Tunnel Bellevue ­ Beruhigende Versuche zur Ungenauigkeit

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Andreas Mitterer

Tunnel Bellevue Beruhigende Versuche zur Ungenauigkeit



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S.3: Original, Stempel, Tinte, 2006 Diese Seite, Titel sowie alle folgenden Fotografien ohne Angaben: aus: Ganze Welt, 2000 gefundene Dias 4 | Tunnel Bellevue


Andreas Mitterer Tunnel Bellevue Beruhigende Versuche zur Ungenauigkeit

Eine Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie „Alte Brennerei“ des Kunstvereins Ebersberg vom 13. September bis 5. Oktober 2008 Tunnel Bellevue | 5


Friedrich C. Burschel

Ofenrohre zu Posaunen

Die Energiesparlampe im Dunkel des Tunnels oder Beunruhigung in der Provinz „I can’t even remember what it was I came here to get away from.“ Bob Dylan, Not dark yet

Nähern wir uns der Sache systematisch. Schauen wir zunächst, was uns der kryptische Titel sagt und werfen wir dann einen Blick auf die Arbeiten in dieser Ausstellung.

„Tunnel Bellevue“ – hm? Ein Widerspruch in sich, so will es scheinen, denn wer im Tunnel steht hat alles andere als eine schöne Aussicht, oft nicht mal „schöne Aussichten“. Und nichts anderes will uns dies Bellevue, dies „Zur schönen Aussicht“ oder „Schönblick“ doch sagen, mit welchem vielfach Schlösser und andere repräsentative Bauwerke benannt wurden. Man denke nur an den bundesrepublikanischen 6 | Tunnel Bellevue

Präsidialpalast Bellevue in Berlin, das Schloß Belvedere in Weimar oder z.B. den Stadtteil „Schönblick“ in Grafing, aber auch anderenorts. Mit Tunneln haben diese Pracht-, Prunk- und Privilegierten-Standorte jedoch nichts zu tun. Im Gegenteil: dort geht es um freien Blick, Licht, Abgehobenheit und Distanz zu denen da unten, die für den Blick auf die Alpen nicht die nötige Pinke-Pinke haben. Die nun wiederum blicken mit dem Ofenrohr ins Gebirge und da wären wir bei unserem Tunnel, denn ein Ofenrohr ist eine Röhre und wer durch es durchguckt, schaut in die Röhre, bekommt einen Tunnelblick, blickt durch die Tunnelröhre. Das heißt, er geht leer aus und auch, wenn er Licht am Ende des Tunnels sieht, kann er nicht wissen, ob dieses Licht nicht zu den Scheinwerfern des Zuges gehört, der im Tunnel auf ihn zu rast. Wir sind uns also einig, dass es zwei entgegen gesetzte Qualitäten sind, in einem Tunnel zu stecken oder die schöne Aussicht zu genießen. Und doch und der Vollständigkeit halber will ich nicht verschweigen, dass es tatsächlich auf Gottes weiten Fluren eine ganze Reihe von Tunnels

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Der Karpaltunnel ist eine tunnelartige Röhre in Nachbarschaft des Handgelenks. Der „Boden“ und die Seitenwände des Tunnels werden von der knöchernen Handwurzel gebildet, während das „Dach“ von einem breiten Band, dem Retinaculum flexorum, gebildet wird, das sich quer zwischen Handwurzelknochen ausspannt. Durch den Tunnel verläuft – zusammen mit neun Beugesehnen (vier oberflächliche und vier tiefe Beugesehnen der Finger, die lange Daumenbeugesehne) – der Nervus medianus, der u.a. die Bewegungen der Finger und des Daumens steuert, Empfindungen rückmeldet und vegetative Funktionen an der Hand erfüllt. Vgl.: www.neuro24.de/karpaltunnelsyndrom.htm

2 www.elfriedejelinek.com/ unter „Im Verlassenen“


gibt, die den Beinamen Bellevue tragen. Es gibt einen in Lyon in Frankreich, einen im schweizerischen Kanton St. Gallen, einen im belgischen Gent, in Stockholm, Schweden, einen in New York City, „East 34th Street between 2nd and 3rd Avenue“, und den im Volksmund „Tunnel Bellevue“, technisch jedoch I-90-Tunnel genann­ ten, 460 Meter langen Radfahrer- und FußgängerWeg in Seattle entlang der Interstate 90 zwischen Seattle und der Stadt Bellevue im Bundesstaat Washington. Bei letzterem habe ich im Internet auch einen Hinweis gefunden, weshalb die Passanten den Tunnel wohl (nicht nur der benachbarten Stadt wegen) Bellevue nennen: eine Bleistift-Zeichnung zeigt einen offenen Tunnel aus dem heraus man mit Sicherheit einen wunderbaren Blick auf die umgebende MountBaker-Neighbourhood hat. Ja, und mit der Bleistiftzeichnung sind wir dann über Schönblick und Tunnel wieder bei der Kunst und der Ausstellung „Tunnel Bellevue“ gelandet.

Alles hat ein Ende, nur der Tunnel hat zwei Und da wollen wir hin, denn mit so trübsinnigen Tunnel- und Bellevue-Konnotationen wie dem sehr schmerzhaften Karpaltunnelsyndrom1 wollen wir uns nicht beschäftigen. Und auch nicht mit Elfriede Jelineks trüben Assoziationen zum Amstettener Tunnelsystem im Untergrund der schwarzen Seele jenes Josef Fritzl. Für Jelinek hat Fritzl sich mit dem klaustrophobisch schmalen Zugang und den dahinter liegenden Räumen, in denen er seine Tochter mit vieren der sieben mit ihr gezeugten Kindern gefangen hielt, den weiblichen Gebärapparat nachgebaut, in den er jederzeit eindringen und sich seiner Triebe ent-

ledigen konnte2. Nun gut, vieles, was man mit Tunneln verbindet, mit der dunklen Röhre und sei sie beleuchtet, spielt auch in diese düstere Vision hinein.

