eigenart #73 - Geschwindigkeit

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eigenart

AStA-Studierendenmagazin der      Universität der Künste Berlin

Geschwindigkeit

Juli 2009 #73


Geschwindigkeit

Text: Claudia Dorfmüller / Illustration: Valerie Assmann Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechszehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig, einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig, neununddreißig, vierzig, einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig, vierundvierzig, fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenundvierzig, achtundvierzig, neunundvierzig, fünzig, einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig, sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig, sechszig. Die ausgeschriebenen Zeitabschnitte einer Minute dauern ihre Zeit. Wie lange man sich dafür Zeit nimmt, das hängt vom Leser ab. Wahrscheinlich überfliegt man diese Zeilen – und wird deutlich schneller sein als eine Minute. Vielleicht sucht man nach Assoziationen zu jeder Zahl – und man kann den ganzen Tag dafür verwenden. Wir entscheiden darüber, was wir mit unserer Zeit anstellen, was wir in welcher Geschwindigkeit erledigen, wieviel wir an einem Tag, in einem Jahr, in einem Leben an Dingen verrichten. Für die Erhaltung der eigenen freiheitlichen Zeiteinteilung muss man sich allerdings über die so oft angelegten Ordnungsstrukturen hinwegsetzen: Akzeptiere ich Tag und Nacht? Gehe ich über die rote Ampel, oder bleibe ich stehen? Studiere ich in sechs Semestern oder nehme ich mir mehr Zeit für meine Bildung? Geschwindigkeit wird oft für die Leistungsbewertung herangezogen. Aber wer sagt eigentlich, dass schneller auch besser ist? Oder die Langsamkeit zur Intensität führt? Denn über die Erfahrung, den Wissenszuwachs, das gesellschaftliche Engagement und all die anderen Dinge, mit denen man sich im Verlauf der Zeit beschäftigen kann, sagt eine Geschwindigkeit erst mal überhaupt nichts aus. Was wir mit unseren Fähigkeiten tun und in welcher Geschwindigkeit, ist unsere Entscheidung. Verschwenden wir also einen Gedanken daran, wer oder was uns eigentlich dazu bringt, gewisse Geschwindigkeiten an den Tag zu legen…

Rasender Stillstand und Intensität des Moments

Die Autoren der eigenart haben sich Momenten, Zuständen, Entwicklungen und Aktionen angenommen, um den Verlauf der Zeit in seinen Wunderlichkeiten festzuhalten. Sozialwissenschaftliche Positionen zu unserem Titelthema könnt ihr in «Geschwindigkeit und Beschleunigung» lesen. Valerie Assmann macht auf die unhaltbare Situation im Iran aufmerksam und schildert, wie Internet- und Handykommunikation zu Machtinstrumenten werden. Die Aufdröselung von Momenten, die wir nicht wahrnehmen können, weil unsere physischen Gegebenheiten nicht dafür gemacht sind, oder die Möglichkeiten noch nicht durchdacht haben, zeigt sich auf mehreren Seiten: Egal ob es die Orgelklänge von Halberstadt sind, die Daumenkinos von Lea Brumsack oder die Fußwanderung von ­Friedemann Heckel, man stößt auf ungeahnte Intensitäten eines Moments. Im universitären Teil macht Interflugs darauf aufmerksam, dass es wirklich eilt, sich Gedanken über die eigene künstlerische Lehre zu machen. In diesem Sinne: Genießt unser Heft, lasst euch ablenken, zählt die Sekunden oder lasst sie sausen – verbringt ein paar Minuten oder Stunden mit uns, denn wer weiß, wozu es gut ist. Viel Spass beim Lesen! Eure eigenart-Redaktion #73


Elementares

2 Geschwindigkeit und Beschleunigung 0 05 Neda – Das Gesicht des Freiheitswunsches 06 Wie lange dauert es, bis man die Hoffnung verliert? – Kommunikation mit Teheran 09 «As slow as possible»? – Kunst über Zeit 11 Übernächsten Mittwoch ist auch noch ein Tag – Prokrastination bei Sascha Lobo und Kathrin Passig 13 «Ist geschenkt» – Kunst per Wurfsendung 15 Getriebe, stückweise, von geringer Ausdehnung – Einsendungen zum Thema Geschwindigkeit

Visuelles

18 Daumenkinos für die Welt – Lea Brumsack 19 Gewitterzicken in der erweiterten Vorstellungskraft 20 Ein Bild an der Wand, 1000 Bilder an der Mauer – Blublu

Universitaeres 2 2 24 26 28

Make Interflugs 20 plus AStA? – AStA! Finanzierungsmodell mit Denkfehlern Kunst befruchtet Wissenschaft befruchtet Kunst

