum curators, conservators, registrars, technicians, managers, and administrators —as well as historians hired on a temporary basis and research and copyright staff—spent a great deal of time developing a tour of the historical exhibition that will get our visitors interested in the history of Jews in Germany. The expertise of the Building Management and IT Departments was crucial in our discussions about Daniel Libeskind’s museum building, which is not always easy to integrate into an exhibition. Not everyone who started the project with us has remained; the cards were constantly being reshuffled by “production babies”, poached staff, new hires, and research projects. Sometimes it seemed as if we might share the same fate as the (not-yet-open) B ­ erlin-Brandenburg Airport, famous for its planning failures. If not for the admirable patience and perseverance of all of our colleagues, we would not have overcome many crises. When Hetty Berg became the director of the museum in April 2020, she made the exhibition her concern. From the outset, we included our museum educators and Visitor Experience staff in the project. They shared their experiences of school and visitor groups. Colleagues from the Digital & Publishing department were of inestimable value when developing not only the numerous media stations but also the new JMB app, which guides visitors through the exhibition. The administration moved mountains; the entire institution got involved. Behind the scenes, papers were written, calculations were made, accounts were settled, contracts were drafted, orders were placed, and arrangements were made. At times people argued because, as is always the case, it is hard to rein in imaginations and budgets. The staff members in charge of managing this complex enterprise were not always to be envied. They often worked late into the night and took on the thankless job of putting pressure on those causing delays. We’ve pulled it off—a big thanks to everyone!

Es ist gelungen. Allen gilt großer Dank!

jmberlin.de/team-dauerausstellung jmberlin.de/en/core-exhibition-team jmberlin.de/dauerausstellung#impressum jmberlin.de/en/core-exhibition#credits

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Gegenstände wie ein Leuchter, ein Becher oder ein Teller dienen religiösen Ritualen. Gegenstände wie ein Kleid, eine Schachtel oder eine Wasserflasche erzählen von Zugehörigkeit und Identität. Wann ist ein Objekt jüdisch? Objects such as a candle­ stick, cup or plate are used in religious rituals. A dress, a box, or a water bottle carry stories of belonging and personal identity. When is an object Jewish?

Text

Michal Friedlander DE  Man stelle sich eine Küchenreibe vor. Einen unscheinbaren Metallgegenstand, der dazu dient, Käse zu reiben oder Möhren zu raspeln. Nichts Aufsehenerregendes und schon ein wenig abgenutzt. Die Reibe gehört einem Freund, und er erzählt, sie sei eines der wenigen Dinge gewesen, die er nach dem Tod seiner Mutter aus ihrem Haushalt mitnahm. Die Mutter habe sie benutzt, um Kartoffeln und Zwiebeln für die Latkes zu zerkleinern, die Reibekuchen, die sie immer zum jüdischen Chanukka-Fest briet. Diese Reibe ist für den Freund einer seiner wertvollen Schätze, und er verwendet sie nur einmal im Jahr – um Latkes zu Chanukka zu machen.

EN  Imagine a grater. An unprepossessing metal implement used in the kitchen for grating carrots or cheese. Nothing spectacular, and a little the worse for wear. It belongs to a friend of yours and he tells you that it is one of the few things that he took from his mother’s house when she died. She used it to grate potatoes and onions for the fried pancakes (latkes) that she always made on the Jewish holiday of Chanukkah. His mother followed the recipe that she had learned from her own mother. That grater is one of your friend’s most prized possessions and he uses it only once a year—to make latkes for Hanukkah.

Flamencokleid von Sylvin Rubinstein, Hamburg, 1980er-Jahre Der Tänzer Sylvin Rubinstein (1914–2011) feierte mit seiner Zwillingsschwester Maria in den 1930er-Jahren in ganz Europa Triumphe. Unter der NS-Besatzung Polens gingen beide in den Untergrund. Sylvin schloss sich dem Widerstand an und verübte als Sängerin getarnt Anschläge. Nach Kriegsende suchte er seine Schwester vergebens. Er übernahm ihre Rolle beim Tanz, nähte sich Flamenco-Kleider und trat in Varietés in ganz Deutschland auf: Als „Dolores“ knüpfte er an seine früheren Erfolge an – allerdings allein. Flamenco dress of Sylvin Rubinstein, Hamburg, 1980s In the 1930s Sylvin Rubinstein (1914–2011) danced with his twin sister Maria, touring through Europe with great success. Under the Nazi occupation of Poland both went underground. Sylvin joined the resistance and carried out attacks disguised as a singer. After the war he searched in vain for his sister. He took over her role in dancing, sewed flamenco dresses and performed in variety theatres all over Germany: As “Dolores” he built on his past success—but alone.

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Wir umgeben uns mit Gegenständen und reichern sie lautlos mit Erinnerungen an, mit Bedeutungen und Assoziationen, die alle im Bezug zu unserer komplexen Identität stehen. Zutage treten solche verborgenen Bedeutungen nur dann, wenn die Besitzer*innen der Gegenstände ihre Gedanken dazu mitteilen. Wenn wir lesen oder zuhören, wie Menschen über ihre persönlichen „jüdischen Objekte“ sprechen, sehen wir diese Objekte in einem neuen Licht. Die subjektiven Erzählungen geben uns Einblick in ganz unterschiedliche Ausdrucksformen jüdischen Lebens; mit jüdischreligiöser Praxis haben sie oft wenig zu tun. Ritualgegenstände Eine andere Art von „jüdischen Objekten“ sind Gegenstände, die bei jüdisch-religiösen Ritualen eingesetzt werden. Die traditionelle Praxis des Judentums umfasst zahlreiche Riten und zahlreiche damit verbundene Objekte. Um zum Beispiel einen Segen über den Wein zu sprechen, den Kiddusch, ist ein Gefäß für die Flüssigkeit nötig. Das ist ein offensichtliches, praktisches Erfordernis, und im Judentum haben solche funktionellen Gegenstände keine besondere Bedeutung. Tatsächlich kann jedes Trinkgefäß für die Kiddusch-Zeremonie verwendet werden, sogar ein Plastikbecher, wenn gerade nichts anderes zur Hand ist. Im Judentum ist die Ausführung einer vorgeschriebenen religiösen Handlung bedeutsam, nicht aber die dafür benutzten Utensilien. So wie mit allen Fragen des religiösen Lebens haben sich die Rabbiner auch mit dem Wert und der Bedeutung ritueller Gegenstände eingehend auseinandergesetzt. Sie legten zwar fest, dass die Gerätschaften zur Erfüllung einer Mizwa – eines Gebots – schön anzusehen sein sollen, um die gute Tat und ihre Verrichtung zu preisen und zu feiern. Man kann die Mizwa des Entzündens der Schab-

We surround ourselves with inanimate objects, silently filling them with memories, meanings and associations that may be linked to our complex identities. Such hidden meanings can only be revealed to us if owners are prepared to share private thoughts about their objects. Reading about or listening to people talk about their personal “Jewish objects” makes us look at the object in a new way. The subjective narratives also give us insight into diverse expressions of Jewish identity, many of which have little to do with Jewish religious practice. Ritual objects Another type of “Jewish object” is one that plays a role in Jewish religious rituals. There are many religious rites in traditional Jewish observance and objects are required to perform them. For example, in order to make a blessing over wine (kiddush), a cup is needed to hold the liquid. This is an obvious, practical necessity and Jews do not give such functional objects any special meaning. In fact, any cup could be used for the kiddush ceremony—even a disposable plastic cup, if nothing else is available. In Judaism, performing a commanded religious act (such as kiddush) is of great importance, but the vessel that is used during the act has no significance. As with all matters of religious life, the rabbis gave the issue of the value and importance of ritual objects due consideration. It was determined that the tools used to fulfil a commandment (mitzvah) should be visually beautiful, in order to glorify and enhance the observance of the commandment. One can fulfil the mitzvah of kindling the Sabbath lights by lighting two simple tea candles, contained in thin metal or plastic cups. This would meet the minimum requirement to observe the mitzvah. However, given the choice, it would be preferable to

Wasserflasche von Jonah Cowen, Studierendenprogramm Morasha Berlin, 2019 „Als ich in Berlin wohnte, habe ich meine Kippa meistens unter einem Hut getragen und mein Judentum für mich, im Innern, gelebt. Aber die Flasche mit der Aufschrift des jüdischen Studierendenprogramms Morasha hat mich immer an meine ­Verbindung zur jüdischen Gemeinschaft erinnert – sie zeigte ich ganz offen, sie war mein geheimes jüdisches Objekt.“ Water bottle belonging to Jonah Cowen, Morasha Berlin Jewish student program, 2019 “When I lived in Berlin, I usually covered my kippah with a hat, wearing my Judaism on the inside. But the Morasha bottle served as an external badge of identity, reminding me of my affiliation to the Jewish community, and I could carry it in the open as my own secret Jewish object.”

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batlichter aber auch mit zwei einfachen Teelichtern in Blechoder Plastikschälchen erfüllen. Die Minimalanforderungen für die Verrichtung des Gebots wären damit gewährleistet. Hat man die Wahl, wäre etwas Hübscheres vorzuziehen, etwa langstielige Kerzen in eleganten Ständern. Das führte über die Jahrhunderte zur Anfertigung prächtiger Ritualgegenstände, in denen wertvolle Materialien wie Silber und Edelsteine verarbeitet wurden. Diese Objekte sind an sich unbedeutend, doch verleihen sie der Ausführung der Mizwot Glanz. Es mag widersprüchlich scheinen, dass der in Ehren gehaltene, kostbare und kostspielige jüdische Ritualgegenstand von geringer Bedeutung sein soll, doch genauso verhält es sich. Es gibt nur ein einziges jüdisches Objekt von echtem Wert für das jüdische Leben, und das ist die Tora. Die Tora ist unter allen Gegenständen hervorgehoben, ihre Sonderstellung wird mit dem Wort kadosch beschrieben. Es findet sich im Deutschen kein Wort, das den Gehalt dieses hebräischen Begriffs genau vermitteln kann, doch am nächsten kommt ihm „heilig“. Mit der Tora, sei es in Buchform oder als Pergamentrolle, wird zu jeder Zeit mit äußerster Ehrerbietung umgegangen. Aus Respekt wird die Tora-Rolle verhüllt, wenn gerade nicht aus ihr gelesen wird, und man sollte das Pergament nicht mit bloßen Händen anfassen. Ist das heilig oder kann es weg? Um die Bedeutung der verschiedenen Ritualgegenstände im Judentum in ein Verhältnis zu setzen und sicher­ zustellen, dass die Tora immer mit der gebührenden Hochachtung behandelt wird, ersannen die Rabbiner ein Klassifikationssystem, das rituelle Objekte in vier Gruppen einteilt.

use something nicer, such as tall candles set in an elegant pair of candlesticks. This approach has led, over the centuries, to the production of beautiful ritual objects made from and incorporating costly materials, such as silver and gemstones. The objects are insignificant in themselves, but add splendor to the performance of mitzvot. It may seem contradictory that the preferred, exquisite and expensive Jewish ritual object has little importance, but this is exactly the point: there is only one Jewish object of true value in Jewish life and that is the Torah. The Torah is set apart from all other objects and has a special status—it is described as being kadosh. There is no single word in English that can precisely communicate the concept of this Hebrew word, but the closest translations would be the words “holy” or “sacred”. The Torah, whether in the form of a book or a parchment scroll, is handled with the utmost reverence at all times. Out of respect, the Torah scroll is kept covered when not being read and one should not touch the lettering on its parchment with one’s bare hands. Is it holy or can it go? In order to clarify the relative importance of ritual objects and to ensure that the Torah is handled with appropriate respect, the rabbis developed a system of classification for ritual objects, with four distinct groups. The first group consists of the Torah and other parchments on which biblical verses are written, such as the ­mezuzah scrolls found on the doorpost of a Jewish home. They are considered sacred and are the most valued Jewish objects. If they get damaged and become unusable, they may not be discarded but must be set aside and subsequently buried. The second group is composed of objects which are accessories

Tora-Rolle, Aschkenas, 18./19. Jahrhundert, Tinte auf Pergament, Holz Die Tora ist im jüdischen Leben, in Ritual und Praxis von zentraler Bedeutung. Der Überlieferung folgend, wurde sie M ­ oses von Gott offenbart und gilt daher als das Wort Gottes. Torah scroll, Ashkenaz, 18th–19th century, ink on parchment, wood The Torah has central importance in Jewish life, ritual and belief. According to Jewish tradition, the Torah was revealed by God to Moses and it is thus considered as the word of God.