Stillstand Natürlich, solches Assoziieren macht Spaß, aber ich fürchte, mehr als am Rande hat das nicht wirklich etwas damit zu tun, was die beteiligten Künstler mit dem Projekt, also mit dem Titel „Tunnel Bellevue – beruhigende Versuche zur Ungenauigkeit“ und dem, was wir in der Alten Brennerei in Ebersberg sehen können, im Auge hatten. In den Vorgesprächen, Besprechungen und Absprachen hatte ich den Eindruck, dass Andreas Mitterer und Rasso Rottenfußer mit ihren Arbeiten die Ungenauigkeiten, will sagen die Widersprüche unserer Welt durch ein Nadelöhr – und was wäre ein Nadelöhr anderes als ein schmaler, winziger Tunnel – pressen und so am anderen Ende sichtbar machen wollten. Dabei kamen sie immer wieder auf Afrika, auf Kommunikation, auf Kanalisation, auf Hoffnungen, Visionen, das Licht eben am Ende des Tunnels, so er denn endlich ist, zu sprechen. Was daran aber beruhigend sein soll, ist mir schleierhaft, denn es enthält all den lobotomierten Stillstand in unserem Denken, in welchem wir uns an unserem Ende des Tunnels eingerichtet haben. Und unser Ende ist die Schokoladenseite der Erde und wir müssen die Tunnel geschlossen halten, um in dieser Märchenwelt weiter leben und so tun zu können, als sei diese Welt nicht auf einer ganzen Reihe beunruhigender, ja: mörderischer Ungenauigkeiten errichtet.

Süddeutsches Raster, Plakat, 2008 Schwarm, Plakat, 2008

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(linke Seite:) Alte Brennerei mit R. Rottenfußer (rechte Seite v.o.n.u.): Skizze zum Tunnel Bellevue Alte Brennerei mit A. Mitterer Andreas Murr: Modell zur Bar/Tunnel Bellevue Alte Brennerei

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Fluchtlinien, Ebenen, Abgründe Aber ich will es zunächst positiv wenden: Ich will ausgehen vom Begriff der Fluchtlinien, wie sie Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Opus Magnum „Milles Plateaux“ beschreiben. Ich verstehe das Bild der Fluchtlinie auch als Weg in die Freiheit, eben als Tunnel aus der Zelle verordneten (Nicht-)Denkens in die Freiheit der möglichen Assoziation oder in die Möglichkeit der freien Assoziation. Und Assoziation meint in meinem Verständnis nicht nur den Gedankensprung, sondern auch den Zusammenschluss von Menschen, von Protestierenden, von Revolutionärinnen und Revolutionären. Deleuze schreibt: „Zunächst scheint eine Gesellschaft sich weniger durch ihre Widersprüche zu definieren als durch ihre Fluchtlinien, sie flieht von allen Punkten aus, und es ist interessant, in diesem oder jenem Moment den sich abzeichnenden Fluchtlinien nachzugehen.“3 Ich lade Sie also ein, die Fluchtlinien abzuschreiten, welche die Künstler uns hier in diesen Räumen anbieten, welche sie assoziieren. Spannend schon der Tunnel selbst, der Stollen, wie ihn Andreas Mitterer nennt: man bewegt sich durch ihn durch ohne zu wissen, was einen am Ende – so er denn endlich ist – erwartet. Man erahnt Bewegung, Gegenstände, Bilder, Geräusche, Schatten und Schemen, die unsere Un­ sicherheit noch erhöhen. Gehen wir weiter oder zögern wir, wie viele am I-90-Tunnel in Seattle, die Angst hatten, sie könnten auf schlafende Obdachlose treffen in der zwar beleuchteten, aber tunnelgemäß eben nur mit wenigen, genauer gesagt maximal zwei Fluchtwegen versehenen Umgebung? Denken wir an grauenhafte

3 „Kontrolle und Werden“, in: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt 1993, S. 246

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System 1x4 mit Variablen, Tinte, 2006

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o.T. (KG1 / hungriges Mädchen), Tinte, 2006

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4 UNITEDs Dokumentation (www.united.non-profit.nl/) endet bei knapp 9000 Toten im Sommer 2007; seither vergeht kein Tag ohne Schreckensmeldungen nicht nur aus dem Atlantik, sondern auch aus dem Mittelmeer (Gibraltar, Lampedusa, Malta, Ägäis), so dass die Schätzung von 12 000 Toten bei aller Vorsicht realistisch zu sein scheint.

Film-Sequenzen aus „Irreversible“ (2002) oder die endlosen Kamerafahrten durch David Lynchs erstickende Labyrinthe der dunklen Flure seines „Inland Empire“ (2006)? Nichts ist in den 13 Jahren seit der Öffnung des I-90-Fußgänger- und Radfahrer-Tunnels passiert, einmal hat ein Wach­ mann einen Handtaschenraub vereitelt. Aber die Furcht der braven Bürger, der auskömmlich Beschäftigten, ihr eingeschränktes „subjektives Sicherheitsempfinden“ gegenüber den Elenden unter uns, den Pennern, Obdach­losen, Drogensüchtigen, Vagabunden, Landstreichern, Tippelbrüdern, Sozialhilfe- und Hartz-IV-Abhängigen und (Langzeit-)Arbeitslosen beschreibt den wesentlichen Konflikt und Widerspruch, der in dem, was wir unsere Kultur nen­nen, Auswege verbaut, Visionen unterbindet und Rettung verweigert. Der Grundwiderspruch nicht nur als militärisch-industrielle Wohlstands­gemeinschaft unsere Mitmenschen zugrunde zu richten und ihnen mehr Hilfe als die bürgerliche Mildtätigkeit zu verweigern, sondern mehr noch, diese Elenden ohne Mitgefühl als Bedrohung und zu bekämpfendes Übel zu betrachten und mit überlegenen Waffen zu überziehen, ohne ihnen dabei in die Augen sehen zu müssen, ist der erwähnte Modus des – sagen wir – moralischen Stillstandes, der Sorglosigkeit, der Spaß-ohneReue-Gesellschaft, der genozidalen, göttlichen Ichbezogenheit. Dem Obdachlosen aber ist doch der Tunnel zunächst nicht mehr und nicht weniger als ein Dach über dem Kopf, ein trockener Schlafplatz, wenn auch 24 Stunden beleuchtet, video-überwacht und von Security-Personal unsicher gemacht. Vielleicht ist es genau diese Voraussetzung, der Jürgen Winderls Audio-Beitrag zum Gesamtkunstwerk „Tunnel Bellevue“ eine akustische Entsprechung gibt: ein bedrohliches Hintergrundgeräusch, das uns wie ein Tinnitus des

