INDIEKINO MAG #24, Januar/Februar 2023

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D HOLY SPIDER Religiöser Wahn D DIE FRAU IM NEBEL Obsession und Täuschung D THE BANSHEES OF INISHERIN McDonaghs Folk-Tale D AUS MEINER HAUT Körpertausch-Fantasy D DAS HAMLET SYNDROM Theater im Krieg D LUANAS SCHWUR Status: Mann D SORRY GENOSSE Waghalsige Flucht D ACHT BERGE Zwei Lebenswege D UNRUH Antihierarchisch D PASSAGIERE DER NACHT Erinnerung an die Hoffnung D PETROV’S FLU Reise in die russische Nacht D UTAMA Der Himmel über dem Altiplano D TILL Geschichte eines Hassverbrechens D DIE AUSSPRACHE Feministisch-didaktisch D CLOSE Etwas verschiebt sich D RETURN TO SEOUL Impulsiv D IN DER NACHT DES 12. Polizeifilm

Magazin FÜR unabhängigeS KINO

D 24 D JANUAR/FEBRUAR 2023

indiekinoMAG

FINAL CUT OF THE DEAD – Start am 16.2.2023


DER KINOERFOLG AUS FRANKREICH «Der stärkste französische Film des Jahres.»

FILMFESTIVAL VON CANNES OFFIZIELLE SELEKTION

«Ein brillant gespielter Krimi.» Cineuropa

Le Figaro

Ein FIlm von

Dominik Moll

BASTIEN BOUILLON

ANOUK GRINBERG

ab 12. Januar im kino

BOULI LANNERS


DÄNISCHER OSCAR® BEITRAG

Editorial In unserem Interview spricht Ali Abbasi, der iranisch-dänische Regisseur von HOLY SPIDER, auch über das europäische Kino. Für ihn ist es weniger durch einen geografischen Produktionsort bestimmt als von der Frage, mit „welcher Haltung man an seine Geschichten herangeht“. In diesem Sinne werden Januar und Februar sehr „europäische“ Monate werden. Wir freuen uns auf Filme, die originäre Geschichten erzählen, mutige, zum Teil waghalsige ästhetische und narrative Entscheidungen treffen und so individuell sind, wie ihre Erfinder*innen. In THE BANSHEES OF INISHERIN hat Martin McDonagh seine lakonische Verzweiflung in ein zeitloses Volksmärchen destilliert. In UNRUH erzählt Cyril Schäublin nicht nur von Schweizer Anarchist*innen in einem Uhrenwerk Ende des 19. Jahrhunderts, er legt den Film auch selbst als antihierarchisches Projekt an. Im lustigsten Film des Monats, FINAL CUT OF THE DEAD, amüsiert sich Michel ­Hazanavicius (THE ARTIST) mit einer unendlichen Verschachtelung von Filmebenen und wirft einen Blick hinter die Kulissen der ultimativen Regie-Fantasie: der Plansequenz. In DIE FRAU IM NEBEL gönnt Park Chan-wook sich Ellipsen und Spiegelungen, die so nur im Kino funktionieren, Davy Chous RETURN TO SEOUL ist ähnlich erratisch wie die Hauptdarstellerin, und in ANNIE ERNAUX – DIE SUPER-8 JAHRE wirft die Literaturnobelpreisträgerin einen dezidiert privaten Blick zurück. Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen, viel Spaß im Kino und ein sehr gutes Jahr 2023! Eure INDIEKINO Redaktion

H O LY SPIDER EIN FILM VON

ALI ABBASI (BORDER)

„EIN MUTIGER, GEWAGTER, ZORNIGER FILM“ BLICKPUNKT:FILM

AB 12.01.23 IM KINO holyspider-derfilm.de /holyspider.derfilm


06 Magazin 10 „DIE REALITÄT IM IRAN IST NOCH VIEL BRUTALER“ INTERVIEW MIT ALI ABBASI ÜBER HOLY SPIDER 16 MCDONAGH’S FOLK-TALE THE BANSHEES OF INISHERIN 20 „FREUNDLICHE UNTERDRÜCKUNG IST VIEL EFFIZIENTER“ INTERVIEW MIT CYRIL SCHÄUBLIN ÜBER UNRUH Neu im JANuaR und februaR 21 Acht Berge 23 Akropolis Bonjour 18 Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre 52 Arboretum 37 Auf der Suche nach Fritz Kann 18 Aus meiner Haut 20 Die Aussprache 52 Babylon 16 The Banshees of Inisherin 30 Barrikade 37 Berlin JWD 53 Bigger Than Us 30 Bullldog

18 Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre 41 The Most Beautiful Boy in the World

5.1. 16 The Banshees of Inisherin 38 Passagiere der Nacht 24 Unruh

12.1. 21 Acht Berge 37 Auf der Suche nach Fritz Kann 37 Berlin JWD 10 Holy Spider 50 In der Nacht des 12. 54 Mission Ulja Funk D4

D JANUAR/FEBRUAR 2023

62 Nachbild 63 KinoS, Impressum, Abonnement

52 Ein Mann namens Otto 22 Maria träumt – Oder: Die Kunst des Neuanfangs 36 Midwives 54 Mission Ulja Funk 41 The Most Beautiful Boy in the World 34 Pacifiction 38 Passagiere der Nacht 22 Petrov’s Flu 46 Return to Seoul 37 Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten 40 Schlachthäuser der Moderne 42 Seaside Special 40 Sharaf

31 36 29 37 35

37 Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten

40 Sharaf 31 The Son 35 Till – Kampf um die Wahrheit

19.1.

2.2.

52 Babylon 19 Das Hamlet Syndrom 22 Maria träumt – Oder: Die Kunst des Neuanfangs 40 Schlachthäuser der Moderne 42 Seaside Special 37 Tara

18 30 30 44 48 14 49 45 52 34 51

23 Der Geschmack der kleinen Dinge 20 Luanas Schwur 36 Sorry Genosse 29 The Story of Looking 28 Utama 53 War Sailor

44 43 44 48 32 14 49 23 55 19 10 45 50 48 20

Catch the Fair One Close Concerned Citizen Daniel Richter Final Cut of the Dead Die Frau im Nebel Fritz Bauers Erbe Der Geschmack der kleinen Dinge Girls! Girls! Girls! Das Hamlet Syndrom Holy Spider Human Flowers of Flesh In der Nacht des 12. Kalle Kosmonaut Luanas Schwur

Starts der Woche 29.12.

58 „WENN MAN DEN TÄTER AN DAS PUBLIKUM ÜBERFÜHRT, STELLT SICH AM ENDE DAS GEFÜHL EIN, ES SEI ALLES GEREGELT“ INTERVIEW MIT DOMINIK MOLL ÜBER IN DER NACHT DES 12.

26.1. 44 43 48 36 22 46

Catch the Fair One Close Kalle Kosmonaut Midwives Petrov’s Flu Return to Seoul

Aus meiner Haut Barrikade Bullldog Concerned Citizen Daniel Richter Die Frau im Nebel Fritz Bauers Erbe Human Flowers of Flesh Ein Mann namens Otto Pacifiction Wann kommst du meine Wunden küssen?

9.2. 52 Arboretum 20 Die Aussprache

24 28 42 51 52 53 34 54

The Son Sorry Genosse The Story of Looking Tara Till – Kampf um die Wahrheit Unruh Utama Vogelperspektiven Wann kommst du meine Wunden küssen? Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war War Sailor What’s Love Got to Do with It? Wo ist Anne Frank

16.2. 23 53 32 42

Akropolis Bonjour Bigger Than Us Final Cut of the Dead Vogelperspektiven

23.2. 55 Girls! Girls! Girls! 52 Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war 34 What’s Love Got to Do with It? 54 Wo ist Anne Frank


N A C H D E M G E F E I E R T E N B E S T S E L L E R VO N

JOACHIM MEYERHOFF

E I N F I L M VON

SONJA HEISS

AB 23. FEBRUAR IM KINO


INDIEMAGAZIN

STUTTGARTER FILMWINTER Der Stuttgarter Filmwin-

Flucht nach Berlin

ÜBERBLENDUNG – VERGESSENE BILDER VON OST UND WEST Das Brotfabrik Kino in Berlin zeigt vom 12.–29.1. eine sehr umfangreiche Retrospektive, die den (Zerr)Bildern nachgeht, die der Osten vom Westen und der Westen vom Osten zeichneten. Die Filmreihe, die von der Bundesstiftung Aufarbeitung gefördert wird, zeichnet den Wandel nach, den diese Bilder im Verlauf der Zeit und abhängig von den aktuellen politischen Positionen durchmachten – so wurde es beispielsweise mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der BRD zunehmend schwieriger, den DDR-Bürger*innen vom verarmten BRD-Proletariat zu erzählen. Zu den über 40 Produktionen gehören viele Seltenheiten wie die Fernsehproduktionen „Aus dem Alltag in der DDR“ und die Serie „Familie Bergmann“, die Anfang der 70er Jahre, zur Zeit der Entspannungspolitik, den Westdeutschen das Leben im ihnen fremdgewordenen Osten des Landes nahebringen sollten, oder der DEFA-Film „Was wäre, wenn ...?“, der 1960 durchspielte, was geschehen könnte, sollte ein DDR-Dorf plötzlich die Seite wechseln. Alle Filme werden mit einer Einführung gezeigt. brotfabrik-berlin.de

Ein

Dokumentarfilm

von

DAVID KLAMMER

AB 02.02.2023 NUR IM KINO!

ter - Festival for Expanded Media widmet sich vom 12.–17.1. in Wettbewerben für Kurzfilm, Musikvideos, Medien im Raum und Network Culture, in Gesprächen, Ausstellungen und Workshops der Film-, Medien- und Netzkunst. Angelehnt an Aldous Huxleys Dystopie lautet das Motto diesmal „Unendlicher Spaß“: „Die Zeit ist aus den Fugen und wir sind inmitten der Blase der größten Spaßinszenierung einer schönen neuen Welt, in der jedes noch so kleine Ereignis medienwirksam in Szene gesetzt wird und in der alles zur Unterhaltung wird. Die Grenzen verschwimmen, die deutliche Trennung zwischen Wahrheit und Fiktion löst sich auf. Es wird immer unklarer, wie und wofür wir Stellung beziehen können, wenn nicht mehr durchschaubar ist, wer für was steht und in welcher Weise dieses ganze Spiel zusammenhängt?“ filmwinter.de

L’incanto


INDIEMAGAZIN

At Night All Cats Are Black

WOCHE DER KRITIK: CINEMA OF CARE

Parallel zur Berlinale präsentiert die Woche der Kritik wieder aktuelle Independent Filme und kritische Positionen zum Filmgeschehen der Gegenwart im Hackesche Höfe Kino. Die Auftaktkonferenz trägt den Titel „Cinema of Care – Wer kümmert sich um das Kino?“ und diskutiert, ob und wie sich aktuelle Debatten zum Verhältnis von Sorgearbeit, Gesellschaft und Kunst auf das Kino übertragen lassen: „Wen brennt die Filmbranche aus? Welche Verantwortung tragen heute Institutionen und Filmschaffende füreinander, und welche Arbeitsverhältnisse sind überholt? Was kostet ein „fürsorgliches Kino“, und welche Filme weisen die Richtung?“ Los geht es am 15.2. in der Akademie der Künste mit einer Diskussionsrunde, zu der auch Claire Denis erwartet wird. Am 17.2. ab 20 Uhr folgt dann ein Filmprogramm mit anschließendem Gespräch zu „Ästhetik und Care-Ethik“. wochederkritik.de

ICH WILL ZUM FILM

Das Filmjobportal crew-united.com hat ein neues Webangebot speziell für junge Filminteressierte erstellt. Auf ichwillzumfilm.de findet man unter „Infos, Tipps und Tricks“ eine gute Linksammlung zu Berufsbildern, Praktika oder möglichen Ansprechpartner*innen für Fragen. Wer detaillierte Infos bekommen und in einen Nachwuchspool für Arbeitgeber*innen aufgenommen werden möchte, kann einen Fragebogen zu Ausbildung und Interessen ausfüllen.

VERLOSUNG: MONA LISA AND THE BLOOD MOON Zehn Jahre verbrachte Mona Lisa in einem katatonischen Zustand in einer gruseligen psychiatrischen Anstalt, doch in dieser Blutmondnacht erwacht sie – und mit ihr ihre telepathischen Superkräfte ... Die feministische Horror-Außenseiter-Komödie von Ana Lily Amirpour zerlegt genüsslich Gender-Stereotype und ist zugleich eine Hommage an ein neondurchflutetes New Orleans. Wir verlosen zwei DVDs/Blurays. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.1. eine Mail an info@indiekino.de. Betreff: Mona Lisa.

At Night All Cats Are Black


INDIEMAGAZIN

Reduit

44. FILMFESTIVAL MAX OPHÜLS PREIS Das Filmfestival Max Ophüls Preis findet vom 23. – 29.1. statt und ist das wichtigste Festival für den jungen deutschsprachigen Film. In vier Wettbewerben – für Spiel- und Dokumentarfilme, sowie für kurze und mittellange Filme – sind Preise ausgeschrieben. Im Spielfilm-Wettbewerb lassen sich als Schwerpunkt Familiengeschichten ausmachen. In ALASKA (R: Max Gleschinski) flieht eine junge Frau vor der Auseinandersetzung mit dem Tod ihres Vaters, im Science-Fiction-Drama ENTER MYCEL (R: Daniel Limmer) versuchen Vater und Tochter über ein Pilzgeflecht Kontakt mit der verstorbenen Mutter aufzunehmen. In REDUIT (R: Leon Schwitter) läuft ein Aufenthalt auf einer einsamen Hütte für Vater und Sohn aus dem Ruder. SEID EINFACH WIE IHR SEID (R: Alice Gruia) ist ein Spielfilm über den Versuch, einen Hochschul-Abschlussfilm über die Versöhnung der eigenen, verstrittenen Familie zu drehen. In SPRICH MIT MIR (R: Janin Halisch) wird eine gemeinsame Reise von Mutter und Tochter zu einem Trip in die Vergangenheit, und in TAMARA (Jonas Ludwig Walter) kehrt die mittlejunge Heldin nach dem Tod des Vaters zurück zu ihrer Mutter nach Ostdeutschland. In SEMRET (R: Caterina Mona) will Tochter Joe von ihrer Mutter Semret genaueres über ihre Wurzeln in Eritrea erfahren. Ähnliche Geschichten erzählen auch zwei Filme im Dokumentarfilmwettbewerb: In INDEPENDENCE erkundet die afrodeutsche Schauspielerin Helen Wendt ihre Familiengeschichte zwischen DDR, Mosambik und Berlin, und in HAO ARE YOU will Regisseur Dieu Hao Do herausfinden, warum seine Familie, die 1975 Vietnam verlassen musste, seit Jahren nicht mehr miteinander spricht. ffmop.de

BEST OF CINEMA

Die Reihe “Best of Cinema“ bringt „Meisterwerke, Klassiker und Kultfilme“ in restaurierter Fassung wieder ins Kino. Am 3.1. zeigt die Reihe RAMBO (OT: FIRST BLOOD). John Rambo wollte im Städtchen Hope eigentlich nur nett frühstücken, aber dem Sheriff Teasle gefällt sein abgerissenes Aussehen nicht. Der Konflikt eskaliert. Im Februar folgt am 7.2. dann Paul Verhoevens Erotikthriller BASIC INSTINCT, in dem Michael Douglas als Polizist der Mordverdächtigen Krimi-Schriftstellerin Catherine Tramell (Sharon Stone) näher kommt, als es geraten scheint. Rambo D8

D JANUAR/FEBRUAR 2023


INDIEMAGAZIN Katzenjammer

„SO FUNNY, OIDA“ – JANUAR UND FEBRUAR IM INDIEKINO CLUB Feministisch, (post)-migrantisch, ironisch: Vom 1. Januar bis 31. März findet ihr im Indiekino Club die erste Werkschau der österreichischen Newcomerin Kurdwin Ayub im deutschsprachigen Raum. Bis auf ihren neuesten Film SONNE, der seit Dezember im Kino läuft, werden alle ihre bisherigen Arbeiten zu sehen sein. Außerdem im Club: King Hu’s meditativer Martial Arts Klassiker A TOUCH OF ZEN (Taiwan 1971), Jim Jarmuschs chilliger GHOST DOG (USA 1999), in dem der gleichnamige mysteriöse Auftragskiller sich am Verhaltenscodex der Samurai orientiert und gerne aus der „Hagakure“ zitiert, Antonia Kilians Dokumentarfilm über kurdische Kämpferinnen THE OTHER SIDE OF THE RIVER (Deutschland 2021) und die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (Deutschland 1971) von Ula Stöckl und Edgar Reitz. Die Filmemacher*innen drehten ohne Geld, gegen alle Konventionen und gemeinsam mit Freund*innen 25 wilde Episoden – von einer Minute bis zu einer halben Stunde Länge – über das „Kübelkind“, eine Frau in Rot, die nicht in die Gesellschaft passt.

BERLINALE 2023

Vom 16.–26.2. findet die 73. Berlinale statt, soviel ist klar. Kristen Stewart wird Jury-Präsidentin, das ist auch klar, und offenbar wird das Musical-Theater am Marlene-Dietrich-Platz nun doch wieder zum „Berlinale-Palast“ umgerüstet, nachdem es zunächst Hickhack um dort laufende Mietverträge für ein Elvis-Musical gab. Der Traum für eine Berlinale, die zentral am Potsdamer Platz stattfindet, ist dagegen vorerst ausgeträumt. Das Cinestar-Kino im Sony-Center ist schon länger geschlossen, das Cinemaxx wird derzeit umgebaut und die Sitzplatzanzahl reduziert. Als neue Spielstätten sind die „Verti-Musical-Hall“, ein Konzertsaal am trostlosesten Corporate-Plaza Berlins, dem „Mercedes-Platz“, und das eigentlich geschlossene Kino Colosseum im Gespräch. Die Sektion „Generations“ zieht in die Urania, und in Steglitz wird es wieder Berlinale-Filme im Cineplex Titania geben. Zoo-Palast, International und Cubix und eine Auswahl von Kiez-Kinos sind ebenfalls für Publikumsvorführungen vorgesehen. Ein paar Sonderveranstaltungen stehen bereits fest: Steven Spielberg erhält einen Ehrenbären und sein Film THE FABLEMANS wird zu sehen sein. TÀR von Todd Field mit Cate Blanchett wird als Gala gezeigt, es gibt einen Boris Becker-Dokumentarfim und eine Loriot-Kompilation. Das gesamte Programm wird am 23. Januar bekanntgegeben. berlinale.de The Fablemans

AB 16. FEBRUAR IM KINO

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INDIEFEATURE

Ali Abbasi emigrierte 2001 aus dem Iran nach Schweden, studierte zunächst Architektur in Stockholm und schließlich Film an der Nationalen Dänischen Filmschule. Bisher hat er drei Spielfilme gedreht, die alle mit Genre experimentieren. Der Horrorfilm SHELLEY (2016) erzählt von einer jungen Leihmutter, die ein Kind für ein Paar, das in einem abgelegenen Waldhaus lebt, austrägt. In BORDER, der in Cannes 2018 in der Reihe „Un certain regard“ gewann, tauchen menschenartige Wesen mit sehr eigenartigen Fähigkeiten auf, und HOLY SPIDER folgt, basierend auf einem realen Fall, einem Serienmörder im Iran. Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi wurde in Cannes 2022 mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet. Patrick Heidmann hat sich mit Ali Abbasi über HOLY SPIDER unterhalten.

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INDIEKINO: Herr Abbasi, bei der Weltpremiere von HOLY SPIDER in Cannes sagten Sie, Ihr Film solle wie eine Ohrfeige wirken. Was genau meinten Sie damit? Ali Abbasi: Nun, zunächst einmal war mein Ziel, als ich mich dieser realen Mordserie aus den Jahren 2000 und 2001 widmete, ein Spiel mit dem Serienkiller-Genre. Wobei mich nicht das „wer“ interessierte, sondern das „warum“ hinter diesen Taten. Deswegen ist HOLY SPIDER auch weniger ein persisches SCHWEIGEN DER LÄMMER als ein persischer Film Noir. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Die besagte Ohrfeige, meinetwegen auch der sprichwörtliche Mittelfinger gilt dem seit bald 50 Jahren existierenden Paralleluniversum des iranischen Kinos, in dem Frauen in ihrer Kleidung und mit Kopftuch zu schlafen scheinen. Sie haben keinen Körper, keine Körperlichkeit, gehen nicht auf die Toilette und haben keinen Sex. Diesem Bild des Irans und iranischer Frauen, das wir dank des Kinos auch alle im Kopf haben, wollte ich etwas entgegenschleudern. Und dass mir das gelungen ist, bedeutet mir mehr als jede Auszeichnung.


INDIEFEATURE

Seit September gehen im Iran die Menschen in bislang ungekanntem Ausmaß auf die Straße, um für die Freiheit der Frauen und allgemein Menschenrechte und damit gegen die Regierung zu kämpfen. Haben diese Proteste, denen mit schrecklicher Brutalität begegnet wird, Ihrem Film noch einmal eine neue Bedeutung gegeben? Vor allem hat sich der Kontext verändert und damit auch der Blick auf HOLY SPIDER. In Cannes zum Beispiel hörte ich häufig, dass der Film zu brutal sei und dass ich zu deutlich das Leiden der weiblichen Opfer des Mörders zeigen würde. Sogar von Misogynie war mitunter die Rede. Nun habe ich den Eindruck, dass viele dieser Stimmen verstummen, weil sich zeigt: Die Realität im Iran ist noch viel brutaler – und um darüber sprechen zu können, muss man diese Brutalität auch zeigen. Gleichzeitig empfinde ich als Regisseur es natürlich auch als schwierig, dass mein Film nun in eben diesem Kontext steht.

„Die Realität im Iran ist Noch viel brutaler“ Interview mit Ali Abbasi über HOLY SPIDER

Warum? JANUAR/FEBRUAR 2023 D

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INDIEFEATURE

Weil es eine heikle Balance ist, angesichts der Lage im Iran über meinen Film zu sprechen, in den ich 15 Jahre harte Arbeit gesteckt habe und der sehr viel mehr künstlerische Facetten hat als bloß ein gesellschaftspolitischer Kommentar zu sein. Und es ist mitunter auch nicht gerade einfach, immer wieder mit Journalist*innen über die Proteste sprechen zu müssen. Einerseits tue ich das gerne und weiß, dass man gar nicht genug Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken kann. Aber es bricht mir eben auch das Herz. Heute morgen sah ich ein Video der verzweifelten Mutter des jungen Mannes, der als erster Demonstrant seit Beginn der Massenproteste hingerichtet wurde. In solchen Momenten fehlen einem dann einfach die Worte. Ich sitze hier und rede, während dort das Regime die Bevölkerung umbringt. Da spüre ich schon viel Hilfs- und Aussichtslosigkeit.

Gewisse Themen muss man einfach auf bestimmte Weise erzählen. Der Fall, um den es im Film geht, mag 20 Jahre zurückliegen, doch er ist bis heute radioaktiv, um es mal so auszudrücken. Die Strukturen und Mechanismen, die ich mit dieser Geschichte aufzeige, existieren immer noch; die Relevanz ist spürbar. Wenn ich das nicht deutlich mache in meinen Bildern, dann hätte ich etwas falsch gemacht, würde ich sagen. Und was Sex und Nacktheit angeht, war mir auch wichtig, dass ich mich nicht einfach der Zensur des iranischen Regimes unterwerfe. Ich will ja gerade an diesem bestehenden Tabu bezüglich weiblicher Körper rütteln und es nicht noch bestärken. Ohnehin muss ich sagen, dass ich – selbst wenn das nun arrogant klingen mag – nicht viele Gedanken an die Regierung im Iran und ihre Reaktion verschwendet habe. Ich trete nicht mit ihr in einen Dialog, sondern mit dem iranischen Volk. Wo Sie gerade die Radioaktivität der Geschichte erwähnen: Wie wirkte die sich bei der Suche nach iranischen und iranisch-stämmigen Schauspieler*innen aus?