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Die erste Gruppe umfasst die Tora und andere Pergamente, auf denen biblische Verse niedergeschrieben sind, etwa in den Mesusa-Behältern an den Türpfosten jüdischer Wohnungen und Häuser. Sie sind kadosch, heilig, und werden als die wertvollsten aller jüdischen Objekte betrachtet. Werden sie beschädigt oder unbrauchbar, dürfen sie nicht weggeworfen, sondern müssen bestattet werden. Die zweite Gruppe setzt sich aus Gegenständen zusammen, die als Zubehör von Artikeln der ersten Gruppe mit diesen in Kontakt kommen: etwa die Stoffhülle für eine Tora-Rolle oder die Kapsel für das Mesusa-Pergament. Man kann sagen, diese Objekte seien „von Heiligkeit berührt“, weshalb man sie nicht wegwerfen darf. Die dritte Gruppe enthält lediglich vier Gegenstände, die zur Befolgung halachischer Gesetze unerlässlich sind, aber nicht als kadosch gelten: darunter die Tsitsit, also die geknüpften Fransen eines Gebetsschals, und der Schofar, ein Blasinstrument aus dem Horn eines rituell reinen Tieres, beispielsweise eines Widders. Diese dürfen, wenn sie nicht mehr zur Verwendung taugen, entsorgt werden, allerdings auf respektvolle Weise, was zumeist geschieht, indem man sie davor in Papier oder Folie einwickelt. Auch der Etrog, eine Zitrusfrucht, die wesentlicher Teil des Laubhüttenfestes Sukkot ist, sowie die Sukka, die Laubhütte selbst, gehören dazu. Die letzte und größte Gruppe besteht aus Gegenständen, die rein funktional sind: Becher, Teller, Kerzenleuchter, Lampen, Kisten, Messer etc. Solche Objekte mögen Meisterwerke der Handwerkskunst sein, dennoch dürfen sie – aus religiöser Perspektive –, wenn sie beschädigt oder zerbrochen sind, einfach in den Müll geworfen werden. Blickwechsel In einem Museum sind wir es gewohnt, Gegenstände anzuschauen und sie nach historischen oder nach kunstgeschichtlichen Kriterien zu bewerten. Diese externen Herangehensweisen haben auf jeden Fall ihre Berechtigung. Aber warum sollten wir nicht ab und zu einen neuen oder anderen Blickwinkel wagen? So gibt es neben einem jüdischreligiösen Verständnis von Objekten auch ganz subjektive Interpretationen, durch die vermeintlich banale Gegenstände zum Ausdruck einer persönlichen Identität und damit „jüdisch“ werden. Diese unterschiedlichen Bedeutungsebenen erschließen sich nicht durch alleiniges Betrachten eines Objekts – doch unsere Ausstellung bietet die Mittel, auch verborgene Facetten zu enthüllen, selbst eines ganz unscheinbaren Dinges, wie eine Kartoffelreibe.

for the first group of sacred articles and come into contact with them. These include a fabric Torah scroll cover, or a case for a mezuzah parchment. One might say that they are “touched by holiness” and consequently, it is not permitted to simply throw them away either. The small third group consists of four objects that are intrinsic to fulfilling a commandment, but are not sacred. It includes the tzitzit (the knotted fringes of a Jewish prayer shawl) and the shofar (an instrument made from the horn from a ritually clean animal, such as a ram). The other two items in this group are used during the festival of Sukkot: the etrog (a symbolic citrus fruit) and the sukkah itself (a temporary hut). They may be disposed of, but it must be done in a respectful manner, usually by wrapping them in paper or plastic before disposal. The final and largest group is made up of objects that are only functional: cups, plates, candlesticks, lamps, boxes, knives, etc. While they may be masterpieces of craftsmanship, if they are damaged or broken they can be thrown away in the trash, from a religious perspective. Changing Perspectives In a museum exhibition, the visitor is accustomed to looking at objects and to appreciate them according to historical criteria or art historical value. These external approaches are completely valid, but why not occasionally apply new or different perspectives? There is an internal, Jewish, religious understanding of objects, as well as subjective interpretations that reveal objects to be vehicles of personal identity. These perspectives are not self-evident if one simply looks at an object, but an exhibition provides the means to reveal these hidden facets of meaning. We invite you to pause and think about Jewish objects in a different way—even a grater.

Michal Friedlander hat an Museen in New York, Los­­Angeles und Berkeley gearbeitet. Sie hat zahlreiche Ausstellungen kuratiert und zu einer großen Bandbreite an Themen publiziert. Sie verantwortet seit 2001 die Sammlung Judaica und angewandte Kunst am JMB und ist eine der Kuratorinnen der Dauerausstellung. Michal Friedlander has worked at museums in New York, Los Angeles, and Berkeley. She has curated numerous exhibitions and published on a wide range of Jewish topics. In charge of the Judaica and Applied Arts collections at the JMB since 2001, she is one of the curators of the core exhibition.

Schabbat-Leuchter, Ludwig Yehuda Wolpert (1900–1981), New York, ca. 1964, Sterlingsilber Ludwig Wolpert spielte eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung einer modernen Industrie für jüdische Zeremonialobjekte. Für seine Werke typisch ist die Verwendung hebräischer Texte, die den Objekten bisweilen sogar die Form geben. Shabbat Candlesticks, Ludwig Yehuda Wolpert (1900–1981), New York, ca. 1964, sterling silver Ludwig Wolpert played a significant role in developing a modern industry for Jewish ceremonial objects. His designs typically use Hebrew text as iconography, sometimes even using lettering to create the form of the object itself.

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13 Dinge –   13 Geschichten 13 Objects—13 Stories Ein Tora-Schild, eine Skulptur, ein Kissen: 13 ungewöhnliche Objekte erzählen 13 Geschichten jüdischen Lebens. Eine Tour der JMB App führt quer durch die Aus­ stellung zu Hinguckern aller Art, manche klein, manche groß. Was wäre ein Museum ohne seine vielen Dinge, jedes reich an Bedeutung? A Torah ­shield, a sculpture, a ­cushion: 13 unusual objects tell 13 stories of Jewish life. One of the tours of the JMB app leads right through the exhibition to eye-catchers of all kinds, some small, some big. What would a museum be with­ out its many objects, each rich in meaning?

L’amitié au cœur (Herzensfreundschaft) Étienne-Maurice Falconet (1716–1791), Paris, 1765, Marmor Im Zweiten Weltkrieg raubten die Nazis die Skulptur aus der Sammlung von Baron de Rothschild in Paris und brachten sie in Hermann Görings Jagdschloss Carinhall. Die Familie Rothschild wurde Ende der 1950er-Jahre für ihr verlorenes Vermögen von der Bundesrepublik entschädigt. Die Skulptur galt als verschollen, bis sie Anfang der 1990er-Jahre in Bruchstücken gefunden wurde – Arme und Kopf bleiben verschwunden. L’amitié au cœur (Friendship of the Heart) Étienne-Maurice Falconet (1716–1791), Paris, 1765, marble

jmberlin.de/interview-jmb-app jmberlin.de/en/interview-jmb-app

During the Second World War, the Nazis stole this sculpture from Baron de Rothschild’s collection in Paris and took it to Hermann Göring’s hunting lodge, Carinhall. In the late 1950s, the Rothschild family was awarded compensation for its lost assets by the Federal Republic of Germany. This sculpture was considered lost until fragments were discovered in the early 1990s. Its arms and head are still missing.

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Memmelsdorfer Genisa Memmelsdorf (Fundort), ca. 1725–1830, Papier, Tinte, Textil, Leder, Porzellan Als 2002 im unterfränkischen Memmelsdorf ein Privathaus renoviert wurde, kam ein Leinensack zum Vorschein. Darin befanden sich sowohl religiöse als auch alltägliche Gegenstände der einstigen Hausbewohner*innen. Der Leinensack war als Genisa genutzt worden. Eine Genisa ist eine Grabstätte für Schriften und Zeremonialobjekte, die nicht mehr verwendet werden. Weil sie den Gottesnamen enthalten oder mit ihm in Berührung gekommen sein könnten, dürfen sie nicht einfach weggeworfen werden. Denn der Name Gottes ist heilig. Je nach religiöser Tradition werden die Objekte rituell beerdigt, auf Dachböden oder in Kellern bewahrt. Zeugnisse von großem kulturhistorischem Wert sind so erhalten geblieben. Finds from the Memmelsdorf Genizah Memmelsdorf (find site), ca. 1725–1830, paper, ink, fabric, leather, porcelain When renovating a private home in the Lower Franconian town of Memmelsdorf in 2002, workers found a burlap bag containing everyday and religious objects of the former residents. The bag was used as a genizah. The genizah is a storage space for books, papers, and ritual objects that are no longer used. Because they contain God’s name or have come into contact with it, they cannot simply be discarded, as the name of God is sacred. Depending on the religious tradition, the objects are either given a ritual burial or stored in attics or basements. This has allowed objects of great cultural and historical value to survive.

Tora-Schild gestiftet von Isaak Jakob Gans (1723–1798), Hamburg, 1760–1765, Silber Isaak Jakob Gans stiftete dieses Tora-Schild 1765 der Celler Synagoge. Das Schild gehört zum typisch aschkenasischen Tora-Schmuck und verziert die Tora-Rolle, wenn sie nicht in Benutzung ist. Gans war Hoffaktor in Hannover und Celle und gilt als wichtiger Wohltäter der Jüdischen Gemeinde in Celle. Entsprechend der jüdischen Tradition lebte er das Gebot, seine Gemeinde zu unterstützen. Gans nutzte die Möglichkeiten seiner Position, um die Lebensbe­dingungen seiner Gemeindemitglieder zu verbessern. Torah shield donated by Isaak Jakob Gans (1723–1798), ­Hamburg, 1760–1765, silver Isaac Jakob Gans donated this Torah shield to the syna­gogue in Celle. The shield is typical of Ashkenazi Torah ornaments, adorning the Torah scroll when it is not in use. Gans was a court factor in Hannover and Celle and is considered an important philanthropist of Celle’s Jewish Community. Accor­ding to Jewish tradition, he lived by the command­­­ment to support his community. Gans took advantage of his position in order to do all he could to improve the living conditions of his congregation members.

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Schewirat ha-Kelim (Bruch der Gefäße) Anselm Kiefer (geboren 1945), 1990–2019, Blei, Eisen, Glas, Kupferdraht, Holzkohle, Aquatec Anselm Kiefers Werk „Bruch der Gefäße“ interpretiert die Auffassung des Kabbalisten Isaak Luria (1534–1572) von der Katastrophe, die sich während der Schöpfungsgeschichte ereignete: Um Platz für die Schöpfung zu machen, zog sich der allgegenwärtige Gott (hebräisch En Sof, wörtlich „ohne Ende“) in sich selbst zurück. In den so entstandenen leeren Raum sandte er einen Lichtstrahl, der den eigentlichen Schöpfungsakt einleiten sollte. Zehn Gefäße, hebräisch Sefirot, sinnbildlich für die Harmonie des Universums, sollten diesen Strahl auffangen. Sie konnten den gewaltigen Lichtstrom jedoch nicht fassen, die sieben unteren Gefäße zerbrachen, ihre Scherben vereinten sich mit Funken göttlichen Lichts und fielen in den Abgrund. Der Bruch der Gefäße wird als Symbol für die ins Ungleichgewicht geratene Welt interpretiert, in der das Böse Einzug gehalten hat. Shevirat ha-Kelim (Breaking of the Vessels) Anselm Kiefer (born 1945), 1990–2019, lead, iron, glass, copper wire, charcoal, Aquatec

Familienbild Manheimer Julius Moser (1805–1879), Berlin, 1850, Öl auf Leinwand Familie, Bildung und unbeschwerte Geselligkeit: Die Geschwister Hulda, Martin und die jüngere Clara tanzen durch das Wohnzimmer, Babette begleitet sie musikalisch. Nest­häkchen Anna steht auf dem Sofa und folgt ihnen begeistert mit den Augen. Die Mutter Therese gibt acht, dass sie nicht fällt. Der älteste Sohn Carl sitzt am Tisch und hält die Szene mit dem Zeichenstift fest. Im Hintergrund steht der Vater Moritz und zu seiner Rechten steht der Maler des Bildes selbst, Julius Moser. Erweitert wird die Familie durch ein Bild im Bild: Ein Porträt der Großmutter, das ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Das Gruppen­­ porträt zeigt die Familie Manheimer als typisch bürger­liche Familie der Biedermeierzeit – nichts weist darauf hin, dass sie jüdisch war.

Anselm Kiefer’s artwork Breaking of the Vessels interprets the kabbalistic teaching of Isaak Luria (1534–1572) about the catastrophe that took place during creation: In order to make space for creation, the omnipresent God (Hebrew Ain Sof, literally: “without end” or “infinite”) contracted. In the empty space that resulted, God sent a ray of light that was to initiate the actual act of creation. Ten vessels (Hebrew sefirot) symbolizing the harmony of the universe were to catch the ray. However, they were unable to contain the powerful current of light and the seven lower vessels shattered. Their shards united with sparks of divine light and fell into the abyss. The breaking of the vessels is interpreted as a symbol for a world in a state of disharmony, one in which evil has entered.

Manheimer family portrait Julius Moser (1805–1879), Berlin, 1850, oil on canvas Family, education, and carefree sociability: The siblings Hulda, Martin, and the younger Clara are dancing through the parlor; Babette accompanies them musically. Anna, the baby in the family, is standing on the sofa and watching them with delight. Therese, the mother, is taking care that she doesn’t fall. The oldest son, Carl, is sitting at the table and eter­nalizing the scene with his pencil. The father, Moritz, is standing in the background and to his right is the painter himself, Julius Moser. The family is extended by a picture within a picture: a portrait of the grandmother, which can also be seen in the exhibition. The group portrait shows the Manheimer family as a typical bourgeois family in the Biedermeier period. There is nothing indicating that they were Jewish. 13 Objects—13 Stories

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Puppenspiel Spielfigur König Salomo, Käte Baer-Freyer (1885–1988), Berlin, ca. 1924, Sperrholz, Metalle König Salomo, die Königin von Saba, der Arzt Simeon, der Diener Ahisar – die Spielfiguren gehören zur Bibelgeschichte „Salomo und die Königin von Saba“ und lassen die großen Zeiten der israelitischen Königreiche wieder auferstehen. Käte Baer-Freyer stellte die Figuren 1924 aus Sperrholz her und bemalte sie. Dazu erschien ein Buch mit biblischen Geschichten in Versen, gereimt von ihrem Ehemann Albert Baer. Das Ehepaar stand der zionistischen Bewegung nahe und wollte mit seinem Puppenspiel Kinder auf eine mögliche Auswanderung nach Palästina vorbereiten. Puppet show Puppet King Solomon, Käte Baer-Freyer (1885–1988), Berlin, ca. 1924, plywood, metals King Solomon, the Queen of Sheba, Simeon the Doctor, Ahizar the Servant—these figures belong to the Bible story Solomon and the Queen of Sheba and they bring the great times of the Israelite kingdoms back to life. Käte Baer-Freyer created the figures out of plywood in 1924 and painted them. An accompanying book by her husband Albert Baer was published with the stories in rhyming verse. The couple supported the Zionist movement and wanted to use their puppet show to prepare children for a possible emigration to Palestine.