schlechten Gewissens beunruhigt und quält, der Klang der völligen Kontrolle all dessen, was sich öffentlich und heimlich, offiziell und illegal abspielt. Vielleicht hören auch Sie das Klicken der operativen Kommunikationseinheiten, des Funk­ sprechverkehrs der Überwachung. Wir haben alles im Griff und machen so lange weiter, bis Sie sich so sicher fühlen wie ein Kind im Mutterleib bei der Ultraschall-Untersuchung...

Welt ohne Gnade „Solidarität, Froint, gibt’s nur im Brockhaus: irgendwo zwischen Scheiße und Syphillis.“ Reinhard Jirgl, „Die Unvollendeten“

Rasso Rottenfußer bietet uns mit seiner RaumInstallation die Möglichkeit Maß zu nehmen, seine Fluchtlinie im wahrsten Sinne des Wortes ist die des afrikanischen Flüchtlings, der sich einen Tunnel unter den Mauern Europas gräbt, vor Augen zunächst nur das Erdreich, das er durchwühlen muss, vor dem geistigen Auge aber das Licht der Freiheit, das BewohnerInnen des Westens zwecks CO2-Reduktion gerade mit Energiesparlampen sinnfällig zu dimmen sich anschicken. Die Freiheit diesseits des Tunnels floriert, weil die Tunnel geflutet sind, ein Durchkommen nicht möglich ist: und das meine ich jetzt nicht nur bildlich, sondern auf tragische Weise auch buchstäblich. Nach Zählungen unabhängiger Institutionen wie des Amsterdamer Jugend-Dachverbandes „United for Intercultural Action“ starben an den EU-Außengrenzen seit 1993 mehr als 12 000 Menschen4 , die meisten ertranken in den Europa umgebenden Meeren, die sie unter Lebensgefahr in überfüllten Booten und an den Abschottungs-Bollwerken der EU, jenen für uns durchlässigen semi-permeablen Membranen gegen unerwünschte, dunkle Menschen minderen Tunnel Bellevue | 15


Werts, vorbei durchmessen wollten. Das sind gekappte Flucht- und Lebenslinien, mit denen Hoffnungen auf Menschlichkeit, Zukunft, eine Chance, auf Schutz und Existenz untergegangen sind. Unterdessen bis nach Senegal zurückgedrängt mit den vereinten Kräften der EU-Grenzwache Frontex, den Steuergeldern der EU-BürgerInnen und der technologischen Über­­­­­­­­wach­ ungs­­macht der Industrienationen machen sich Menschen in überfüllten, kunstvoll bemalten Fischerbooten zu heillosen Fahrten zu den 900 bis 1000 Kilometer entfernten Kanarischen Inseln, also EU-Spanien, auf. In schwankenden Booten auf hoher See über Wochen: viele Hunderte sterben, ertrinken, verdursten oder werden lebensgefährlich verletzt. Wenn Rottenfußer die Geometrie des Atlas’ umrechnet und in einen Raum zwängt, so misst er eine Welt ohne Gnade aus, in der Herkunft und Hautfarbe über das Schicksal des Menschen entscheiden. Auch Deleuze meint die Elenden, wenn er von Fluchtlinien spricht, es geht ihm – ich zitiere – „nicht mehr nur um die Berück­ sichtigung von Fluchtlinien anstelle von Widersprüchen, sondern von Minoritäten anstelle von Klassen.“5 (Fortsetzung auf S. 30)

Rasso Rottenfußer: o.T. (Helsinki), Teppich, Olympiaturm, 2006

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5 „Kontrolle und Werden“, in: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt 1993, S. 247


o.T. (KG3), Tinte, 2006

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Plattenrecover, gefundene Plattenhüllen, Ölfarbe, 2007/2008

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Hirschzimmer, Ausstellung in der Galerie Kunstransmitter, München, 2007

Bernhard Tomm / Andreas Mitterer

Objekte – Die Möglichkeit in den Dingen Mit Klebeband umwickelte Körper, nicht ganz gegen­ ständlich, nicht ganz sinnvoll, nicht ganz unnütz, sehr stabil, jederzeit wiederherzustellen durch weiteres Umwickeln. „Our plan is to drop a lot of odd objects“ (Laurie Anderson) – einiges nimmt nur Raum ein, eine Kiste mit Loch und Lande­­­stange für kiloschwere Vögel als Anlauf für das Bo­ denlose, den Blick freigebend für die anmutige Durch­sicht der Klebebandhülle. Es gibt Keulen, unerklärliche Werkzeuge, Köpfe, Stiefel und Geweihen ähnliche Strukturen auf Trophäentafeln. Der Raum ist voll von Baumgebilden, die, kunststoffumwickelt, die Sicht auf die Wände behindern. Die präparierten Reh­schädel blicken aus geschraubten Augen zurück. 24 | Tunnel Bellevue

Nicht architektonisch-visionär generiert sich der Zeich­ nungsprozess, vielmehr arbiträr (Good Bye, Leonardo). Wein­flecken, Kaffeepfützen, regenzerspritzte Tuschekleck­ se führen zu Baumstrukturen. Methodisch erzeugte Tinten­ zeichnungen gewinnen in ihrer formalen Konsequenz die Qualität von Landschaftsskizzen oder Studien kristalliner Strukturen. (Mal gewinnt man, mal verliert man.) Nicht denken, trotzdem etwas Schönes machen. Überlagerungen, Synergien, Reaktionen sind die As­ pekte in Andreas Mitterers zeichnerischer und malerischer Arbeit. Ebenso die Begegnung technoider Strukturen mit organischen Momenten. (Das organische Moment ist nämlich die Vergänglichkeit. Hingegen: Struktur/Stasis. Klar!)