Kann Ihr Film aber in dieser Zeit nicht auch eine Hilfe sein? Interessanterweise verbreitete sich vor einigen Wochen wohl online eine Raubkopie des Films im Iran. Mir war immer klar, dass das irgendwann passieren würde, aber das Timing ist natürlich spannend – und selbstverständlich gaben die Staatsmedien mir die Schuld. Auf Twitter die ungefilterten iranischen Reaktionen auf den Film zu lesen, war sehr interessant. Natürlich gab es das Lager, das HOLY SPIDER als westliche Propaganda ablehnte, als pervers und anti-islamisch beschrieb und mich den neuen Salman Rushdie nannte. Aber ein Großteil der Leute fand, er zeige das wahre Gesicht der Islamischen Republik und erkannte in dem Film eine Ehrlichkeit, die es in iranischen Filmen vermisst. Manche sagten auch, er sei eine gute Motivation, um am nächsten Tag wieder gegen das Regime auf die Straße zu gehen. Wobei ich nicht glaube, dass es dazu unbedingt den Film braucht. Diese Teenager, die dort bereit sind, sich für ihren Kampf verhaften und erschießen zu lassen, die sind in ihrer Wut und Verzweiflung längst viel weiter. Wir sprachen eben schon über die recht deutliche Gewalt im Film, aber Sie sind auch in Sachen Sex und Nacktheit ziemlich explizit. Das war doch sicherlich eine bewusste Entscheidung, quasi als Provokation in Richtung Ihrer früheren Heimat? Ganz ehrlich: Ich finde eigentlich nicht, dass HOLY SPIDER sonderlich kontrovers, provokant oder grenzüberschreitend ist. D 12

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Enorm, weswegen sich die Suche sehr schwierig und aufwändig gestaltete. Ich habe mich mit vielen getroffen, die im Iran leben und arbeiten, und meistens war die Reaktion eine, die ich sonst vor allem aus Hollywood-Meetings kenne: Wir finden dich super und würden wahnsinnig gerne mal mit dir arbeiten, aber vielleicht lieber beim nächsten Projekt. Da klar war, dass unser Film nicht von der iranischen Regierung abgesegnet werden würde, haben fast alle abgewunken. Manchmal erst ganz spät, wie etwa die eigentlich vorgesehene Hauptdarstellerin, die erst kurz vorm Dreh doch abgesagt hat. Deswegen sprang dann Zar Amir Ebrahimi ein, die bis dahin als Casting Director für den Film im Einsatz war. Eine Ausnahme ist Ihr Hauptdarsteller Mehdi Bajestani… Auf den fiel meine Wahl, weil ich unbedingt jemanden wollte, der aus der Region kommt, in der die Geschichte spielt. Der diesen Dialekt spricht und einem ähnlichen Milieu entstammt, um wirklich für möglichst viel Authentizität zu sorgen. Als ich ihn besetzte, lebte er noch im Iran. Heute allerdings nicht mehr. Es wäre zu gefährlich für ihn gewesen, wieder dorthin zurückzukehren. Für die Besetzung der anderen Rollen haben wir auf der ganzen Welt gesucht, denn iranische Schauspieler*innen leben ja überall, von Paris und Berlin bis Istanbul, Toronto oder Sydney. Und für manche Rollen und Szenen, etwa die, in der es einen Blowjob zu sehen gibt, war mir auch klar, dass ich keine iranische Schauspielerin dazu würde überreden können. Selbst wenn sie längst im Ausland lebt, denn die kulturelle Verankerung wäre zu groß und der Bruch damit zu krass gewesen. Weswegen ich für die Rollen der Sexarbeiterinnen dann konkret Ausschau hielt nach jener neuen Generation, die schon in Europa geboren wurde und mit den dortigen Werten aufgewachsen ist.


INDIEFEATURE Dänemark/Deutschland/Frankreich/Schweden 2022 D 115 min D R: Ali Abbasi D B: Ali Abbasi, Afshin Kamran Bahrami D K: Nadim Carlsen D S: Olivia Neergaard-Holm D M: Martin Dirkov D D: Zar Amir-Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani, Forouzan Jamshidnejad, Sina Parvaneh D V: Alamode Film

Holy Spider Religiöser Wahn Sie selbst kamen erst als Student nach Europa, inzwischen haben Sie den dänischen Pass. Verstehen Sie sich als europäischer Filmemacher? Europäisches Kino ist für mich keine Frage der Sprache, sondern hat eher damit zu tun, mit welcher Haltung man an seine Geschichten herangeht. Deswegen verstehe ich mich definitiv nicht als iranischer Filmemacher. Natürlich ist vieles an mir noch immer iranisch, aber die Art und Weise, wie ich Filme drehe, hat im Iran keine Tradition. Da sind mir Buñuel, Lars von Trier oder Pasolini sicherlich näher. Was macht für Sie denn einen europäischen Film aus? Zum einen das Prinzip der Meinungs- und Kunstfreiheit. Bei jedem meiner Filme gab es irgendwann den Punkt, wo sich Verleiher aus nicht-europäischen Ländern meldeten, und zwar Interesse hatten, aber fragten, ob man nicht die eine oder andere Szene entfernen könne. Etwa weil da ein Penis zu sehen war oder so. Das habe ich in Europa eigentlich noch nicht erlebt. Zum anderen die Tatsache, dass in Europa das Kino und allgemein die Kultur auch als öffentliche Dienstleitung gesehen wird. Nicht ohne Grund wurden nach dem Zweiten Weltkrieg überall Kultureinrichtungen gegründet und öffentliche Gelder bereitgestellt, in der Hoffnung, dass kulturelle Bildung eine Wiederholung etwa des Nationalsozialismus verhindern könnte. Das sollte nun heute nicht dadurch unterlaufen werden, dass wir plötzlich anfangen, mit Fördergeldern nur noch halbherzige Marvel-Imitate statt schwieriger Stoffe zu unterstützen. Apropos Marvel: hat Hollywood denn bei Ihnen schon angeklopft oder könnten Sie sich die Arbeit an einem US-Blockbuster ohnehin nicht vorstellen? Fluch und Segen meiner Karriere ist es, dass ich mir erst einmal alles vorstellen kann und überall Potential sehe. Ich habe Hardcore-Arthouse-Kollegen hier in Europa, die sich beim Gedanken an einen Superhelden-Film von vorherein naserümpfend abwenden. Aber da bin ich anders. Zu den passenden Bedingungen könnte ich mir durchaus vorstellen, sehr gerne einen HULK-Film zu drehen. Worüber ich übrigens tatsächlich mit Marvel gesprochen habe. Ob man dort dann allerdings wirklich bereit wäre, mir eben diese passenden Bedingungen zu garantieren? So richtig kann ich es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Aber wer weiß, offen bin ich auf jeden Fall erst einmal für alles.

HOLY SPIDER, der in der iranischen Stadt Maschhad spielt – jener Stadt, in der im September die 22-jährige Mahsa Amini von der „Sittenpolizei“ erschlagen wurde, weil sie ein Kopftuch nicht korrekt trug – ist ein Film von ungeplanter, beklemmender Aktualität. Ali Abbasi (BORDER) erzählt, angelehnt an reale Ereignisse, vom Serienmörder Saeed Hanaei, der in der Pilgerstadt Maschhad Prostituierte umbringt und „Spinnenmörder“ genannt wird. Saeed (Mehdi Bajestani) ist ein tiefreligiöser Familienvater und Bauunternehmer bei Tage. Abends, wenn Frau und Kinder bei den Großeltern sind, steigt er auf seinen Motorroller, sammelt auf der Straße Prostituierte auf, bringt sie nach Hause und erdrosselt sie. In seinen vielen Nachtszenen folgt der Film Saeed wiederholt bei der Ausübung seiner „Mission“. Abbasi filmt die Morde mit großer, verstörender Genauigkeit. Immer lernt man die Frauen zunächst kurz in ihrer Persönlichkeit und Lebenssituation kennen, dann begegnen sie Saeed, dessen kalter Fanatismus keine Individuen sieht, nur „Schmutz“, den er auslöschen will. Immer wieder hofft man, sie mögen nicht auf den Roller aufsteigen. In diesen Szenen wird einem schmerzlich bewusst, wie ausgeliefert die Frauen – nicht nur die Sexarbeiterinnen, sondern alle Frauen und nicht nur bei Nacht allein auf der Straße, sondern eigentlich in allen öffentlichen und privaten Situationen ihres Lebens – sind. Mit Glück begegnen sie keinem Mörder, aber auch einem Schläger oder Lügner wären sie rechtund schutzlos ausgeliefert. Das geht auch der Journalistin Rahimi (Silberne Palme in Cannes für die beste Hauptdarstellerin: Zar Amir Ebrahimi) so, die in einem parallel erzählten Handlungsstrang den Fall recherchiert und überall auf Widerstand stößt, und peinlich genau darauf achtet, niemals allein mit einem Mann zu sein. Einige der Hürden, die ihr in den Weg geworfen werden, sind misogyn gegen die moderne Frau gerichtet, andere sind politisch-religiös motiviert: Der „Spinnenmörder“ scheint von den Machthabern der Stadt wenn nicht aktiv unterstützt so doch geduldet zu sein. Der Verdacht erhärtet sich beim anschließenden Prozess, als Saeed bei Teilen der Bevölkerung zum Helden wird. HOLY SPIDER bewegt sich auf der Grenze zwischen Sozialdrama und Thriller. Fast beklemmender als die physische Gewalt ist dabei die Atmosphäre von religiösem Wahn und totaler Unterdrückung aller Frauen der Stadt. D Hendrike Bake ¢ Start am 12.1.2023 HOLY SPIDER blurs the boundaries between social drama and thriller. In the pilgrimage site Mashhad, deeply religious serial killer Saeed is killing prostitutes in order to “purify“ the city.

D Das Gespräch führte Patrick Heidmann. Termine unter www.indiekino.de

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INDIEFEATURE

Originaltitel: Heojil kyolshim D Südkorea 2022 D 138 min D R: Park Chan-wook D B: Park Chan-wook, Seo-kyeong Jeong D K: Ji-yong Kim D D: Tang Wei, Park Hae-il, Go Kyung-pyo, Lee Jung-Hyun D V: Koch Films

Park Chan-wook bleibt der koreanische Regisseur, dem es am besten gelingt, die klassische Erzähltechnik um innovative Elemente zu ergänzen. Für seinen Film DECISION TO LEAVE bzw. DIE FRAU IM NEBEL bekam er beim Filmfestival in Cannes die Goldene Palme für den besten Film und die beste Regie. DIE FRAU IM NEBEL ist Polizeifilm, Thriller und ein Melodram über Obsession und Täuschung. Der Polizist Jang Hae-joon (Park Hae-il) leidet an Schlaflosigkeit. Die Fernbeziehung zu seiner Ehefrau ist zu einem streng geregelten Ritual geworden. Als er den Fall eines beim Bergsteigen in den Tod gestürzten Beamten übernimmt, verdächtigt er zunächst dessen Witwe, die Altenpflegerin Song Seo-rae (Tang Wei). Die aber hat ein scheinbar wasserdichtes Alibi. Hae-joon beginnt, sie nachts zu überwachen, nicht nur aus professionellem Interesse. Park zeigt, wie Hae-joon sich während des Blickes durch sein Fernglas in ihre Nähe träumt: Er sitzt plötzlich neben ihr oder steht hinter ihr und redet mit ihr. Sie sitzt am Tisch, blickt auf, und es ist, als ob sich ihre Blicke kreuzten, dabei sitzt Hae-joon hunderte von Metern entfernt in seinem Auto. Morgens ist er dort eingeschlafen. Dort findet Seorae ihn. Jetzt beobachtet sie ihn, und es entsteht ausgerechnet aus Verdacht und Überwachung eine Art Vertrauen und Nähe, bevor Wendungen und weitere Wendungen die Schichten der Geschichte zerlegen und immer neue Perspektiven eröffnen. Park inszeniert seine Liebes- und Mordgeschichte in Bildern, die reines Gefühl sind. Der größte Teil des Films spielt in Innenräumen, in denen die Figuren wie eingesperrt herumstehen. Erst als Hae-joon und Seo-rae sich ihre Liebe gestehen, öffnet sich der Kamerablick und lässt Luft in die Bilder und Seelen. Dann wieder führt Park Unsicherheiten ein: Ist ein Blick, eine Großaufnahme ein Hinweis auf zärtliches Interesse, oder enthüllt sich ein Indiz? Vielleicht sogar – tragischerweise – beides? DIE FRAU IM NEBEL berührt politische Themen wie die illegale Migration von China nach Korea, die Ausbeutung von Migrant*innen, misogyne Gewalt und Korruption. Vor allem aber geht es um ein Dickicht des Begehrens und der Selbstzerstörung. Park war den Filmen seines Vorbildes Alfred Hitchcock selten näher. DIE FRAU IM NEBEL ist großes, virtuoses Kino mit einem so spektakulären wie schockierendem Finale. D Tom Dorow ¢ Start am 2.2.2023

DECISION TO LEAVE is a detective story, a thriller and a melodrama about obsession and deceit.

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Die Frau im Nebel Obsession und Täuschung

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INDIEFEATURE

The Banshees of Inisherin Existentialistisches Märchen

An einem märchenhaften Regenbogen und einer Madonnastatue vorbei läuft Pádraic (Colin Farrell) über eine sehr grüne irische Insel zum Meer, wo sein Freund Colm in einem alleinstehenden weißen Häuschen wohnt. Er klopft. Nichts. Er schaut durchs Fenster. Das Grammophon läuft. Colm (Brendan Gleeson) ist offenbar da, rührt sich aber nicht. Pádraic ruft „Ich geh dann schon mal vor“, geht zum Pub und bestellt zwei Guinness. Eins für sich und eins für seinen Freund Colm. Wie immer. Doch Colm ist nicht mehr sein Freund, und die einzige Erklärung, die er später dafür abgibt, während der wortkarge Chor der Männer im Pub zuschaut, ist „Ich mag dich einfach nicht mehr.“ THE BANSHEES OF INISHERIN spielt nominell im Jahr 1923 auf der abgelegenen (fiktionalen) Insel Inisherin. Gelegentlich machen Nachrichten vom Bürgerkrieg auf dem Festland die Runde, aber eigentlich beschäftigt die Menschen hier das nächste Bier, die Musik, ihre Tiere, ein bisschen Tratsch und die existentielle Einsamkeit, die jeden hier befallen zu haben scheint. Aber das Dilemma, das Pádraic und Colm betrifft, ist zeitlos, und McDonaghs Erzählweise so allgemein gehalten und zugleich so D 16

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idiosynkratisch, dass die Story sich wie eine Art Volksmärchen anfühlt, mit Archetypen, die McDonagh für diesen Zweck erfunden hat. Nach Colms Ankündigung macht Pádraic Phasen einer schweren Trennung durch: Auf Ungläubigkeit folgt Wut, zumal als er von seiner Schwester erfährt, dass Colm ihn schlichtweg langweilig findet und seine verbleibende Lebenszeit lieber dem Komponieren widmen möchte, als mit Pádraic über die Verdauung seines Esels zu plaudern. Pádraic versucht so zu tun, als ob nichts wäre und er versucht es mit Konfrontation, bis Colm ihm ein Ultimatum stellt: Für jeden Versuch von Pádraic, mit ihm Kontakt aufzunehmen, wird er sich einen Finger seiner Geigenhand abhacken. Und, wie vom Regisseur von BRÜGGE SEHEN … UND STERBEN? und THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI nicht anders zu erwarten, setzt er die Ankündigung um. Die lakonische Grausamkeit der Figuren im Umgang mit sich selbst und miteinander gehört zu McDonaghs Markenzeichen. Bisher wirkte sie manchmal willkürlich, wie pure Lust an der Grenzüberschreitung, ein Gag unter Jungs, politisch bisweilen


unschön. In BANSHEES entspringt sie dagegen spürbar einem grundsätzlichen Unvermögen, in der Welt glücklich zu sein. Colms Verlangen nach Ruhe und Kunst ist ebenso existentiell, berechtigt, banal und übertrieben wie Pádraics Festhalten an seinem Freund. Die Fehde, die sich aus der Absolutheit dieser Ansprüche unaufhaltsam, in kargen Dialogen und skurrilen Szenen entfaltet, während die Dorfhexe düstere Prophezeiungen abgibt, ist ebenso lächerlich wie von epischer Tragweite. D Hendrike Bake ¢ Start am 5.1.2023

Irland/Großbritannien/USA 2022 D 109 min D R: Martin McDonagh D B: Martin McDonagh D K: Ben Davis D S: Mikkel E.G. Nielsen D M: Carter Burwell D D: Colin Farrell, Barry Keoghan, Kerry Condon, Brendan Gleeson D V: Walt Disney

Once upon a time, musician Colm quit his friendship with his best friend, Pádraic the farmer. Just like that. An existential folk fairy tale directed by Martin McDonagh.

D CMS TO R I ES.COM


INDIEKRITIKEN Frankreich 2022 D 61 min D R: Annie Ernaux, David Ernaux-Briot D B: Annie Ernaux D K: Philippe Ernaux D S: Clément Pinteaux D M: Florencia Di Concilio D V: Film Kino Text

Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre

Deutschland 2022 D 103 min D R: Alex Schaad D B: Alex Schaad D K: Ahmed El Nagar D S: Franziska Koeppel D M: Richard Ruzicka D D: Mala Emde, Jonas Dassler, Dimitrij Schaad, Maryam Zaree, Thomas Wodianka, Edgar Selge D V: X Verleih

Aus meiner Haut Körpertausch-Fantasy

Subversiver Familien-Filmabend

In ANNIE ERNAUX – DIE SUPER-8 JAHRE kommentiert die Literaturnobelpreisgewinnerin Ernaux die Super-8-Filme, die in der Familie zwischen 1972 und 1981, vor allem von ihrem damaligen Ehemann Phillippe Ernaux gedreht wurden. So erinnert der Film einerseits an einen privaten Filmabend in der Familie Ernaux – aus eben solchen ist die Idee zum Film auch entstanden – andererseits an Ernaux Buch „Les anées“ (dt. „Die Jahre“), an das auch der Titel angelehnt ist. Im Buch beschreibt Ernaux alte Fotografien und schildert die Lebenswirklichkeit der Zeit, die Vorstellungen und Wünsche, die in die (Selbst-)Inszenierungen der Bilder eingeflossen sind, und Erinnerungen, die sich mit der Zeit verbinden. Im Film kommentiert Ernaux kühl und aufmerksam, was Phillippe Ernaux filmte, die neuen Möbel, die größer werdenden Wohnungen und Häuser, die Kinder, den Garten, die ungewöhnlichen Reiseziele des jungen linken Paars: Chile, Russland, Albanien, aber auch ein Skiurlaub und ein entspannter Trip nach London mit den Kindern. Wie in ihren Büchern entsteht aus der sachlichen Beschreibung ein hochemotionales und analytisches Bild der Zeit, ihrer Zwänge und Hoffnungen – und einer Beziehung, die sich beginnt aufzulösen, je mehr Annie Ernaux selbst aus den Bildern verschwindet. Ernaux’ Kommentare zu den Reisebildern sind beinahe ein Gegenentwurf zu klassischen Reisedokus. Sie spricht vor allem darüber, was das Paar damals nicht gesehen und verstanden hat, ähnlich ihren Beschreibungen der eigenen beschränkte Perspektiven in „Die Jahre“. Als Ergänzung zum Buch ist der Film eine schöne Bereicherung. Als erster Kontakt mit Ernaux’ Werk lässt der Film einige zunächst vielleicht eher achselzuckend zurück. Die subversive Qualität von Ernaux’ Arbeit erschließt sich erst allmählich. D Tom Dorow ¢ Start am 29.12.2022 In ANNIE ERNAUX – THE SUPER-8 YEARS, literary Nobel prize winner Ernaux comments on the Super-8 films that were filmed in the family, primarily by her former husband Philippe Ernaux.

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Leyla (Mala Emde) und ihr Freund Tristan (Jonas Dassler) besuchen eine schräge Kommune mit magischen Kräften, die auf einer abgelegenen Insel Körpertausch als spirituelles Ritual anbietet. Während Tristan mit der Sache hadert, macht es Leyla sehr froh, sich in einem anderen Körper wiederzufinden – und, noch viel wichtiger, den eigenen endlich los zu sein. In seinem Langfilmdebüt AUS MEINER HAUT widmet sich Regisseur Alex Schaad dem philosophisch wie filmisch traditionsreichen Gedankenexperiment des Körpertauschs. Die fantastische Prämisse gibt den Schauspieler*innen eine Steilvorlage: Emde und Dassler sowie Dimitrij Schaad, Maryam Zaree und Thomas Wodianka tauschen die Rollen und spielen nicht nur andere Figuren, sondern diese auch noch unter dem Einfluss der neuen Körper. Besonders mitreißend sind die Momente, in denen Leyla einen neuen Körper „anprobiert“ und vor Erleichterung und neuer Lebensfreude erblüht. „Hier drin stimmt etwas nicht“, sagt Fabienne (Maryam Zaree) derweil über Leylas Körper – kein Wunder also, dass Leyla eigentlich am liebsten gar nicht mehr zurücktauschen würde. Der Film nutzt seine Prämisse auf vielfältige Weise, um über psychische Gesundheit zu sprechen. Nicht alle Ideen werden zufriedenstellend zum Ende geführt, einige Nebenfiguren bleiben etwas blass. Ein sexualisierter Übergriff durch einen anderen Mann, den Tristan erlebt, wird tendenziell eher trivialisiert – sehr schade, zumal das Drehbuch von Alex und Dimitrij Schaad ansonsten auch zum Thema Männlichkeit spannende Beobachtungen macht. Dass nahezu alle Körper im Film normschön, jung und unversehrt sind, bleibt außerdem zu sagen – es zeigt sich also, dass dem Subgenre „Körpertausch“ auch nach AUS MEINER HAUT noch viel erzählerisches Potenzial innewohnt. D Eva Szulkowski ¢ Start am 2.2.20230 Leyla and her boyfriend Tristan visit a commune on a remote island that offers body swapping as a form of spiritual ritual. While Tristan is struggling with it, Leyla is very happy to rediscover herself in a different body …

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Karin Viard

Grégory Gadebois

Deutschland 2022 D 85 min D R: Elwira Niewra, Piotr Rosolowski D B: Elwira Niewiera, Piotr Rosolowski D K: Piotr Rosolowski D S: Agata Cierniak D V: Real Fiction

Das Hamlet Syndrom

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Theater im Krieg

When the war broke out in eastern Ukraine in 2014, five actors had to make a decision: Fight or not? Stay or flee? The film documents rehearsals for a play based on their reflections on that decision.