Zierkissen „ISRAELI, JUDE, jetzt auch noch SCHWERBEHINDERT das muß sich doch in DEUTSCHLAND kommerzialisieren lassen“ Daniel Josefsohn (1961–2016), Berlin, 2014/15, Textil Die Auseinandersetzung mit Deutschland und Israel ist ein Fixpunkt in Daniel Josefsohns Werk. Der Sohn israelischer Eltern wurde in Hamburg geboren. Seit einem Schlaganfall 2012 war er halbseitig gelähmt. Gestrickt in den Farben Israels, wirkt das Kissen fast wie ein Souvenir und erinnert zugleich an traditionelle Stickbilder aus deutschen Wohnzimmern. Decorated cushion “ISARELI, JEW, and now SEVERELY DISABLED—there’s got to be a way to capitalize on that in GERMANY” Daniel Josefsohn (1961–2016), Berlin, 2014/15, textile A focus of Daniel Josefsohn’s work is his engagement with Germany and Israel. He was born to Israeli parents in ­Hamburg and in 2012 suffered a stroke that left him paralyzed on one side. Knit in the Israeli colors, this cushion looks like a souvenir and recalls the traditional embroidery designs found in many German living rooms.

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Silber aus ehemals jüdischem Besitz Provenienz: bis 1939 unbekannter jüdischer Besitz, 1939 Finanzbehörde Hamburg, 1960 per „Silberzuweisung“ von der Stadt Hamburg an das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) Silberne Schmuckschüsseln, Kannen, Leuchter, Suppenkellen – vom prächtigen Silbergeschirr bis hin zum einfachen Gebrauchsgegenstand: All dies gehörte einst jüdischen Familien in Hamburg. Innerhalb des bürokratischen Verfolgungsund Enteignungsprozesses im gesamten Deutschen Reich verordnete im Februar 1939 ein Gesetz die Abgabe von „Silber aus nichtarischem Besitz“. Allein in Hamburg wurden 20 Tonnen Silber beschlagnahmt. Der Großteil wurde eingeschmolzen, ein kleiner Teil gelangte in öffentliche Sammlungen. Silver formerly owned by Jews Provenance: up to 1939 unknown Jewish owners, 1939 ­ Hamburg Tax Authority, 1960 allotted to the Hamburg Museum of Arts and Crafts (MKG) by the City of Hamburg Silver jewelry dishes, pitchers, lamps, soup ladles—from magnificent silverware to simple everyday utensils: These all once belonged to Jewish families in Hamburg. As part of the bureaucratic process of persecution and dispossession throughout all of the German Reich, an ordinance passed in February 1939 that all “silver owned by non-Aryans” had to be handed in. Twenty tons of silver were confiscated in Hamburg alone. Most of it was melted down and a small portion ended up in public collections.

Abschiedsgeschenk Bruno Heidenheim, Album zum Abschied von Margot (1913–2010) und Ernst (1898–1971) Rosenthal, Chemnitz, 1936 Ende 1936 verließen Ernst und Margot Rosenthal D ­ eutschland und emigrierten in die USA, in der Hoffnung auf ein Leben ohne Diskriminierung und Verfolgung. Um ihnen den Abschied leichter zu machen schenkte ihnen die befreundete Familie Heidenheim den „Kleinen Knigge für große Leute“, ein liebevoll collagiertes Album aus selbstgedichteten Merksprüchen und ausgeschnittenen Zeitungsbildern. Augenzwinkernd sollte es die Rosenthals auf ihr neues Gastland vorbereiten. Going-away present Bruno Heidenheim, Album to bid farewell to Margot (1913–2010) and Ernst (1898–1971) Rosenthal, C ­ hemnitz, 1936 In late 1936 Ernst and Margot Rosenthal left Germany and immigrated to the United States in hopes that they could live a life free of discrimination and persecution. In order to ease their departure, friends of theirs, the Heidenheim family, gave them “Small Tips for Great People”, an affectionately handmade album that was a collage of self-composed sayings and poems and pictures cut out of the newspaper. The charming going-away present was to prepare the Rosenthals for their host country. jmberlin.de/dauerausstellung-13-dinge-abschiedsalbum jmberlin.de/en/core-exhibition-13-objects-present 13 Objects—13 Stories

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Handwaschbecken Hersteller: S.  &  D.  Loewenthal, Frankfurt am Main, ­1895/96, Silber Bevor in der Synagoge der Priestersegen gesprochen wird, werden die Hände, die den Segen erteilen, rituell gewaschen. Dieses zeremonielle Handwaschbecken stammt aus der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main. Gestiftet wurde es 1896 von Hermann Meyer, im Andenken seines Vaters Salomon, der im Jahr zuvor gestorben war. Der Priestersegen ist der hebräischen Bibel entnommen (Numeri 6:24–26) und wird im jüdischen Ritual und in der Liturgie verwendet. Traditionell wird der Segen in der Synagoge von den Kohanim gesprochen; sie sind Nachfahren von Moses’ Bruder Aaron, die im Tempel in Jerusalem als Priester dienten. Salomon Meyer hatte dieses Ehrenamt in der Frankfurter Gemeinde vierzig Jahre lang inne. Heute wird das Ritual in den meisten progressiven jüdischen Gemeinden nicht mehr ausgeübt. Hand washbasin Manufacturer: S.  &  D.  Loewenthal, Frankfurt am Main, ­ 1895/96, silver Before the priestly blessing is made in the synagogue, the hands of those making the blessing are ritually washed. This ceremonial wash basin is from the synagogue of the Israelitische Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main. It was donated by Hermann Meyer in 1896, in memory of his father, Salomon, who had died the previous year. The priestly benediction is taken from the Hebrew Bible (Numbers 6:24–26) and used in Jewish ritual and liturgy. The blessing is traditionally recited in synagogues by the kohanim, descendants of Moses’ brother Aaron, who served as priests in the ancient Temple. Salomon Meyer performed this honorary task in the Frankfurt community for forty years. In most progressive communities today, this ritual is no longer practiced.

Bereits ausgewandert Nicht abgeholte Mitgliedsausweise der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, 1949 Fast 1.000 Displaced Persons, heimatlos gewordene Über­ lebende und Flüchtlinge, lebten nach Kriegsende mit ihren Kindern in Frankfurt am Main. 1949 wurden sie in die Jüdische Gemeinde integriert und sollten neue Mitgliedsausweise erhalten. Zwei Drittel dieser Ausweise wurden nie abgeholt. Sie tragen keinerlei Gebrauchsspuren. Vermutlich hatten ihre Besitzer Deutschland bereits in Richtung Israel oder USA verlassen. No longer in the country Unclaimed membership cards for the Jewish community Frankfurt am Main, 1949 After the war, nearly one thousand displaced persons (DPs) lived with their children in Frankfurt am Main. When the Jewish community admitted them in 1949, it had membership cards made, but two-thirds were never picked up. The surviving cards show no signs of use. Their intended owners had probably already left Germany for Israel or the United States.

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Komposition Otto Freundlich (1878–1943), 1938, Tempera auf Karton Für Otto Freundlich war Kunst eng mit der Utopie einer neuen Gesellschaft verflochten: „Ich kämpfe für die Befreiung der Menschen und Dinge von den Gewohnheiten des Besitzes und gegen alles sie Begrenzende, was ihrer wahren Natur nicht entspricht.“ Seine Werke zwingen den Betrachter aus seiner Trägheit. Erst ein aktiver Blick setzt die „Komposition“ in Bewegung: steigend und fallend, entstehend durch die Dreiecksformen und Farbkontraste. In der Bewegung des Blicks machen die Farben – hell und dunkel, Weiß, Gelb, Braun und Schwarz – Kräfte sichtbar, die das Denken und Handeln des freien Menschen bestimmen sollen. Während der NS-Zeit galten Freundlichs Werke als „entartet“ und wurden aus deutschen Museen entfernt. Der Künstler wurde in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und ermordet. Composition Otto Freundlich (1878–1943), 1938, tempera on cardboard For Otto Freundlich, art was closely intertwined with the utopian vision of a new society: “I fight for the liberation of people and things from the habits of ownership, and against everything that confines them and doesn’t reflect their true nature.” His works rouse viewers from their torpor. An active gaze is needed to set the “composition” in motion: to make it rise and fall as it emerges from triangular forms and contrasting colors. As our gaze shifts, the light and dark colors—white, yellow, brown, and black—illustrate the forces that are meant to shape the thoughts and actions of free people. During the Nazi era, Freundlich’s art was branded “degenerate” and removed from German museums. The artist was deported to the Sobibor concentration camp, where he was murdered.

„Judenstern“ aus dem Besitz der Familie Lehmann, Berlin, 1941–1945 Ab September 1941 wurden Jüdinnen und Juden in ­Deutschland mit dem gelben Stern stigmatisiert. Zuvor war er in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten eingeführt worden. Der Stern musste gut sichtbar auf der linken Brustseite der Kleidung getragen werden. Die Gestapo zwang die jüdische Gemeinde, die Sterne zu verkaufen – 10 Pfennig kostete das Stück. Viele der erhaltenen Sterne zeigen noch Gebrauchsspuren. Yellow star of the Lehmann family, Berlin, 1941–1945 Starting in September 1941, Jews in Germany were stigmatized by having to wear the Yellow Star. It had been introduced earlier in the territories occupied by Nazi Germany. The star had to be visible on the upper left chest side of the clothing. The Gestapo forced the Jewish communities to sell the Yellow Stars—they cost 10 pfennigs each. Many of the extant stars show signs of wear. 13 Objects—13 Stories

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D RU UM ME ER RRS SS SS Der Weg in unsere neue Dauerausstellung im 2. Obergeschoss führt zunächst durch die Achsen des LibeskindBaus. Zu Beginn wird die Videoinstallation „Drummerrsss“ des israelischen Künstlers Gilad Ratman präsentiert: Als emotionaler Auftakt zur Ausstellung nimmt die Arbeit die Vielfalt und Widersprüchlichkeit jüdischen Lebens in den Blick und stellt Fragen nach der Bedeutung von Nationalität, Kultur und Identität. Ausgewählt wurde die Auftragsarbeit im Rahmen eines künstlerischen Wettbewerbs von einer Jury. Gefördert wird die Installation durch Mittel der U.S. Friends of the Jewish Museum Berlin. The path to the top floor of the new core exhibition first leads through the axes of the Libeskind building. At the beginning the video installation Drummerrsss by Israeli artist Gilad Ratman is presented. As an emotional prelude to the exhibition, the work takes a look at the diversity and contradictions of Jewish life in Germany and poses questions about the meaning of nationality, culture, and identity. The commissioned work was selected within the scope of a JMB competition with a jury. The installation is funded in part by the U.S. Friends of the Jewish Museum Berlin. Ein Interview mit Gilad Ratman An Interview with Gilad Ratman


DE Ihre eindrucksvolle Videoinstallation „Drummerrsss“ wird in zwei der Voids des Libeskind-Baus gezeigt; sie ist das erste Kunstwerk, das man beim Besuch des Museums zu Gesicht bekommt. Auf den ersten Blick zeigt die Arbeit allerdings keine speziell jüdischen Aspekte. In welchem Bezug steht sie also zum Jüdischen Museum Berlin? Mein Ansatz war, dass das Museum eine historische, aber auch eine thematische Perspektive hat. Meine erste Entscheidung bestand darin, nicht der Geschichte zu folgen, sondern mich den Themen anzunähern. Was ich als Kernthema dieses Museums verstehe, ist die Frage nach der Identität. Es geht um die Frage des Koexistierens, und zwar nicht verschiedener Nationen, sondern innerhalb einer Person. „Was heißt es, deutsch und jüdisch zu sein?“ Das ist übrigens nicht viel anders, als zu fragen: „Was heißt es, marokkanisch und jüdisch zu sein?“ oder: „Was bedeutet es, deutsch zu sein?“ Es geht immer um einen Konflikt. Identität wird durch vieles geformt, aber zwei Elemente sind dabei besonders dominant: Das eine ist die Nationalität, die eng an Land, an Territorium und an Grenzen geknüpft ist. Das andere sind Glaubenssätze – eine Spiritualität oder Ideologie, die uns durchs Leben leitet, aber nicht unbedingt mit dem Ort verbunden ist, an dem wir leben. Die Differenz zwischen diesen beiden Elementen erzeugt Reibung. Intuitiv wählte ich das

EN Schlag­zeug als Hauptgegenstand meiner Arbeit, denn im Trommeln verbinden sich diese beiden Elemente: Rhythmen gehören einer bestimmten Kultur an und stehen zugleich in direktem Bezug zum Körper, zu Leben und Tod. Lebendig zu sein heißt ein schlagendes Herz zu haben. Einen Puls. Darum habe ich das Trommeln ausgewählt, zwei Schlagzeuge, das eine in einem mehrere Meter tiefen Erdloch, das andere direkt darüber. Es spielen ein Mann und eine Frau. Die beiden Schlagzeuge stehen in einem vertikalen Bezug zueinander, das ist sehr wichtig. Was geschieht ist nicht zeitversetzt, sondern simultan. Die Verbindung der Rhythmen ist zugleich synchron und nicht synchron. Synchron zu sein oder nicht, lässt sich nicht zwangsläufig in Gut und Böse übertragen. Es zeigt, wie wir zu unserer Existenz stehen. Manchmal sind unsere Nationalität und unsere Glaubenssätze synchron, und das bedeutet vielleicht stabil: nicht unbedingt gut, aber stabil. Und wenn sie nicht synchron sind – instabil, wacklig – dann ist das nicht unbedingt schlecht. Die Reibung zwischen den beiden Elementen kann sehr fruchtbar sein, sie kann genau das sein, was wir in unserer Welt haben wollen. Wir wollen nicht, dass ­unsere Identitäten monolithisch sind. Doch dieser Konflikt kann auch zur Katastrophe führen, wie wir wissen. Sie haben sich für Ihre Arbeit eine sehr spezielle Landschaft in ­Deutschland ausgesucht. Warum gerade diese?