Süddeutsches Raster, Wandcollage in Zusammenarbeit mit Rasso Rottenfußer in der SZ-Galerie, Ebersberg, 2008

Der Strich ist der erzählerischen Zeichnung entliehen, letztendlich jedoch keiner Geschichte aber auch keiner zeichnerischen Logik verpflichtet. Dem assoziativen Blick scheint Tür und Tor geöffnet. (Es scheint, es schneit.) Die Suche nach den Zusammenhängen, der Versuch der Kommunikation mit dem Unverstehbaren, die Unter­ suchung der Aspekte der Blindheit gegenüber der eigenen Haltung. Serendipity. Ölfarbe auf Aluminiumplatten. Farblich bisweilen stark reduzierte Studien zu Gitterstrukturen, aufgebrochen durch emphatische Momente (Horch!). Es steht eine kopflose Puppenfigur schwankend in einem Blütenkelch.

Andere Ölbilder setzen gleich zu Beginn einfache Erzäh­ lungen gegeneinander oder zueinander ins Verhältnis. (Aber das ist leider auch keine Lösung.) Zentimeterstarke Übermalung von 15 Postkarten mit fotokolorierten Sehenswürdigkeiten aus Rom, bei der die Farben der Karte sich in den Raum zu wölben scheinen. Hummelkammer – eine Arbeit im Raum 500 zu München, wobei der ursprüngliche Büro­raum im 5. Stock sich einem Einbau aus frischem „Schwartlingholz“ konfrontiert sah, der mit stollenartigen Verjüngungen zu den Fenstern hin neben der Vermutung eines eigentümlichen Zwecks auch noch sein ganz eigenes Mikroklima installierte. Im Laufe der Ausstellung versuchten zudem einige hundert Borken­ käfer ihr Glück im urbanen Umfeld. Tunnel Bellevue | 25


Hummelkammer, Einbau im Raum 500, München, 2004

Was die Unruhe, die Kontemplation, alles was die vom Streben nach Gleichgewicht dominierte Emotionalität so zulässt, also Bilder, Zeichnungen, Texte, Objekte, Gesam­ meltes und Gejagtes, Gefundenes, Gewachsenes oder Generiertes benutzt Andreas Mitterer vorzugsweise als Material für räumliche Erzählungen. So geht das. „Alle Augenblicke – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – waren immer vorhanden, werden immer vorhanden sein. Die Tralfamadorianer vermögen alle verschiedenen Augenblicke so zu betrachten, wie wir zum Beispiel einige Bergzüge der Rocky Mountains betrachten können (...) Wenn ein Tralfamadorianer eine Leiche sieht, ist alles was er denkt, dass der Tote in diesem besonderen Augenblick in 26 | Tunnel Bellevue

einem schlechten Zustand ist, aber dass die gleiche Person in vielen anderen Augenblicken ganz einfach in bester Verfassung ist. Wenn ich jetzt höre, dass jemand tot ist, zucke ich einfach die Schultern und sage, was die Tralfamadorianer sagen, nämlich: ‚So geht das‘.“ aus: Kurt Vonnegut „Schlachthof 5“, S. 30, Rowohlt, Hamburg 1972


Boxplatz / Sammelsurium, Akademie der Bildenden Künste, München, 2004

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Bellevue | 29 Parallelverschiebung 1, Klebeband, Öl auf Alu,Tunnel 155 x 103 cm, 2008


(F. C. Burschel: Ofenrohre zu Posaunen. Fortsetzung von S. 16:)

Paris Hiltons Schamhaar „Wer hätte geglaubt, dass (...) manche Männer und Frauen beim Sex tatsächlich dieselben Sätze wie die Schauspieler in Pornofilmen sagen?“ Miljenko Jergovic, Buick Rivera

Während Menschen um ihr Leben durch die stürmische See taumeln, Tunnelblick auf die Errettung, bekommen wir stündliche Meldungen über die Konsistenz des Stuhlgangs von drei Bergsteigern, die sich auf ihrem Abenteuer- und Selbstfindungstrip im Himalaya zwischen den Rissen, Schründen, Eistunneln und Abbrüchen verirrt haben. Unsere Gesellschaft durchlebt 30 | Tunnel Bellevue

vergreisend eine galoppierende Infantilisierung, in der seine zweite Pubertät ab 40 genießt6, wer seine kleinkindische anale Phase als Feuchtbiotop vor den gierigen Augen der anderen ausbreitet und darüber schwätzt bis die Fernbedienung zu Boden fällt. Das wichtige bleibt jenseits des Fernsehkanals, der uns den gierigen Tunnelblick einer verblödenden Konsum-Gemeinschaft antrainiert. Die Frage ist nicht, was wäre, wenn man die Menschen ließe, tun ließe, was sie sich wünschen, ihnen Möglichkeiten eröffnete, Chancen böte, Räume schüfe, jenseits von Verwertungsinteresse und Nützlichkeitserwägungen. Die Frage ist, wer bei welchem Wettkampf gedopt war, ist – als würde es für die Welt, zu-

6 Magazin „Stern“, 7.8.08: „Neue Serie: Besser leben ab 40. Das Glück der zweiten Pubertät“; Anzeigentext: „Diese Generation lässt die Jugend alt aussehen.“

o.T, Klebeband, Öl auf Hartfaser, 2008


mal aber für die „unterwürfigen Deutschen“ (John McCain), tatsächlich einen Unterschied machen – Hillary oder Obama oder Obama oder McCain und wie Paris Hilton ihr Schamhaar trimmt. Wir fressen uns stumpf unseren Tunnel durch den Puddingberg in das Schlaraffenland, suhlen uns faul in den Jungbrunnen und lassen uns gebratene Hühner ins Maul fliegen und mampfen – um mit Arno Schmidt zu sprechen – den Kohl seelenruhig weiter durch die Jahrhunderte weißer Weltherrschaft und schwafeln von Menschenwürde, Menschenrechten, Freiheit und Demokratie. Was für ein wohlfeiler Heldenmut gehört dazu, sich während der Olympischen Spiele unter den Kameras einer vermaledeiten