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© 2022 ADNP - TF1 STUDIO - FRANCE 3 CINÉMA / PHOTO : JULIEN PANIÉ

Der Dokfilm DAS HAMLET SYNDROM zeigt Theaterproben, bei denen Schauspieler*innen gemeinsam ein Stück entwickeln. Anders als Hamlet in seinem „Sein oder nicht sein?“-Monolog blicken sie dabei auf Folgen von Entscheidungen zurück, die sie bereits getroffen haben. Als 2014 der Krieg im Osten der Ukraine ausbrach, mussten sich die fünf Schauspieler*innen entscheiden: Kämpfen oder nicht? Bleiben oder Fliehen? Oxana ging auf die Demos am Maidan. Rodion nähte Militäruniformen. Slavik, Roman und Katya gingen an die Front und kehrten von den Erlebnissen traumatisiert zurück. Wenn sie versuchen, in den Proben ihre Erlebnisse zu kommunizieren und zu verarbeiten, geraten sie oft an ihre Grenzen oder in Konflikt miteinander, und immer wieder müssen die Proben unterbrochen werden. Sie sprechen über Erfahrungen mit dem Tod, aber auch die Frage, wie das Kriegserlebnis die Beziehung der Kämpfenden zu ihrem Heimatland verändert hat, kommt zur Sprache, die besonderen Herausforderungen für weibliche Kämpfende und ob die ukrainische LGBTQ-Community in Friedenszeiten diskriminiert, im Krieg aber für politische Zwecke instrumentalisiert wurde. Elwira Niewiera & Piotr Rosolowski begleiten die Darsteller*innen auch jeweils abseits der Probenbühne und zeigen ihre Familien und das soziale Umfeld, in einer Verschränkung, die deutlich durch das Theater von Heiner Müller inspiriert ist. Dieser Kontext ist hilfreich, verschiebt den Fokus aber weg vom Geschehen im Theater. Als Porträt einer ukrainischen Generation, die nach dem Ende der UdSSR geboren wurde und sich seit dem Ende der Dreharbeiten schon im nächsten Krieg befindet, hinterlässt der Film, trotz seiner Fragmenthaftigkeit und innerer Widersprüche einen starken Eindruck. D Christian Klose ¢ Start am 19.1.2023

e Laurian

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„Warmherziger Wohlfühlfilm” REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER

AB 19. JANUAR IM KINO


INDIEKRITIKEN

Acht Berge Zwei Lebenswege

Originaltitel: Le otto montagne D Italien/Belgien 2022 D 147 min D R: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch D B: Charlotte Vandermeersch, Felix van Groeningen D K: Ruben Impens D S: Nico Leunen D D: Alessandro Borghi, Luca Marinelli, Filippo Timi, Elena Lietti D V: DCM Film

Mit der bittersüßen, musikalischen Liebesgeschichte THE BROKEN CIRCLE schufen Charlotte Vandermeersch und Felix van Groeningen basierend auf dem Theaterstück von Johan Heldenbergh das Drehbuch zu einem der emotional kraftvollsten Filme des vergangenen Jahrzehnts. Mit ACHT BERGE adaptierten sie nun den gleichnamigen Roman von Paolo Cognetti erneut als Gemeinschaftsprojekt und führten auch erstmals gemeinsam Regie. Über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt der Roman von der Freundschaft zweier Jungs, deren Wege sich in einem kleinen Bergdorf im italienischen Aostatal kreuzen. Pietro kommt aus der Stadt, Bruno ist das letzte Kind in der entlegenen Siedlung. Trotz ihrer Gegensätze werden sie Freunde. Doch ihr Heranwachsen zu Männern lässt sie auseinanderdriften. Während es Pietro in die Welt zieht, bleibt Bruno dem Leben in den heimischen Bergen treu. Das Schicksal führt sie schließlich wieder zusammen. Ganz getragen von der mächtigen Naturkulisse und den zwei überzeugenden Hauptdarstellern Luca Marinelli (MARTIN EDEN) und Alessandro Borghi (SUBURRA) erzählt ACHT BERGE von unterschiedlichen Lebenswegen und Konzepten, dem Verlust von und dem sturen Festhalten an Idealen. Ist es besser, sich selbst treu zu bleiben, oder die Veränderung zu suchen? Einfühlsam führen Vandermeersch und Groeningen zweieinhalb Stunden durch zwei Leben, die sich gegenseitig bereichern. Eine Beziehung mit Höhen und Tiefen. Es sind die großen Themen – Familie, Freundschaft D 20

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und Verlust – verhandelt im Kleinen einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Bei den Filmfestspielen in Cannes gab es dafür den Großen Preis der Jury. Die ACHT BERGE zu erklimmen, ist ein Kraftakt, aber die Aussicht von der Spitze ist wahrhaftig und wundervoll. D Lars Tunçay ¢ Start am 12.1.2023

Over decades, two friends cross paths, lose touch and find each other again in a small mountain village in the Italian Aosta Valley.

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Originaltitel: The Albanian Virgin D Albanien/Belgien/Deutschland/Kosovo 2021 D 120 min D R: Bujar Alimani D B: Katja Kittendorf D K: Jörg Widmer D S: Philipp Thomas D M: Olaf Didolff D D: Rina Krasniqi, Kasem Hoxha, Mimoza Azemi, Shkurte Sylejmani D V: Splendid Film

Luanas Schwur Status: Mann

Frauen in patriarchalen Gesellschaften sind eingesperrt in viele miteinander verwobene Zwänge. Wer rebelliert, stolpert statt in ein freies Leben oft nur in neue Zwangskonstrukte hinein. So ergeht es der titelgebenden Hauptfigur im Spielfilm LUANAS SCHWUR des albanischen Regisseurs Bujar Alimani. In den 50er Jahren wächst sie in Albanien auf, eines der ärmsten Länder Europas und von 1944 bis 1990 kommunistische Diktatur. Von den geschichtlichen Umwälzungen bekommen Luana und ihre Familie auf dem Land nicht viel mit – sie leben noch immer nach den Regeln des Kanun, ein Verhaltenskodex aus dem 15. Jahrhundert, sowie ihres christlichen Glaubens. „Wir brauchen die Regeln, sie machen uns zu Menschen, egal wie grausam sie uns erscheinen mögen“, sagt ihr Vater, als er erfährt, dass Luana heimlich das Lesen gelernt hat. Luana gibt sich Mühe, sich an seine Weisungen zu halten, doch ihre unerhörten jugendlichen Befreiungsversuche holen sie im Erwachsenenalter wieder ein. Schließlich trifft sie die Wahl, zur Burrnesha zu werden – zur „eingeschworenen Jungfrau“, die ihren Status als Frau aufgibt und in der Gesellschaft die Rolle eines Mannes übernimmt. Was gewaltvolle Traditionen wie das Gebot der Jungfräulichkeit, Zwangsehen und die Tradition der Blutrache mit Frauen und Familien machen, erzählen Alimani und die deutsche Drehbuchautorin Katja Kittendorf schonungslos. Zugleich betrachten sie auch streitbare Figuren wie Luanas Eltern mit einem differenzierten Blick und zurückhaltendem Optimismus. LUANAS SCHWUR ist ein dichtes Historiendrama, das mit bewegenden Naturaufnahmen in der Abgeschiedenheit der albanischen Berge eine subtile Westernatmosphäre entfaltet. Dabei hinterlässt gerade auch der hervorragende, mit albanischen Volksliedern gespickte Soundtrack einen bleibenden Eindruck. D Eva Szulkowski ¢ Start am 9.2.2023 Albania in the 50s: the emancipatory attempts of young Luana cause her to come in conflict with the traditions of the village community. She decides to become a Burrnesha – a “sworn virgin”, who gives up her status as a woman and is considered a man in society.

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Petrovy v grippe D Russland 2021 D 145 min D R: Kirill Serebrennikov D B: Kirill Serebrennikov D K: Vladislav Opelyants D S: Yuriy Karikh D D: Chulpan Khamatova, Semyon Serzin, Yulia Peresild, Yura Borisov, Yuri Kolokolnikov D V: Edition Salzgeber

Petrov’s Flu Reise in die russische Nacht

Originaltitel: Maria rêve D Frankreich 2022 D 93 min D R: Lauriane Escaffre, Yvonnick Muller D K: Antoine Sanier D S: Valérie Deseine D M: René Aubry D D: Karin Viard, Grégory Gadebois, Philippe Uchan, Noée Abita D V: Atlas Film

Maria träumt – oder: Die Kunst des Neuanfangs Beschwingt-romantisch

Mehrere Jahre stand der russische Theater-, Opern-, und Filmregisseur Kirill Serebrennikov unter Hausarrest, vage Vorwürfe der Untreue schränkten seine Freiheit ein, die Gefahr einer Verurteilung und der Lagerhaft hingen in der Luft. Es hilft, mit diesem Wissen Serebrennikovs neuen Film PETROV’S FLU zu sehen, die Verfilmung eines Romans von Alexey Salnikov – eine atemlose, irritierende, delirierende Reise in die russische Nacht. Vom ersten Moment an schwebt ein Gefühl der Paranoia, der Bedrohung über den Bildern, die Russland Anfang der Nuller Jahre zeigen. Schauplatz ist Jekaterinburg, eine Stadt wenige Kilometer östlich des Urals, also der fiktiven Grenze zwischen Europa und Asien, zwischen West und Ost. Hauptfigur ist Petrov, ein Automechaniker, der wie fast alle Bewohner*innen der Stadt von einer Grippe geplagt ist. (Bezüge zur Corona-Pandemie sind natürlich zufällig, aber nicht weniger reizvoll.) Von einem Freund bekommt er ein Medikament, das vor allem dafür sorgt, dass Petrov – und mit ihm der Zuschauer – in einen wilden, oft auch wirren Strom aus Gedanken und Erinnerungen gezogen wird. Bilder aus Petrovs Vergangenheit vermischen sich mit der Gegenwart, kontemplative Momente wechseln ab mit Szenen, in denen der Verfall der staatlichen Ordnung überdeutlich wird. War Serebrennikovs vorheriger Film LETO geprägt von sommerlichen Bildern und Melancholie, ist PETROV’S FLU durchzogen von Chaos und Anarchie. Weniger eine nachvollziehbare Handlung, als lange Kamerafahrten halten das Geschehen zusammen, verbinden in fließenden Einstellungen die disparaten Ideen und Gedanken. Viel zu viel ist das oft, gespickt mit Anspielungen an die russische Realität, die aus der Ferne kaum zu verstehen sind, wild und ungezügelt, voller eindringlicher Bilder und Momente, auf die es sich einzulassen lohnt. D Michael Meyns ¢ Start am 26.1.2023 Petrov, a car mechanic, is plagued by the flu like almost all the residents of the city. He gets medication from a friend that causes him to go into a wild and often tumultous stream of thoughts and memories.

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Nachdem die alte Dame, bei der Maria (Karin Viard) jahrelang geputzt hat, das Zeitliche gesegnet und ihrer ehemaligen Angestellten nichts als eine Messingtaube hinterlassen hat, findet Maria eine Putzstelle an der renommierten Pariser Académie des Beaux-Arts. Doch kaum hat sie dort angefangen, passiert ihr das erste Malheur. Getreu ihrer Devise „Immer zweimal wischen!“ entfernt sie beherzt zerlaufene Butter von einem Sockel, die sich im Nachhinein als das Werk eines brasilianischen Künstlers entpuppt. Doch Hausmeister Hubert (Grégory Gadebois), heimlicher Hobbytänzer und gute Seele der Hochschule, rettet Maria – und ersetzt das Œuvre durch Butter aus der Kantine. Maria, die auf dem Heimweg in den Vorort Gedichte schreibt, und Hubert, der sich mit YouTube-Tutorials den Hüftschwung à la Elvis beizubringen versucht, sind sich sympathisch, doch Maria ist verheiratet. Das Regieduo Lauriane Escaffre und Yvonnick Muller stellt in MARIA TRÄUMT eine Mittfünfzigerin in den Mittelpunkt – allein das ist angesichts fehlender Sichtbarkeit älterer Frauen auf der Leinwand bemerkenswert. Unsichtbar zu sein ist das, was Reinigungskraft Maria an ihrem Job gefällt. Doch in der Kunsthochschule erkennen Hub und Studentin Naomie (Noée Abita) Marias Talente. Bald sitzt Maria – zunächst verschämt, dann zunehmend selbstbewusster – abends als Aktmodell im Zeichensaal. Die dreifache César-Gewinnerin Karin Viard, bekannt aus VERSTEHEN SIE DIE BÉLIERS (2014), trägt die beschwingt-romantische Komödie mit ihrer immer losgelösteren Darstellung einer erfahrenen Frau, die nicht nur die Liebe, sondern vor allem sich selbst findet – und dabei aufblüht. Escaffre und Muller, die zwei Nebenrollen spielen, widmen ihren feministischen Film „allen Marias der Welt“. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 19.1.2023

After the old lady who Maria cleaned for dies, Maria finds a cleaning job and new perspectives at the renowned Parisian Académie des Beaux-Arts.

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Der Geschmack der kleinen Dinge Gérard Depardieu spielt den berühmtesten Chefkoch Frankreichs. Gabriel Carvin kann sich allerdings schon lange nicht mehr an seinem Erfolg freuen, seine Familie ist in Trümmern, seine Frau betrügt ihn mit einem Restaurant-Kritiker, und nicht einmal das Essen schmeckt mehr. Als Carvin einen Herzinfarkt erleidet, beschließt er, sein Leben umzukrempeln und reist zu einem ehemaligen Konkurrenten nach Japan, um sich genauer mit dem „Umami“ jener fünften Geschmacksnote neben süß, sauer, salzig und bitter zu beschäftigen. ¢ Start am 9.2.2023 Originaltitel: Umami D Frankreich 2022 D 92 min D R: Slony Sow D D: Gérard Depardieu, Pierre Richard, Kyôzô Nagatsuka, Rod Paradot, Sandrine Bonnaire

Akropolis Bonjour Thierry (Jacques Gamblin) geht seit seiner Pensionierung allen mit der Archivierung der Familienfotoalben auf die Nerven. Als seine Frau Claire (Pascale Arbillot) sich – nicht nur deswegen – trennen will, bequatscht er sie, ein letztes Mal mit der ganzen Familie Urlaub zu machen, bevor sie es den beiden erwachsenen Kindern sagen. Das Ziel: Griechenland 1998 – der schönste Urlaub aller Zeiten. Thierry versucht, alles exakt so zu rekreieren wie damals, alle anderen sind vornehmlich genervt. Kathartisches Chaos ist die Folge. ¢ Start am 16.2.2023 Originaltitel: On sourit pour la Photo D Frankreich 2022 D 95 min D R: François Uzan D D: Jacques Gamblin, Pascale Arbillot, Pablo Pauly, Agnès Hurstel, Ludovik


INDIEFEATURE

„Freundliche Unterdrückung ist viel effizienter!“ Interview mit Cyril Schäublin zu UNRUH

Cyril Schäublin, geboren 1984 in Zürich, entstammt einer Uhrmacherfamilie und wuchs in der Schweiz auf. Zwischen 2004 und 2006 lebte er in China, wo er in Peking Mandarin und Film studierte. Es folgte ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Zurück in der Schweiz drehte er seinen Debütfilm DENE WOS GUET GEIT über eine Callcenter-Mitarbeiterin, die in ihrer Freizeit ältere Frauen mit dem „Enkeltrick“ ausnimmt. Der Film wurde in Locarno uraufgeführt und erhielt eine Nominierung für den Europäischen Filmpreis. Sein Zweitling UNRUH (OT: Unrueh) spielt in einem beschaulichen Schweizer Bergdorf anno 1877, in dessen Uhrenfabrik die Arbeiter*innen sich in der internationalen anarchistischen Bewegung organisieren. Auf der Berlinale gab es dafür den Regie-Preis der Sektion „Encounters“. Mir dem Regisseur sprach Dieter Oßwald.

INDIEKINO: Die Figuren in UNRUH sind extrem freundlich im Umgang miteinander. Was hat es damit auf sich? Das ist mein Erleben. Ich habe meine Familie befragt, meine Großtanten und Großonkel, die in einer Uhrenfabrik gearbeitet hatten, wie damals deren Verhältnis zu den Vorgesetzten war. Zu meinem Erstaunen war die Antwort immer dieselbe: Man empfand diese Autoritäten als sympathische, fürsorgliche Leute, welche auf einen aufgepasst haben. Wie lässt sich das erklären? Alles nur gute Menschen in der Schweiz? Ich glaube, diese freundliche Unterdrückung oder fürsorgliche Gewaltausübung ist eigentlich furchtbarer als eine offensichtlich gewaltvolle Haltung. Denn diese Methode ist eben viel effizienter. Haben Sie diese Erkenntnis aus Ihrer Zeit als Student in China?

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In China verliefen die Übergänge von den kaiserlichen Dynastien zur kommunistischen Revolution sehr schnell. Der Bezug zu Gewaltausübung und Autorität ist unglaublich viel komplexer als in Europa. Erstaunlich ist, wie diese Ordnungen für die Menschen so hingestellt und dann irgendwie gelebt werden, trotz aller Brüche, die vorhanden sind. Es wird sich auch in China nie vollständig kontrollieren lassen, wie die Menschen sich begegnen und organisieren. Auf sozialen Netzwerken muss sich jeder total zurücknehmen mit seiner Meinung. Aber sobald man in ein Restaurant oder einen Park geht, wird dort ohne Probleme geflucht und abgekotzt über die Regierung. Bei der Schweiz dürften die meisten eher an Banken als an Anarchie denken. Wie bekannt ist dieses Kapitel der Geschichte? Das Wissen darum beschränkt sich auf linke Kreise. Derweil kennt jedes Kind bei uns die Heldenlegende des Arnold Winkelried und der Schlacht bei Sempach. Auch in UNRUEH soll diese Schlacht ja von den Nationalisten nachgestellt werden. Solche nationalistischen Mythologien sind viel stärker im Geschichtsbewusstsein der Menschen. Es gibt viele Dokumente, die bezeugen, dass die Anfänge der anarchistischen Bewegung sehr respektiert waren in diesem Tal. Es stimmt wirklich, dass der Direktor der Uhrenfabrik ein Abonnent der anarchistischen Zeitung war. Wie haben Sie diese anarchistischen Wurzeln in der Uhrenindustrie freigelegt? Während seines Anthropologiestudiums in England entdeckte mein Bruder Emanuel, der mich später als ethnografischer Berater für den Film unterstützte, die anarchistische Theorie und Bewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Verbindungen zur Schweizer Uhrenindustrie. Er brachte mich dazu, Texte des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin zu lesen. Als ich über das autobiografische Zitat stolperte, in dem Kropotkin beschreibt, wie er zum Anarchisten wurde, nachdem er ein Schweizer Uhrmachertal und dessen anarchistische Bewegung besucht hatte, wusste ich sofort, dass dies Teil des Films sein würde – neben einer Figur, die von meiner eigenen Großmutter inspiriert war, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruhe herstellte

An der Berliner Filmschule hörte ich von russischen Kommilitonen oft die Klage, dass die Darsteller in russischen Filmen meist nicht echt wirkten und mit falschem Dialekt sprechen. Deswegen war mir wichtig, die Rolle glaubwürdig mit einem Muttersprachler zu besetzen, der zudem einen Bezug zu der Figur hat. Mit Alexei Evstratov hatte ich dann einen absoluten Kropotkin-Aficionado gefunden - und er hat dazu auch ein schönes Gesicht. Was hat es mit dieser Liebegeschichte zwischen der Arbeiterin und dem Anarchisten auf sich? Meine ursprüngliche Idee war es, die „Liebesgeschichte“, den bekannten „Boy-meets-Girl“-Aspekt, in eine Art Persiflage des Genres zu packen. Sie gipfelt in der Schlussszene, wenn die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr von den Leuten, die ihre Fotos kaufen, fiktionalisiert und vermarktet wird. Amüsanterweise fiktionalisiert und vermarktet die „Liebesgeschichte“ auch den eigentlichen Film und wertet ihn dahingehend vielleicht auf. Aber letztlich nimmt der Film, zumindest für mich, eine Position ein, die weit von einer Persiflage entfernt ist. Visuell fühlt man sich in Ihrem Film bisweilen an Wimmelbilder erinnert, bei denen man erst genauer hinschauen muss, um die Akteure zu entdecken. Was hat es mit diesem Konzept auf sich? Ich finde es manchmal nicht so einfach, über Bilder zu reden. Es ist ja auch das Schöne an Bildern, dass Sprache immer nur versuchen kann, darüber zu sprechen. Gar nichts zu wissen und alles ist möglich, waren die beiden Leitlinien für meinen Kameramann Silvan Hillmann und mich bei unserer Suche nach Motiven. Wir wollten in einen Austausch treten mit diesen Orten. Wir wollten vermuten, dass es eine Intelligenz gibt der Mauern, der Straßen und Fabriken, die man selbst vielleicht gar nicht verstehen kann. Jeder Film, und historische Filme insbesondere, bieten immer eine Auswahl von Informationen. Man kann die Vergangenheit nicht als objektive Wirklichkeit zeigen. Deswegen wollten wir Bilder schaffen, bei denen man seinen eigenen Blick organisieren kann. Wo man selbst überlegt, wohin der Blick geht und wem die Aufmerksamkeit in diesem Wimmelbild geschenkt wird. Wer spricht wo? Was wird repräsentiert? Und wer darf überhaupt im Bild sein?

Was wurde aus dem realen Anarchisten Pyotr Kropotkin? Was sagt Ihre Familie zu dem Film? Pyotr Kropotkin ist aktuell einer der am meisten gehypten politischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In Frankreich und den USA gibt es Neuauflagen seiner Bücher. Sehr empfehlen kann ich sein Werk „Gegenseitige Hilfe“. In anarchistischen und linken Kreisen ist Kropotkin sehr bekannt und berühmt. In Moskau gibt es sogar eine Metro-Station, die seinen Namen trägt. Sie machen den Anarchisten im Film hübscher als auf den Fotos, die es von ihm gibt.

Traurigerweise sind fast alle, die ich für den Film befragt hatte, mittlerweile verstorben. Mein Großonkel Paul ist jetzt 99 Jahre, für ihn werde ich Unrueh in seinem Altersheim zeigen. Was mich besonders freut, ist der Umstand, dass Uhrmacher, die den Film vorab gesehen haben, bestätigen, dass die handwerklichen Abläufe alle stimmig sind. D Das Gespräch führte Dieter Oßwald JANUAR/FEBRUAR 2023 D

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Unruh

Antihierarchisches Projekt Was haben Schweizer Uhren mit dem Anarchismus gemeinsam? Was wie ein Witz klingt, ist ein weitgehend vergessener historischer Zusammenhang: Die Schweizer Uhrenindustrie im Berner Juragebirge war im 19. Jahrhundert ein Zentrum der internationalen anarchistischen Bewegung. Die Organisation der Arbeiter*innen war auch eine Reaktion auf ihre zunehmend prekären Arbeitsbedingungen. Die Industrialisierung der Produktion machte die menschliche Arbeitskraft schlecht bezahlt und austauschbar, die zunehmend globale Konkurrenz drückte die Löhne weiter. Trotzdem brachten die Arbeiter*innen noch regelmäßig Geld auf, um anarchistische Gruppen in Nordamerika, Spanien oder England zu unterstützen. Und Anarchist*innen aus der ganzen Welt, unter ihnen auch Bakunin und Kropotkin, besuchten ihrerseits die Genoss*innen im Juratal. Regisseur Cyril Schäublin hatte mit UNRUH jedoch kein Historiendrama und schon gar kein Biopic im Sinn. Der Film bewegt sich zwischen konkreter Geschichte und assoziativer Kritik: Es geht zwar auch um Kropotkins Zeit im Juratal, um die Umwälzungen der Uhrenindustrie und um anarchistische Selbstorganisation, aber auch abstrakter um das kapitalistische Diktat der Zeit, um fotografische Vermarktung, um subtile Unterdrückung und stillen Widerstand. UNRUH stellt gängige Konzeptionen von Zeit, Arbeit, Erinnerung, kollektiver Identität und nicht zuletzt von filmischer Erzählung in Frage, aber nicht in den Fokus. Auch die D 26

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Originaltitel: Unrueh D Schweiz 2022 D 93 min D R: Cyril Schäublin D K: Silvan Hillmann D M: Li Tavor D D: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor D V: Grandfilm

Laienschauspieler*innen bevölkern die ruhigen Einstellungen mehr als sie sie dominieren. UNRUH scheint selbst ein antihierarchisches Projekt zu sein, ein friedliches Nebeneinander von Umgebungsgeräuschen, historischen Charakteren und diskursiven Bezügen. Schäublin schafft hier einen sanften und atmosphärischen, doch dadurch nicht weniger kritischen Film. D Yorick Berta ¢ Start am 5.1.2023

UNRUH is about Kropotkin‘s time in the Jura valley, the upheavel of the watchmaking industry in the 19th century and the anarchist self-organization of the watch workers, but also about the capitalist dictate of time, subtle oppression and quiet resistance.