Your impressive videoinstallation Drummerrsss can be seen within one of the Voids of the Libeskind building; it is one of the first exhibits our visitors will encounter. At first glance, it doesn’t necessarily show any specifically Jewish aspects. So my question is: How does this work of art relate to a Jewish Museum? My idea was that the museum has a historical but also a thematic perspective. My first decision was not to follow history, not to follow events, but to approach the themes. The theme that I understand as the core of this museum is the question of identity. It’s a question of coexistence, not the coexistence of different nations, but the coexistence within a person: “What is it to be German and Jewish?” Which by the way is not completely different from asking “What is it to be a Moroccan and Jewish?” or “What does it mean to be German?” It’s a conflict. Identity is formed by many things, but two elements are the very dominant: One is nationality, which is very much tied to land, to territory and borders, and the other is a set of beliefs, a spirituality or ideology, which is something that guides you in life, but which is not necessarily connected to where you live. The difference of these two elements creates friction. How do they coexist? How do they touch each other? Intuitively I chose drumming as the main theme of my work, because there is something in drumming that combines both: Drumming

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stems from a specific culture and it is related directly to the body, related to life and death. To be alive means to have a heartbeat inside of you. To have a pulse. That’s why I chose drumming, two drummers; one a few meters in the ground, and the other right above him. A man and a woman. Both drummers relate to each other on a vertical scale, and this is very important. It’s happening simultaneously. The drummers’ connection is both in and out of sync. Being synced or out of sync doesn’t necessarily translate to good and bad. It is how we relate to our existence. Sometimes your nationality and your set of beliefs are synched and maybe that means they are stable: not necessarily good, but stable. If they are not synched—unstable, shaky— that is not necessarily bad. The relation between those two elements can be very fruitful; it can be what we actually want in our world. We don’t want identities to be monolithic. But conflict can also lead to disaster, as we already know. You picked a very specific landscape in Germany for your work. Why this one? This wasn’t something I planned in advance. I was looking for a landscape that would speak to me in some way, and serendipitously, we had the opportunity to go to Saarland. There, I understood that the landscapes where actually former quarries. This knowledge—even though it’s not up front—adds another layer to my work because of the miners’ physical and Drummerrsss


DE Das war gar nicht geplant! Ich suchte nach einer Land­schaft, die mich irgendwie ansprechen würde, und glücklicherweise ergab sich die Gelegenheit zu einer Reise ins Saarland. Dort erfuhr ich, dass diese Landschaft durch den Bergbau geformt wurde. Dieses Wissen, auch wenn es im Hintergrund steht, fügt meiner Arbeit eine weitere Ebene hinzu – wegen der körperlichen und emotionalen Beziehung der Bergleute zum Boden, den sie bearbeiten: Sie schlagen und klopfen ihn auf. Für unsere Videoinstallation übertrugen wir ihre körperliche Tätigkeit in etwas Musikalisches. Ein weiterer Aspekt dieser speziellen Landschaft ist, dass sie sich nicht als eine typisch deutsche erkennen lässt. Es könnte Deutschland oder Israel sein; es könnte überall sein. Darin liegt meiner Meinung nach die Lehre aus der Katastrophe, die hier geschehen ist. Sie betrifft die gesamte Menschheit. Auf keinen Fall, denke ich, lässt sie sich begreifen, indem man allein auf die deutsche Geschichte blickt. Die Gelegenheit erschafft das Böse. Das kann man überall sehen. Ich brauchte auch keinen besonders deutschen Zusammenhang zu zeigen, denn die Umgebung, in der die Arbeit steht, und die mich als Besucher und Betrachter umgibt, ist ein Teil der Arbeit. Und das ist der Bezug zum Jüdischen Museum Berlin, in Deutschland: Weil ich mich innerhalb dieses sehr schweren Kontexts befinde, muss ich nicht alles darstellen. Ja, diese Arbeit könnte auch in anderen Museen gezeigt werden, aber sobald sie im Jüdischen Museum Berlin Gilad Ratman

EN ist, absorbiert sie den Kontext ihrer Umgebung. In welchem Bezug steht Ihre Arbeit dann zu Daniel Libeskinds Architektur? Er entwarf den Museumsbau in Aus­einandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Das ist ganz wichtig! Meine Arbeit reagiert in erster Linie auf Libeskinds spezielle Architektur. Wenn Sie also fragen: „Was macht Ihr Film?“, dann ist die Ant­wort: das Gleiche, was die Architektur macht! Unter der Erde sein, in den Himmel blicken. Das ist eine sehr existenzielle Erfahrung. Sie konfrontiert Sie mit Leben, Tod und Identität, und man muss damit arbeiten und herausfinden, was man damit machen kann. Dass für Sie ein Kunstwerk mit dem Ort korrespondiert, an dem man es sieht, heißt ja auch, dass es nicht überall dieselbe Bedeutung hervorbringt. Ja! Reine Kunstmuseen funktionieren zwar als halbwegs neutrale Orte: Da ist die Kunst, hier ist der weiße Raum. Sobald Sie aber ein Kunstwerk in einem Kontext zeigen, der nicht neutral ist, wird aus der Kunst etwas anderes. Wenn ich zum Beispiel in Israel an einem Werk für die Knesset arbeite, muss es sich damit beschäftigen. Straßenkunst ist dann noch einmal anders. Dementsprechend hat eine Arbeit für das Jüdische Museum Berlin sehr viel schweren Kontext. Tatsächlich den schwersten Kontext, an den ich mich je herangewagt habe. Ein Kunstwerk, das

emotional relationship to the ground itself: What they actually do is hit the ground, not unlike drummers hitting their drums. In this work we translate their physical activity into something that is musical. Another aspect of this specific landscape is that one cannot really identify it as a typical German landscape. This could be Germany or Israel; it could be anywhere. This, in my opinion, is the lesson from the disaster that happened here. It is related to the human race. In no way do I think that one can understand it by looking at German history alone. Opportunity creates evil, this is my opinion. We can see evil everywhere. I didn’t need to show a very German context, because what surrounds the work, surrounds myself as a visitor and viewer is part of the work’s content. And because it is in the Jewish Museum, in Berlin, within this very heavy context, I can do less. I don’t need to represent everything. Yes, this work could travel to different museums, but once it is right here, it absorbs the context of its surrounding. How does your work relate to the architecture by Daniel Libeskind? He designed this museum with National Socialism and the Holocaust in mind. Oh, of course, I meant to mention this earlier. My work relates first of all to his specific architecture. If you ask, “What is in this film?” it is exactly what the architecture is doing: being underground, looking to the sky. It is a very existential experience. It hits

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you with life, death, and identity, and one has to work with it and find what one can do with it. So for you, a work of art corresponds with the place one sees it? That also means it doesn’t create the same meaning everywhere. Yes! Museums such as art museums function as something that is kind of neutral. This is art, this is the white cube. But once you show a work of art in a context that is not neutral, art becomes something else. If I do a piece for the Knesset in Israel it has to engage with that. So when I’m doing a piece for the Jewish Museum Berlin, there’s a lot of heavy context. Actually the heaviest context I have ever allowed myself to deal with. Situated here, I believe that a work of art should be independent in a way that doesn’t provide or echo the context that is here, but which makes it able to absorb, to reflect, to raise more questions. People will come and see many things within this work: The Holocaust and then the hole in the ground; perhaps they will say “your brother’s voices are screaming from the ground”. Or they will say “This is Babi Jar.” They could say, they see Jewish kabbalah, the sefirot, shamaim va-aretz—heaven on earth—in this work. Visitors will see and say many things. And, yes, I have to take responsibility for what they see.


DE hier verortet ist, sollte auf eine Weise unabhängig sein, dass es den hiesigen Kontext weder unterstützt noch sein Echo ist, sondern ihn zu absorbieren, zu reflektieren und weitere Fragen aufzuwerfen vermag. Die Leute werden in dieser Arbeit vieles sehen: den Holocaust, die jüdische Kabbala, oder Schamaim wa-arez – den Himmel auf Erden. Vielleicht werden sie sagen: „Das sind die Stimmen deiner Brüder, die aus der Erde schreien“. Die Menschen werden vieles sehen und sagen. Und ja, ich muss für das, was sie sehen, die Verantwortung übernehmen. Könnten Sie uns einen kleinen Einblick in den Entstehungsprozess dieser Arbeit geben? Was haben Sie und Ihr Team am Set erlebt? Das Projekt war eine Herausforderung: Wir mussten ein Verständnis für das einzigartige Gelände entwickeln, eng mit vier Ingenieuren zusammenarbeiten, um das Loch zu graben und die Glasplatte mit der Schlagzeugerin aufzuhängen. Aus der Expertise von Bergleuten lernten wir etwas über Grabungstechniken.

EN Die größte Herausforderung aber war die „fliegende“ Schlagzeugerin, Alex. Wir hatten keine Möglichkeit, das zu proben. Aber Alex war einfach unglaublich. Sie spielte das Schlagzeug in der Luft, als wäre sie dort geboren. Ich denke, alle, die am Set waren, werden den Moment im Gedächtnis behalten, als ein Kran die Glasplatte himmelwärts hob. Als die beiden Schlagzeuge – eines oben, eines unten – dann zusammen spielten, klang es wie ein Konzert. Ein Konzert, wie wir es nie zuvor gehört haben. Es war atemberaubend. Sie sind Israeli – welche Rolle spielte das für Ihr Konzept? Wie nehmen Sie die Beziehung zwischen Israelis und Deutschen wahr? Ich habe mir dazu viele Gedanken gemacht, aber ich glaube nicht, dass diese Arbeit alles ausdrücken kann. Ein Kunstwerk kann nicht alles abdecken. Es muss etwas aufnehmen und sich damit beschäftigen. Aber ich würde mich freuen, wenn diese Arbeit zum Ausgangspunkt für eine Diskussion über Identität würde – in jedem Land!

Bringing this work to life was an adventurous plan: Could you give us a little bit of insight into the making of? What did you and your team experience on set? The project was an adventure: Understanding the unique terrain of the mining site, working closely with four engineers in order to dig the hole and to hang the drummer on the glass surface. We learned about digging techniques from the experience and the expertise of the miners who used them for many years. But, our biggest challenge was the “flying” drummer: Alex never had similar experience in her life. We had no option to rehearse this. But Alex was just amazing. She was drumming in the air as if she was born there. We had many visitors on set. I think they will all remember that moment when a crane lifted the glass stage and carried it to the sky. When the two drummers played together, it sounded like a concert.

One that we have never seen before. It was thrilling. You are Israeli; what did that add to the idea of your piece? What is your perception of the relationship between Israelis and Germans? I have many opinions on this, but I don’t think the piece can say all this. A piece of art cannot cover everything! It needs to take something and go with it. What I would like, is this piece to be the starting point of a discussion about identity—in any country.

Wir danken für das Gespräch! Thank you for the interview! Das Interview führte / The interview was conducted by Cilly Kugelmann

Gilad Ratman, 1975 geboren, lebt und arbeitet in Tel Aviv. Seine Videoarbeiten und Installationen beschäftigen sich mit der Darstellung menschlichen Verhaltens innerhalb komplexer Kontroll- und Abhängigkeitssysteme. Gilad Ratman, born 1975, lives and works in Tel Aviv. Known for his video works and installations, Ratman aims to document aspects of human behavior within complex systems of control and dependency.

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IM NETZ ONLINE Sie haben Interesse an unseren Themen, können aber nicht ins Museum kommen? Wir entwickeln immer wieder Angebote, die auch unabhängig von einem Museums­besuch funktionieren. Stöbern Sie durch unsere Online-Ausstellungen und Features! Not everyone who is interested in our topics can visit us. That’s why we regularly develop content that works on its own, without a visit to the museum. Take a look at our Online-Features!

GEWALT 1930–1938 VIOLENCE 1930–1938 Das Projekt „Topographie der Gewalt“ widmet sich der geografischen Darstellung von Gewaltaktionen gegen Personen, jüdische Einrichtungen und Unternehmen an verschiedenen Orten des Deutschen Reiches. Die Medienstation der Ausstellung, die in Kooperation mit dem UCLAB der FH Potsdam unter Mitwirkung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz entstand, wird auch online ausgespielt und dokumentiert eindrücklich, dass antisemitische Übergriffe bereits vor 1933 nicht selten waren. Vor Ort wie auch im Netz laden wir Sie ein, Hinweise und Informationen beizutragen. www.jmberlin.de/topographie-der-gewalt The project Topography of Violence in our exhibition consists of a geographical representation of the acts of violence committed against Jewish individuals, religious institutions, and businesses throughout the German Reich. The media application, which was realized in cooperation with the UCLAB of the Potsdam University of Applied Sciences and with the assistance of the House of the Wannsee Conference Memorial and Educational Site, impressively shows that acts of antisemitic violence weren’t unusual even before 1933. Take a look at the application on our website. Comments or additional information are welcome! www.jmberlin.de/topographie-der-gewalt

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KLANG MUSIC Vom Gesang der Antike bis zu den Kompositionen der Gegenwart: Musik begleitet das religiöse wie das weltliche jüdische Leben. Im Klangraum unserer Ausstellung können Sie in einen Gottesdienst eintauchen, dem Klang eines Schofars lauschen – und in alte wie junge Musik hinein hören. Unsere Playlist finden Sie hier: www.jmberlin.de/­klangraum From ancient chants to contemporary compositions, music has always played a part in religious and secular Jewish life. Visitors to the exhibition have the opportunity to listen to: the sound of the shofar, the sound tapestry of a traditional religious service, and recent klezmer and pop songs. Listen to our playlist! www.jmberlin.de/en/musicroom

Veranstaltungen


ZUFALLSGESCHICHTEN COINCIDENCES In unserer täglichen Archivarbeit kommt es immer wieder zu Zufällen. So erfuhren zum Beispiel zwei sich bis dahin unbekannte Nachbarn in Manhattan erst während eines Besuchs unseres Archivleiters Aubrey Pomerance, dass sie – nahezu gleich alt – beide aus Berlin stammten und ein ähnliches Schicksal teilten. Und selbst flüchtige Recherchen können bisweilen dazu führen, dass sich verloren geglaubte Familienmitglieder wiederfinden. Das gibt’s doch nicht? Doch: www.jmberlin.de/feature-zufaelle-im-archiv In our everyday work in the archive, now and again coincidences arise that seem unbelievable at first. For example, when Archive Director Aubrey Pomerance traveled to New York he realized that two people he was visiting both lived in the same building. Neither knew anything about the other, but both were born in Berlin, one in 1929, the other in 1932 and were both linked by a similar fate. And sometimes even brief researches can lead to families finding each other again – even if they live on separate parts of the world. That can’t be! Can it? www.jmberlin.de/en/ feature-coincidences-in-the-archive