Weltöffentlichkeit von einem Gebäude in Peking mit großer Greenpeace-Geste und „Free Tibet“Transparent abzuseilen und als FreiheitskämpferIn zu gerieren? Wir schaffen uns die Welt nach unserem Bilde und alles, was nicht ins Bild passt, mag untergehen. Jeder Aspekt unseres Alltages und dessen, was wir Kultur nennen, ist durchdrungen von den bearbeiteten und retuschierten Zwangsbildern unserer eigenen Herrschaft und Geschichte, einer Wunschbiographie, welcher die Hybris eignet, der Weisheit letzter Schluss und Maß aller Dinge sein zu wollen: Dass die Kriminalgeschichte der christlich-abendländischen Kultur von der frühen Kolonnis und Christianisierung, Tunnel Bellevue | 31


Völkerwanderung und europäischen Expansion über Imperialismus, Kolonialismus und Holocaust bis hin zur kapitalistischen Weltherrschaft nebst Krieg gegen Terror eine Geschichte des Massenmordes, der Sklaverei, des kalkulierten Hungers, der Ausbeutung, der Vergewaltigung und des Rassismus’ ist, bestimmt bis heute das Leben der Kolonisierten, „Bekehrten“ und Vergewaltigten, unser strahlendes Selbstbild indes trübt das nicht. Auch für die Zukunft gilt Deleuze’ Wort: „Es gibt keinen demokratischen Staat, der nicht zutiefst verwickelt wäre in diese Fabrikation menschlichen Elends.“7 Und genau deshalb ist es unsere Pflicht, so mahnt uns Walter Benjamin (Verfasser des monumentalen „Passa32 | Tunnel Bellevue

gen“-Werkes – und was wären diese Passagen anderes als Tunnel, Stollen, Gänge, Flure des Denkens auf „tausend Ebenen“) in seinem großen Essay „Über den Begriff der Geschichte“, in dem er uns diese, die Geschichte, „gegen den Strich zu bürsten“ animiert: „In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“8

o.T, Klebeband, Öl auf Hartfaser, 2008


Präformierte Nachrichten „Man wird die schlechte Welt in ihrer Schlechtigkeit belassen, da man ohnehin wehrlos ist gegen das ‚sogenannte Böse‘: dafür wird man sich aber im Bösen zumindest komfortabel installieren, die Wissenschaft garantiert dieses Behagen in der Tragödie.“ Jean Améry, Widersprüche

Unsere hermetisch konstruierte Traumwelt wird täglich durch das erneuert, was Diskurs, Kommunikation und Meinungsbildung genannt wird. Die Bilder, die produziert und immer wieder reproduziert werden, lassen aber eben keine Flucht­ linien, keine Auswege, keine Zweideutigkeit, keine kritische Nachfrage zu. Noch das bürgerliche Blatt, dass sich den kritischsten oder – wie

man in solchen Fällen sagt – liberalsten Anstrich gibt, trägt dazu bei, dass in dem endlosen, dröhnenden Parlando der westlichen Kultur keine schrillen Töne oder gar Hilferufe, Gnaden­appelle zu hören sind. Schon Theodor Adorno hat diesen – sagen wir – kulturindustriellen Imperialismus beschrieben: „Es ist dahin gekommen, dass Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belege und alle Beweiskraft mitgeben,

7 „Kontrolle und Werden“, in: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt 1993, S. 248 8 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Illuminationen, Frankfurt 1977, S. 253; Natürlich hätte das Bild des Angelus Novus, welches Benjamin in dem Essay beschreibt, noch zu weiteren Gedanken über den „Tunnel“ oder besser noch den „Windkanal“ der Geschichte gegeben, den der Engel der Geschichte rückwärts, seine Flügel vom Sturm des Fortschritts gepeitscht in die Zukunft schreitet; hinter sich die Trümmer der Geschichte, auf denen „wir“ betrunken fläzen; aber das würde den Rahmen endgültig sprengen.

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Keil, Klebeband, Öl auf Alu, 2008

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Schwarzblau mit Rock-Pose, Öl auf Aluminium, 77 x 52 cm, 2006

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System 1x4.2, Tinte, 2006

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9 „Pseudomenos“, in: Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt 1993, S. 138 10 Vgl. Anil K. Jain, Kristie Handel: Jenseits von Afrika. Die neuen Völkerschauen und In Afrika gibt es keine Geschichte und Tradition des Zirkus (Interview mit Georges Momboye, Choreograph von Afrika!Afrika!), in: Hinterland Nr. 8, München April/ Mai/Juni 2008, S. 51ff bzw. 59f

deren die totale Verfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen.“9 Warum glauben wir tatsächlich, was uns so lange über den Kosovo als einzig gültige Wahrheit erzählt worden ist, dass wir uns anschließend am Stammtisch getrauen es gutzuheißen, dass „wir“, d.h. Deutschland, dessen Unabhängigkeit von Serbien anerkannten? Wie konnten wir, im Vollgefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, das öffentliche Autodafé des Dichters Peter Handke geniessen, der gegen diese Gewissheiten wunderbar unflätig anbrüllte? Was wissen wir wirklich und gesichert über den Horror in Dafour? Wer sagt uns, dass stimmt, was Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau oder weiß der Kuckuck wer über den Völkermord in Ruanda erzählen? Unser Denken ist, gerade wenn es um Afrika geht, von einem sehr volkstümlichen Rassismus mit akademischen Weihen geprägt: Wir haben keine Ahnung von Afrika. Wenn wir an Afrika denken, hat der Herrenmensch André Heller mit seiner unsäglichen popkulturellen Völkerschau „Afrika! Afrika!“10 die Lufthoheit über unseren Frühstückstischen, auf denen sich eingeschweißte Bio-Käse-Scheiben und unsterblich machende Anti-AgingEnergy-Drinks türmen, die wir eben frisch mit unserem Drei-Tonnen-Off-Roader bei Lidl oder Plus geholt haben. Jeder x-beliebige Vertreter der Verblendungszusammenhänge kann uns das Blaue vom Himmel heruntererzählen: wo er von Menschenrechten salbadert und von den urzeitlich-blutigen Stammesritualen der „Neger“ schwadroniert, denkt er nur an Coltan für unsere Handy-Kommunikation und wie er an den gemetzelten Körpern vorbei am besten an die Diamanten-Vorkommen herankommt ohne Tunnel Bellevue | 39


o.T. (KG4), o.T. (KG5), Tinte, 2006

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Versprochene Zukunft, Gelstift, Tinte auf Papier,30 x 40 cm , 2006