Termine unter www.indiekino.de


Originaltitel: Women Talking D USA 2022 D 104 min D R: Sarah Polley D B: Sarah Polley D K: Luc Montpellier D S: Christopher Donaldson D M: Hildur Guðnadóttir D D: Frances McDormand, Claire Foy, Rooney Mara, Jessie Buckley, Sheila McCarthy, Judith Ivey, Ben Whishaw D V: Universal Pictures

Wo ist

Anne Frank EIN FILM VON ARI FOLMAN

Die Aussprache Feministisch-didaktisch

DIE AUSSPRACHE, Sarah Polleys Adaption von Miriam Toews Roman, ist ein eigenwilliger Film. Die Kinobilder der ländlichen Mennoniten-Gemeinde in „Jahrhundertwende-Grau-Blau“ sind eingängig und irgendwie vertraut aus zahllosen Filmerzählungen. Die theaterhafte, fragmentarische Inszenierung ist gewöhnungsbedürftig. Die Dialoge sind gewollt didaktisch und scheinen mal im Jetzt, mal in einer vor-industriellen Vergangenheit verortet. Das Ganze irritiert, entfaltet aber doch auch einen Sog. Wesentlicher Ort der Handlung ist ein Heuboden. Hier beraten die Frauen einer tiefreligiösen Gemeinde über ihr weiteres Schicksal. Wie es zu dieser Situation kam, handelt der Film kurz im Vorspann ab: Männer der Gemeinde haben jahrelang Frauen und Mädchen vergewaltigt und ihnen eingeredet, die Angriffe würden von Dämonen begangen. Als die Frauen einen der Männer erwischen, werden die Täter verhaftet. Die Gemeinde hat Kaution gezahlt, und die Frauen haben nun zwei Tage, um zu überlegen, was sie tun sollen: Nichts tun, bleiben und kämpfen oder gehen. Acht Frauen, darunter die strenge Janz (Frances McDormand), die kluge Ona (Rooney Mara) und die wütende Agata (Claire Foy), sollen die Entscheidung für alle treffen, und der sanfte Lehrer August – der einzige Mann mit Sprechrolle – schreibt Protokoll. Der Film folgt der mäandernden Diskussion und verflicht sie mit kurzen, schockierenden Rückblenden und kleinen Ausblicken – ins Feld, in eine leere Küche oder in die Schule, in der nur die Jungen lernen. Auf dem Heuboden geht es um Schuld (Sind einzelne Männer oder das System verantwortlich?), um Widerstand (Bedeutet Gehen Fliehen?) um Erziehung (Sind die Knaben noch rettbar?) und um Gott (Was wäre der gottgefällige Weg?). Dazwischen streiten die Frauen, sie weinen und trösten einander und singen „Nearer, my God, to Thee“. D Hendrike Bake ¢ Start am 9.2.2023 After the men of a Mennonite community get convicted of multiple rapes, the women have to decide what they are going to do. Sarah Polley’s unconventional adaptation of Miriam Toew’s novel follows the womens’ discussion.

Termine unter www.indiekino.de

Ab 23. Februar im Kino


INDIEKRITIKEN

Utama

Der Himmel über dem Altiplano

Originaltitel: Utama D Bolivien 2022 D 87 min D R: Alejandro Loayza Grisi D B: Alejandro Loayza Grisi D K: Bárbara Álvarez D S: Fernando Epstein D M: Cergio Prudencio D D: José Calcina, Santos Choque, Luisa Quispe D V: Kairos Film

Manche Filme sind fast zu schön, um sie auf dem Papier zu beschreiben. UTAMA, das Regiedebüt des bolivianischen Fotografen Alejandro Loayza Grisi ist so ein Fall. Jedes Bild dieses kleinen, ergreifend liebevollen Dramas über Vermächtnis, Verlust und Wandel ist so sorgfältig komponiert, dass man für einen Moment alles andere ausblendet und nur dem Blick der Kamera folgt. Diesem Sog, den die unglaubliche Kraft der Natur erzeugt. Das zeigt schon die erste Einstellung: Tief hängt der Himmel über dem Altiplano – einem Hochplateau der Anden im Dreiländereck von Peru, Bolivien und Chile. Nur ein schmaler greller Streifen Sonnenlicht am Horizont kämpft sich bereits durch. Ein Mann zieht einsam in den Tag hinaus, und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Langsam lernen wir Virginio (José Calcina) und seine Frau Sisa (Luisa Quispe) kennen, deren ausgezehrte Gesichter so rissig sind wie die Erde unter ihren Füßen. Er verbringt seine Tage damit, eine kleine Herda Lamas durch die Steppe zu schieben auf der Suche nach Gras. Sie kocht, wäscht, macht den Haushalt – all das ohne fließendes Wasser und Strom. Ihr gemeinsames Leben ist hart, einfach und arm. Aber sie haben einander, mehr brauchen sie nicht. Die beiden Laienschauspieler sind auch in Wirklichkeit ein Paar. Man kann die Nähe zwischen ihnen in jeder Geste spüren. Und in der Stille, dem Schweigen – ihr schwerer Atem verrät mehr als jedes Wort. D 28

D JANUAR/FEBRUAR 2023

Erst als ihr Enkel Clever (Santos Choque) auftaucht, um die beiden Alten zu überreden, in die Stadt überzusiedeln, entlädt sich der Konflikt, der im Zentrum des Films steht: Der Junge versteht nicht, was seine Großeltern so zwingend in dieser Einöde hält, in der es nicht mehr regnen will und der fortschreitende Klimawandel ein Überleben zunehmend unmöglich macht. Das eigentliche, hochbrisante Problem wird jedoch niemals beim Namen genannt. Stattdessen bestimmen poetische Fabeln, ein Bergritual und die innige Verbundenheit zwischen Virginio und Sisa zueinander und zu ihrem Land die zerbrechliche Welt von UTAMA. Eine Welt, der man sich ebenso schwer entziehen kann wie die Menschen, die in ihr leben, vom ersten Wimpernschlag bis zum letzten, schmerzlichen Augenblick. D Pamela Jahn ¢ Start am 9.2.2023

Life in the Andes highlands gets increasingly more difficult for Vigilio and Sisa, who belong to the indigenous Quechua community. Their grandson urges them to move to the city.

Termine unter www.indiekino.de


Großbritannien 2021 D 90 min D R: Mark Cousins D S: Timo Langer D M: Donna McKevitt D V: Edition Salzgeber

The Story Of Looking Pragmatisch poetisch

Aufstehen und rausgehen oder sich nur vorstellen, was er dort sehen, wem er begegnen würde? Der Tag vor der unvermeidlichen wiewohl bedrohlichen Augenoperation soll adäquat genutzt werden. Mark Cousins (Regie, Buch, Kamera), nackt unter die Decke gekuschelt, spricht von seinem Bett aus direkt in die sehr nahe Kamera, plaudert Intimes aus und stellt philosophische Fragen. Videotagebuch, Blog oder eine Videokonferenz mit dem Publikum? Eines wird schnell klar: THE STORY OF LOOKING ist alles andere als eine akademische Abhandlung über das Sehen. Der Filmhistoriker, Buchautor und Filmemacher Cousins lässt uns vielmehr zutraulich teilhaben an seinem persönlichen Nachdenken über Gesehenes und die Bedeutung des Schauens fürs menschliche Leben. Dabei wählt er als losen roten Faden die Entwicklungsstationen der optischen Wahrnehmung beim Menschen. Babies sehen zunächst unscharf. Es kommt Bewegung hinzu, Blickkontakt wird wichtig, dann spielen Farben eine Rolle, Licht wird als es selbst geschätzt. Zu jedem dieser Wahrnehmungselemente assoziiert Cousins Bildmaterial, das mal eigenständig erzählt, mal den gesprochenen Text stützt. Es mischen sich Erinnerungsschnipsel mit Landschaften, Sonnenauf- und -untergänge mit Abrißszenen und Spiegelungen, vieles mit einer unbekümmert subjektiven Kamera notiert. Aber auch kurze Kinofilmausschnitte sowie Gemäldebetrachtungen tragen pointiert und sinnlich zur Erörterung bei. Introspektiv aufs Bildbuch der Erinnerungen oder welterkundend nach außen gehend, die Perspektive dieses Essays ist pragmatisch poetisch. Es schält sich heraus, wie stark das Ansehen von Dingen über das Reflexionsmoment hinaus auch einfach etwas Entlastendes haben kann. Die Liebe zu einem visuellen Moment wird verstanden als Reaktion auf das Vergängliche der Zeit. D Anna Stemmler ¢ Start am 9.2.2023 Film historian, writer, and filmmaker Mark Cousins confides in us and lets us participate in his personal thoughts about being seen and the meaning of looking in human life.

„Was ist ein gutes Leben? Ich hab keine Ahnung davon. Aber die Luft will ich auch mal riechen.“

Ein Film von Tine Kugler und Günther Kurth

AB 26. JANUAR IM KINO BLAUTON STUDIO KMOTO Film

mindjazz-pictures.de

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02.12.22 16:45


INDIEKRITIKEN Spanien/Deutschland 2022 D 95 min D R: André Szardenings D B: André Szardenings D K: André Szardenings D S: Antonia-Marleen Klein D M: NOIA D D: Julius Nitschkoff, Lana Cooper, Karin Hanczewski D V: missingFILMs

Bulldog

Symbiotische Beziehung

Deutschland 2021 D 83 min D R: David Klammer D V: UCM.One

Barrikade Selbstorganisation

Bruno (Julius Nitschkoff) und Toni (Lana Cooper) haben Spaß. Das Leben ist ein großes Abenteuer für den 21-Jährigen und seine flippige Mutter mit den pinken Haaren, die gerade mal 15 Jahre älter ist. Die beiden arbeiten als Reinigungskräfte auf der Sonneninsel Ibiza, zu ernst nehmen sie ihren Job dabei nicht. Sie albern am Pool herum, chillen, jagen sich durch die Außenanlagen, lachen. Darüber kaugummisüßer Neo-Pop der Band Cults: „You and me, always forever …“. Sie machen einfach alles zusammen und schlafen sogar in einem Bett. Die symbiotisch-harmonische Beziehung nimmt mit dem Einzug von Tonis neuer Partnerin Hannah (Karin Hanczewski) aber ein abruptes Ende. Bruno ist eifersüchtig, und als er aus dem Bett verbannt wird, rastet er aus. Immer mehr verliert er die Kontrolle über sich und sein Leben, das ja eigentlich nur aus Toni bestand. In seinem Langfilmdebüt lässt André Szardenings den Konflikten, die sich auftun, viel Zeit. Folgt ihnen vom Brodeln zur Explosion zur anschließenden Ruhe. Regisseur und Kameramann in einer Person, kommt Szardenings den Figuren ganz nah, blickt mikroskopisch auf die Brüche und verschiebt die Perspektive immer wieder neu. Der verspielte Umgang miteinander, die unordentliche Ferienwohnung, der Alkohol, die Ruhelosigkeit, was in den ersten Bildern so frei und leicht erscheint, ist vielleicht doch nur einer chaotischen Lebensführung geschuldet. Die Mutter-Sohn-Beziehung irgendwie verkehrt. Bruno schuftet nach Feierabend für den Chef der Ferienanlage weiter, während Toni mit Hannah blaumacht und die Miete nicht bezahlt. Akribisch manövriert BULLDOG durch diese Beziehungs- und Identitätskrise und fokussiert sich auf deren Prozesse, statt Lösungen zu suchen. Ein atmosphärisches Coming-of-Age-Drama, das in der empathisch gezeichneten Hauptfigur Bruno auflebt.

Der Dannenröder Forst ist ein ca. 250 Jahre alter Mischwald in Hessen, 20 km östlich von Marburg. Im Oktober 2019 besetzen Umweltaktivist*innen ein Teilstück des Waldes, das für den Weiterbau der A 49 abgeholzt werden soll. Sie bauen Baumhäuser und „Tripods“ – Dreieckskonstruktionen aus Baumstämmen, auf denen Protestierende die Räumung erschweren können. Im Sommer 2020 ist der Wald immer noch besetzt. In seinem überwiegend beobachtenden Dokumentarfilm begleitet David Klammer die Besetzer*innen über mehrere Monate immer wieder. Er ist bei der Begrüßung von Neulingen dabei – „Wegrennen ist keine Ordnungswidrigkeit“, „Morgen ist Kletterkurs“ – und filmt die Baumbewohner*innen in ihrem Alltag. Eine Frau erzählt, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit damit zubringt, Sachen von A nach B durch den Wald zu schleppen. Ein Mann erzählt, dass er im Wald schon mal einen halben Tag unter einem Baum sitzt und wartet, wenn er sich mit jemandem treffen will, der kein Handy hat. So nebenher wird dabei klar, dass ein großer, wichtiger, vielleicht der wichtigste Teil des Protestes die Selbstorganisation ist. Strukturen schaffen und bewahren, Interessen ausgleichen, den Müll wegbringen. Die jungen Aktivist*innen werden dabei von älteren Bürger*innen der angrenzenden Orte unterstützt. Gemeinsam verursacht dieser überraschend kleine Haufen von Leuten ziemlich viel Mühsal für die Polizei, die ab Herbst 2020 täglich bis zu 2.000 Einsatzkräfte einsetzt, um den Wald Stück für Stück zu räumen. Sie geht, zumindest wenn Klammerers Kamera dabei ist, verhältnismäßig soft vor. Das Cello darf noch weggeräumt werden, die Protestierenden werden vorsichtig abgeseilt – zu groß ist die Gefahr ernsthafter Verletzungen bei Baumhäusern, die teils in über 10 Meter Höhe gebaut wurden. D Toni Ohms

D Clarissa Lempp ¢ Start am 2.2.2023

¢ Start am 2.2.2023

The symbiotic-harmonious relationship between son Bruno and mother Toni comes to an abrupt end when Toni’s new partner Hannah moves in.

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D JANUAR/FEBRUAR 2023

Climate activists occupy the Dannenrod Forest in 2019 in order to prevent the construction of a highway. The documentary follows the operation and also portrays the alliances that are made between the protestors and the locals.

Termine unter www.indiekino.de


Großbritannien 2022 D 123 min D R: Florian Zeller D B: Christopher Hampton, Florian Zeller D K: Ben Smithard D S: Yorgos Lamprinos D M: Hans Zimmer D D: Hugh Jackman, Laura Dern, Vanessa Kirby, Anthony Hopkins, Zen McGrath, Danielle Lewis D V: Leonine

»LUKAS DHONT HAT FÜR IMMER DIE HERZEN DES PUBLIKUMS GESTOHLEN.« VRT BELGIEN

»DHONTS JUNGE HAUPTDARSTELLER SIND ZUM NIEDERKNIEN GUT.« BLICKPUNKT:FILM

»WUNDERSCHÖN UND ZART, EIN GRANDIOSER FILM ÜBER FREUNDSCHAFT.« THE TELEGRAPH

The Son

Familie in der Krise Nach THE FATHER, dem Porträt eines demenzkranken älteren Herren (Darsteller-Oskar für Anthony Hopkins), hat Florian Zeller nun erneut das Psychogramm einer Familie in der Krise gedreht. Der erfolgreiche Anwalt Peter (Hugh Jackman) lebt mit seiner neuen weit jüngeren Frau Beth (sehr gut in einer undankbaren Rolle: Vanessa Kirby) und dem neuen Baby in einer New Yorker Loft-Wohnung. Zurückgelassen hat er seine Ex-Ehefrau Kate (Laura Dern) und einen Teenager, den wütenden und depressiven Nicholas (Zen McGrath). Nachdem Nicholas mehrere Monate die Schule geschwänzt hat, bittet Kate Peter um Hilfe, und die Familie einigt sich darauf, dass der Junge zu Peter und Beth zieht. Äußerlich scheint das zunächst zu funktionieren, aber unter der Oberfläche eskaliert Nicholas’ destruktives, selbstzerstörerisches Verhalten bis zum Suizidversuch. Obwohl der Film THE SON heißt, geht es Zeller vor allem um den Vater, der inmitten der kalten Designausstattung seiner Wohnung (Beton, Ziegel, Anthrazit) und der spiegelnden Businessoberflächen seines Alltags (immer wieder: Flure und Aufzüge) mit Schuldgefühlen und der eigenen Vaterbeziehung kämpft und darüber den Sohn so sehr nicht sieht, dass man kaum Sympathie entwickelt. Sogar als Nicholas gleich mehrfach mit einer für einen wortkargen Teenager erstaunlichen Eloquenz formuliert, was ihm fehlt: „Ich komme mit dem Leben nicht zurecht. Es schmerzt.“, kommt niemand auf die Idee, mal mit ihm zum Psychiater zu gehen. Man möchte die Eltern schütteln, aber auch den Drehbuchautor und Regisseur, der seinen Bildern, den an sich hervorragenden Darsteller*innen (Laura Dern!) und vor allem dem Publikum nichts zutraut und noch die kleinste Regung in über-offensichtlichen Dialogen ausbuchstabiert oder mit erklärender Musik unterlegt. D Hendrike Bake

ein film von

lUKAS DHonT

ZUM TRAILER

¢ Start am 26.1.2023

After THE FATHER, Florian Zeller has shot another psychological portrait of a family in crisis. This time it’s about depressed teen Nicholas, whose suffering is causing his divorced parents to despair.

Termine unter www.indiekino.de

AB 26. JANUAR IM KINO eDen DAmBRine

GUSTAv De WAele

Émilie DeQUenne

lÉA DRUCKeR


INDIEFEATURE

Final Cut Of The Dead Meta-Zombies

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D JANUAR/FEBRUAR 2023


INDIEFEATURE

Originaltitel: Coupez! D Frankreich 2022 D 110 min D R: Michel Hazanavicius D B: Michel Hazanavicius D K: Jonathan Ricquebourg D S: Mickael Dumontier D M: Alexandre Desplat D D: Bérénice Bejo, Romain Duris, Matilda Anna, Ingrid Lutz, Luàna Bajrami D V: Weltkino

Ein Film im Film im Film. Michel Hazanavicius, Regisseur von THE ARTIST, hat erneut einen vergnüglichen Metafilm übers Filmemachen gedreht. Diesmal mit Zombies und einer atemberaubenden und rasend komischen Plansequenz. Hazanavicius hat seinen Spaß mit einem Film über ein französisches Remake der japanischen Horrorkomödie ONE CUT OF THE DEAD, in der echte Zombies den Dreh eines Zombiefilms aus dem Ruder laufen lassen. In todkomischen Szenen geht es unter anderem um die retardierenden Momente in Zombiefilmen und -serien, also die Terrorpausen, in denen Darsteller sich unter anderem darüber unterhalten, wer „okay“ ist, und wer doch einen Kratzer hat, um panische Blicke in leere Korridore, um Darstellerinnen, die zu sehr in ihrer Rolle aufgehen, und um die tragische Liebe zu Untoten. Am besten ist es, möglichst wenig über den Film zu wissen und sich einfach von den überdrehten Wendungen überraschen zu lassen. D ¢ Start am 16.2.2023

A film in a film in a film. Michel Hazanavicius, the director of THE ARTIST, has made a new enjoyable meta-film about filmmaking. This time it‘s with zombies and a breath-taking plan sequence.

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INDIEKRITIKEN Großbritannien 2023 D 108 min D R: Shekhar Kapur D B: Jemima Khan D K: Remi Adefarasin D S: Guy Bensley, Nick Moore D M: Nitin Sawhney D D: Lily James, Emma Thompson, Taj Atwal, Shazad Latif, Shabana Azmi D V: STUDIOCANAL

What’s Love Got To Do With It?

Originaltitel: Tourment sur les îles D Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022 D 163 min D R: Albert Serra D B: Albert Serra D K: Artur Tort D M: Marc Verdaguer D D: Benoît Magimel, Sergi Lopez, Pahoa Mahagafanau, Matahi Pambrun, Montse Triola D V: Filmgalerie451

Pacifiction Südsee-Paranoia

Reality-Dreh-Rom-Com

Richard Curtis’ Drehbücher lieferten in den 1990er Jahren die Vorlagen für einige der größten britischen RomCom-Klassiker überhaupt. Sein Regiedebüt LOVE ACTUALLY (dt. „Tatsächlich … Liebe“, 2003) wird gefühlt mit jedem Weihnachtsfest beliebter. Shekhar Kapur (ELIZABETH) versucht nun, an die bewährte Erfolgsformel anzuknüpfen, allerdings mit einem bewusst zeitgemäßen multikulturellen Ansatz. Die Geschichte, die nichts mit dem gleichnamigen Tina-Turner-Biopic zu tun hat, stützt sich vage auf die persönlichen Erfahrungen der britischen TV- und Filmproduzentin Jemima Khan, die ihre Karriere einst als Journalistin begann. Lily James spielt Zoe, eine junge, aufstrebende Dokumentarfilmerin, die nach einem Aufhänger für ihr nächstes Projekt sucht. Als sie sich von ihren Geldgebern in die Ecke gedrängt fühlt, fällt ihr spontan Kazim (Shazad Latif) ein, ihr enger Freund und Nachbar aus Kindertagen, der ihr gerade erzählt hat, dass er eine arrangierte Ehe eingehen wird – und zwar angeblich aus eigenem Antrieb und nicht aus elterlichem Zwang. Zoe ist von der Idee verstört und fasziniert zugleich. Dennoch überredet sie Kaz, ihn vom ersten Kennenlernen mit seiner zukünftigen Frau via Skype bis zur Hochzeit in Lahore mit ihrer Kamera zu begleiten. Seine pakistanisch-britische Großfamilie sitzt ihm dabei ebenfalls pausenlos im Nacken, was der Geschichte ein solides Tempo, humorvolle Momente und beiläufige interne Konflikte beschert. Zudem taucht Emma Thompson in einer etwas arg überzogenen Nebenrolle als Zoes Mutter auf, um komödiantische Beihilfe zu leisten. Obwohl Khans Drehbuch es grundsätzlich vermeidet, thematisch in die Tiefe zu gehen, schafft es Kapur, seinem Film einen gewissen Charme zu verleihen, der vor allem dem lässigen Spiel zwischen James und Latif entspringt. D Pamela Jahn ¢ Start am 23.2.2023 When Zoe, a young, aspiring documentarian looks for a hook for her next project, she spontaneously thinks of Kazim, a close friend and neighbor from her childhood days who just told her that he will be having an arranged marriage.

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D JANUAR/FEBRUAR 2023

Albert Serra hat in den letzten Jahren vor allem eigensinnige Filme in historischen Settings gedreht – vielleicht noch am bekanntesten ist der morbide DER TOD VON LUDWIG XIV. Serras neuer Film PACIFICTION wirkt dagegen, als hätte ein Thriller von Alan J. Pakula (THE PARALLAX VIEW, 1974) in tropischer Hitze zu viele Mai Tais getrunken. Serras Film ist eine sehr gegenwärtige, schwüle Fantasie über den Südsee-Kolonialismus und die Atomtests in Französisch-Polynesien. In großen Kinobildern, oft in grandiosen Lichtstimmungen zu Sonnenaufgang und -untergang gefilmt, entfaltet der Film über drei Stunden ein Panorama der Paranoia in Bars, Hotels und Investitionsruinen auf Tahiti. M. De Roller (Benoît Magimel) ist der französische Hochkommissar, im weißen Anzug mit Paisley-Hemd, blauer Sonnenbrille und einer Frisur wie ein alternder französischer Popstar in den achtziger Jahren. Sein Büro scheint er im Proberaum einer einheimischen Tanztruppe zu haben. Aber De Roller ist permanent auf der Arbeit. Jede Begegnung ist eine Verbindung aus Kumpelei und Business, Verführung und Drohung. Mal muss der Rat der Einheimischen umschmeichelt werden, mal einem Priester damit gedroht werden, dass seine Kirche sich auch gut als Kulturhaus der Community machen würde. Aber De Roller hat nicht alles unter Kontrolle. Es gibt Gerüchte, dass die Atomtests auf Mururoa, die Frankreich bis 1996 durchgeführt hat, wieder aufgenommen werden sollen. Ein Marine-Admiral taucht mit Seeleuten in der Bar „Paradies“ auf. Verdächtige Geschäftsleute haben Kontakt zum Admiral. Angeblich liegt ein U-Boot ohne Positionsleuchten vor Tahiti, zu dem am Wochenende Frauen mit einem Boot gebracht werden. M. De Rollers Kolonial-Paradies geht nicht nur, wie etwa in Lucrecia Martels Film ZAMA, einem allmählichen, fauligen Verfall entgegen. Es droht die vollständige Auslöschung. D Tom Dorow ¢ Start am 2.2.2023 M. De Roller (Benoît Magimel) is the French High Commissioner on Tahiti. There are rumors that the French will resume atomic testing at Mururoa.