LESEZEIT TIME TO READ Wir laden alle Kinder zwischen 6 und 12 Jahren ein, unsere Vorlesevideos anzusehen! Unsere Bücher wirken auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen verstaubt und nicht wie schillernde, glänzende Schätze. Aber sie sind etwas Besonderes: Nur wenige Bibliotheken in Deutschland besitzen die oft reich bebilderten Drucke. Ihre Verfasser*innen und Zeichner*innen leben längst nicht mehr, und doch sind ihre Geschichten auf magische Art noch heute aktuell und spannend. www.jmberlin.de/lesezeit-fuer-kinder We invite all children between 6 and 12 years to have our librarian read to them! At first glance, our books may seem a bit old and dusty. But they are full of hidden treasures, and only very few libraries in Germany own the often colorfully painted prints. Their authors and illustrators have long since passed away, and yet their stories are still magically topical and exciting today. www.jmberlin.de/lesezeit-fuer-kinder (German only)

MEDIATHEK MEDIA LIBRARY Vorträge, Diskussionen, Lesungen und mehr: Viele unserer Veranstaltungen zeichnen wir auf und stellen sie Ihnen online zur Verfügung. Folgen Sie unserer jüngsten Ringvorlesung „Der Glaube der Anderen“, hören Sie Zeit­zeugengesprächen zu oder stöbern Sie in den Online-Publikationen unserer Mediathek: www.jmberlin.de/jmb-mediathek Lectures, discussions, readings and more: We record many of our events and make them available to you online: Follow our latest lecture series The Others’ Faith, listen to talks with eyewitnesses of the Holocaust or browse through the online publications in our media library: www.jmberlin.de/en/jmb-media-library

#JMBERLIN Events

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MAK ING THE INVIS IBLE VISI BLE 68

Unsichtbares sichtbar machen


Museen sind mehr als physische Orte: Einst Tempel des ehrfürchtigen Staunens, sind sie heute interaktive Orte der Kommunikation und Integration. Über die Nutzung digitaler Medien im Jüdischen Museum Berlin. Today, museums are more than just physical places. They have undergone a profound transformation from temples of awestruck wonder to interactive spaces of communication and integration. On the use of digital media in the Jewish Museum Berlin.

Text

Barbara Thiele DE  Als das JMB im September 2001 eröffnete, faszinierte mich als junge Studentin der damals vollkommen neue Ansatz, die Besucher*innen an der Ausstellung teilhaben zu lassen. Sie durften Objekte anfassen, sich unterhalten, die so genannten Hosts ansprechen, die anders als in anderen Museen nicht nur auf die Exponate aufpassten, sondern mit den Besucher*innen in Austausch traten und Auskunft über die Inhalte der Ausstellung geben konnten. 19 Jahre später eröffnet das JMB eine neue Dauerausstellung. Hosts sind immer noch da. Und es gibt immer noch viel zum Anfassen, so genannte Hands-On-Stationen gehören mittlerweile zum Standardrepertoire eines jeden Museums. Die technologischen Möglichkeiten haben jedoch in der Zwischenzeit rasant zugenommen, sie erweitern die Darstellungsformen von Themen und die Vermittlungsangebote zu Inhalten. So können sich Besucher*innen in der neuen Ausstellung in virtuell rekonstruierten Synagogen umsehen, die während der Gewaltaktionen um den 9. November 1938 zerstört wurden; fragil gewordenes Papier kann in Medienanwendungen gezeigt, alte Schriftstücke virtuell durchgeblättert und gelesen werden.

EN  When the JMB opened in September 2001, I was a young student fascinated by its innovative concept of letting visitors participate in the exhibition. Visitors were allowed to touch the objects, converse, and address the hosts, who, in contrast to other museums, not only watched over the exhibits, but also engaged in a dialogue with visitors and provided information about the exhibition content. Nineteen years later, the JMB is opening a new permanent exhibition. The hosts are still here, and there is still a great deal to touch, as “hands-on” exhibits are now part of the standard repertoire of every museum. However, the technological options have increased rapidly. They are expanding the ways topics can be represented and content can be communicated. For example, visitors to the new exhibition can take a tour of several virtually reconstructed synagogues that were destroyed during the acts of violence on 9 November 1938. Fragile paper can be displayed in media applications, and virtual documents can be leafed through and read.

In einer Virtual-Reality-Anwendung können Besucher*innen einen Blick auf die Ostwand der Synagoge Plauen vor ihrer Zerstörung werfen: Der jüdische Architekt Fritz Landauer hatte sie im Stil des Neuen Bauens entworfen, 1930 wurde sie eingeweiht. In a virtual reality application, visitors can take a look at the eastern wall of the Plauen synagogue before its destruction: Designed by the Jewish architect Fritz Landauer, it was inaugurated in 1930.

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Digitale Medien bieten individuell zugeschnittene Zugänge zu unserer Ausstellung: An Medienstationen können Besucher*innen selbst bestimmen, wo sie sich vertiefen oder sich ein Zeitzeugeninterview im Original oder in der Übersetzung anhören möchten. An manchen Stationen können sie spielerisch mit den Objekten in Kontakt treten, so „erzählt“ z. B. die Anfang der 1990er-Jahre wiedergefundene, zerstörte Skulptur „L’amitié au cœur“ von Etienne-Maurice Falconet (1716–1791) ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, wenn man eine Nachbildung des Herz-Bruchstücks berührt. Viele digitale Anwendungen bieten zudem den Vorteil, dass sie sowohl vor Ort im Museum als auch unterwegs abrufbar sind. So können Besucher*innen Inhalte, die sie in der Ausstellung besonders interessierten, zu Hause zu jeder Tages- und Nachtzeit noch einmal ansehen oder sogar weiterentwickeln: Auf der Website www.jewish-places.de können beispielsweise jüdische Orte in der eigenen Nachbarschaft entdeckt und Informationen dazu selbst ergänzt werden. Und mediale Angebote machen Spaß. Im Raum „Klang“ können Besucher*innen ein audiovisuelles Erlebnis genießen und sich durch Jahrhunderte und verschiedenste Stile jüdischer Musik hören. 2020 stehen im JMB weiterhin das Sammeln und Bewahren, das Erforschen und Vermitteln sowie das Ausstellen der jüdischen Geschichte und Kultur in Deutschland im Fokus. Digitale Lösungen können heute aber dabei helfen, die Qualität des Besuchs zu erhöhen, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen, mit den Besucher*innen zu interagieren, Forschungsergebnisse zugänglich zu machen und gemeinsam weiterzuentwickeln. Sammlungsvielfalt erleben Das JMB sammelt und bewahrt die Erinnerungsstücke deutscher Jüdinnen und Juden, Emigrant*innen und Nachkommen von Überlebenden des Holocaust weltweit. Dokumente, Fotografien, Bücher, Kunstwerke, Ritualobjekte und Alltagsgegenstände wurden über Jahrhunderte und Generationen hinweg in Familien aufbewahrt. Im Museumsarchiv werden sie erforscht, geordnet und inventarisiert. In Ausstellungen, im Bildungsprogramm, in den Publikationen und auf der Website werden anhand dieser Sammlungen Familiengeschichten aus besonders persönlichen, deutsch-jüdischen Perspektiven erzählt. Gezeigt werden kann jedoch immer nur ein Bruchteil dessen, was im Museumsarchiv schlummert. Die große Herausforderung ist, die Zeitzeugnisse für die Allgemeinheit aufzuschlüsseln, sie zu zeigen und gleichzeitig diesen Schatz für die Nachwelt zu bewahren. Viele Erinnerungsstücke sind sehr empfindlich, daher kann das Archiv nicht dauerhaft geöffnet werden. Eine digitale Lösung ermöglicht es nun den Besucher*innen der Ausstellung, auf einer großen interaktiven Medienwand einen Teil der Familiensammlungen zu entdecken: Über 400 Objekte, Dokumente und Fotografien lassen sich anklicken, vergrößern und mitunter in 3D-Animationen von allen Seiten betrachten. Bücher können digital „durchgeblättert“, Fotos nebeneinander gestellt und verglichen werden. Kurze Texte zur Biografie der Personen, zu den Hintergründen und zur Vielfalt der Familiensammlungen ergänzen und erweitern den visuellen Streifzug durch Jahrhunderte deutsch-jüdi-

DANK AN DIE FREUNDE! Das Engagement der Freunde des JMB hilft, die umfangreiche Sammlung an Erinnerungsstücken zeitgemäß aufzubereiten. Somit werden die Schätze des Archivs für alle Besucher*innen der Dauerausstellung in einer innovativen Form sichtbar. www.jmberlin.de/freunde A SHOUT-OUT TO OUR FRIENDS! The work of the Friends of the JMB has helped us organize the extensive collection of memorabilia in a modern way. As a result, the archive’s treasures are now being presented to all visitors as part of an innovative solution. www.jmberlin.de/en/friends-of-the-jewish-museum-berlin

Digital media provide tailored access to our exhibition. At media stations, visitors can decide for themselves what they want to learn more about or whether they want to listen to an original or a translated interview with a historical witness. At some of the stations, they can playfully interact with objects. For example, the destroyed sculpture L’amitié au cœur by Etienne-Maurice Falconet (1716–1791), which was rediscovered in the early 1990s, tells “her” story from a first-person perspective when visitors touch a replica of the heart fragment. Many digital applications offer the added advantage of being accessible both in the museum and remotely. At any time of the day or night, in the comfort of their homes, visitors can thus re-immerse themselves in content that interested them at the exhibition, or even further develop it themselves. At the website www.jewish-places.de, for example, they can discover Jewish places in their own neighborhood and add their own information about them. Finally, media-based exhibits are fun. In the “Sound” room, visitors enjoy an audiovisual experience as they sample different Jewish music styles across the centuries. In 2020, the JMB will continue its focus on collecting, preserving, studying, teaching, and presenting Jewish history and culture in Germany. Today, digital solutions help the museum increase the quality of visits, make the invisible visible, interact with visitors, provide access to research findings, and jointly develop these findings with others. Experiencing the collection’s diversity The JMB collects and preserves memorabilia from German Jews, emigrants, and descendants of Holocaust survivors from around the world. Documents, photographs, books, artworks, ritual objects, and everyday items have been saved by families for centuries and generations. They are studied, sorted, and inventoried in the museum archive. At exhibitions, in its education program, in publications, and on its website, the museum uses these collections to tell family stories from highly personal, German-Jewish perspectives. However, it can only show a fraction of what is stored in the museum archive. The great challenge is to effectively organize these historical objects and to present them to the general public while preserving the treasures for future generations. Because many objects are very sensitive, the archive cannot be opened permanently.

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Unsichtbares sichtbar machen


schen Lebens. So kann das Museum seiner Aufgabe des Vermittelns seiner Sammlungen gerecht werden und gleichzeitig die Objekte selbst vor dem Zerfall bewahren. Die Präsentation soll in den nächsten Jahren Stück für Stück erweitert werden, sodass ein immer größerer Teil der Familienschätze sichtbar gemacht wird. Visualisierung antisemitischer Übergriffe Der Raum „Katastrophe“ behandelt in der Ausstellung den Zeitraum 1930 bis 1945. Die Medienanwendung „Topographie der Gewalt“ widmet sich der geografischen Darstellung von Gewaltaktionen gegen Personen, jüdische Einrichtungen (Synagogen, Gemeindeeinrichtungen und Friedhöfe) und Unternehmen an verschiedenen Orten des Deutschen Reiches. Die Übergriffe wurden von Mitgliedern der SA und SS, aber auch von zahlreichen Unbekannten verübt. Das Projekt steht in enger Verbindung mit aktueller Geschichtsforschung, die die „spontanen“ Ausschreitungen des erstarkenden Antisemitismus bereits vor 1933 näher beleuchtet. Die Anwendung zeigt keine abgeschlossene und vollständige Erhebung, aber sie visualisiert die Vielzahl von Gewalttaten aus der Bevölkerung, die überall im Deutschen Reich stattfanden. Sie verdeutlicht zudem, dass es zwei große Wellen von Gewalt in den Jahren 1933 und 1935 gab sowie den massiven Anstieg von Gewalttaten im Jahr 1938. Darstellung, Vermittlung und Forschung geschehen über insgesamt drei Medienanwendungen: Eine projizierte und animierte Wandkarte im Ausstellungsraum macht die

A digital solution in the form of a large interactive media wall will now enable exhibition visitors to discover many of these family collections. More than 400 objects, documents, and photographs can be clicked on and enlarged; some can be viewed from all sides in 3D animations. Books can be leafed through digitally, and photographs can be placed next to each other and compared. Short texts that describe the people’s lives, the background of the objects, and the diversity of the family collections round off and expand this visual tour of centuries of German Jewish life. The digital solution will allow the Jewish Museum to fulfill its mission of presenting the objects in its collections while protecting them from decay. The presentation will be gradually expanded in coming years, with a growing number of the family treasures made available to the public. A visualization of antisemitic attacks between 1930 and 1939 The “Catastrophe” room in the core exhibition spans the period from 1930 to 1945. The media application Topo­ graphy of Violence consists of a geographical representation of the acts of violence committed against Jewish individuals, religious institutions (synagogues, Jewish community organizations, cemeteries), and businesses throughout the German Reich. The attacks were carried out not only by members of the Nazi Party-affiliated SA and the SS, but also by numerous unknown persons. The project is closely connected to current historical research, which has shed light on the

Die große, interaktive Medienwand „Familienalbum“ präsentiert einige unserer Familiensammlungen mit insgesamt über 400 Objekten: Jedes einzelne erzählt eine Geschichte. Zusammen fügen sie sich zu vielschichtigen Porträts jüdischen Lebens in Deutschland, über Jahrhunderte hinweg. The large interactive digital wall Family Album presents a small number of our family collections, with a total of more than 400 objects. Each individual object tells a story. Together, they create multifaceted portraits of centuries of Jewish life in Germany. Making the Invisible Visible

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Die Medienanwendung Topographie der Gewalt ist eine Produktion der Stiftung Jüdisches Museum Berlin in Kooperation mit dem UCLAB der FH Potsdam unter Mitwirkung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz. Die partizipative Webanwendung finden Sie unter www.jmberlin.de/topographie-der-gewalt. Wir freuen uns auf Ihre Beiträge, verifizierte Beiträge werden veröffentlicht. The media station Topography of Violence has been created by the Jewish Museum Berlin Foundation in cooperation with the UCLAB of the Potsdam University of Applied Sciences and with the assistance of the House of the Wannsee Conference Memorial and Educational Site. You will find the participatory web application at www.jmberlin.de/ topographie-der-gewalt. We look forward to your input—verified posts will be published.