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Tunnel | 43 Dornentext , Tusche und Acryl auf Bellevue Papier, 2006


sich die manikürten Finger schmutzig zu machen. Der große nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe hat in seiner wegweisenden Abrechnung mit Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ diesen begehrlichen, abschätzigen, berechnenden und vermessenen Blick der Europäer auf „ihren“ „schwarzen Kontinent“ beschrieben: Er sei sich nicht sicher, so schreibt er, „ob all die Feldforscher (...) auch wirklich an ihre Berichte glaubten, oder ob es eine Art von Vorspiegelung war, eine Art Alibi, die sich unserer Vorstellung nach ein Mensch verschafft, der ein Verbrechen vorhat. Sehen Sie, es ist zum Beispiel sehr bezeichnend, dass die Kirchenväter genau in dem Augenblick die Existenz der Seele des schwarzen Menschen zu bezweifeln begannen, als der Körper des Schwarzen auf den Märkten hohe Preise erzielte.“11 Die Trauer ist groß, wenn ein Sarg aus dem Hindukusch eingeflogen wird, aber wann fragt endlich jemand, was der jetzt Tote dort als lebendiger Soldat verloren hatte und wie viel einheimische Tote er zurücklässt auf den Schlachtfeldern andauernder und zunehmend apokalyptischer Verteilungskämpfe. Und es bleibt dabei und gilt, dass wir solange mit diesem Gemetzel behaglich leben können, solange unser Blick von beruhigendem Rassismus getrübt bleibt: „Die Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird umso geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind, je brünetter, „schmutziger“, dagohafter. Das besagt über die Gräuel nicht weniger als über die Betrachter. (...) Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – ‚es ist ja bloß ein Tier’ –, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an 44 | Tunnel Bellevue

Menschen, in denen die Täter das „nur ein Tier“ immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten.“12 Adorno hat unsere Perspektive und Haltung schon kurz nach dem größten Gemetzel der Menschheitsgeschichte – und das fand ja bekanntlich nicht im wilden Afrika statt – erkannt. Der gnadenlose, europäische Blick (nicht nur) auf Afrika, um das hier zu ergänzen, ist bis heute unerschütterlich geprägt von den Berichten von Forschern, Reisenden und Romanciers, von denen die wichtigsten Joseph Conrad und Rudyard Kipling sind.13 In der Ausstellung ist er, dieser europäische Blick, auf geradezu archetypische Weise in den Reproduktionen von seit den 1960ern über mehrere Jahrzehnte aufgenommenen Urlaubs- und Weltreise-Dias eines Unbekannten zu sehen, die zunächst ohne Arg die Sichtweise enthüllen, dass die ganze Welt auf „uns“ bezogen ist, alles auf Erden nur auf den Moment wartet, wo es im Auge oder durch den Fokus des westlichen Betrachters, des sorglosen Globetrotters zu sich kommt, zu seiner Bestimmung, nur für „uns“ da zu sein. Gleichzeitig setzt der knipsende, der Fotos „schießende“ Touristen-Soldat ja auch den klassischen Kontrapunkt zum fliehenden Migranten: an der erwähnten Membran wird der himmelschreiende Widerspruch offenbar. Hier Tunnel, dort Bellevue.

Einsamkeit und Schweigen In der Stille, diesen Weg weist Deleuze, liegt die Chance, die Ungenauigkeiten, Widersprüche und Aporien zu erkennen, jenseits des ausgelassenen Dauergeschwätzes unserer Alltage: „Radio, Fernsehen (...) haben es überallhin verbreitet, und wir sind durchdrungen von unnützen Worten, von Unmengen dummer Bilder und Worte. Die Dummheit war noch nie stumm und

11 Chinua Achebe: Ein Bild von Afrika, Berlin 2000, S. 49f 12 „Menschen sehen dich an“, in: Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt 1993, S. 133 13 Hannah Arendt: Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft, München 1968, Kapitel 7: Rasse und Bürokratie, S. 307 – 359: Der Blick der großen Philosophin ist erschütternd elitär und nicht frei von eigenen Rassismen, im genannten Kontext jedoch ein Muss. 14 „Die Fürsprecher“, in: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt 1993, S. 188 15 „Kontrolle und Werden“, in: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt 1993, S. 252


blind. Das Problem besteht nicht darin, die Leute zum Reden zu bringen, sondern ihnen leere Zwischenräume von Einsamkeit und Schweigen zu verschaffen, von wo aus sie endlich etwas zu sagen hätten.“14 Und weiter: „Eine Abwendung vom Wort ist nötig. Schöpferisch sein ist stets etwas anderes gewesen als kommunizieren. Das wichtigste wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“15 Wo Verstummen und planvolle Sabotage dem Wahnwitz des Westens ein Ende setzen mögen, könnten geöffnete Wege, frei geräumte Tunnel und kommunizierende Röhren den Stimmlosen, den „Verdammten dieser Erde“ Räume bieten, ihren Anteil am Leben einzufordern. Das Ofenrohr als Posaunen-Schalltrichter, der die Mauern des Wohlstands zum Einsturz bringt. Vielleicht haben uns die Künstler mit ihrer Raumaufteilung solche „Zwischenräume“ geöffnet und uns eingeladen, in aller Ruhe über unsere Ungenauigkeit nachzudenken und hier am Tresen darüber auch, aber vielleicht geläutert zu sprechen. Andreas Murr wird das Tunnelmotiv nicht umsonst in seiner Bar-Konstruktion aufgegriffen haben, um eben genau dieses Räsonnieren und Palaver in der Auflehnung auf die hohlen Barren und im übertragenen Sinne in der Auflehnung gegen die vorgegebenen Denkmuster und faulen Wahrheiten zu ermöglichen. Aber: Seinen „Bellevue“ legt man sich mit toxischen Beigaben zu und trinkt sich im Laufe des Abends die schreckliche Wirklichkeit doch auch wieder schön. Vielleicht ist das aber auch alles zuviel verlangt von einer Kunst, die sich eben auch schwer tut, den Normen des herrschenden Diskurses zu entrinnen und uns einen Durch- und Unterschlupf zu öffnen, durch den wir zu neuem, kühnem Denken fliehen können. Tunnel Bellevue | 45