Termine unter www.indiekino.de


Originaltitel: Till D USA 2022 D 130 min D R: Chinonye Chukwu D B: Keith Beauchamp, Chinonye Chukwu, Michael Reilly D K: Bobby Bukowski D S: Ron Patane D M: Abel Korzeniowski D D: Danielle Deadwyler, Jalyn Hall, Jamie Renell, Whoopi Goldberg, Sean Patrick Thomas D V: Universal Pictures

Till – Kampf um die Wahrheit Geschichte eines Hassverbrechens

TILL tells the story of teenager Emmett Till who was lynched by White people in the 1950s and of his mother Mamie Till who spent her whole life being involved in the civil rights movement.

CHARLOTTE

GAINSBOURG

QUITO

RAYON-RICHTER

NOEE

ABITA

MEGAN

NORTHAM

EMMANUELLE

BEART

PASSAGIERE DER NACHT

„Diese Chronik von Paris der 80er Jahre ist von großer Sanftheit geprägt.“ Le Figaro

„Charlotte Gainsbourg in der Hauptrolle ist von überwältigender Gefühlstiefe.“ I L L U S T R AT I O N : R I K I B L A N C O, M A D R I D | G R A F I K : S T E P H A N I E R O D E R E R , M Ü N C H E N

Es ist eins der erschütterndsten Bilder der amerikanischen Geschichte: Der tote Emmett Till, aufgebahrt in einem Leichenschauhaus, sein Gesicht eine nicht zu identifizierende Masse aus Fleisch und Knochen, gelyncht von weißen Rassisten. Im Hintergrund ist seine Mutter Mamie zu sehen und von ihr handelt Chinonye Chukwus TILL. Die Geschichte beginnt Mitte der 50er Jahre. Emmett und seine Mutter leben in Chicago, wo Rassismus spürbar, aber meist nicht lebensbedrohlich ist. Ganz anders im Süden, wohin Emmett fahren wird, um ein paar Tage seine Verwandten zu besuchen. In Mississippi ist Emmett ein Fremdkörper, viel selbstbewusster als es ein Schwarzer hier sein darf, sein sollte, wenn er Konflikten mit Weißen aus dem Weg gehen will. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, hatte ihm eingebläut, sich „klein“ zu machen, bloß keinen Weißen zu provozieren, doch Emmett ist ein Teenager und nimmt die Worte seiner Mutter nicht ernst. Ein unbedarfter Flirtversuch mit einer weißen Frau reicht aus, um die Situation zu eskalieren: Die Verwandten der Frau entführen Emmett, foltern und lynchen ihn. Kaum auszuhalten ist der Anblick seiner geschundenen Leiche, die Chukwu unbarmherzig zeigt, genauso wie Mamie Till den Anblick ihres toten Sohnes ganz bewusst zur Schau stellte. Emmett Till wurde in einem offenen Sarg aufgebahrt, so dass jeder sehen konnte, jeder sehen musste, welche brutalen Folgen Rassismus haben kann. Die Bilder gingen um die Welt, Mamie Till engagierte sich den Rest ihres Lebens in der Bürgerrechtsbewegung, die langsam, viel zu langsam Erfolg hatte: Erst Anfang 2022 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Lynchen als Hassverbrechen ächtete, der „Emmett Till Antilynching Act“. Für den Mord an Emmett Till büßte jedoch niemand: Seine beiden weißen Mörder wurden freigesprochen. D Michael Meyns ¢ Start am 26.1.2023

Le Parisien

EIN FILM VON MIKHAEL HERS

Ab 5. Januar im Kino mit THIBAULT VINÇON und LAURENT POITRENAUX und DIDIER SANDRE produziert von PIERRE GUYARD Drehbuch MIKHAEL HERS, MAUD AMELINE, MARIETTE DESERT Produzent*innen CHRISTOPHE ROSSIGNON und PHILIP BOEFFARD Kamera SEBASTIEN BUCHMANN (AFC) Montage MARION MONNIER Originalmusik ANTON SANKO Regieassistenz LUCAS LOUBARESSE Casting MARION TOUITOU (ARDA) Szenenbild CHARLOTTE DE CADEVILLE Ton VINCENT VATOUX, CAROLINE REYNAUD, SYLVAIN MALBRANT, DANIEL SOBRINO Kostüm CAROLINE SPIETH Ausführende Produzentin EVE FRANÇOIS-MACHUEL Aufnahmeleitung VINCENT LEFEUVRE Postproduktion CLARA VINCIENNE eine Koproduktion mit NORD-OUEST FILMS, ARTE FRANCE CINEMA unter der Beteiligung von CANAL+, CINE+, ARTE FRANCE in Zusammenarbeit mit LA BANQUE POSTALE IMAGE 14, COFIMAGE 32, CINEMAGE 16, CINEVENTURE 6, SG IMAGE 2019, CINECAP 4, PALATINE ETOILE 18, INDEFILMS 10 mit der Unterstützung von PROCIREP, L’ANGOA, LA REGION NORMANDIE in Partnerschaft mit CNC und in Zusammenarbeit mit NORMANDIE IMAGE, PYRAMIDE und MK2 FILMS im Verleih von EKSYSTENT FILMVERLEIH © 2021 NORD-OUEST FILMS, ARTE FRANCE CINEMA

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN Deutschland 2022 D 94 min D R: Vera Brückner D B: Vera Brückner D K: Felix Pflieger D S: Sophie Oldenbourg D M: Guliano Loli, Florian Paul, Nils Wrasse D V: W-Film

Sorry Genosse Waghalsige Flucht

Myanmar/Kanada/Deutschland 2022 D 92 min D R: Snow Hnin Ei Hlaing D B: Snow Hnin Ei Hlaing D K: Soe Kyaw Htin Tun D M: Olivier Alary, Johannes Malfatti D V: jip Film & Verleih

Midwives Mintgrüne Klinik

Hedi und Karl-Heinz verlieben sich auf den ersten Blick, als sie sich 1969 auf Tante Klärchens Familienfeier kennenlernen. Mondlandung und Vietnamkrieg halten die Welt in Atem – und die Mauer trennt die Thüringer Medizinstudentin und den Frankfurter Linksaktivisten. Jahrelang schreiben sie sich Briefe und träumen davon, endlich zusammenzuleben. Voller Sehnsucht nach Hedi entscheidet sich Antikapitalist Karl-Heinz dazu, in die DDR überzusiedeln. Doch die Stasi hat ihn schnell im Visier und will ihn in West-Berlin als Spion einsetzen. Als auch Hedi unter Schikanen leiden muss, schmieden die beiden mit den Freund*innen Gitti und Lothar einen Plan: Mit einem Ersatzpass, den sie in Bukarest beantragen wollen, soll es für Hedi unter Gittis Identität über Rumänien und Österreich nach Westdeutschland gehen. Die echte Gitti soll vorgeben, von Lothar in eine Falle gelockt worden zu sein. Blauäugig und überzeugt von ihrem „bombensicheren“ Plan machen sich die vier auf den Weg. Doch kaum in Rumänien angekommen, geht alles schief. In SORRY GENOSSE bringt Vera Maria Brückner in verspielter Form die tragikomische Geschichte einer waghalsigen Flucht auf die Leinwand. In Studiokulissen im Retro-Look stellt sie Szenen bei den Behörden in Rumänien mit Karl-Heinz und Hedi nach, die aus ihren alten Briefen vorlesen. Andere Orte, die eine Rolle für den Weg der beiden spielten, besucht sie mit ihnen noch einmal und lässt sie dort von ihren Erlebnissen erzählen. Ergänzt durch Archivaufnahmen und alte Fotos und untermalt von Ton Steine Scherben-Songs verbindet die 1988 geborene Regisseurin deutsch-deutsche Geschichte mit den persönlichen Erinnerungen der sympathischen Protagonist*innen Karl-Heinz und Hedi, die sich weder durch den Eisernen Vorhang noch durch Stasi und Securitate aufhalten ließen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 9.2.2023

Respektvolle Nähe. Vielleicht ist es das, was diesen Dokumentarfilm vor anderen Dingen auszeichnet. Da ist etwa, gleich zu Beginn, die Szene, in der man auch als Zuseher froh ist, als der Kleine endlich zu schreien beginnt: Wir wohnen einer Geburt bei, sind ganz dicht mit dran. Und doch hat man, ähnlich wie in fast allen Szenen dieses unaufgeregten und doch eindringlichen Films, das Gefühl, dass hier weder die Intimgrenze des Babys, noch die der Mutter überschritten wird. MIDWIVES begleitet zwei Hebammen (engl.: Midwives), eine Buddhistin und eine Muslima, die in einer winzigen Klinik im Westen Myanmars zusammenarbeiten. Beide helfen den muslimischen Rohingya – eine der, laut UN, am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt: Dem Militär Myanmars werden unter anderem ethnische Säuberungsaktionen gegen die Rohingya-Muslime vorgeworfen. Hla, so der Name der Buddhistin, führt die Klinik, Nyo Nyo, die Muslima, unterstützt sie als Assistentin. Obwohl Nyo Nyos Familie seit Generationen in der Region lebt, werden sie als Eindringlinge betrachtet. Nyo Nyo hat einen Traum, der angesichts der Umstände kaum je realisierbar erscheint: Eines Tages möchte sie selbst eine Klinik eröffnen. Dabei besitzt sie als Muslima noch nicht einmal einen Ausweis. Einst, so heißt es irgendwann in diesem mit Archivbildern von Ausschreitungen und Totalen von Reisfeldern gleichermaßen arbeitenden Film, waren die Buddhisten und Muslime der Region miteinander befreundet. Die kleine mintgrüne Klinik, in der Nyo Nyo und Hla allen Verboten und Vorbehalten zum Trotz zusammenarbeiten, wird zum Hoffnungssymbol für ein, dereinst womöglich wieder herstellbares, friedliches interreligiöses Miteinander. D Matthias von Viereck

Hedi and Karl-Heinz fall in love at first sight when they meet in 1969, but the wall separates the Thuringian med student and the Frankfurter leftist activist. Director Vera Maria Brückner directs the tragicomic story of a risky escape in a playful documentary format.

Midwives accompanies two midwives in a small clinic in western Myanmar – one of the woman is a Buddhist, the other a Muslima.

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D JANUAR/FEBRUAR 2023

¢ Start am 26.1.2023

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Berlin JWD

Tara

Eine Winterreise nach (J)anz (W)eit (D)raußen oder JWD, wie man in Berlin sagt. Die märkischen Landschaften hinter der Stadtgrenze wurden am Ende des 19. Jahrhunderts von proletarischen Erholungssuchenden überrannt. Kurz darauf fraß der Moloch Großstadt die scheinbar unschuldige Idylle. Seitdem wechseln Um-, Ab- und Aufbrüche in nicht vorhersehbarer Folge. Wie Exkremente einer vergangenen Zukunft liegen die ehemaligen Rieselfelder, zerfallenen Grenzanlagen, aufgelassenen Fabriken und begrünten Müllberge in der Landschaft verstreut.

Der mythische Taras war ein Sohn des Meergottes Poseidon, der als Stadtgründer der Stadt Taranto (Tarent) gilt. Auch der kleine Fluss Tara ist nach dem Göttersohn benannt. Einige Einheimische glauben an die heilenden Kräfte seiner Wasser. Der Dokumentarfilm von Volker Sattel und Francesca Bertin zeigt Badende im Fluss und einen Marienaltar im Schilf und taucht mit der Kamera ins Wasser. Aber allmählich enthüllen sich auch Bilder der benachbarten Fabriken, ein Stahlwerk und eine Deponie. Das Wasser des Tara ist kontaminiert.

¢ Start am 12.1.2023

¢ Start am 19.1.2023

Deutschland 2022 D 74 min D R: Bernhard Sallmann

Deutschland/Italien 2022 D 86 min D R: Francesca Bertini, Volker Sattel D D: Jasmine Pisapia, Adriana Sellani, Cataldo Ranieri, Marco Tomasicchio, Vincenzo Romito

Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten

Auf der Suche nach Fritz Kann

In Chartres, einer Stadt mit knapp 40.000 Einwohner*innen 90 Kilometer südwestlich von Paris besucht der Historiker und Dokumentarfilmer Emmanuel Gras Mitstreiter*innen der „Gilets jaunes“ wie Agnès, die ihren behinderten Sohn pflegt, und Nathalie, die mit ihren zwei Kindern von 1200 Euro im Monat leben muss. Ihr Engagement für die Gelbwesten schweißt sie zusammen. Gras ist nah dran, begleitet die Protagonist*innen zu Diskussionen und Demonstrationen, lässt auch Gegenstimmen zu, und fängt ein, wie auf große Erwartungen die Enttäuschung folgt. ¢ Start am 12.1.2023

Der erste Mann von Marcel Kolvenbachs Großmutter hieß Fritz Kann. Er wurde 1942, neun Monate vor der Geburt von Kolvenbachs Vater, auf Grund seiner jüdischen Herkunft deportiert. Der Filmemacher begibt sich auf Spurensuche nach diesem möglichen Großvater. In Ermangelung von Bildern oder Archivmaterialien wird das Suchen selbst zum Thema seines Films, die oft zum Scheitern verurteilten Versuche von Angehörigen, Hinweise zu finden, noch so vage Spuren nach Eltern oder Großeltern, die in der Mordmaschine des Dritten Reichs ums Leben gekommen sind. ¢ Start am 12.1.2023

Originaltitel: Un peuple D Frankreich 2022 D 104 min D R: Emmanuel Gras

Deutschland 2022 D 100 min D R: Marcel Kolvenbach

Termine unter www.indiekino.de

JANUAR/FEBRUAR 2023 D

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INDIEFEATURE

Man kann den Film PASSAGIERE DER NACHT so sehen: Eine Frau wird von ihrem Mann verlassen, bekommt einen Job beim LateNight-Radio, trifft eine junge Obdachlose, die sie in ihr Haus aufnimmt, und die zwar bald wieder verschwindet, aber sie selbst und ihre Familie dazu inspiriert, ein freieres Leben zu führen. Alles wird gut, und schließlich wird auch die Obdachlose gerettet. Das ist nicht sehr interessant. Aber so wurde der Film bei der Berlinale von Vielen verstanden. Mikhaël Hers, der mit AMANDA (dt. Mein Leben mit Amanda) einen der besten Filme über die Folgen des Terrors für das Leben und Träumen von Pariser*innen gedreht hat und auch dort mit sehr subtilen Realitätsverschiebungen arbeitete, gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass diese Geschichte nicht ganz für bare Münze genommen werden kann. Die Hauptfigur Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) hat oder hatte Brustkrebs. Ihre Geschichte beginnt am 8. Mai 1981. Der Sozialist François Mitterand ist gerade zum französischen Staatspräsidenten gewählt worden. Auf den Straßen wird gefeiert. Tatsächlich war die Wahl aber zwei Tage später, am 10. Mai. Elisabeth freut sich im Auto ihrer Familie mit den Feiernden auf den Straßen. Im Autoradio läuft die Radiosendung „Les passagers de la nuit“, und die Moderatorin kündigt als erstes Lied „Regarde“ von Barbara an. Darin gibt es die Verse: „Regarde, au ciel de notre histoire, une rose, à nos mémoires, dessine le mot espoir …“ („Sieh es dir an: Am Himmel unserer Geschichte, zeichnet eine D 38

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Rose zu unseren Erinnerungen das Wort Hoffnung“). Aber das Lied ist nicht zu hören. Über den Kamerablicken auf moderne Architektur und Feiernde in der Nacht liegen melancholische Synthesizer-Sounds. PASSAGIERE DER NACHT kündigt sich als ein Film über die Erinnerung an die Hoffnung an. Im Moment, in dem der Radio-Ton verschwindet, entgleitet die Realität. Ist Elisabeth am 8. Mai gestorben, und halluziniert sich zwei Tage in die Zukunft, und von dort aus vier, acht Jahre weiter in eine Zukunft, in der – mit Hilfe einer Traumfee, der obdachlosen Talulah (Noée Abita), alles gut wird? Die Fee war bereits zuvor erschienen. In den ersten Bildern des Films steht Talulah vor dem Stadtplan in der Pariser U-Bahn, auf dem die möglichen Fahrtstrecken damals mit Leuchtpunkten markiert wurden und auf Knopfdruck erstrahlten. Der analoge Zauber der Großstadt liegt in einer Überblendung auf ihrem Gesicht. Man kann ihre Figur als ein weiteres „manic pixie dream girl“ verstehen, eines dieser hübschen, etwas verpeilten, aber mit hoher Energie ausgestatteten Film-Mädchen, die in tausenden Coming-of-Age Filmen schüchterne Jungs, neuerdings auch schüchterne Mädchen, aus ihrer Lethargie reißen, um dann selbst gerettet zu werden oder verloren zu gehen. Aber Talulah ist klarer als ein geisterhaftes Phantasma markiert als in klassischen Coming-of-Age-Filmen. Der Film macht nach diesen ersten Szenen zwei Zeitsprünge, nach 1984 und 1988. 1984 hat Elisabeth ihre Krebs-Erkrankung überwunden, aber ihr Mann hat sich getrennt, und sie hat Geldsorgen.


INDIEFEATURE

Passagiere der Nacht

Erinnerung an die Hoffnung Sie braucht einen Job, hat aber nie gearbeitet. Sie bekommt einen Job in der von Wanda (Emmanuelle Béart) moderierten Show „Les passagers de la nuit“. Dort lernt sie Talulah kennen, die als Gast eingeladen wurde, aber danach einsam auf einer Parkbank sitzt. Elisabeth nimmt das Mädchen mit nach Hause und quartiert sie in einer romantischen Dachkammer ein, ein Raum nahe dem Dach des Hochhauses, in dem die Familie wohnt – das moderne, imaginäre Äquivalent zum Gartenhaus im viktorianischen Roman, mit dem dieser Film einiges gemein hat. Talulah wird von allen geliebt und geht gern mit Elisabeths Teenager-Kindern ins Kino, und verschwindet wieder.

auf der Grenze zwischen Leben und Tod erzählt, aus der Perspektive von 1981, auf dem Weg zum oder aus dem Krankenhaus. Dem Tod nahe, denkt sie darüber nach, was passieren könnte, wenn es ihr gelänge, den Krebs zu überleben. Weitere Spuren sind angelegt, die auch die anderen Figuren geisterhaft erscheinen lassen, trotz der über weiteste Strecken realistisch-psychologisch wirkenden Inszenierung. Aber wenn im Schlussbild Mutter Elisabeth mit ihren Kindern, Großvater und Talulah fröhlich im Park sitzen – ist das ein Happyend oder eine Erinnerung an die Hoffnung von 1981? Die Passagiere der Nacht sind auch die Gespenster derjenigen, die in den 80er Jahren verloren gingen.

Vier Jahre, 1988, später taucht Talulah als Junkie wieder auf, wird aber geheilt, als wäre Heroinsucht ein böser Schnupfen. Sie will ins Kino, den Film VOLLMONDNÄCHTE von Eric Rohmer sehen. Matthias erklärt ihr, dass die Schauspielerin aus dem Film – Pascale Ogier – gestorben sei. „Das kann nicht sein“ murmelt Talulah immer wieder. Pascale Ogier war in den frühen achtziger Jahren der größte junge weibliche Star des französischen Kinos. Sie starb 1984, im gleichen Jahr, in dem auch Rohmers VOLLMONDNÄCHTE ins Kino kam. Talulah ist aus der Zeit gefallen. Warum?

Man kann den Film natürlich auch anders sehen. Dann ist alles sehr liebenswert und schön gespielt, aber ein bisschen banal. Ein Phantasma dagegen muss nicht unbedingt originell sein, Phantome sind es auch nur selten. D Tom Dorow

Kurz vor ihrem Tod hatte Pascale Ogier in dem Experimentalfilm GHOST DANCE von Ken McMullen mitgespielt, in dem sie mit Jacques Derrida ein Gespräch über Film als Kunst der Geisterbeschwörung führt. Eine Erklärung für die Brüche in diesem Film wäre, dass die ganze Geschichte das Phantasma von Elisabeth

¢ Start am 5.1.2023 Originaltitel: Les passagers de la nuit D Frankreich 2022 D 111 min D R: Mikhaël Hers D B: Maud Ameline, Mikhaël Hers D K: Sébastien Buchmann D S: Marion Monnier D M: Anton Sanko D D: Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon-Richter, Noée Abita, Megan Northam, Thibault Vinçon, Emmanuelle Béart D V: eksystent distribution

Director Mikhaël Hers integrated many ruptures in the story of a young woman who is left by her husband, gets a job at a late night radio show and takes in a young homeless person.

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INDIEKRITIKEN Deutschland/Frankreich/Tunesien/Luxemburg 2021 D 95 min D R: Samir Nasr D B: Sonallah Ibrahim, Samir Nasr D K: Darja Pilz D S: Hansjörg Weißbrich D M: Oli Biehler D D: Ahmed Al Munirawi, Fadi Abi Samra, Khaled Houissa, Jihed Cherni D V: barnsteiner film

Sharaf

Zwei-Klassen-System

Deutschland 2022 D 80 min D R: Heinz Emigholz D K: Heinz Emigholz, Till Beckmann D V: Filmgalerie451

Schlachthäuser der Moderne Architektur und Faschismus

Die Welt, in der sich Sharaf (Ahmed Al Munirawi) bewegt, ist korrupt, eng und brutal. Seit er hinter Gittern sitzt, weil er einen Mord begangen haben soll, ist er gefangen in einem isolierten Zwei-Klassen-System, das keine Gnade und nur eine harte Währung kennt: Wer nicht mit Zigaretten zahlen kann, muss im Flügel der „staatlichen“ Gefangenen unter widrigsten Bedingungen ausharren, während den „königlichen“ Insassen diverse Privilegien wie freie Kleiderwahl und besseres Essen zustehen. Sharaf lernt schnell, sich in diesem Mikrokosmos zu behaupten, geschickt navigiert er zwischen den Fronten, passt sich an, wenn er muss, und stellt sich quer, wenn er kann. Doch seine Familie ist arm und hat Mühe einen verlässlichen Anwalt zu finden, der ihn aus der Gefangenschaft befreit. Samir Nasrs düsteres Drama konzentriert sich ausschließlich auf Sharafs Leben hinter den Gefängnismauern. „Dies ist eine erfundene Geschichte, die in einer fiktiven Welt spielt“, heißt es zu Beginn des Films. „Wir können glücklich sein, dass die Realität besser und schöner ist.“ Aber ganz erdichtet ist das Drehbuch nicht. Es basiert auf dem gleichnamigen, autobiografisch gefärbten Roman des ägyptischen Schriftstellers Sonallah Ibrahim, in dessen Ausführungen sich immer wieder auch die komplexen Machtgefälle innerhalb arabischer Gesellschaften zwischen Diktaturen, Armut und Klassenkonflikten widerspiegeln. Die Bilder, die Nasr dafür findet, sind in gedämpften Farben gehalten und von einer Monotonie geprägt, die Sharafs tristem Alltag hinter Gittern entspricht. Das lässt den Film insgesamt manchmal etwas träge erscheinen. Dennoch funktioniert SHARAF, weil der Regisseur in vielen kleinen Szenen und flüchtigen Momenten die Grausamkeiten des Systems offenlegt, in dem sein Protagonist sich zurechtfinden muss, ohne es wirklich zu verstehen. D Pamela Jahn ¢ Start am 26.1.2023 Sharaf, who allegedly committed murder, quickly learns how to assert himself in prison. He skillfully navigates between the fronts, adapts when he has to, and is protective when he can be.