Wellen der Gewalt als raumzeitliche Muster sichtbar. Zudem können Besucher*innen an einer Medienstation neben der Wandkarte diese Daten näher in Betracht nehmen; hier kann auch eine Recherche nach Orten oder Jahreszahlen beginnen. Zusätzlich wird diese Anwendung auf der JMB-Website ausgespielt und lädt Nutzer*innen dazu ein, den Datenbestand zu erweitern und mit Hinweisen anzureichern. Das Museum baut auf Partizipation: Konsequent frei und für alle zugänglich, kann Forschung betrieben und vervollständigt werden. Digital das Museum entdecken – die JMB App Ebenso wie digitale Medien in der Ausstellung einen Mehrwert bieten, erhalten Besucher*innen in der JMB App weit mehr als nur Information zum Hören: Kostenlos auf das persönliche Smartphone heruntergeladen oder auf einem Leihgerät erhältlich, führt die App auf unterschiedlichen Touren durch

“spontaneous” expressions of the worsening antisemitism before 1933. The application does not present a completed, exhaustive compilation of data, but visually represents the many acts of violence by the populace across the German Reich. It also shows that there were two large waves of violence in 1933 and 1935, as well as a massive increase in violent acts in 1938. Presentation, communication, and research are facilitated by a total of three media applications. An animated map projected onto the wall in the exhibition space shows the waves of violence as spatiotemporal patterns. In addition, at a media station next to the wall map, visitors can delve more deeply into the data by running searches for locations and years. The application will be made available on the JMB website and invite users to expand and enrich the database with their own information. The museum has chosen a participatory strategy: research can be conducted and completed by everyone. Discover the museum digitally—the JMB app Like the digital media used to enhance the exhibition experience, the JMB app will provide visitors with features beyond mere audio information. Available on borrowed devices or as a free smartphone download, it will enable users to select a variety of tours to explore the museum. Some lead to the museum’s architectural highlights and through its gardens, while others can be configured individually in the app. The app offers a wealth of additional content that cannot be viewed or listened to in the exhibition. Images, videos, music, and information about exhibits, historical contexts, and authorship will expand the museum as a place of experience. Theoretically speaking, the app can make content available in an unlimited number of languages. The JMB will initially offer tours in German, English, Spanish, French,

In der JMB App werden Gemälde mittels Close Reading erschlossen: Über Hinweise und Hintergründe, Aufforderungen zum genauen Hinsehen und vergrößerte Ausschnitte können verborgene Details und Zusammenhänge entdeckt werden. In the JMB app, paintings are explored through close reading. With the help of tips, background information, enlarged details, and instructions on what to look at more closely, visitors can discover hidden features and connections in the works.

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Unsichtbares sichtbar machen


das Museum. Besucher*innen können Spezialtouren wählen oder sich ihren Rundgang individuell zusammenstellen. Die App bietet viele zusätzliche Inhalte, die in der Ausstellung nicht zu sehen oder zu hören sind: Bilder, Videos, Musik, Informationen zu Exponaten, zum historischen Kontext oder zur Urheberschaft vergrößern den Erlebnisraum Museum. Sprachausgaben sind in der App theoretisch unbegrenzt möglich. Das JMB bietet die Touren zunächst auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und Hebräisch an. In den nächsten Jahren soll das Angebot stetig erweitert werden. Ein großes Augenmerk wurde zudem auf die Wegeführung in der App gelegt: Besucher*innen können stets eine Karte mit ihrem Standort aufrufen, auf der auch die Ausstellungsstücke in ihrer näheren Umgebung zu sehen sind. Innerhalb einer Tour werden die bereits gesehenen und kommenden Objekte angezeigt und schaffen so Orientierung. So haben Besucher*innen jederzeit die Möglichkeit, ihren Rundgang individuell zu konfigurieren, in eine Tour ein- oder wieder auszusteigen. Damit wird die App zum persönlichen Museumsguide, der unterstützt und gleichzeitig Freiheit gewährt. Die App wurde grundlegend inklusiv konzipiert und ist weitgehend barrierefrei. Sie wurde mit einem Team des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV) abgestimmt: Sehbehinderte und blinde Menschen können sich alle Texte vorlesen lassen, Bilder wurden mit Beschreibungstexten versehen, Schrift kann vergrößert werden. Für Menschen mit Hörbehinderungen gibt es Texte zum Mitlesen von Audiotracks sowie die Untertitelung von Videos in der jeweils eingestellten Sprache. Geplant sind Videos in Gebärdensprache und Texte in Leichter Sprache. Der Unterhaltungswert der App ist uns äußerst wichtig, daher vermittelt sie Hintergrundinformationen oft über einen spielerischen Ansatz: So machen sich Nutzer*innen mit den Regeln der jüdischen Speisegesetze vertraut, indem sie virtuell einkaufen gehen und dabei erraten müssen, welche Lebensmittel koscher sind. Oder sie lernen historische Persönlichkeiten in der „Hall of Fame“ wie in einer Dating App durch Swipe-Gesten kennen. Wir wollen, dass unsere Besucher*innen teilhaben und mitdiskutieren. Digitale Anwendungen bieten vielfältige Möglichkeiten für Partizipation, Dialog und Interaktion, aber auch bei der Vermittlung zusätzlicher Perspektiven. Gleichzeitig glauben wir, dass reale Erlebnisse in der digitalisierten Welt wieder mehr an Wert gewinnen, das Digitale steht insofern in keinerlei Konkurrenz zum Besuch einer Ausstellung. Die Einführung digitaler Technologien kann das Museumserlebnis steigern, flexibler gestalten und Zugänge zu unseren Inhalten ermöglichen, weltweit und ortsungebunden. Unsere Besucher*innen können heute das Museum durch viele offene Türen betreten.

Italian, and Hebrew. In the coming years, it will continually expand the app to include other languages. In addition, particular emphasis has been placed on navigation within the museum: at all times, visitors can retrieve a map with their location and the exhibits in their direct vicinity. During a tour, the app shows previously viewed and upcoming objects, thus providing orientation. At any point along the way, visitors can individually configure a tour, begin a new tour, or end the tour they are on. This feature transforms the app into a personal museum guide that provides support while also ensuring a great deal of flexibility. The app has an inclusive design and meets extensive accessibility requirements. It was developed in cooperation with a consultant team from the Berlin General Association for the Blind and the Visually Impaired. Blind and visually impaired people can have all of the texts read aloud. Images come with descriptive texts, typefaces can be enlarged, and color contrasts can be individually adjusted. For people with hearing impairments, audio tracks are made available with texts, and videos come with subtitles—in all of the selected languages. The museum is also planning to offer sign language videos and simple language texts. The app’s entertainment value is extremely important to us. For this reason, it has been designed to provide background information in a playful way. For example, users can become acquainted with the Jewish dietary laws by going on a virtual shopping tour and guessing what foods are kosher. Or they can learn about historical figures by swiping through our “Hall of Fame” as they would through a dating app. Our aim is to encourage visitors to take an active role and join the discussion. Not only do digital applications offer a wide range of opportunities for participation, dialogue, and interaction, but they also present many new perspectives. At the same time, we are convinced that real experiences will become increasingly valuable in a digitized world. As a result, we do not see digital media as competing with the exhibition. The introduction of digital technologies can enhance the museum experience, add flexibility, and offer mobile access to our content across the world. Today there are many doors through which our visitors can enter our museum.

Barbara Thiele ist seit Januar 2016 Leiterin der Abteilung Digital & Publishing. Gemeinsam mit ihrem Team verantwortet sie die Planung, Steuerung und Koordination des digitalen Wandels des JMB sowie die Museums­ publikationen. Barbara Thiele is Head of Digital & Publishing at the Jewish Museum Berlin since January 2016. With her team she is responsible for the digital change and all digital projects in the museum as well as the museum’s publications.

Making the Invisible Visible

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AUSSTELLUNGSVORSCHAU UPCOMING EXHIBITION

REDEMPTION NOW YAEL BARTANA Standbild aus „Malka Germania“, Yael Bartana, Auftragsarbeit für das Jüdische Museum Berlin, 2020 Film still from Malka Germania, Yael Bartana, commissioned work for the Jewish Museum Berlin, 2020 Yael Bartana, 2019

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Im Frühjahr 2021 zeigt das Jüdische Museum Berlin die Werkschau „Redemption Now“ der Videokünstlerin Yael Bartana. In ihren Arbeiten erkundet Bartana die Bildsprachen von Identität und Gedenkpolitik. Öffentliche Rituale, Zeremonien und soziale Praktiken, die dazu dienen sollen, kollektive Identitäten zu stärken, bilden Schwerpunkte ihres künstlerischen Schaffens. Ein häufiger Bezugspunkt ist dabei das Nationalbewusstsein ihres Geburtslandes Israel. Wie ein roter Faden durchzieht der Wechsel von Realität und Fiktion und die Frage nach dem „Was wäre, wenn?“ das Werk der Künstlerin. Die Ausstellung zeigt neben frühen und neueren Arbeiten die Videoinstallation „Malka Germania“, die Bartana eigens für diese Ausstellung konzipiert und in Berlin produziert hat. Den thematischen Fokus dieser Arbeit bildet das Hinterfragen politischer Heilserwartungen, etwa nach kollektiver Erlösung. Auch hier schafft Bartana künstlerisch alternative Realitäten, die den Zuschauer*innen neue Blickpunkte ermöglichen. Dabei schöpft sie aus der deutsch-jüdischen Vergangenheit und Gegenwart und bringt Szenen des kollektiven Unbewussten an die Oberfläche. Zwischen 2006 und 2011 arbeitete Yael Bartana in Polen und schuf dort die VideoTrilogie „And Europe Will Be Stunned“ über das von ihr konzipierte „Jewish ­Renaissance Movement in Poland“, eine zunächst fiktive Kampagne zur Rückkehr von Jüdinnen und Juden nach Polen in Anlehnung an das zionistische Projekt. Die Trilogie war 2011 der polnische Beitrag zur 54. Internationalen Kunst­ ausstellung (Biennale) in Venedig und wurde kürzlich von der britischen Zeitung The Guardian auf Platz 9 der wichtigsten Kunstwerke des 21. Jahrhunderts gewählt. Frühjahr 2021 Jüdisches Museum Berlin, Altbau, 1. OG Die Videoinstallation „Malka Germania“ wurde als Auftragsarbeit ausgeführt und ermöglicht durch die Freunde des Jüdischen Museums Berlin. Die Ausstellung wird gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.

Beginning in spring 2021, the Jewish Museum Berlin will exhibit an expansive presentation of works by the video artist Yael Bartana, Redemption Now. Bartana explores the visual languages of identity and commemorative politics. Her artistic motifs include public rituals, ceremonies and social practices intended to strengthen collective identities. A frequent point of reference is the national consciousness of Israel, her birthplace. The blurred lines between reality and fiction and questions of “what if” are recurring themes across her œuvre. Alongside some of her early and more recent work, the exhibition will introduce the new video installation Malka Germania that Bartana has conceived exclusively for the show and produced in Berlin. The piece challenges political expectations of salvation or collective redemption. Once again, Bartana will artistically enact alternative realities that offer viewers new perspectives. Bartana draws on the German-Jewish experience, past and present, and unearths scenes from the collective unconscious. Between 2006 and 2011, Yael Bartana worked in Poland, where she produced the trilogy And Europe Will Be Stunned, which is about an imaginary movement of Jews returning to Poland, inspired by the Zionist project. The trilogy was Poland’s contribution to the 2011 Venice Biennale; The Guardian recently ranked it ninth on the UK newspaper’s list of the best art of the twenty-first century. Spring 2021 Jewish Museum Berlin, baroque building, first floor The Malka Germania video installation was created as a special commission and made possible by the Friends of the Jewish Museum Berlin. The exhibition is supported by the Capital Cultural Fund. jmberlin.de/ausstellung-yael-bartana jmberlin.de/en/exhibition-yael-bartana

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Mops Heller Lederball, Lederbeutel, schwarzes Portemonnaie, Knöpfe, Seile in diversen Stärken, Filz Pug Leather ball, leather bag, black wallet, buttons, ropes in various strengths, felt

/ CHAU S R O V EW PREVI

WILLKOMMEN AN BORD!

WELCOME ABOARD!