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| 47 Scheinbar Baum (3 von 6), Tusche und Acryl auf Papier,Tunnel je 70 xBellevue 90 cm, 2006


Denn nicht immer kommen die veränderten Perspektiven und Wahrnehmungen mit solchem Getöse daher: die Arbeiten von Andreas Mitterer bewegen sich in Zwischenräumen zwischen dem gewohnten Blick, der nur wahrnimmt, was er weiß, und einem bisweilen verspielten, bisweilen mutwillig ernsten Blick, der die Gegebenheiten des Alltags so lange unter die Lupe nimmt, dreht, wendet, bemalt, besprenkelt, zerknüllt und glättet, besudelt und säubert, einnässt und trocknet, bis sie – wie man im Feuilleton so schön sagt – „zu neuer Kenntlichkeit entstellt“ sind. Man muss mit der Nase ganz nah an die Flachware (Olaf Metzel) hingehen, bis man das Paket-Klebeband als Kunststoff und das Werk im Detail als Ölgemälde erkennt. Bei Andreas Mitterer spüre ich eine Weigerung, dem „Alles klar!“ klaglos zuzustimmen, er legt die Mosaiksteine in neue Raster ein, gruppiert Dinge neu, collagiert, was so noch nicht kombiniert worden ist, und lädt es mit neuer Bedeutung auf. Und dabei macht er naive Zugänge möglich, gibt sich begriffsstutzig und unwillig, alles als das hinzunehmen, als das es uns (für dumm) verkauft oder vorgemacht wird: er klopft – wie er es selber nennt – „die Möglichkeit in den Dingen“ ab, tritt, die Bereitschaft zum Sprechen signalisierend, mit den Gegenständen und Beschaffenheiten in einen stummen Dialog, setzt neugierig sich zu den Sachen und die Sachen zu sich in Beziehung. Weil dabei gelegentlich kleine verspielte Vignetten oder auch grobschlächtige Späße herauskommen – man denke nur an die enorme Albernheit der Fantasy-Trophäen im Geweih-Paketklebeband-Verbund aus einer früheren Ausstellung – mag jemand kommen und mäkeln, dass Adorno, Benjamin, Deleuze vielleicht etwas hoch gegriffen seien für derartige Formsuche und Verfremdungskunst. Das weise ich zurück: man muss den Künstler nicht persönlich kennen (auch wenn es hilft), um zu wissen, dass 48 | Tunnel Bellevue

er sein Arbeiten, sein Mikroskopieren, sein Basteln und Klecksen sehr wohl in den hier beschrieben Kontext von Reset, Reload und NeuKonfiguration des Denkens stellt und den toten Blick der Alltäglichkeit herausfordert. Erst wenn wir die Strukturen, Texturen und die Materialität im Detail erkennen, sehen wir das ganze Bild und es öffnet sich uns die schöne Aussicht, dass das, was Realität genannt wird, mit den Möglichkeiten und Fluchtlinien des Denkens im Tunnelgeflecht, im Untergrund unter der reglosen Konvention nichts zu tun hat oder haben muss. Wenn wir es denn zuließen.

Zum Licht „Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Bertholt Brecht, Dreigroschenoper

Zäune und Absperranlagen sind sichtbar gemachte Fluchtlinien. Nicht nur, weil sie sie abzuschneiden trachten, sondern auch, weil sie, die Zäune, Mauern, Sperren und Bollwerke, zum Abkürzen, Umgehen, Überwinden, Schleifen oder eben zum Untertunneln einladen. Jeder Zaun ist so gewissermaßen die Wette auf seine eigene Überwindung bzw. Unüberwindbarkeit. Jeder und jede kennt diese Abkürzungen auf dem Schulweg, über die Wiese zum Schwimmbad oder ohne zu zahlen auf das Festivalgelände, die Wettkampfstätte oder in den verbotenen Park. Aufgebogene Maschendrahtzaunsegmente, mit Kneifzangen aufgeknipste Durchgänge und niedergedrückte Drahtverhaue, über die heimliche Routen und ausgetrampelte Pfade führen. Was für uns Kinder des Westens ein prickelnd verbotenes Freizeitvergnügen ist, ist an den „echten“ Sperren und Zäunen entlang der


16 „Kontrolle und Werden“, in: Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt 1993, S. 245 bzw. 249

globalen Wohlstandsgrenzen – wie erwähnt – für viele Menschen ein lebensgefährlicher Akt der Selbsterhaltung: sich Fluchtlinien unter Körpereinsatz an See-Blockaden vorbei, über oder unter interkontinentalen Sperranlagen wie den Zäunen um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Afrika hinweg oder durch unwegsames, elektronisch und militärisch überwachtes und oft vermintes Gelände zu bahnen, wo grüne Grenzen, Gebirgszüge, Meere und Wüsten sich Flüchtlingen aus und in aller Welt entgegenwölben. Lebenswichtige Fragen drehen sich in der Epoche der Lager darum, ob man innerhalb oder außerhalb von umzäuntem Gelände zum Stehen kommt, ob als Sieger oder als Besiegter, als Täter oder Opfer, als Gefangener oder Kriegsherr. Aber es bleibt dabei: Ein Zaun kann bei seinen GegnerInnen oder bei den GegnerInnen dessen, was sich jenseits ihrer Bewegungsfreiheit dahinter vollzieht, durchaus Hoffnungen wecken. Der anti-demokratische Schutzwall in Wackersdorf etwa und sein bürgerliches „Chaoteneck“ künden noch heute davon, dass Zäune sich überwinden lassen, auch ohne sie zu überklettern oder zu untergraben. Und dass sich allzu selbstgefällige und gefräßige Zaunkönige an solchen Bauwerken bisweilen zu Tode verschlucken können. Die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage wurde jedenfalls nie gebaut. Was bleibt: Wo ein Zaun oder eine Mauer steht, entstehen Umwege, Tunnel, Brücken, Schneisen, Aufsprengungen: Menschen und ihr Protest lassen sich von den Schutzwällen der Welt nicht davon abbringen zu überspringen, was ihnen und ihrer Freiheit im Weg steht. Oder ihm zumindest das freiheitliche Gegenstück, die Barrikade, entgegenzustellen. Wie viele Menschen an anderen Grenzen der Welt und durch welche Art von Gewalt zu Tode kommen, lässt sich kaum überblicken – die Grenzzäune verlaufen