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Bekannt wurde der deutsche Filmemacher Heinz Emigholz durch seine streng komponierten Architekturfilme, in denen er der Formensprache der Architekturmoderne nachspürte. Kurze Einstellungen, oft verkantet, kein Kommentar, nur Häuser, Gebäude, pure Architektur. Mit DIE LETZTE STADT legte Emigholz 2020 erstmals einen Spielfilm vor, zumindest ansatzweise. Schauspieler theoretische Sentenzen vor, in denen natürlich über Architektur reflektiert wurde, aber auch über den Zusammenhang von Architektur und Faschismus. Emigholz jüngstes Werk SCHLACHTHÄUSER DER MODERNE nimmt diesen Gedanken nun in Form eines Essayfilms auf, der in Bolivien, Argentinien und Berlin entstand und Verbindungen und Einfluss zwischen europäischem und lateinamerikanischem Faschismus nachspürt, Kolonialverbrechen und Erinnerungskultur. Im wahrsten Sinne des Wortes Schlachthäuser entwarf der argentinische Architekt Francisco Salamone in der Provinz Buenos Aires in den 30er Jahren, längst verfallene Kathedralen der Moderne, die der expandierenden Produktion des weltweit gefragten argentinischen Rindfleisches dienten und an den Stil des italienischen Art Deco erinnern. Ganz anders das Barock des wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses, in dem einst der deutsche Kaiser den Genozid an den namibischen Völkern der Hereros und Namas in die Wege leitete, ein direkter Vorläufer und Inspiration des Holocaust. Emigholz bietet vielfältige Bezüge an, zieht Verbindungen zwischen einer Ruinenstadt in Bolivien und der missglückten Stadtplanung Berlins, schlägt eine Brücke von Jorge Luis Borges zu den Bauten Freddy Mamani Silvestres, der im Hochland Boliviens Häuser baute, die an die Pop Art erinnern. D Michael Meyns ¢ Start am 19.1.2023

Emigholz’ essay film which was developed in Bolivia, Argentina and Berlin traces the connections and influence between European and Latin American fascism, colonial crimes and commemorative culture.

Termine unter www.indiekino.de


Schweden 2021 D 93 min D R: Kristina Lindström, Kristian Petri D B: Kristina Lindström, Kristian Petri D K: Erik Vallsten D S: Dino Jonsäter, Hanna Lejonqvist D M: Filip Leyman, Anna Von Hausswolff D V: missingFILMs

The Most Beautiful Boy In The World Der wahre Tadzio

Für seine Thomas-Mann-Verfilmung DER TOD IN VENEDIG reiste Luchino Visconti durch ganz Europa, um einen Jungen „mit honigfarbenem Haar, wie ein Gott aus der griechischen Mythologie“ zu finden, mit dem er die Rolle des Tadzio, einer Verkörperung reiner Schönheit, besetzen konnte. Diese Suche, die unangenehm an die Auswahl engelsgleicher Opfer in Pasolinis DIE 120 TAGE VON SODOM erinnert, führt das Filmteam schließlich nach Schweden. Hier begegnen sie dem 15-jährigen Björn Andrésen, der direkt engagiert und von Visconti bei der Premiere in London als „The Most Beautiful Boy in the World“ tituliert wird – auch wenn er langsam schon älter und hässlicher werde. Von Visconti vermarktet, in der Pariser Bohème herumgereicht und an die japanische Popindustrie ausgeliehen, machen seine Schönheit und ein erschreckender Mangel an Fürsorge Andrésen schnell zur Ware. „Es hat sich angefühlt wie ein Schwarm Fledermäuse um mich, die ganze Zeit. Es war ein lebender Alptraum.“ Aus diesem vampiristischen Alptraum, in dem vor allem ältere Männer sich an Andrésens Jugend und Schönheit gütlich tun, scheint auch der heute 65-Jährige noch nicht ganz aufgewacht zu sein. Die Erlebnisse seit dem ersten Treffen mit Visconti haben ihn sichtbar gezeichnet – doch erzählt THE MOST BEAUTIFUL BOY IN THE WORLD mehr als nur von den bleibenden Folgen seiner ‚Entdeckung‘. Porträtiert wird der Heilungs- und Entdeckungsprozess eines sensiblen, verschrobenen, und ja, immer noch umwerfend gutaussehenden Mannes mit langen Silberhaaren und Ledermantel, der sich, zurückhaltend begleitet von Kristina Lindström und Kristian Petri den Stationen seines Missbrauchs und seiner düsteren Familiengeschichte stellt. D Yorick Berta

ZIGE KOMÖDIE „EINE IRRWIT MENT FÜR UND EIN STATE GIRLPOWER“

FBW PRÄDIKAT TVOLL BESONDERS WER

¢ Start am 29.12.2022

The documentary portrays Björn Andrésen, who played Tadzio at 15 in Visconti’s DEATH IN VENICE and was labeled as “the most beautiful boy in the world”.

www.MissionUljaFunk.de Termine unter www.indiekino.de

/ MissionUljaFunk

AB 12. JANUAR IM KINO


INDIEKRITIKEN Deutschland 2022 D 91 min D R: Jens Meurer D B: Jens Meurer D K: Bernd Fischer, Torsten Lippstock D V: farbfilm Verleih

Seaside Special Good Old England

Die Seebrücke im kleinen Seebadeort Cromer an der Küste von Norfolk beherbergt eine Rarität: die letzte europäische „End-ofPier-Show“. Im Pavillon am Ende des Piers findet in den Sommermonaten und zu Weihnachten täglich eine Variety-Show statt, ein buntes Programm aus Gesangs- und Tanzeinlagen, Zauberstücken und Comedy. Regisseur Jens Meurer, der über ein Studium und seine englische Frau eng mit der Insel verbunden ist, hat nun einen sehr persönlichen und liebevollen Film über die Show, den Ort und England in der Zeit der fatalen Brexit-Entscheidung gedreht. SEASIDE SPECIAL (wie auch die Show heißt) verfolgt die Produktion eines Sommerprogramms anhand einiger Protagonist*innen. Da ist die Regisseurin Di Cooke, die das Team zusammenstellt, die Musiknummern auswählt und Kostüme abnickt, Mrs. Duniam, die an der lokalen Tanzschule die jüngsten Bühnenstars unterrichtet und ihre aufgedrehten Zwillingstöchter, der Krabbenfischer und Brexit-Enthusiast John Lee und der lokale Conferencier Olly Day, der durch den Film wie durch eine Revue führt. Die Jahreszeiten vergehen, die Produktion nimmt Form an, und im Hintergrund nimmt das Jahr 2019, das vielleicht bizarrste Jahr der Brexit-Saga, seinen Lauf. Der EU-Vertrag wird abgelehnt, der Brexit verschoben, Theresa May tritt zurück und Boris Johnson wird gewählt, und immer noch liegt etwas Hoffnung in der Luft, dass es ein Zurück geben könnte. SEASIDE SPECIAL – in leuchtendem, berührenden 16 mm gedreht – war schon zum Drehzeitpunkt ein nostalgischer Film, der von Traditionen und Zusammenhalt und einem leicht verschrobenen „good old England“ erzählte und dessen drohenden Verlust betrauerte. Nun mischt sich beim Ansehen der Theaterproben noch das Wissen um die unmittelbar bevorstehende Corona-Pandemie und das Brexit-Disaster hinein. D Hendrike Bake ¢ Start am 19.1.2023 Director Jens Meurer filmed a very personal and loving film about Europe’s last “End-of-Pier-Show”, in the seaside resort Cromer in Norfolk and England during the fatal Brexit decision.

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Deutschland 2022 D 106 min D R: Jörg Adolph D B: Jörg Adolph D K: Daniel Schönauer D S: Anja Pohl D V: Filmperlen

Vogelperspektiven Arten erhalten

Es ist wahrlich keine vollkommen neue und überraschende Botschaft, die am Anfang von Jörg Adolphs Dokumentarfilm VOGELPERSPEKTIVEN steht: Vögel sind eine bedrohte Art. In den letzten 60 Jahren hat Deutschland fast die Hälfte seines Artenreichtums verloren. Wer im Frühjahr und Sommer in der Natur unterwegs ist, dem wird aufgefallen sein, dass das Gezwitscher abgenommen hat. Jörg Adolph behandelte mit seinem Dokumentarfilm zum Besteller von Peter Wohlleben DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME bereits das Schwinden der Arten. In VOGELPERSPEKTIVEN begleitet er Ornithologen und Vogelschützer mit seiner Kamera. Dr. Norbert Schäffer ist Vorsitzender des Landesbunds für Vogel- und Naturschutz in Bayern. Er hat sich die Rettung der Vogelwelt zum Ziel gesetzt und leistet Lobbyarbeit in der Politik ebenso wie aktiven Umweltschutz. Arnulf Conradi wiederum ist Gründer und früherer Verleger des Berlin Verlages und begeisterter Birdwatcher seit Kindertagen. Vor der Kamera und zu faszinierenden Naturaufnahmen erzählt er von seiner Begeisterung für die heimische Vogelwelt. Dazu liefert Jörg Adolph einen Blick hinter die Kulissen der Umweltpolitik und zeigt konkrete Beispiele des Artenschutzes wie etwa die Wiederansiedlung des Bartgeiers in Bayern. Adolph nähert sich dem Thema auf einer Gefühlsebene, klammert aber auch die Fakten nicht aus. Sein Film ist bewusst keine Anklage. Stattdessen will er Mut machen, sich einzusetzen für den Erhalt der Vogelwelt. Vielleicht haben wir uns etwas zu selbstverständlich an der Allgegenwärtigkeit der gefiederten Lebewesen gewöhnt. VOGELPERSPEKTIVEN ruft ins Gedächtnis, dass etwas fehlt, wenn sie nicht mehr da sind. D Lars Tunçay ¢ Start am 16.2.2023

In VOGELPERSPEKTIVEN, nature documentarian Jörg Adolph follows ornithologists and bird conservationists with his camera.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Close

Etwas verschiebt sich

Belgien/Niederlande/Frankreich 2022 D 105 min D R: Lukas Dhont D B: Lukas Dhont, Angelo Tijssens D K: Frank van den Eeden D S: Alain Dessauvage D M: Valentin Hadjadj D D: Léa Drucker, Kevin Janssens, Émilie Dequenne, Igor van Dessel D V: Pandora Film

Der zweite Spielfilm des belgischen Regisseurs Lukas Dhont taucht wie sein Debüt GIRL in die nicht immer einfache Welt Jugendlicher ein. Im Drama CLOSE behandelt er den Suizid eines 13-Jährigen. Leo (Eden Dambrine) und Remi (Gustav De Waele) sind beste Freunde, und Remi übernachtet fast täglich bei Leo. Remi, dessen Eltern riesige Blumenfelder bewirtschaften, ist eigentlich schon ein Teil von Leos Familie. Bis sich irgendetwas zwischen den beiden verschiebt. Leo wird Remi zu viel. Er will ständig an seiner Seite sein. Auch da, wo Remi ihn nicht haben will. Zum Beispiel beim Hockey-Training. Nach einem Streit kommt Leo nicht mehr in die Schule.

Like in his debut GIRL Lukas Dhont’s CLOSE ventures into the complicated inner world of adolescents.

Remi kämpft mit Schuldgefühlen, mit Scham gegenüber Leo und seiner Familie. Gerade auf dem Sprung zum (männlichen) Teenager, denkt Remi, dass er da allein durch muss und setzt auf Wut. Auf die Erwachsenen, die mit Stuhlkreisen in der Schule oder am Abendessentisch Trauerbewältigung anstreben, angesichts der Tragödie aber selbst hilflos erscheinen. Remi, der Sportler, findet ein Ventil im Körperlichen. Er powert sich beim Hockeyspielen aus. Arbeitet bis in die Nacht auf den elterlichen Feldern, schneidet Dahlien und erntet ihre Zwiebeln als Saatgut. Remi der stille Held. Der alles mit sich ausmacht. In den atmosphärischen Bildern wirkt Remi aber fehl am Platz, wenn er durch regnerische Nächte läuft oder wie ein Besessener Blumenzwiebeln rupft. Als müsste da jetzt eigentlich ein erwachsener Mensch an seiner Stelle stehen, denn wie soll ein Kind das so bewältigen? CLOSE seziert schmerzhaft Remis Gefühlswelt, ergötzt sich aber nicht am Thema. Immer in Remis Perspektive, erfahren wir nur so viel wie er. Tasten uns mit ihm durch das, was passiert ist und zu dem, was wirklich hilft, um weiterzumachen - so wie die zarten Dahlien, die im Frühling wieder aus den Zwiebeln treiben. D Clarissa Lempp ¢ Start am 26.1.2023

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INDIEKRITIKEN USA 2021 D 85 min D R: Josef Kubota Wladyka D K: Ross Giardina D S: Benjamin Rodriguez Jr. D M: Nathan Halpern D D: Kali Reis, Daniel Henshall, Tiffany Chu, Michael Drayer, Kimberly Guerrero, Lisa Emery, Kevin Dunn D V: drop-out cinema

Catch the Fair One Rape-Revenge-Thriller

Unterwürfig nimmt sie, die Servicekraft, jedes Motzen der Gäste im Diner auf sich, packt sich aus Hunger Essensreste ein, schläft im Frauenwohnheim. Sie war Boxerin, jetzt lässt sie sich ein auf Selbstverteidigungs- und Kampftraining mit großen, massigen Männern. Sie unterliegt jedes Mal. Aber sie hat ein Ziel, eine Mission: Einen Informanten hat sie bereits aufgetan, und einen Weg in die Organisation, die Mädchen und junge Frauen aus der Perspektivlosigkeit in die Prostitution treibt - und die Kaylees Schwester geschnappt hat. Kaylee, die Kämpferin, lässt sich selbst einschleusen, lässt sich verschleppen auf der Spur nach oben, zum Kopf des Menschenhändlerrings. Kaylee wird von Kali Reis gespielt, Boxweltmeisterin im Halbweltergewicht. Reis hat auch am Drehbuch mitgearbeitet, es ist offenkundig eine Geschichte, die ihr am Herzen liegt: die aussichtslose Situation von native americans, die rassistischen Sexualverbrechern in die Hände spielt. Reis ist selbst aktive Unterstützerin der Bewegung für vermisste und ermordete indigene Frauen MMIWG. Reis und Regisseur Josef Kubota Wladyka gelingt in CATCH THE FAIR ONE die Verbindung von Sozialdrama, Action und Rape-Revenge-Thriller, sie lassen keinen Zweifel, dass die blutige Rache, die Kaylee zu üben gewillt ist, aus ihrer eigenen Lage kommt, nichts mehr zu verlieren zu haben. Geschickt fusioniert der Film Genreelemente mit der Realität der US-indigenen Bevölkerung, erzählt ist er in düsteren Bildern zwischen sachter Stilisierung und realistischer Unmittelbarkeit (Kamera: Ross Giardina). Wie der Film ein konstruiertes, aber ehrliches Porträt sozialer Realität liefert, wie er Genreelemente einsetzt, wie er Klischees von bösen Mädchenhändlern spielerisch unterläuft – das hat offensichtlich auch Darren Aronofsky überzeugt, der als Executive Producer fungiert. D Harald Mühlbeyer ¢ Start am 26.1.2023 Ex-boxer Kaylee has a mission: she wants to take revenge on the organization that drives girls and young women, many of them Native American, to prostitution due to a lack of prospects.

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Originaltitel: Ezrah Mudag D Israel 2022 D 82 min D R: Idan Haguel D K: Guy Sahaf D S: Shauly Melamed D M: Zoe Polanski D D: Shlomi Bertonov Ariel Wolf D V: Edition Salzgeber

Concerned Citizen Bürger in der Krise

Etwas stimmt nicht, das merkt man gleich. Dabei läuft eigentlich alles gut für Ben (Shlomi Bertonov) und Raz (Ariel Wolf). Gerade haben es sich die beiden in ihrer neuen Wohnung in einem angesagten Viertel in Tel Aviv gemütlich gemacht. Jetzt wollen sie Eltern werden. Doch als Ben eines Abends vom Fenster aus einen Fall von brutaler Polizeigewalt beobachtet, gerät sein Weltbild ins Wanken. Er hatte kurz zuvor selbst die Behörden eingeschaltet, weil zwei junge Migranten den jungen Baum nicht in Ruhe lassen wollten, den er zum Einzug vor dem Haus gepflanzt hat. An derart harsche Folgen hatte er dabei nicht gedacht. Der Vorfall bringt Bens Leben aus dem Tritt. Erst ist es nur eine leichte Anspannung, die sich wie ein Schleier über sein Gemüt legt. Aber immer öfter reagiert er Raz gegenüber passiv-aggressiv. Er wird hypersensibel für alles, was in seiner unmittelbaren Umgebung nicht stimmt. Auch die Wohnung ist plötzlich am falschen Ort – für ihn als schwulen Mann, und für das ungeborene Kind sowieso. Als er einen Makler engagiert, ohne Raz davon zu erzählen, bringt er damit auch ihre Beziehung in Gefahr. Idan Haguels dritter Spielfilm, der im letzten Jahr im Panorama der Berlinale lief, will einen sozialkritischen Blick auf die heutige Zeit richten. In vielen kleinen Details gelingt ihm das auch. Nur vergisst er darüber, seiner Hauptfigur die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, um seine Beobachtungen in eine Charakterstudie zu verwandeln. Oft bewegt sich die Handlung in einer Art Grauzone, weil so große Themen wie Schuld und Sühne, Einwanderung und Rassismus, Armut und Stadtentwicklung angesprochen, aber nicht ausreichend reflektiert werden. Trotzdem schafft es der Regisseur, eine rätselhafte, seltsam schwebende Spannung zu erzeugen, die auf faszinierende Weise zum Weiterschauen verleitet. D Pamela Jahn ¢ Start am 2.2.2023 Ben and Raz have just gotten comfortable in their new apartment in a trendy Tel Aviv neighbourhood. Then Ben becomes partially responsible for a police brutality case and his self-image is shaken.

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Deutschland/Frankreich 2022 D 106 min D R: Helena Wittmann D B: Helena Wittmann D K: Helena Wittmann D S: Helena Wittmann D D: Angeliki Papoulia, Ferhat Mouhali, Gustavo de Mattos Jahn, Ingo Martens, Mauro Soares D V: Grandfilm Verleih

Human Flowers Of Flesh Magnetische Wirkung

Schon mit ihrem Debüt DRIFT zog die Künstlerin und Filmemacherin Helena Wittmann aufs Meer, und auch ihr zweiter Film spielt wieder auf, in und mit der See. Segelbootbesitzerin Ida (Angeliki Papoulia) macht darin mit ihrer Schiffscrew Halt in Marseille. Dort trifft die Gruppe auf Fremdenlegionäre. Ida und die Männer sind wie gebannt von den Söldnern und den Legenden um sie und machen sich schließlich über das Mittelmeer auf, in das algerische Sidi bel Abbès, das bis 1962 Hauptquartier der Französischen Fremdenlegion war. Mit dem Verlassen des Hafens übernimmt die See immer mehr den Rhythmus. Wellen bestimmen die Kamerabewegungen. Die Kajüten sind Tag und Nacht mit dem Knarzen des Schiffs gefüllt. Eine sehnsüchtige Sprachnachricht für die an Land Gebliebenen wird verschickt. Auf dem Deck lesen sich die Männer der Crew Gedichte vor und tanzen mit Ida zu Elektro, das Meer reflektiert die Nachtlichter wie eine Diskokugel. Dazwischen mikroskopische Aufnahmen von Plankton und blaue Unterwasserwelten. Die bestechenden Bilder verschmelzen mit dem Sound der Hamburger Musikerin und Künstlerin Nika Son zu betörenden Szenen. Wittmann, die auch Kamerafrau ist, nutzte trotz der erschwerten Bedingungen Filmmaterial und arbeitete u.a. mit Cyanotypie. HUMAN FLOWERS OF FLESH ist kein Erzählfilm, viel mehr stupst er Emotionen und innere Narrative an. Dekonstruiert nautische Mythen um brummige Seebären und wütende Fluten. Neben historischen und mythologischen Referenzen greift Wittmann auch auf Filmzitate zurück. So trifft Ida zum Ende auf „Galoup“, gespielt von Denis Lavant, der 1999 eine gleichnamige Rolle in Claire Denis’ DER FREMDENLEGIONÄR besetzte. Aber auch ohne jeden Verweis zu entschlüsseln, erzeugt der atmosphärische Film eine magnetische Wirkung – unerklärlich und sirenenhaft, wie das Meer selbst. D Clarissa Lempp ¢ Start am 2.2.2023 After departing from the harbor, the sea takes over the rhythm more and more. Waves determine the camera movements. The cabins are filled with the creaking of the ship day and night.

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INDIEFEATURE

Return To Seoul Impulsiv

Originaltitel: Retour à Séoul D Belgien/Deutschland/Frankreich/Qatar 2022 D 116 min D R: Davy Chou D B: Davy Chou D K: Thomas Favel D S: Dounia Sichov D M: Jérémie Arcache, Christophe Musset D D: Ji-Min Park, Guka Han, Yoann Zimmer, Ouk-Sook Hur D V: rapid eye movies

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INDIEFEATURE

Freddie wurde als Baby von einem französischen Ehepaar adoptiert. Doch ihre Wurzeln liegen in Südkorea. Einem Impuls folgend reist sie in das Land ihrer leiblichen Eltern. Regisseur Davy Chou (DIAMOND ISLAND), der als Kind kambodschanischer Eltern in Frankreich aufwuchs und auch erst als Erwachsener Kambodscha kennenlernte, kennt sich aus mit der Zerrissenheit, die man spürt, wenn man sich immer im Dazwischen bewegt, nie wirklich zugehörig ist. Und diese innere Verbindung mit seiner filmischen Geschichte spiegelt sich auch in seiner sensiblen Inszenierung. Zudem thematisiert er Koreas Geschichte als „Baby-exportierende Nation“, die bis heute schambesetzt ist. Nach dem KoreaKrieg hatte Südkorea zunächst aus wirtschaftlichen Gründen angefangen, in Vielzahl vor allem Waisen und amerikanisch-koreanische Säuglinge ins Ausland zu vermitteln, aber auch später, als aufstrebende Industrienation, nicht damit aufgehört. Die konfuzianische Tradition des Landes stützt sich stark auf Blutsverwandtschaft und Ahnenlinien, die als Voraussetzung für eine intakte Familie gelten. Deshalb gelten adoptierte Kinder immer noch als minderwertig, auch wenn sich in den letzten Jahren die Einstellung der koreanischen Gesellschaft hierzu langsam verändert. Mittlerweile steigen die Inlandsadoptionen. Chou lässt vielleicht auch deshalb Freddie in einem Mix aus Auflehnung und Selbstsabotage über koreanischen Boden fegen und dabei alle Grundpfeiler der Benimm-Codes, die in Korea unausgesprochen gelten, mit sich reißen. Sie mag sich nicht den Gepflogenheiten anpassen, ist fordernd und bis an die Schmerzgrenze

extrovertiert. Vermittelt durch die staatliche Adoptionsagentur trifft sie auf die Familie ihres Vaters, die sie mit Entschuldigungen überschüttet aber auch fast umgehend der Meinung ist, dass Freddie in Korea leben und einen koreanischen Mann heiraten soll. Chou zeigt, in mehreren Zeitsprüngen über acht Jahre, Freddies Reibungen und Häutungen auf der Suche nach sich selbst und einem Ankerpunkt im Leben, hinreißend intensiv dargestellt von Park Ji-min in ihrer ersten Rolle – Freddie, als Sinnbild für den Stachel, der bis heute tief in der südkoreanischen Gesellschaft sitzt. D Susanne Kim ¢ Start am 26.1.2023

Freddie was adopted by a French married couple as a baby, but her roots are in South Korea. Following an impulse, she travels to the country of her biological parents.