Fotos / Photos

Gelia Eisert

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Biber Körbe unterschiedlicher Größen und Rundungen, Seile und Henkel, schwarze Lederkrawatten (ausgesteift), Kokosnüsse, große Kupfermünzen, Schraubenzieher, Schuhsohlen aus Leder (für Schwimmhäute und Schwanz) Beaver Baskets of different sizes and curves, rope and handles, black leather ties (stiffened), coconuts, large copper coins, screwdrivers, leather shoe soles (for webbed feet and tail)

Kojote Trekkingrucksack, Meditationskissen, Baskenmützen, Baseballschläger, Schüttelbörsen aus Leder, Schal, Puppenwagen-Verdeck, Handball, Topflappen, Handfeger, Schuhspanner aus Holz, Spielkarten-Dose, Messing­­­­­­­­­scheiben, Kopfmuttern, schwarzer Würfel Coyote Backpack, meditation cushion, berets, baseball bats, leather purses, scarf, hood of a dolls pram, ball, potholders, hand brush, shoetrees made of wood, playing card box, brass washers, head nuts, black dice

Kurzkopfgleitbeutler Waschlappen ausgeplostert nach Körperform, Nagelfeilen, kleine Haarklemmen, Werkzeuggriffe, Stift-Enden, Stift-Enden mit rotem Radiergummi Sugar glider Washcloth padded according to bodyshape, nail files, small hairpins, tool handles, pen ends, pen ends with red erasers

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Panda Großer weißer Sitzsack, Clubsessel ohne Sitzfläche, Nackenrollen, Kopfstützen, Strumpf, Sofakissen, Wok, halbe Schallplatten, Tischtennisschläger, Hut, Schubladengriff, Schnürsenkel, Lineal, Schloss-Riegel Panda Big white beanbag, club chair without seat, bolsters, headrests, stocking, sofa cushion, wok, half small records, table tennis bats, hat, drawer handle, shoelace, ruler, lock bolts Artikel_Headline_EN

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Orang-Utan Korbsessel, Korb, Jai-Alai-Schläger, Basttaschen, marokkanischer Sitzpouf, Auto-Massagematte, Massagebürsten, Holzperlen, kleiner Basketball, Holzschüssel, ein Paar KinderLederschläppchen, Sisalteppiche (eingerollt) Orangutan Basket chair, basket, Jai alai bat, bast bags, Moroccan pouf, car massage mat, massage brushes, wooden beads, small basketball, wooden bowl, pair of children’s leather slippers, sisal carpets (rolled up)

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Siebenschläfer Flaschenbürsten, Flötenreiniger, Schrauben, kleine Metallringe, Dosenöffner-Laschen, Plektrum, Kabel (dreiphasig), rote Fahrradschlauchkappe Dormouse Bottle brushes, flute cleaner, screws, small metal rings, can pull tabs, guitar pick, cable (three-phase), red bicycle tube cap

Zebra Stuhlsitzflächen, Bücher, Stuhlbeine, Verlängerungskabel, Emaille-Eimer in Schwarz und Weiß, Drehgriffe, kleine Räder, feine Besen, schwarzweißer Schal (Eintracht Frankfurt), Augenmaske, Taschenkompasse, Schlüsseletuis Zebra Chair seats, books, chair legs, extension cords, enamel buckets in black and white, turning handles, small wheels, fine brooms, black-andwhite scarf (Eintracht Frankfurt), eye mask, pocket compasses, key cases

Waschbären Schöpfeimer aus Zink, Alutöpfe, graue Muffs, Schöpfkellen, kleine Espressokannen-Deckel, Operngläser, Wischmops, Salzstreuer, Handbesen, Spülbürsten, Fahrradlenker, Zinnbecher, Salatgabeln Racoons Zinc bailers, aluminium pots, grey muffs, ladles, small espresso can lids, opera glasses, mops, salt shakers, hand brooms, dishwashing brushes, bicycle handlebars, tin cups, salad forks

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A WHOLE BUILDING HAU/ C S R VO EW PREVI

FOR ONE STORY 82


Die neue Kinderwelt des ­Jüdischen Museums Berlin heißt ­ANOHA – eine sprachlich spielerische Variante von „Arche Noah“. Die Ausstellung thematisiert eine einzige biblische Geschichte: Die Erzählung der Sintflut. The new children’s world of the Jewish Museum Berlin is called ANOHA—playfully based on the sounds of “Noah’s Ark”. The exhibition takes as its theme a single biblical narrative: the story of the Great Flood.

Text

Ane Kleine-Engel, Gelia Eisert, Barbara Höffer DE  Mit der Eröffnung von ANOHA heißt das Jüdische Museum Berlin Kinder von drei bis zehn Jahren und deren Familien an einem außergewöhnlichen Ort willkommen. Über fünf Jahre Entwicklungs- und Bauarbeit haben in der ehemaligen Blumengroßmarkthalle ein Haus mit 2.700 Quadratmetern und einer großen Ausstellungsfläche entstehen lassen. In der Mitte dieses Hauses findet sich eine kreisrunde, riesige Arche aus Holz. In ihr und um sie herum stehen, liegen und fliegen 150 große und kleine Tierskulpturen. Sie alle bestehen aus Alltagsgegenständen und recycelten Materialien.

EN  Opening its children’s world ANOHA, the Jewish Museum Berlin welcomes children aged three to ten and their families to an extraordinary location. More than five years of planning and building in the former flower markethall have come to fruition in a museum with a floor area of 2,700 square meters and one large exhibition space. At the center of that space is an enormous, circular wooden ark. In and around it, 150 large and small animal sculptures stand, lie, or fly. They are all made of everyday objects and recycled materials.

Ein Kinderbeirat war aktiv an der Entwicklung der Museumskonzeption beteiligt. Und auch nach der Eröffnung gestalten Kinder das Programm von ANOHA partizipativ mit. An advisory board of children was actively involved in planning the museum. After the opening, children will continue to participate in designing ANOHA’s programs.

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“Because the earth is filled with wrongdoing and corruption and robbery I am going to destroy it. Make yourself an ark of wood with enclosures for ­animals and gather food for all aboard. I shall bring a flood through the water upon the earth and destroy all that has the spirit of life.” God said, “It is with you, your wives and sons, I will maintain My Covenant. It is you who have been righteous before Me in this corrupt age. Now go and get for the ark seven pairs of all the clean animals and two pairs of animals who are unclean. Each pair, male and female, is to be taken according to their species. In seven days, I will blot out everything in existence that I have made.” 1

Da G’tt aber die Bosheit der Menschen sah, sagte er zu Noach: „Ich habe beschlossen, alle Lebewesen zu vernichten, denn sie sind so böse zueinander, dass ich es nicht ertragen kann. Du aber sollst dir ein großes Schiff, eine Arche (tevah), aus Holz bauen. […] Denn ich will eine riesige Wasserflut über die Erde bringen, damit alle Lebewesen, die auf der Erde leben, ertrinken. Du aber sollst in die Arche gehen, wenn du sie fertiggestellt hast, du, deine Frau, deine Söhne und auch die Frauen seiner Söhne, deine ganze Familie, auch Tiere sollst du mitnehmen, denn mit dir möchte ich einen ganz besonderen Bund schließen.“ 1 Entsprechend dem jüdischen Respekt vor dem Namen Gottes wird in der deutschen Übersetzung der Tora „G’tt“ geschrieben. Der Protagonist der Sintfluterzählung heißt dort Noach. In christlichen Übersetzungen heißt er Noah, in der islamischen Überlieferung Nuh. Allen gemein ist, dass die Geschichte der Arche Noah seit Generationen Ansatzpunkte für zahlreiche Inter-

pretationen bietet, um über Gott und die Welt nachzudenken, über den Umgang mit Regeln und Menschen, über aktuelle Themen wie Natur und Umwelt, Identität und Vielfalt. Sie handelt von Verfehlungen, Enttäuschungen und Zerstörung, aber auch von Errettung, Zuversicht und Neubeginn. Sie konfrontiert uns mit der Frage: Wie kann jede und jeder von uns die Welt ein Stück verbessern? Damit berührt sie das jüdische Konzept des Tikkun Olam. Wörtlich bedeutet es etwa „die Welt reparieren“. Im Kern eine Selbstverpflichtung jedes Menschen, durch die Einhaltung der Gebote, in religiöser, sozialer oder gesellschaftlicher Hinsicht richtig zu handeln, geht es jedoch weit über die Bedeutung hinaus, vorhandene Mängel oder Schäden zu beheben. 1  Erzähl es deinen Kindern – Die Torah in fünf Bänden. Band 1: Bereschit – Am Anfang, übertragen von Bruno Landthaler und Hanna Liss mit Illustrationen von Darius Gilmont, Ariella Verlag, Berlin 2014, S. 27

The protagonist of the Flood narrative is called Noach or Noah in Jewish texts; in Christian translations his name is usually Noah and in the Islamic tradition Nuh. For generations, the story of Noah’s Ark has inspired interpretations and reflections on God and the world, on dealing with rules and with other people, and on pressing issues of the day, such as nature and the environment or identity and diversity. The story is about transgression, disappointment, and destruction—but also about rescue, trust, and new beginnings. It confronts us with the question of what each one of us can do to make the world a little better. This touches on the Jewish concept of tikkun olam. Literally, tikkun olam means something like “repairing the world”. But it goes far beyond the idea of remedying existing flaws or damage—at its heart, tikkun olam refers to each person’s own commitment to do the right thing in religious, interpersonal, and social terms by keeping the commandments. The story of the Flood is common to Judaism, Christianity, and Islam. In fact, almost all cultures have similar stories of a great, destructive flood, stories that bring together endings and new beginnings. In the Jewish reading, the Flood narrative conveys the importance of ambivalence and distinction as a characteristic of the whole of creation. Applied to human existence, that means human beings have different genders, different physical abilities; they differ culturally and linguistically and in their actions. Yet the story of Noah turns the spotlight not on the dualities of the world, but on the recognition that human beings are as they are. People are not only good or only wicked. What’s important is to accept this about oneself and other people and to make use of that knowledge in a responsible way.

1  From “Parashat Noach: Summary”, by Nancy Reuben Greenfield. My Jewish Learning: www.myjewishlearning.com/article/parashat-noah

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Ein ganzes Haus für eine Geschichte


Die Geschichte von der Sintflut wird geteilt von Judentum, Christentum und Islam. Darüber hinaus kennen fast alle Kulturen ähnliche Geschichten von einer zerstörerischen großen Flut, bei der Ende und Neuanfang nah beieinander liegen. Nach jüdischer Lesart vermittelt diese Geschichte die Bedeutung von Ambivalenz und Differenz als Charakteristikum der gesamten Schöpfung. Auf das menschliche Dasein bezogen bedeutet das: Menschen können unterschiedliche Geschlechter haben, unterschiedliche physische Voraussetzungen, sie können sich kulturell, sprachlich und in ihrem Handeln unterscheiden. Mit der Geschichte Noahs steht nicht die Dualität der Welt im Vordergrund, sondern die Erkenntnis, dass die Menschen nun mal so sind, wie sie sind. Der Mensch ist nicht einfach nur gut oder nur böse. Das gilt es, für sich und andere zu akzeptieren und mit dieser Erkenntnis verantwortungsvoll umzugehen. Spielend lernen: Dialog und Verantwortung Im quirligen multireligiösen, interkulturellen BerlinKreuzberg treffen im ANOHA Kinder unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters auf aktuelle Fragen zu einer inklusiven Gesellschaft. Wesentlicher Bestandteil der Ausstellungserlebnisse ist ein richtungsweisendes Vermittlungskonzept: An den einzelnen Stationen der Ausstellung regen pädagogische Mitarbeiter*innen die Kinder an, sich mit der Geschichte der Sintflut auseinanderzusetzen. So stellen wir, bevor wir die Arche betreten, die Frage: Wer darf mit an Bord? Nur das Lieblingstier oder auch der vermeintliche Außenseiter? Dabei geht das praktische Spiel über in erlebte Prävention von Ausgrenzung, Diskriminierung, Antisemitismus oder Rassismus. Und wenn die Tierskulpturen aus recyceltem Material bestaunt werden, sprechen auch die Kleinsten auf ihre Art über den nachhaltigen und verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen.

Learning by Playing: Dialogue and Responsibility Located in the vibrantly multireligious and intercultural Kreuzberg district of Berlin, ANOHA poses contemporary questions about an inclusive society to children of different origins and different ages. An essential component of their exhibition experience is an innovative model in museum education: education staff are present at various points in the exhibition, where they encourage children to think about the story of the Flood. For example, before entering the ark, we ask: Who will be allowed on board? Only your favorite animal, or also one that seems like an outsider? This practical game segues into an individualized educational exercise in combating exclusion, discrimination, antisemitism, and racism. And when they admire the animal sculptures made of recycled materials, even the youngest children can talk, in their own way, about the sustainable and responsible use of resources. Fun takes pride of place when children visit the exhibition. The entrance area itself is quite an experience. The children are accompanied there by all sorts of animals, whose tracks can be spotted on the floor, who jostle on the wallcoverings in the foyer, and who are x-rayed in an animation, recalling the security checks that the children pass through on their way to a destination as yet unknown. Curiosity intensifies when the first vistas of the main exhibition open up and animal sounds can be heard in the distance. Before things really start, the story of Noah’s Ark is told in a short film—by children, for children. Entrance— The Waters Are Rising The main route through the exhibition begins (and ends) with an installation that appeals to all the children’s senses. They move through projections of raindrops from one “sound puddle” to another, jumping in with noisy splashes,

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Beim Ausstellungsbesuch steht der Spaß an erster Stelle. Bereits der Eingangsbereich wird zum Erlebnis. Begleitet werden die Kinder von allerlei Tieren: Ihre Spuren sind auf dem Boden zu entdecken, sie tummeln sich auf der Wandtapete im Eingangsbereich und werden in einer Animation „geröntgt“ – passend zum Sicherheitscheck, den die Kinder auf dem Weg zu einem noch unbekannten Ziel passieren. Die Neugierde steigt, wenn erste Blicke auf das eigentliche Ausstellungsgeschehen frei werden und entfernte Tiergeräusche zu hören sind. Bevor es losgeht, wird in einem kurzen Film die Geschichte der Arche Noah erzählt – von Kindern für Kinder. Eingang – Das Wasser steigt Eröffnet (und auch wieder beendet) wird der eigentliche Ausstellungsparcours mit einer Installation, die alle Sinne der Kinder anspricht: Durch Tropfen-Projektionen geht es über „Soundpfützen“, in die man mit Spritzgeräuschen hüpfen kann, bis zu „Klanginseln“, auf denen man liegen, schaukeln wie auf einem Schiff und das Rauschen des Meeres hören kann. Aus einfachem Regen kann aber auch eine Sintflut werden – somit rückt die Ambivalenz des Wassers in den Blick. Wasser spendet Leben, kann aber auch bedrohlich sein. Wasser hat religiöse Symbolkraft und auch eine hohe soziale, ökologische und kulturelle Bedeutung – von der Schöpfungsgeschichte über rituelle Reinigung bis zu aktuellen Fragen nach Erderwärmung, Klimaschutz oder modernen Flut- und Fluchtgeschehen. Vor der Arche – Wir gehen an Bord Die Kinder gehen auf eine eigenständige, individuell gestaltete Entdeckungsreise. Ein inklusiver Ansatz berücksichtigt unterschiedliche Fähigkeiten und Talente der Kinder. Künstlerisch-pädagogische Vermittler*innen begleiten an verschiedenen Stationen die Kinder. Sie erzählen

Dank an die Freunde! Das ANOHA-Mammut, die Kattas und die Nacktmulle erleben Tag für Tag sehr viel – und sie brauchen Unterstützung! Komm mit an Bord und werde Freund*in unter www.jmberlin.de/freunde Thanks to our friends! The ANOHA mammoth, the lemurs, and the sand puppies experience a lot every day—and they need support! Come on board and become a friend at www.jmberlin.de/en/friends-of-thejewish-museum-berlin

until they reach “sound islands” where they can lie down, rocking as if on a ship and listening to the waves of the sea. But ordinary rain can soon become a deluge. The ambivalence of water comes into focus: water gives life, but it can also be threatening. Water has religious, symbolic power, and great social, ecological, and cultural significance—from the story of creation, to ritual cleansing, to present-day issues of global warming, climate protection, and modern floods that force people to flee their homes. Before the Ark—Going on Board The children embark on their own individual journeys of discovery. Our inclusive approach takes account of their differing abilities and talents. Experts in art and museum education accompany the children at various stages of the exhibition. They tell stories, encourage the children themselves to tell stories, and draw attention to the continued relevance of the biblical narrative today. As the rising waters prompt thoughts about a fragile and threatened world, the children begin to take action. They experiment, inventing and creating new things; they can use the test channel with water to evaluate the effectiveness of their own homemade arks and other future-proof constructions. Animals that are already extinct, such as the saber-toothed tiger, want to get on board the ark as well. Through their empathy with animals, children are able to grasp—in the true sense of the word—messages about climate change and species extinction.