nicht nur zwischen Nord und Süd, zwischen verfeindeten Nachbarn, zynischem Überfluss und tödlichem Elend, zwischen oben und unten, sondern gehen durch Herzen und Verstand. Wo jedoch ein solches Maß an globalisierter Eskalation erreicht ist, ist es Zeit, die Geburt einer vielleicht „besseren Welt“ mit einem Dammriss oder einem großen Tunnelprojekt einzuleiten – die Wette gilt!

Revolutionär-Werden „Die dem Menschen 1zig glückende Revolution – das Kotzen.“ Reinhard Jirgl, „Die Unvollendeten“

„Der Künstler...“ – und hier komme ich sowohl auf Deleuze, als auch den Tunnel und unsere Künstler zurück – „Der Künstler kann nicht anders als an ein Volk appellieren, er braucht es im tiefsten Innern seines Unternehmens, er muss und er kann es nicht schaffen. Die Kunst ist das Widerständige: sie widersteht dem Tod, der Knechtschaft, der Schändlichkeit, der Schmach.“ Wir können also hier – als angesprochenes Volk – zumindest dieses Widerstands gedenken und das gezeigte diskutieren und uns dem Klang der kommunizierenden Röhren oder dem kommunikativen Röhren unseres Denkens und der ausgestellten Gegenstände hingeben und hoffen, dass der Funke überspringt, der uns zu der Einsicht führt, die ich – nun abschließend wieder – dem hoch verehrten Gilles Deleuze verdanke: „Die einzige Chance der Menschen liegt in einem Revolutionär-Werden, nur dadurch kann die Schande abgewendet oder auf das Unerträgliche geantwortet werden.“16 © Friedrich C. Burschel, 2008

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Andreas Mitterer | geb. 1969 | lebt und arbeitet in Ebersberg bei München 1997 – 2003 Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. F. Klein, Prof. A. Kasseböhmer und Prof. G. Förg Ausstellungen (Auswahl): 2002 Installation im Rahmen der Langen Nacht der Museen München in der Kunsthalle Lothringer 13 2003 Gruppenausstellung im Couvent de La Tourette, Lyon 2004 „Hummelkammer“, Installation im Projektraum Raum 500, München 2006 Open Source-Projekt, Raum 500, München 2007 „Hirschzimmer“, Einzelausstellung in der Galerie Kunstransmitter, München 2008 Kleines Format – Small Works, Gemeinschaftsausstellung, Galerie Kunstransmitter, München 2008 „Süddeutsches Raster“, mehrteilige Wandarbeit, SZ-Galerie Ebersberg Friedrich Burschel | geb. 1965 | Historiker | Politologe | arbeitet als freier Publizist in München Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer der Kleinkunstbühne „altes kino“ in Ebersberg | Mitglied des Kabaretts „Gruppo di Valtorta“ | Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration in Berlin | Redakteur der Süddeutschen Zeitung | Berater für Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Gera / Thüringen | 2002 – 2006 Leiter der Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus bei Radio LOTTE Weimar | Aufbau der Landeskoordinierungsstelle Bayern gegen Rechtsextremismus für den Bayerischen Jugendring von Nov. 2007 bis April 2008 | Verschiedene Beobachter-Projekte mit Prof. Ralf Homann u.a. bei den G8-Gipfeln in Genua (2001) und Rostock (2007) | 2006 kuratorischer Assistent und eine Art organisatorischer Produktionsleiter für die KuratorInnen Prof. Ralf Homann, Farida Heuck und Pia Lanzinger beim „Kunst im öffentlichen Raum“-Projekt „Gefährliche Kreuzungen – die Grammatik der Toleranz“ im Rahmen der „Ortstermine“ der Landeshauptstadt München. Rasso Rottenfußer | geb. 1966 | lebt und arbeitet in münchen ausstellungen, arbeiten und projekte seit 1998 u.a. in rosenheim, münchen, köln, bologna, nizza, paris, barcelona, rom, helsinki, bangkok, venedig, zürich, berlin, durban, ebersberg, schammach, regensburg, wiesbaden, moosach, ville del monte Andreas Murr | geb. 1967 | lebt und arbeitet in Edling | seit 1997 freischaffender Industriedesigner Jürgen Winderl | geb. 1973 | lebt und arbeitet in München | 1998 – 2004 AdBK München bei Prof. J. Reipka und Prof. M. Oehlen

Impressum Andreas Mitterer Rotwandstraße 2 85560 Ebersberg email: andersmit@freiekreatur.de Texte: Friedrich Burschel, Bernhard Tomm Grafik: Freie Kreatur | Andreas Mitterer Die Publikation erscheint mit Förderung des Kunstverein Ebersberg e.V. und der finanziellen Unterstützung der LfA Förderbank Bayern anlässlich der Ausstellung „Tunnel Bellevue - Beruhigende Versuche zur Ungenauigkeit“ in der Galerie „Alte Brennerei“ des Kunstvereins Ebersberg vom 13. September bis 5. Oktober 2008.

Galerie Alte Brennerei | Kunstverein Ebersberg e.V. Im Klosterbauhof 6, 85560 Ebersberg, Telefon 08092 - 852196 info@kunstvereinebersberg.de | www.kunstvereinebersberg.de

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