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INDIEKRITIKEN Deutschland 2022 D 117 min D R: Pepe Danquart D S: Toni Froschhammer D M: Ramon Kramer D V: Weltkino

Daniel Richter Unprätentiös

Eine klassische Künstler*innendoku ruht auf drei Säulen: Aufnahmen bei der Arbeit, Selbstreflexionen und Kommentare von Freunden und Weggefährtinnen. Die erste Säule von DANIEL RICHTER ist solide: Wir sehen den Künstler in seinem Westberliner Hinterhofatelier, an den Wänden lehnen riesige Leinwände, auf dem Boden liegen Perserteppiche. Im Gegensatz zu Richters immer verschmierter Kleidung lassen sie keinen Tropfen Farbe erkennen. Durch die Luft fliegen Papageien, im Hintergrund laufen Platten, Reggae, Hip-Hop, Elektronisches. Die Szenen im Studio sind immersiv und energetisch und bringen Richters Kunstpraxis tatsächlich näher. Die zweite Säule ist angenehm schlicht: Für einen dokumentarfilmwürdigen Künstler wirkt Daniel Richter sympathisch und unprätentiös, seine Beobachtungen beschließt er gern mit trockener Selbstironie. Er versucht erst gar nicht, Tiefgründiges über die Malerei und die Welt zu sagen, daher erfahren wir nichts sonderlich Interessantes, aber auch nichts Peinliches. In einer bezeichnenden Passage erklärt eine Kunsthistorikerin den politischen Gehalt von Richters Gemälde „Tarifa“ von 2001, das geflüchtete Menschen auf einem Schlauchboot im Mittelmeer zeigt, und schaut im Anschluss online dessen Versteigerung bei Christie’s zu: 950.000 €, ein anonymer Kauf über das Telefon. Zwar äußert sich Richter auch über die Funktion von Kunst als Anlage und Geldwaschmittel, so richtig scheint ihn trotzdem nicht zu interessieren, woher sein Geld kommt. Der vom Künstler selbst initiierte Film darf auch die Schattenseiten erfolgreicher Kunst beleuchten; Richters Bestreben, nicht nur ein cooler, sondern auch ein linker Millionär zu sein, wird vom Filmemacher Pepe Danquart jedoch nicht weiter hinterfragt. Und die dritte Säule: ist Jonathan Meese. Yorick Berta D ¢ Start am 2.2.2023

Deutschland 2022 D 99 min D R: Tine Kugler, Günther Kurth D B: Tine Kugler, Günther Kurth D K: Günther Kurth D S: Tine Kugler, Günther Kurth D M: Philip Bradatsch D V: mindjazz Pictures

Kalle Kosmonaut Aufwachsen in Marzahn-Hellersdorf

Tief im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf liegt die Allee der Kosmonauten. Hier wächst Pascal, den alle nur Kalle nennen, bei seiner Mutter und deren Freund auf. Für den persönlichen und sozialkritischen Langzeit-Dokumentarfilm KALLE KOSMONAUT über eine Jugend in Ost-Berlin in den 2010ern begleiten Tine Kugler und Günther Kurth Kalle zehn Jahre lang. Kalle steht vor einem Plattenbau. „Ich hab Angst, wie’s mit mir weitergeht“, sagt der 16-Jährige. Unter Drogeneinfluss hat er einen Mann verletzt. Mit 10 Jahren ist Kalle allein zuhause. Seine Mutter hat ihm einen Zettel mit Anweisungen dagelassen: „Kein Blödsinn.“ Kalle spielt Fußball, Kalle hält Händchen, Kalle rappt. Die Kamera ist dabei. Dann der Einschnitt: Kalle muss eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und drei Monaten absitzen. Düstere Animationen von Alireza Darvish zeigen Kalle im Knast, aus dem er dem Filmteam nur Briefe schreiben kann. Ein riesiger Rabe symbolisiert das Unheil, das über Kalles jungem Leben kreist. Auf der mit Respekt und Empathie gefilmten Reise durch eine schwierige Berliner Jugend werten Kugler und Kurth nicht, treten Kalle und seiner Familie nie zu nahe und lassen Raum für eigene Erklärungsversuche: Wie ist es, in Marzahn-Hellersdorf aufzuwachsen? Mittlerweile trocken, schildert Kalles Oma, wie ihr Partner und sie vor Kalle tranken. Kalles Opa sehnt sich nach der „guten“ DDR-Zeit. Kalles Mutter Kerstin musste viel arbeiten und fragt sich, ob sie zu wenig Zeit für Kalle hatte. Seinen Vater hat Kalle seit Jahren nicht gesehen. Hätten sich Kalles Straftaten verhindern lassen? Eigentlich sei Kalle ein lieber Kerl, sagt die Kiezpolizistin. Kalle selbst ist fest entschlossen, nie wieder in einer Zelle zu landen. Ob er es schafft, weiß der reflektierte junge Mann nicht: „Was ist ein gutes Leben? Ich hab keine Ahnung davon! Aber die Luft will ich auch mal riechen.“ D Stefanie Borowsky ¢ Start am 26.1.2023 The long-term documentary KALLE KOSMONAUT about a childhood in East Berlin in the 2010s follows young Pascal, nicknamed Kalle, over 10 years.

D 48

D JANUAR/FEBRUAR 2023

Termine unter www.indiekino.de


Deutschland 2021 D 98 min D R: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof D B: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof D K: Nicolas Mussell D S: Martin Hoffmann D M: Matthias Vogt D V: Real Fiction

„Eine verspielte, leichtfüßige Erzählung.“

Offizielle Auswahl

60. New York Film Festival 2022

Offizielle Auswahl

Toronto Int. Film Festival 2022

Offizielle Auswahl

San Sebastian Film Festival

Variety

2022

Offizielle Auswahl

BFI London Film Festival 2022

Offizielle Auswahl

Mostra Int. Film Festival São Paulo 2022

www.grandfilm.de

Fritz Bauers Erbe Späte Prozesse

2018 steht der frühere SS-Wachmann Johann R. in Münster vor Gericht. Möglich wurde die Anklage dank der Zeugenaussage von Judy Meisel (USA), Überlebende des KZ Stutthof, die den Mann auf einem Foto identifizierte. Zwei Jahre später wird in Hamburg ein weiterer Wachmann des KZ Stutthof angeklagt; Zeugin ist die über 90-jährige Roza Bloch, die aus Israel anreist, um ihre Aussage zu machen. Beide Damen und ihre Familien stellen der deutschen Justiz die gleiche Frage: Warum hat es mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, diese Männer vor Gericht zu bringen? Dieser Frage versucht sich der Dokumentarfilm FRITZ BAUERS ERBE anzunähern. Das Team begleitete die Nebenklägerinnen, ihre Angehörigen und die Rechtsanwälte, die sie vor Gericht vertreten, während der Verfahren. Verständlich und detailliert geben Expert*innen in Gesprächen Einblicke in die Vorgänge vor Gericht, ihre Archivarbeit sowie die Geschichte der Prozesse gegen KZ-Verbrecher in der Bundesrepublik. Erst 1963 fand auf Initiative des jüdischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer mit dem Auschwitzprozess in Frankfurt zum ersten Mal ein Versuch statt, die „kleinen Rädchen“ im Getriebe des industriellen Massenmordes zur Rechenschaft zu ziehen. Seine „Rädchentheorie“ lehnte die deutsche Justiz jedoch ab – erst mit den Prozessen zum 11. September wurden Präzedenzfälle geschaffen, die es möglich machten, Mittäter an Massenverbrechen in Bauers Sinne zu verurteilen. Regisseurinnen Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof lassen uns in ihrem einfühlsam gefilmten Film nachvollziehen, wie tief die Verbrechen (und die Verbrecher) der Nazizeit in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sind, und warum es auch nach über 70 Jahren immer noch sinnvoll und noch unabdingbar ist, dafür zu kämpfen, dass diese Taten so lange wie möglich juristisch verfolgt werden. D Eva Szulkowski ¢ Start am 2.2.2023 The documentary accompanies two current trials against the former concentration camp warden. Experts provide insight into the trial and the history of the trials against Nazi criminals in the federal republic in a clear and detailed way.

Termine unter www.indiekino.de

N

Ein Schweizer Sommer der Anarchie.

U RUH Ein Film von Cyril Schäublin

AB 5. JANUAR IM KINO


INDIEKRITIKEN

In der Nacht des 12. Polizeifilm

Originaltitel: La nuit du 12 D Belgien/Frankreich 2022 D 114 min D R: Dominik Moll D B: Dominik Moll, Gilles Marchand D K: Patrick Ghiringhelli D S: Laurent Rouan D M: Olivier Marguerit D D: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Anouk Grinberg, Sylvain Baumann D V: Neue Visionen Filmverleih

Schon zu Beginn von Dominik Molls Film IN DER NACHT DES 12. erklärt eine Texttafel, dass es um einen unaufgeklärten Mord auf der Basis eines wirklichen Falls gehen wird. Die Sicherheit vermittelnde Form des Krimis, an dessen Ende mit der Aufklärung der Tat die Ordnung wieder hergestellt ist, wird ausdrücklich von Molls ungewöhnlichem Polizeifilm zurückgewiesen. Eine junge Frau, Clara, ist auf dem Heimweg von einer Freundin von einem Unbekannten mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt worden. Der brutale Mord schockiert auch die Polizisten Yohan (Bastian Bouillon) und Marceau (Bouli Lanners). Sie verdächtigen Claras Sex-Bekanntschaften, von denen es mehr gibt, als Claras beste Freundin zunächst verrät. Nanie macht sich dadurch selbst verdächtig, aber sie fürchtet vor allem eine Vorverurteilung ihrer Freundin. Alle Beziehungen von Männern zu Clara sind von Gewalt kontaminiert, auch die der Polizisten. Im Revier reagiert die zunächst ausschließlich männliche Belegschaft zwar schockiert auf die Bilder der verbrannten Toten, ein Witz über ein Missgeschick bei der letzten Grillparty löst das Entsetzen aber schnell wieder auf. Der jüngste Freund von Clara beginnt im Verhör zu kichern, als er Details erfährt, ein Verdächtiger war wegen Gewalt gegen Frauen im Gefängnis, wieder ein anderer stalkte Clara. Aber der Mord selbst lässt sich keinem der Männer nachweisen. D 50

D JANUAR/FEBRUAR 2023

Die fehlende Auflösung trotz jahrelanger, sorgfältiger Polizeiarbeit führt dazu, dass sich etwas anderes enthüllt: die latente Drohung männlicher Gewalt, die ständiger Bestandteil des Geschlechterverhältnisses ist. Sie wird zu einem Grundton des Films, der so eine fundamentale Verunsicherung erzeugt. In Molls Filmen gibt es oft ein dunkles Element, das eine permanente Bedrohung anzeigt oder ein Unglück ankündigt. In diesem kühlen, rationalen Polizeifilm ist dies nicht ein düsteres Omen wie in LEMMING oder eine exzessive Leidenschaft wie in DIE VERSCHWUNDENE, sondern die andauernde Ungewissheit und das alltägliche Potential zur Gewalt von Männern im Umgang mit Frauen, aber auch in ihren Gesprächen untereinander. D Tom Dorow ¢ Start am 12.1.2023

Dominik Moll has made an intense crime thriller – about a case with no resolution.

Termine unter www.indiekino.de


British Shorts Indiekino Anzeige 2023_Layout 1 10.12.22 14:58 Seite 1

Deutschland 2022 D 111 min D R: Hanna Doose D B: Hanna Doose D K: Markus Zucker D S: André Nier D M: Kangding Ray D D: Bibiana Beglau, Gina Henkel, Katarina Schröter, Alexander Fehling, Godehard Giese D V: MFA+

16th Lichtspielklub Short Film Festival

Wann kommst Du meine Wunden küssen? Tiefe Gefühle

Regisseurin Maria (Bibiana Beglau) macht sich von Berlin auf zum elterlichen Hof im Schwarzwald, weil ihre Schwester an Krebs im Endstadium leidet. Den Hof bewirtschaften inzwischen Laura (Gina Henkel) und Jan (Alexander Fehling), die als Schauspielerin und DJ früher Marias engste künstlerische Verbündete waren und sich im Landleben größere Freiheit erträumt haben. Doch der Hof fordert viel Kraft, dazu kommt die Sorge um Marias Schwester Kathi (Katarina Schröter), die versucht, ihre Krankheit mit schamanischen Ritualen im Winterwald zu kurieren. Marias Auftauchen löst eine Welle von Konfrontationen aus, in denen nach und nach Bruchstücke der gemeinsamen Geschichte sichtbar werden. Immer mehr Informationen über die Vergangenheit werden ausgegraben, immer mehr verschiedene Interpretationen und Versionen der Geschichte tauchen auf, die die vier durch tiefe Gefühle und heftige Verletzungen aneinanderbindet. Der Film ist ohne Drehbuch entstanden, Regisseurin Hanna Doose hat die Grundzüge der Geschichte festgelegt und die Szenen mit den Schauspielern in Improvisationen am Set entwickelt. Diese Arbeitsweise merkt man dem Film an. Die Figuren wirken dadurch sehr lebendig und authentisch, der Geschichte hätte ein stärkerer dramaturgischer Zugriff wahrscheinlich an manchen Stellen gutgetan. In der Überfülle an Plot verliert sich mitunter, worum es eigentlich geht. „Nichts ist gefährlicher für unsere Herzen als der Staub“ sang die Hauptfigur in Dooses erstem Film STAUB AUF UNSEREN HERZEN, das könnte hier auch das Motto sein. Die Konfrontation mit der Vergangenheit wirkt als Katalysator für Veränderung und zwingt zu neuem Aufbruch. D Susanne Stern ¢ Start am 2.2.2023

In her second feature film, Hanna Doose brings together a group of forty-somethings with a shared past in a siuation that reopens old conflicts and forces them to break through the years of silence.

Termine unter www.indiekino.de

19–25 Jan 2023 Sputnik Kino City Kino Wedding Acudkino Kino Intimes

www.britishshorts.de


INDIEKRITIKEN

Babylon

War Sailor

BABYLON, der neue Film von Damien Chazelle (LA LA LAND, WHIPLASH) entlehnt seinen Titel sicher nicht zufällig dem legendären Buch „Hollywood Babylon“ von jedermanns Lieblingssatanisten Kenneth Anger. Das starbesetzte Sündenpfuhl-Drama (Brad Pitt, Margot Robbie, Olivia Wilde) über den Übergang der Stummfilm- und den Übergang in die Tonfilmepoche in Hollywood soll, so raunt es nach ersten Andeutungen nach Probescreenings in den USA, ein „wilder Ritt“ der „Ausschweifung“ sein. Wir werden sehen.

WAR SAILOR ist die bislang teuerste norwegische Filmproduktion aller Zeiten. Der Film spielt im zweiten Weltkrieg und handelt von den Handelsmatrosen Alfred Garnes und Sigbjørn (Wally) Kvalen, die im Atlantik um ihr Überleben kämpfen. Jederzeit kann ihr Frachter von deutschen U-Booten angegriffen und ausgeraubt werden. Auch die Nachrichten, die sie aus der Heimat erreichen, sind erschreckend. In Bergen, wo Alfreds Frau mit drei Kindern auf ihn wartet, hat die britischen Luftwaffe irrtümlich eine Grundschule und Wohnhäuser bombardiert.

¢ Start am 19.1.2023

¢ Start am 9.2.2023

Originaltitel: Babylon D USA 2022 D 189 min D R: Damien Chazelle D D: Brad Pitt, Margot Robbie, Tobey Maguire, Samara Weaving, Flea, Olivia Wilde, Jean Smart, Spike Jonze, Katherine Waterston, Max Minghella

Originaltitel: Krigsseileren D Norwegen/Deutschland/Malta 2022 D 150 min D R: Gunnar Vikene D D: Kristoffer Joner, Pål Sverre Hagen, Ine Marie Wilmann, Henrikke Lund Olsen

Ein Mann namens Otto

Arboretum

EIN MANN NAMENS OVE (2015) war in Schweden einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Er erzählt vom grantigen Ove, der sich nach dem Tod seiner geliebten Frau eigentlich umbringen möchte – aber immer kommt etwas dazwischen: Die Nachbarin braucht Hilfe beim Heizungsentlüften, und jemand muss sich um die streunende Katze kümmern. Vor allem ist da die gut gelaunte und hochschwangere Iranerin Parvaneh, die sich von Oves Grummelei nicht abschrecken lässt und ihn resolut in ihre Projekte einspannt. Im Remake heißt Ove Otto und wird von Tom Hanks gespielt. ¢ Start am 2.2.2023

Kurz nach der Jahrtausendwende warten die besten Freunde Erik und Sebastian in einem Thüringer Kaff nahe der ehemaligen Grenze darauf, dass endlich „etwas Großes“ passiert. Sie haben schon einen Plan, der Stadt zu zeigen, wer sie sind, aber bis sie den umsetzen, zocken sie Videospiele, werden von den örtlichen Faschos schikaniert und üben das Schießen mit dem NVA-Gewehr von Eriks Vater. Hauptsache, nicht im Saufalltag unterzugehen, mit dem die erwachsenen „Schafe“ ihre Traumata bekämpfen. Doch dann lernt Erik ein Mädchen kennen, Elli, die weg will, sobald sie 18 ist. ¢ Start am 9.2.2023

Originaltitel: A Man Called Otto D USA 2022 D R: Marc Forster D D: Tom Hanks, Manuel Garcia-Rulfo, Rachel Keller, Mariana Treviño

Deutschland 2020 D 79 min D R: Julian Richberg D D: Oskar Bökelmann, Anna Jung, Tobias Krebs, Simon Mantei, Niklas Doddo

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Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Bigger Than Us Mit 12 Jahren hat Melati Wijsen eine Kampagne gegen Einweg-Plastik in Indonesien ins Leben gerufen. Mit 18 beschließt sie, die Welt zu bereisen, und andere junge Aktivist*innen zu treffen. Mit ihr zusammen besucht der Dokumentarfilm Mohammed, der in Libanon eine Schule für Geflüchtete aufgebaut hat, Mary, die sich auf Lesbos in der Flüchtlingshilfe arbeitet, Memory, die sich in Malawi für eine Anhebung der Alters, in dem Mädchen heiraten dürfen, auf 18 Jahre einsetzt und Rene der mit 12 begann, über das Leben in den Favelas zu schreiben. ¢ Start am 16.2.2023 Frankreich 2021 D 96 min D R: Flore Vasseur

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war Sonja Heiss (HEDI SCHNEIDER STECKT FEST) hat den autofiktionalen Roman von Joachim Meyerhoff verfilmt: Der kleine Joachim wächst als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein inmitten von 1.500 Patient*innen auf – die meisten Kinder, aber auch einige Erwachsene sind darunter, die hängengeblieben sind. Joachim kommt gut mit ihnen zurecht, weit schwerer tut er sich mit der eigenen kriselnden Familie. Der Film folgt dem Protagonisten im Alter von sieben, 16 und schließlich 25 Jahren. ¢ Start am 23.2.2023 Deutschland 2023 D 116 min D R: Sonja Heiss D D: Laura Tonke, Devid Striesow

ein film von

SABINE LAMBY CORNELIA PARTMANN ISABEL GATHOF

Gerechtigkeit verjährt nicht Im Verleih von

REALFICTIONFILME.DE

FRITZBAUERSERBE-FILM.DE


INDIEJUGEND Originaltitel: Tytöt! Tytöt! Tytöt! D Finnland 2022 D 100 min, FSK: 12 D R: Alli Haapasalo D B: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen D K: Jarmo Kiuru D S: Samu Heikkilä D D: Aamu Milonoff, Eleonoora Kauhanen, Linnea Leino, Mikko Kauppila, Amos Brotherus D V: Edition Salzgeber

Girls! Girls! Girls! Freundinnen-Freitage

Die Freundinnen Mimmi (Aamu Milonoff) und Rönkkö (Eleonoora Kauhanen) stehen mit ihren 17, 18 Jahren an der Schwelle zum Erwachsenwerden. An drei aufeinanderfolgenden Freitagen schütteln verschiedene Erlebnisse ihre Gefühle gründlich durch. Mimmi, deren Mutter sie vernachlässigt und die vor Wut schon mal mit dem Hockeyschläger ausholt, verliebt sich in die leistungsorientierte Eisläuferin Emma (Linnea Leino), die sie beim Jobben im Smoothie-Laden kennenlernt. Rönkkö dagegen spürt beim Sex nichts – und das muss sich dringend ändern! Die in dunklen und Pastellfarben im finnischen Winter inszenierte Coming-of-Age-Story dreier Teenagerinnen ist der dritte Spielfilm der 1977 in Helsinki geborenen Alli Haapasalo, die sich als Regisseurin oft starken weiblichen Figuren widmet. In GIRLS! GIRLS! GIRLS! (Drehbuch: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen) rückt sie drei unterschiedliche junge Frauen in den Fokus, die sich unbekümmert, frei und selbstbewusst ihren Raum nehmen. Offen, detailliert und auf so frische und witzige Art wie sie Smoothies mit sprechenden Namen mixen, reden die Heldinnen über ihre sexuelle Orientierung und über weibliche Lust. Haapasalo nähert sich feinfühlig, ernsthaft und dennoch mit Humor der Lebens- und Gedankenwelt der drei. Mimmi, Rönkkö und Emma dürfen Fehler machen, Wut rauslassen, sich ausprobieren und scheitern, ohne dass sie jemand dafür verurteilt. Der Feminismus im Film, der mit seinem 4:3-Format an Apps wie Instagram erinnert und mit Songs des weiblichen finnischen Rap-Duos SOFA unterlegt ist, bildet die selbstverständliche Grundlage der Geschichte der Teenagerinnen, die ihre eigenen Ziele und Träume auch gegen Widerstände verfolgen und sich trauen, Grenzen zu setzen. GIRLS GIRLS GIRLS ist ein Film von Frauen über Frauen – für alle Geschlechter und Altersgruppen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 23.2.2023 A variety of experiences shake up the feelings of friends Mimmi and Rönkkö on three consecutive Fridays.

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Originaltitel: Så jävla easy going D Schweden/Norwegen 2022 D 91 min, FSK 12 D R: Christoffer Sandler D B: Christoffer Sandler, Lina Åström, Jessika Jankert, Linda-Maria Birbeck D K: Nea Asphäll D S: Jens Christian Fodstad, Robert Krantz D M: Gustaf Spetz D D: Nikki Hanseblad, Melina Paukkonen, Shanti Roney, Emil Algpeus D V: Edition Salzgeber

So Damn Easy Going Gefühlskarussell

Joana scheint auf den ersten Blick eine durchschnittliche Jugendliche zu sein. Bis sie eines Tages ihre Medikamente nicht bekommt, weil die letzten Rechnungen noch nicht bezahlt wurden. Ab da entwickelt sich ein echtes Gefühlskarussell, denn ohne ihre ADHS-Tabletten dreht sich für Joana die Welt noch schneller als sowieso schon – und gerade da bemerkt sie die Neue in der Schule, Audrey, die Joana zusätzlich den Kopf verdreht. Wie also an Geld für neue Medikamente kommen und dabei nicht total anstrengend für alle anderen werden? Kurz gesagt: Joana versucht „einfach normal“ zu sein – und das ist sie hier auch. SO DAMN EASY GOING erzählt unaufgeregt, wie vielfältig Normalität aussehen kann: Da ist der Junge von nebenan, der beim Sex zu viel flucht, aber mit seinem Marihuana-Vorrat vielleicht die nötige Geldspritze für Medikamente geben kann. Und es gibt auch den Vater, der um Joanas Mutter trauert und zu Hause gegen seine Depressionen Tierquiz-Sendungen schaut, während die Rechnungen sich türmen. Mit viel Leichtigkeit und warmherzigem Witz zeichnet Christoffer Sandler in diesem Coming-of-Age-Film fast wie nebenbei ein Bild von ADHS, das die Klischees von hyperaktiven Kippel-Kindern unterläuft, indem er gerade keine Krankheitsgeschichte erzählt. Seine Aufnahmen pulsieren, und oft sind die Übergänge zwischen ADHS und Teenage-Angst fließend: Egal, ob Joana ins eiskalte Wasser im skandinavischen Winter springt, um ihre Gedanken zu ordnen, oder versucht, ihre zitternden Hände vor Gleichaltrigen in der Sauna zu verbergen – am Ende geht es um den Mut, sie selbst zu sein. Dass dabei eine Liebe zwischen zwei Mädchen entsteht, ohne Vorurteile von außen, lädt zum Träumen ein. D Anna Hantelmann ¢ Start am 12.1.2023

When Joana has to get by without her ADHS pills due to the accumulation of unpaid bills, the teen‘s world spins faster than it already does – and just then she notices the new girl in school.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKinder Originaltitel: Where Is Anne Frank? D Belgien/Luxemburg 2021 D 99 min, FSK (beantragt): 6 D R: Ari Folman D K: Tristan Oliver D S: Nili Feller D M: Ben Goldwasser, Karen O D V: farbfilm Verleih

Wo ist Anne Frank Aus der Geschichte lernen

Der israelische Regisseur Ari Folman widmet sich in seinem Animationsfilm WO IST ANNE FRANK? dem bewegenden, vielfach verfilmten Schicksal des jüdischen deutsch-niederländischen Mädchens Anne Frank. Der Film entstand auf Initiative des von Annes Vater Otto gegründeten Anne Frank Fonds mit dem Ziel, in Zeiten des wachsenden Antisemitismus und Rassismus die junge Generation zu erreichen. Nachdem Anne zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 ein Tagebuch geschenkt bekommen hat, entscheidet sie, ihre Einträge in Briefform an Kitty zu richten, eine imaginäre beste Freundin, die gut zuhört und der sie alles anvertrauen kann. Viele Jahre später bricht ein starkes Gewitter über Amsterdam herein. Im Anne Frank-Haus, dem weltbekannten Museum, in dem Annes Tagebuch ausgestellt ist, zerspringt das Glas, das es schützt. Aus dem Buch heraus erwacht Kitty zum Leben, die sich wundert, dass Anne und ihre Familie nicht da sind. Auf der Suche nach Anne streift Kitty samt Tagebuch durch das heutige, winterlich-düstere Amsterdam, in dem Geflüchtete in Zelten nahe den Grachten hausen. Kitty freundet sich mit Peter an, der eine illegale Unterkunft für Geflüchtete betreibt, und mit dem vor Krieg geflüchteten Mädchen Awa. Mithilfe des Tagebuchs, das mittlerweile die ganze Stadt sucht, reist Kitty immer wieder in Annes Leben zurück, spricht mit ihr – und erfährt nach und nach, was nach ihrem letzten Brief mit Anne passiert ist. In WO IST ANNE FRANK?, für dessen 2D-Animation Lena Guberman verantwortlich zeichnet, schlägt Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR) eindrücklich eine Brücke zwischen Kindern wie Anne, die während des Nationalsozialismus ihr Land verlassen mussten, und geflüchteten Kindern heute. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 23.2.2023

In the animated film WHERE IS ANNE FRANK? Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR) creates a connection between children like Anne, who had to leave their country during National Socialism, and the refugee children of today.