Der Eisbär ist ein bedrohtes Tier. Im ANOHA können Kinder ihn per Seilbahn auf die Arche ziehen. The polar bear is an endangered animal. In ANOHA, children can haul it into the ark in a rope net.


KOMM MIT AN BORD A Whole Building for One Story

ENTDECKE EINE NEUE WELT MIT DEN FREUNDEN DES JÃœDISCHEN MUSEUMS BERLIN: WWW.JMBERLIN.DE/FREUNDE

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Geschichten, animieren die Kinder dazu, selbst zu erzählen und lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass die biblische Erzählung auch heute von brisanter Aktualität ist. Wenn angesichts der hereinbrechenden Flut Gedanken an eine fragile und bedrohte Welt ins Zentrum rücken, werden die Kinder aktiv. Sie experimentieren, erdenken und erschaffen Neues, können selbstgebaute Archen und andere zukunftstaugliche Konstruktionen auf der Wasserteststrecke auf ihre Eignung überprüfen. Bereits ausgestorbene Tiere wie der Säbelzahntiger wollen auch mit an Bord. Über ihre Empathie zu Tieren werden für Kinder auf diese Weise Nachrichten von Klimawandel und Artensterben im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar. Auf der Arche – Die gemeinsame Reise Das Miteinander dieser unterschiedlichen Lebensformen mit all ihren Spezialisierungen verdeutlicht die Bedeutung von Vielfalt. Der Gepard ist besonders schnell, die Schnecke hingegen sehr langsam, der Igel erwacht in der Nacht, das Erdmännchen ist tagsüber unterwegs. Vielfalt kann sozial, geschlechtlich, altersbezogen, körperlich, geistig, sprachlich, religiös, kulturell, familiär und vieles mehr sein. Hier gehen die Vermittler*innen auf die Fragen ein: Wer bin ich und zu wem gehöre ich? Wer sind die anderen? Was kann ich selbst und was kann ich vielleicht nur mit anderen in der Welt bewirken? Die ANOHA-Arche ist rund. Sie erinnert damit an die Arche aus der ältesten, schriftlich überlieferten Flutgeschichte, der mesopotamischen. Kinder dagegen assoziierten die Form mit einem Raumschiff – so verbindet die Arche Vergangenheit und Zukunft. Sie wird zu einem gemeinschaftlichen Zufluchtsraum und zu einem Labor, in dem ein vielfältiges Miteinander erprobt wird. Damit dreht sie sich auch um die Frage: Wie ist es möglich, andere Menschen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Fremdheit anzunehmen? Die jüdische Ethik beantwortet sie in Levitikus 19.18 mit der textnahen Übersetzung aus dem Hebräischen als: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.“

On the Ark—A Shared Journey The gathering of these life forms, with all their different specializations, illuminates the meaning of diversity. The leopard is especially fast, while the snail is very slow; the hedgehog wakes up at night, while the meerkat is out and about in the daytime. Diversity may be related to social status, gender, age, physical constitution, intellect, language, religion, culture, family, and much more. The educational staff talk to the children about questions such as: Who am I, who do I belong to? Who are the “others”? What can I do on my own, and what impact on the world can I have only with the help of other people? The ANOHA ark is round in shape, recalling the ark from the Mesopotamian flood story—the oldest of its kind to have been passed down in writing. At the same time, children associate the shape with a spaceship, so the ark ties together past and future. It becomes a collective sanctuary and a laboratory to test out unity in diversity. That means it also raises the question of how we can accept other people in all their contradictions and difference. Jewish ethics answers that question in the Leviticus 19:18, in a close translation from the Hebrew, as “Love your neighbor, he is like you.”

Ane Kleine-Engel, Dr. der Jiddistik, lehrte in New York, Buenos Aires, Luxemburg, Jerusalem und Tel Aviv. Sie kuratierte international Ausstellungen und ist seit November 2019 Leiterin von ANOHA, der Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin. Gelia Eisert, Historikerin und Ausstellungsmacherin, übernahm 2003 am Jüdischen Museum Berlin das Projektmanagement der Dauerausstellung. Seit 2016 verantwortet sie das Ausstellungsprojekt ANOHA. Barbara Höffer, Kuratorin, Ausstellungs­ managerin und Kunstvermittlerin, erarbeitete die Ausstellungskonzeption von ANOHA. Seit März 2020 ist sie Standort­ leiterin der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen in Dresden. Ane Kleine-Engel holds a PhD in Yiddish Studies and has taught in New York, Buenos Aires, Luxembourg, Jerusalem and Tel Aviv. She curated international exhibitions and has been director of ANOHA, the children’s world of the Jewish Museum Berlin, since November 2019. Gelia Eisert, historian and exhibition creator, took over the project management of the permanent exhibition at the Jewish Museum Berlin in 2003. Since 2016 she has been responsible for the exhibition project ANOHA. Barbara Höffer, curator, exhibition manager and art mediator, developed the exhibition concept of ANOHA. Since march 2020, she has been the site manager of the State Ethnographic Collections of Saxony in Dresden.

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Ein ganzes Haus für eine Geschichte


Das Wasser sinkt – Auf in eine bessere Welt Wenn alle in einem Boot sitzen, gilt es mit tätiger Verantwortung eine gerechte und in diesem Sinne auch heile Welt zu erdenken, zu erzählen und zu schaffen. In Noahs Geschichte schließt Gott schließlich einen Bund mit dem Menschen und nimmt ihn in seiner Ambivalenz an. Sichtbares Zeichen dafür ist der Regenbogen. Und so geht es am Ende des Besuchs wieder durch den Flut- und Regenraum. Das Wasser zieht sich zurück und gibt das Land frei. Die Kinder werden verabschiedet mit Zuversicht und Gedanken an eine vielfältige und bunte Gesellschaft.

The Waters Recede­—Setting Out to a Better World When everyone is in the same boat, the time has come to take active responsibility and invent, narrate, and create a just world—in that sense, an ideal world. At the end of Noah’s story, God makes a covenant with humanity, accepting human beings in all of their ambivalence. The visible sign of that covenant is the rainbow. And so, at the end of their visit, the children walk back through the room of floods and rain. The water recedes, revealing dry land. The children say goodbye with optimism, full of ideas about a colorful, diverse society.

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FÜHRUNGEN GUIDED TOURS

ANGEBOTE FÜR SCHULEN OFFERS FOR SCHOOLS

Themenführungen zur Geschichte jüdischer Gemeinschaften zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung, Überblicksführungen zur neuen Dauerausstellung und zur Architektur, Ausstellungsinteraktionen: Wir freuen uns, unseren Besucher*innen das neue JMB nahezubringen! Informieren Sie sich bitte auf unserer Website, welche Führungen wir Ihnen und Ihren Gruppen unter den aktuell geltenden Hygienemaßnahmen anbieten können.

Sobald es die Gesetzeslage erlaubt, laden wir B ­ erliner und Brandenburger Schulen ein, den Geschichts­unter­richt ins Museum und den Stadtraum zu verlagern. Unsere Angebote berücksichtigen die Berliner Rahmenlehrpläne. Für die Klassen 9 und 10 gibt es Vermittlungsangebote zum Thema National­sozialismus, für den Ethikunterricht zum Judentum. Workshops wie „Antisemitismus. Das Gerücht über die Juden“ sind ab sofort wieder buchbar.

Special guided tours on the history of Jewish communities between belonging and exclusion, over­ view tours of the new permanent exhibition and the architecture, interactions with the exhibition: We look forward to introducing our visitors to the new JMB! Please visit our website to find out which tours we can offer for you and your groups under the current hygiene measures.

As soon as the situation allows, we will invite Berlin and Brandenburg schools to move history lessons into the museum and the urban space. Our offers take the school’s curriculum into account. For grades 9 and 10, we offer classes on the topic of National Socialism, as well as classes on Judaism. Workshops like “Antisemitism. The Rumor about Jews” are now available again.

jmberlin.de/fuehrungen jmberlin.de/en/tours jmberlin.de/schule jmberlin.de/en/programs-for-school-groups

Titel Cover Durch einen farbenprächtigen Vorhang gelangen Besucher*innen in den Schabbat-Raum. Visitors pass through a series of colorful curtains while exploring the theme of Shabbat. JMB, Foto: Yves Sucksdorff

Impressum / Imprint © 2020, Stiftung Jüdisches Museum Berlin Herausgeberin / Publisher: Stiftung Jüdisches Museum Berlin Redaktion / Editors: Marie Naumann, Katharina Wulffius publikationen@jmberlin.de Übersetzungen ins Englische / English Translations: Adam Blauhut (S./pp. 12–19, 32,  44/45, 68–73), Allison Brown (S./pp. 52–59), Amanda DeMarco (S./pp. 5, 9), Kate Sturge (S./pp. 22–29, 32–43, 82–89) Übersetzungen ins Deutsche / German Translations: Michael Ebmeyer (S./pp. 46–51,  60–65) Englisches Korrektorat / English Copy Editing: Rebecca Schuman Gestaltung / Design: Stan Hema, Berlin Druck / Printed by: Medialis, Berlin ISSN: 2195-7002

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages / With funding provided by the Federal Government Commissioner for Culture and the Media on the basis of a resolution by the German Bundestag

Stiftung Jüdisches Museum Berlin Lindenstraße 9–14, 10969 Berlin Tel.: +49 (0)30 25993 300 www.jmberlin.de info@jmberlin.de Falls Rechte (auch) bei anderen liegen sollten, werden die Inhaber*innen gebeten, sich zu melden. / Should rights (also) lie with others, please inform the publisher. Wir danken dem Ariella Verlag für die Bereitstellung des Zitats auf Seite 84.

Bildnachweis / Copyright

• JMB, Foto: Yves Sucksdorff, S./pp. 7 (2. von oben / 2nd top to bottom, 2. von unten / 2nd • Architectura Virtualis GmbH, Technische from bottom, unten/bottom), 22, 32, 35, 36,  Universität Darmstadt, FG Digitales Gestalten, 38, 43, 55 (oben/top), 66, 71, 82, 84, 85, 86 S./p. 68 • JMB, Schenkung von / gift of Roselotte © Yael Bartana, Auftragsarbeit / commissioned Winterfeldt, geb./née Lehmann, Foto: Roman März, S./p. 59 (unten/bottom) by JMB, S./p. 74 (oben/top) • Georg Muzicant, Wien, Foto: Roman März, • JMB, Foto: Jens Ziehe, S./pp. 58 (oben/top), S./p. 51 59 (oben/top) • JMB, Schenkung von / gift of Hermann & © Gilad Ratman, Auftragsarbeit / com­mis­ Mary Blaschko, Foto: Jens Ziehe, S./p. 55 sioned by JMB, S./pp. 60, 65 © Daniël Sheriff, S./p. 74 (unten/bottom) (unten/bottom) • JMB, Foto: Gelia Eisert, S./pp. 76–81, 88 • Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. • JMB, Schenkung von / gift of Anthony Friend, Zur Herkunftsermittlung siehe: S./p. 67 www.provenienzdatenbank.bund.de, • JMB, Schenkung von / gift of Eri Heller, Foto: Roman März, S./p. 53 • Leihgabe des Joods Historisch Museum Foto: Roman März, S./p. 56 (oben/top) • JMB, Foto: Roman März, S./pp. 46, 48, 49,  Amsterdam / On loan from the Jewish Historical Museum, Amsterdam, Foto: Jens 54 (oben/top), 56 (unten/bottom) • JMB, Nous (Wien), S./p. 72 Ziehe, S./p. 54 (unten/bottom) • JMB, Foto: Stephan Pramme, S./pp. 7 (oben/ • Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Foto: Roman März, S./p. 57 (oben/top) top), 13–21 • JMB, Schenkung von / gift of Karin & Steve • Zentralarchiv zur Erforschung der Rosenthal, Foto: Roman März, S./p. 57 (unten/ Geschichte der Juden in Deutschland, bottom) Heidelberg, Foto: Roman März, S./p. 58 (unten/bottom)

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Auszug aus einer Kunstinstallation von Alexander Stublić

Siemens Arts Program

siemens.de/artsprogram


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