Termine unter www.indiekino.de

Deutschland/Luxemburg/Polen 2021 D 92 min, FSK: 6 D R: Barbara Kronenberg D B: Barbara Kronenberg D K: Konstantin Kröning D S: Rune Schweitzer, Paul Maas D M: André Dziezuk D D: Romy Lou Janinhoff, Jonas Oeßel, Hildegard Schroedter, Luc Feit, Anja Schneider D V: farbfilm Verleih

Mission Ulja Funk Tolle Heldin

Die 12-jährige Ulja (Romy Lou Janinhoff), jüngstes Kind einer russlanddeutschen Familie, liebt das Weltall. Sie kennt sie sich nicht nur bestens mit Himmelskörpern aus, sondern hat sogar einen entdeckt: Den Meteoriten VR-24-17-20, der in Weißrussland auf die Erde treffen soll. Als sie im Kindergottesdienst ihrer Freikirche davon erzählt, ist die Gemeinde nicht begeistert von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vor allem ihre sehr gläubige Oma Olga (Hildegard Schroedter) ist schockiert und betet zu Gott, dass er ihre Enkelin „auf den rechten Weg“ führen möge. Doch der einzige Weg, den Ulja gehen möchte, ist der zum Landeplatz ihres Meteoriten. Weil sie sehr zielstrebig und erfindungsreich ist, tritt sie zusammen mit ihrem Mitschüler Henk (Jonas Oeßel) die Reise durch Polen nach Weißrussland an. Versehentlich entführen sie dabei Oma Olga – und bald sind ihnen auch Uljas Eltern und ihre Glaubensgemeinschaft auf den Fersen. MISSION: ULJA FUNK ist der erste lange Spielfilm von Regisseurin Barbara Kronenberg, die auch die Geschichte geschrieben hat. Der Film, der schon einige Preise gewonnen hat, wurde mit einer großen Crew aus verschiedenen Ländern realisiert. Man muss bei dieser turbulenten Komödie oft richtig laut lachen, viele Späße sind aber auch ganz schön heftig (zum Beispiel, wenn der betenden Oma einfach das Kreuz auf den Kopf fällt und sie ohnmächtig wird!). Ulja ist auf jeden Fall eine tolle Heldin: Sie erinnert ein bisschen an Wednesday Addams, die gerade mit der nach ihr benannten Netflix-Serie viele Herzen erobert hat. Auch sie lacht selten, hat starke Nerven und lässt sich von nichts und niemandem verbiegen. Gerade weil sie so nerdig und eigensinnig ist, begleitet man sie sehr gerne, während sie sich langsam mit Henk anfreundet, mit ihrer Familie streitet und unaufhaltsam ihren Träumen nachgeht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 12.1.2023 12 year old Ulja, the youngest child in a Russian-German family, loves outer space. When she discovers that meteorite VR-24-17-20 is meant to hit Earth in Belarus, she hits the road with her classsmates.

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INDIEKINOHIGHLIGHTS

DER BESTE FILM ALLER ZEITEN: JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES Seit 1952 hält die vom British Film Institute herausgegebene Filmzeitschrift „Sight and Sound“ alle zehn Jahre unter Filmjournalist*innen, Kurator*innen, Filmwissenschaftler*innen und Filmemacher*innen eine Umfrage nach den besten Filmen aller Zeiten ab, aus denen der Filmkanon der „100 besten Filme aller Zeiten“ generiert wird. Mindestens für den englischsprachigen Raum ist die Sight and Sound-Liste die wichtigste und bekannteste Leitlinie für wichtige Filme. 1952 befand sich Vittorio de Sicas neorealistischer Film Fahrraddiebe, damals gerade vier Jahre alt, auf Platz 1. Über 50 Jahre lang regierte ab 1962 Orson Welles’ CITIZEN KANE die Liste. Erst 2012 lösten Alfred Hitchcocks Vertigo in der „Critic’s Poll“ bzw. Yasuhiro Ozus TOKYO MONOGATARI (Die Reise nach Tokyo) in der „Director’s Poll“ Welles’ technisch brillanten Klassiker ab. Die „Sight and Sound Poll 2022“ ist gerade erschienen, und zum ersten Mal steht ein Film einer Frau auf der Spitzenposition: Chantal Akermans JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES. Akermans Film, mit einer Laufzeit von knapp dreieinhalb Stunden, war selten im Kino zu sehen, und auch im Internet ist JEANNE DIELMANN nicht zu finden. Aktuell zeigen einige Kinos den experimentellen feministischen Klassiker in Sondervorstellungen (Ausschau halten!) Die ganze Liste findet ihr hier: bfi.org.uk/sight-and-sound/greatest-films-all-time

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INDIEFEATURE

„Wenn man den Täter an das Publi­kum überführt, Stellt sich am Ende das Gefühl ein, als sei damit alles geregelt“ Interview mit Dominik Moll über IN DER NACHT DES 12.

Der in Bühl (Baden-Baden) geborene französische Filmregisseur Dominik Moll drehte über zehn Jahre lang Dokumentar- und Kurzfilme, bevor er mit HARRY MEINT ES GUT MIT DIR (2000), in dem sich ein alter Freund in eine Familie einschleicht und deren Mitglieder nach und nach umbringt, den ersten seiner surreal-düster-komischen Thriller drehte. In seinem vermutlich bekanntesten Film, LEMMING (2005) bringt das gleichnamige, möglicherweise nur symbolische Tier, das Leben zweier Paare aus der Spur, in DIE VERSCHWUNDENE (2019) erzählt Moll vom Verschwinden einer Frau aus mehreren Perspektiven. IN DER NACHT DES 12. ist Molls bisher geradlinigster Film, und der erste, der sich der Polizeiarbeit widmet. Pamela Jahn hat mit Dominik Moll über sein jüngstes Werk gesprochen.

INDIEKINO: Das Rätselhafte, Mysteriöse, Irrationale ist in Ihren Filmen stets präsent. Was war neben dem Buch von Pauline Guena der Ausgangspunkt für die Geschichte? Domninik Moll: Ich habe bisher noch keinen Krimi gedreht, der sich auf die Arbeit der Polizei konzentriert. Die hat in meinen Filmen, wenn überhaupt, bisher immer nur im Hintergrund eine Rolle gespielt. Aber ich habe mir nicht gesagt, ich will jetzt mal was über die Polizei machen. Es ging alles von Pauline Guenas Buch aus, das weder ein Roman ist noch eine rein journalistische Abhandlung. Sie hat ein Jahr lang bei der Kripo in Versailles verbracht, Tag und Nacht. Sie hat die Beamten sowohl auf ihren Einsätzen als auch im Alltag begleitet. Im Buch teilt sie ihre Beobachtungen mit. Aber in der Art und Weise, wie sie das literarisch arrangiert, steckt doch auch etwas sehr Fiktionales. Wie sind Sie auf das Buch aufmerksam geworden? Ich war auf der Suche nach neuem Lesestoff und bin auf einen Satz gestoßen, der hinten auf dem Buchdeckel stand. Da hieß es, dass jeder Kriminalbeamte früher oder später auf einen Fall stößt, der ihn nicht mehr loslässt. Diese Aussage hat meine Neugier

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INDIEFEATURE

geweckt, daraufhin habe ich das Buch gekauft und gelesen. Aber es ist ein sehr umfangreiches Buch, 500 Seiten lang, mit vielen super interessanten Details. Und erst in den letzten beiden Kapiteln geht es um diesen Polizisten, der sich immer mehr in einen bestimmten Fall hineingesteigert hat, weil es ihm einfach nicht gelang, den Schuldigen zu finden. Und ich dachte mir, da ist was dran. Denn normalerweise hat man ja bei einem Krimi am Ende immer den Mörder. Bei Columbo steht sogar von vornherein fest, wer der Täter ist. Stattdessen dreht sich alles darum, wie ein dem Publikum bekannter Mörder schließlich gefasst und entlarvt wird. Aber mich hat die Frage fasziniert, was es mit den Ermittlern macht, wenn das halt nicht passiert. Wenn man vor einem Fall steht, den man nicht aufklären kann, obwohl man vielleicht sogar mehrere Verdächtige hat. Was löst das in einem Menschen aus? Frust, Wut, Selbstzweifel? Ein Schwerpunkt im Film ist das Thema Femizid und Gewalt gegen Frauen, aber auch das Ungleichverhältnis zwischen Männern und Frauen innerhalb der Polizei. Ja, Gilles Marchand (Drehbuch), mit dem ich sehr oft zusammenarbeite, hat sehr früh gespürt, dass es sich zwar vordergründig

um eine Kriminalgeschichte handelt, aber das eigentliche Thema das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist, weil die Kripo einfach so eine extreme Männerwelt ist. Ich war im Zuge unserer Recherche selbst eine Woche lang in Grenoble bei der Polizei, und es gab dort auch nur Männer. Im Fernsehen sieht man jetzt öfter schon mal weibliche Ermittlerinnen, aber in der Realität gibt es die fast noch gar nicht oder nur sehr selten. Es ändert sich ein bisschen, aber nicht so schnell, wie man es sich wünschen würde. Und die Polizisten müssen dann oft Verbrechen ermitteln, die von Männern begangen wurden und sich gegen Frauen richten. Was uns interessierte, war, was diese enorme Gewaltbereitschaft von männlicher Seite bei den Beamten auslöst, wie sie damit umgehen, und ob sie sich und ihr Verhalten vielleicht selbst auch infrage stellen oder nicht. Sie sind in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland aufgewachsen. War der sonntägliche Tatort Teil Ihrer Kindheit? Nein, eigentlich nicht. Ich durfte gar nicht so viel fernsehen. Tatort habe ich vielleicht ein, zwei Mal gesehen. Mich haben später die Krimis im Kino gepackt, aber vor allem die, die nicht dahin gehen, wo man es erwartet. Also zum Beispiel ZODIAC von David JANUAR/FEBRUAR 2023 D

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INDIEFEATURE

Fincher, wo man am Schluss auch nicht genau weiß, wer jetzt der Mörder ist, weil es eigentlich noch um etwas ganz anderes geht. Denn im Grunde genommen stellt sich, wenn man den Täter an das Publikum überführt, am Ende das Gefühl ein, als sei damit alles geregelt. Aber in Wirklichkeit ist gar nichts in Ordnung, weil die Gewalt von Männern gegenüber Frauen ein großes Problem ist. Und das löst man nicht, nur weil man vielleicht einen Typen ins Gefängnis bringt. Den Fall nicht zu lösen, gibt einem als Drehbuchautor eine gewisse Freiheit, stellt Sie andererseits aber auch vor die Herausforderung, trotzdem irgendwie zu einem Ende finden zu müssen. Wie sind Sie und Gilles Marchand damit umgegangen? Wir wollten verhindern, dass die Tatsache, dass der Schuldige nicht gefunden wird, dazu führt, dass man das als Versagen der Polizei werten kann. Also am Schluss sollte schon etwas Positives dabei herauskommen. Deshalb sind die Frauenfiguren so wichtig, die eigentlich erst später im Film auftauchen und nicht sehr oft. Aber was sie zu sagen haben, ist das Entscheidende, auch in Bezug auf Yohan, den Hauptermittler. Seine Arbeit bekommt dadurch einen neuen Schwung, eine neue Energie, damit er nicht sagt, okay, lassen wir es bleiben, es hat sowieso alles keinen Sinn. Stattdessen macht er weiter, mit oder ohne Aussicht auf Erfolg. Das Wichtige ist, an der Sache dran zu bleiben und weiter zu machen. Worin genau liegt Ihrer Ansicht der Grund für die große Gewaltbereitschaft von Männern gegenüber Frauen? Haben Sie mit den Polizisten, die Sie im Rahmen Ihrer Recherche begleitet haben, konkret darüber gesprochen? Nein, ich war ja nur eine Woche dort und das war zu kurz, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das es mir erlaubt hätte, solche Fragen zu stellen. Aber das Problem ist die Frauenfeindlichkeit im Allgemeinen, die sich jetzt nicht unbedingt nur in Mord ausdrückt. Man erlebt sie bei den Verhören immer wieder und auf verschiedenste Weise. Da sagt dann zum Beispiel einer: „Ja, ich habe mit ihr geschlafen, obwohl sie es nicht wollte, aber es war mir egal.“ Oder ein anderer schlägt grundlos seine eigene Frau bis zur Bewusstlosigkeit. Und dazu gehört auch der Reflex von den Polizisten zu sagen, ja, das Mädchen wurde umgebracht, aber sie hatte eben sehr viele Sexpartner, also war sie wahrscheinlich irgendwie auch ein bisschen selbst schuld daran. Dieser Gedanke, der dann hochkommt, der aber natürlich völlig absurd ist. Es gibt im Film eine Szene zwischen Yohan und Claras bester Freundin, die darauf anspielt. Genau, es ist eine zentrale Szene. Und ich sage zentral, weil sie wirklich in der Mitte des Films vorkommt, aber auch, weil sie bei Yohan etwas auslöst in dem Moment, wo Claras Freundin sagt: „Sie war es nicht. Verstehen Sie das nicht? Sie hat nichts getan.“ Denn es hat ja nichts damit zu tun, mit wem Clara geschlafen hat D 60

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oder nicht. Sie steht nicht auf der Anklagebank. Sie wurde umgebracht und jetzt tun alle so, als hätte sie das irgendwie provoziert. Oder als hätte sie das gewollt. Und als Yohan damit konfrontiert wird, lassen sich bei ihm erste Brüche im Denken erkennen. Von da an stellt er sich selbst immer mehr Fragen. Sie sind in Ihren Filmen bisher immer sehr erfindungsreich gewesen, sowohl visuell als auch erzählerisch. War es eine besondere Herausforderung für Sie, diesmal den richtigen Ton zu finden? Die Schwierigkeit bestand darin, ein Gleichgewicht zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen herzustellen. Ich wollte eine Atmosphäre schaffen, die der tatsächlichen Arbeit der Polizisten ähnelt und ihrem Alltag gerecht wird. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie wahnsinnig viel Papierkram ausfüllen müssen und eigentlich 80 % ihrer Zeit damit verbringen, Buchstaben auf der Tastatur zu tippen. Und wenn sie dabei einen Fehler machen, etwa eine Uhrzeit falsch dokumentieren, kann das alles zunichtemachen. Da ist also einerseits dieser Druck, der auf ihnen lastet. Und gleichzeitig wollte ich das Visuelle, das Kinematographische ebenfalls beibehalten, um im Spielfilm zu bleiben. Welche Überlegungen gab es, als es darum ging, die Tat an sich darzustellen? Ich weiß noch, als wir den Produzenten die erste Drehbuchversionen vorlegten, hieß es von allen Seiten, den Mord dürfe man nicht zeigen, um dem Vorwurf zu entgehen, dass irgendeine Art von Sensationslust dahinter steckt. Aber ich habe daran festgehalten. Ich habe gesagt: „Nein, es ist ein schrecklicher Mord, und trotzdem muss man ihn irgendwie darstellen.“ Aber natürlich nicht auf eine reißerische, sensationelle Art. Für mich stand von vornherein fest, dass es etwas Abstraktes sein sollte, eigentlich völlig unspektakulär. Dennoch hat das Bild etwas Seltsames, Ambivalentes, weil es gewissermaßen schön und schrecklich zugleich ist. Und dazu gehört auch, dass wir den Ton ganz rausgenommen haben, dass nur die Musik da ist und man ihre Schreie nicht hört. Gab es einen Punkt, wo Sie sich gewünscht hätten, den eigentlichen Mörder zu kennen, um den Fall am Ende doch aufklären zu können? Nein, denn so ist es eben im Leben. Man kann nicht immer alles erklären. Und ich wusste ja von Anfang an, dass ich es so haben wollte, weil es uns die Möglichkeit eröffnete, über den Fall hinaus auch noch woanders hinzuschauen. Was den eigentlichen Mord betrifft, ist sich die Polizei übrigens ziemlich sicher, dass einer der Verdächtigen der Täter ist. Aber es ist keiner der Männer, die im Film vorkommen, sondern noch eine zusätzliche Person. Nur haben die Ermittler keine handfesten Beweise. Sie haben auch keine Zeugen, gar nichts. Und deshalb können sie nichts machen. Ohne Beweise kann man nichts machen. D Das Gespräch führte Pamela Jahn


ANNIE ERNAUX

Les Films Pelléas präsentiert

Die Super-8 Jahre Ein Film von Annie Ernaux & David Ernaux-Briot

Produktion: DAVID THION, PHILIPPE MARTIN – Réalisation: DAVID ERNAUX-BRIOT – Texte geschrieben und gesprochen von ANNIE ERNAUX – Kamera: PHILIPPE ERNAUX – Schnitt: CLÉMENT PINTEAUX – Musik: FLORENCIA DI CONCILIO Ton Schnitt: RYM DEBBARH MOUNIR – Mischung: MÉLISSA PETITJEAN – Leitung Postproduktion: JULIETTE MALLON Grading: ALEXANDRE POCQUET In Zusammenarbeit mit Arte France-La Lucarne – mit Unterstützung des CNC – und mit der Unterstützung von Sacem Weltvertrieb: Totem Films – Verleih: Deutschland, Österreich: Film Kino Text


Nachbild Die umwerfenden Lichtstimmungen in Albert Serras PACIFICTION stehen im deutlichen Kontrast zu den finsteren Machenschaften, von denen der Film erzählt. Zahlreiche Außenaufnahmen spielen in der Dämmerung und versetzen die tropischen Landschaften in ein magisches Licht zwischen Orange und Rosa. Serra und Kameramann Artur Tort filmen Bilder, die bald an Caspar David Friedrich erinnern, bald an David Hockney. Die Figur des französischen Hochkommissars M. De Roller hat dagegen Züge von Paul Gauguin: De Roller kultiviert den sinnlichen Genuss auf Tahiti, während er ein Rad im Getriebe der kolonialen Zerstörung bleibt.

vorschau INDIEKINO im MÄRZ

D TÁR Schillernde Dirigentin D THE ORDINARIES Haupt- und Nebendarsteller D BROKER Zufalls-Familie D RETURN TO DUST Chinesische Elegie D LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHTSEIN Porträt D DER PFAU Banker-Seminar D SENECA Römerspaß mit Malkovich D DIE FABLEMANS Spielbergs Story D DIE LINIE Kontaktverbot D THE FIVE DEVILS Duftende Hexerei D ROCK CHICKS Frauen im Popgeschäft D DAS BLAU DES KAFTANS Ehegeheimnis D Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung Loznitsa über Bombenkrieg D LIEBE ANGST Schrecken als Erbe D DER VERMESSENE MENSCH Deutscher Kolonialismus D SAINT OMER Kindsmord D TCHAIKOVSKY’S WIFE Unerwiderte Liebe D DER FUCHS Tier und Krieg D MAIGRET Kommissar Depardieu D SISI UND ICH Hofdame D ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN Psychotherapeutin am Limit D DIE EICHE – MEIN ZUHAUSE Baumfilm D 62

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INDIESERVICE

Über uns Das INDIEKINO MAGAZIN erscheint alle ein bis zwei Monate und bietet einen Überblick über Neustarts, Festivals und Wiederaufführungen. Unser Herz gehört dem unabhängigen Film und dem unabhängigen Kino. KINOS Das INDIEKINO MAGAZIN ist bundesweit in folgenden Kinos erhältlich: Alpirsbach: Subiaco Kino Bad Driburg: Kino Bad Driburg Bad Füssing: Filmgalerie Bamberg: Lichtspiel & Odeon Berlin: Acud Kino, b-ware!ladenkino, Bali Kino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz Kino, City Kino Wedding, Eva-Lichtspiele, filmkunst66, Filmrauschpalast, FLB Weissensee, FLK Insel, fsk-Kino, Hackesche Höfe Kino, Hofkino, Il Kino, Intimes, Kino im Planetarium, Krokodil, Mobile Kino, Sputnik Kino, Tilsiter Lichtspiele, Union Filmtheater, Wolf Kino, Xenon Kino, Z-inema, Zukunft Bielefeld: Lichtwerk im Ravensberger Park, Kamera Filmkunsttheater Bochum: endstation.kino, Casablanca Bonn: Rex Filmtheater, Neue Filmbühne, Kino in der Brotfabrik Bremen: Atlantis Filmtheater, Gondel Filmtheater, Schauburg Brühl: ZOOM Kino Chemnitz: Kino Metropol Chemnitz Dießen am Ammersee: Kinowelt am Ammersee Dortmund: Schauburg, SweetSixteen Dresden: Filmgalerie Phase IV Duisburg: Filmforum Enkenbach-Alsenborn: Provinz Programmkino Erfurt: Kinoclub Erfurt Erlangen: E-Werk Essen: Essener Filmkunsttheater Esslingen: Kommunales Kino Frankfurt: Mal Seh’n Kino

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Geschäftsführung: Hendrike Bake

Bildnachweis: Filmbilder/Plakatmotive: Filmverleiher/Filmfestivals Stuttgarter Filmwinter (S. 6): Stuttgarter Filmwinter 2023 Überblendung – Vergessene Bilder von Ost und West (S. 6): moviemax GmbH

Redaktion: Hendrike Bake, Thomas Dorow redaktion@indiekino.de

Grafik: Michael Zettler, Nora Wiesner (Zett Media)

Filmtexte: Hendrike Bake, Yorick Berta, Stefanie Borowsky, Tom Dorow, Anna Hantelmann, Pamela Jahn, Susanne Kim, Christian Klose, Clarissa Lempp, Elinor Lewy, Michael Meyns, Harald Mühlbeyer, Toni Ohms, Anna Stemmler, Susanne Stern, Eva Szulkowski, Lars Tunçay, Matthias von Viereck

Akquise/Marketing: Hendrike Bake, info@indiekino.de Druck: Bonifatius Druck, Paderborn Auflage: 25.000

Eine Gewähr für die Richtigkeit der Termine kann nicht übernommen werden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Ein Nachdruck ist nur mit Genehmigung von Redaktion und Autor und mit Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandtes Textmaterial wird keine Haftung übernommen.

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VON MARTIN MCDONAGH, DREHBUCHAUTOR UND REGISSEUR VON THREE BILLBOARDS UND BRÜGGE SEHEN... UND STERBEN? “Besonders originell. grossartige wie kluge Komödie.” 3SAT Kulturzeit

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AB 5. JANUAR EXKLUSIV IM KINO


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