Individuelles

31 33 36 38 40 42

Ausstellung «Nonstop.» – Interview mit Beat Hächler «Das Verschwinden der Bilder im Rauschen» – Interview mit Prof. Siegfried Zielinski Flucht Pro Stunde «Der Mann, der die Welt aß» Im Während des Gehens Traumtänzer an der UdK Berlin

Sonstiges 4 Termine 4 U3 Impressum


2  Elementares

Geschwindigkeit und Beschleunigung Rasender Stillstand oder verzeitlichte Zeit? Sozialwissenschaftliche ­Perspektiven auf Bewegung, Zeit und Raum Text: Mirus Fitzner / Illustration: Sandra Gobet Wir entscheiden nicht mehr langfristig im Vorhinein, was wir wann machen und in welcher Reihenfolge. Aufgrund technologisch ermöglichter Flexibilität entscheiden wir in der Zeit über die Zeit beziehungsweise wie wir sie verbringen. Soziologen nennen dies die «verzeitlichte Zeit» – die Wahrnehmung und der Umgang mit Zeit haben sich verändert. Rasender Stillstand

In den 1980er Jahren analysierte der französische Philosoph Paul Virilio die Geschichte der Menschheit als Beschleunigungsgeschichte. Macht werde durch Geschwindigkeit ermöglicht. Geopolitischen Einfluss hatte, wer möglichst schnell Truppen an die Grenzen des eigenen Staates verlegen beziehungsweise Truppenteile auch an der Peripherie der Einflusssphäre bewegen konnte. Virilio benannte sogar eine neue Wissenschaft zur Untersuchung von Geschwindigkeit, die Dromologie. Ihm zufolge steht am Ende der Geschichte der rasende Stillstand – alles bewegt sich, aber eigentlich ändert sich nichts. Der erste Treiber der Beschleunigung ist nach ­Virilio Transport. Um Güter, Nachrichten und Menschen zu bewegen, wurde seit dem 17. Jahrhundert der Aufbau von Infrastruktur zu einer zentralen Aufgabe des Nationalstaats. Dadurch hatten Personen regelmäßig miteinander Kontakt, die vorher viele Tagesreisen voneinander entfernt gelebt hatten. Längen- und Gewichtsmaße mussten vereinheitlicht werden, damit Handel überhaupt stattfinden konnte – mit der Ausbreitung des Eisenbahnnetzes wurde eine einheitliche Zeitmessung unabdingbar. «Vom Pferd zum Zug, von der organischen zur mechanischen Geschwindigkeit, in diesem Übergang entwickelt sich eine neue Art von Bewegung, die eine neue Art der Organisation von Gesellschaft bestimmt», so ­Armand Mattelart. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich die mögliche Durchschnittsgeschwindigkeit um das Sechzigfache erhöht. Dadurch «schrumpfte» der Raum. An dieser Stelle wird auch die Doppelbedeutung des Ausdrucks «rasender Stillstand» deutlich: Statt sich selbst zu bewegen, wird der Mensch bewegt. Heute erlauben es technische Kommunikationsmedien, in extrem kurzer Zeit Informationen auszutauschen; für Virilio das zweite Element: die Transmission. Mittels dieser Medien ist ein Austausch unabhängig vom Ort, an dem sich die Kommunikationspartner aufhalten, möglich. Die bislang letzten Entwicklungen in dieser Hinsicht sind Internet und Mobilfunk.


Elementares  3

Entstehung von Nicht-Orten

Die Geschichte beschleunigt sich, der Planet wird kleiner und der Mensch ist stärker als je zuvor auf sich selbst als Individuum zurückgeworfen. So charakterisiert der Ethnologe Marc Augé die drei Strömungen, die die Übermoderne (surmodernité) ausmachen. An den Knotenpunkten der Reiserouten von Menschen und Gütern entstehen NichtOrte: Flughäfen, Shopping-Malls und nicht zuletzt die Interfaces zu elektronischen Kommunikationsmedien. Nicht-Orte unterscheiden sich fundamental von klassischen identitätsstiftenden Orten. Diese «anthropologischen Orte» verbanden das Leben der Menschen über Rituale mit der Geschichte und schufen so auch einen sozialen Zusammenhang der Gemeinschaft: Am Mittwoch war Markt, am Sonntag traf man sich in der Kirche. Raum und Zeit waren sehr eng verbunden und bedurften keiner Begründung durch die Menschen. Nicht-Orte aber lassen dies nicht zu. Hinweise auf nah gelegene Sehenswürdigkeiten am Rand der Autobahn verkörpern das Paradox am besten: Sie beschwören die Gegenwart der Vergangenheit, obwohl die Route gebaut worden ist, um möglichst wenig Zeit unterwegs zu verbringen und sich keineswegs durch auf dem Weg gelegene Dinge ablenken zu lassen. «All die Aufforderungen, die von unseren Autobahnen ausgehen, von unseren Einkaufszentren oder den Vorposten des Bankensystems an der Straßenecke meinen gleichzeitig und unterschiedslos jeden von uns, […] egal wen: sie lassen den Durchschnittsmenschen entstehen.» So entstehen «weder einzigartige Individualität noch Beziehungen, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit». Beschleunigung als Risiko

Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat Beschleunigung als den prägenden Einfluss auf die Modernisierung bezeichnet. In der Spätmoderne diagnostiziert er einen Beschleunigungszirkel: Technologische Innovationen ermöglichen es uns, Zeit zu sparen, weil wir schneller reisen oder produzieren können. Die veränderte Art und Weise, in der Menschen reisen, produzieren oder kommunizieren, bringt dabei einen sozialen Wandel hervor. So hat sich das Kommunikationsverhalten durch technische Medien eben nicht nur beschleunigt, sondern tatsächlich fundamental verändert. Dieser soziale Wandel hat zur Folge, dass die Zukunft immer schwerer planbar wird. Um aber Pläne für das eigene Leben zu entwerfen, muss jeder Mensch immer mehr Informationen verarbeiten, weil der soziale Wandel selbst sich beschleunigt. Dafür ist Zeit notwendig. Diese ist nur dadurch verfügbar, dass man schneller lebt – durch Vermeiden von Pausen oder die Erledigung mehrerer Aufgaben gleichzeitig – oder indem Zeit durch technologische Innovationen gewonnen wird. Und damit beginnt der Kreislauf von Neuem. Rosa stellt schließlich fest, dass der Staat, der lange Zeit der Beförderer der Beschleunigung war, indem er die Hoheit hatte, Standards durchzusetzen, den Anforderungen immer weniger gerecht wird. Vor allem sieht er das Modell der Demokratie gefährdet: Auch für die Politik sinkt der planbare Zeithorizont, weil sich laufend Dinge ändern.


4  Elementares

Gleichzeitig muss die Politik über Dinge entscheiden, die zeitlich irreversibel sind – etwa in der Atomenergie oder in der Ökologie. Am schwierigsten scheint zu sein, dass für den demo­kratischen Prozess der Einbeziehung der Bürger immer weniger Zeit zur Verfügung steht, weil immer mehr Fragen beantwortet werden müssen. Demokratie ist, so Rosa, nur ­begrenzt beschleunigungsfähig. Auf der Suche nach Zeit

Er sieht daher als drohendes Ende der Beschleunigungsgeschichte einen Zusammenbruch einer der nicht-beschleunigbaren Sphären – einen Kollaps des Staates oder des moralischen Wertesystems oder eine Klimakatastrophe der in ihrer Regenerierung zeitlich konstanten Natur. Er sieht für dieses wahrscheinlichste Ende derzeit keinen Ausweg (bisherige Entschleunigungskonzepte verwirft er, weil sie nicht funktionierten), hofft aber, mit dem Aufdecken des Beschleunigungsmechanismus auch ein Mittel für dessen Überwindung zu ermöglichen. Literatur: Armand Mattelart: «L’invention de la communication», 1997 / Hartmut Rosa: «Beschleu­nigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne», 2005 / Marc Augé: «Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit», 1992 / Paul Virilio: «Rasender Stillstand. Über Zeit und Raum in der Epoche der Telekommun­ ikation,» 1990


Elementares  5

NEDA – Das Gesicht des Freiheitswunsches Text: Valerie Assmann

Am 20. Juni um 19:05 Uhr sank Neda neben ihrem Musik­ lehrer in Teheran zusammen. Ein Scharfschütze der Bassidsch-Miliz hatte der 27-jährigen Studentin, die am Rand einer Demonstration stand, in die Lunge geschossen. Sie starb nach weniger als einer Minute, ein zufällig in der Nähe stehender Arzt war machtlos. Ihr Verlobter Caspian Markar soll es gewesen sein, der diesen Moment mit seiner Handykamera festhielt. Wenig später erschien der Clip auf youtube und verbreitete sich dann blitzschnell auf unzähligen Plattformenweltweit und machte Neda noch am selben Abend zum Symbol des stummen Widerstandes und seiner brutalen Unterdrückung. Das schockierende Video zeigt wie die junge Frau überrascht in sich fällt, und dann auf dem Rücken liegend während der Zurufe ihres Mentors «Hab keine Angst, Neda! Bleib bei mir, Neda, bleib bei mir!» das Bewusstsein verliert. Ihre dunklen, fragenden Augen verlieren die Kontrolle, rollen starr zu Seite und plötzlich fließt Blut unaufhaltsam aus Mund und Nase über ihr ganzes ­ Gesicht. Neda ist nicht nur innerhalb weniger Stunden zum Sinnbild des Widerstandes geworden, die Reise ihres Bildes hat auch die Tragweite der weltweiten Kommunikation über Handys verdeutlicht und der ganzen Welt gezeigt, dass lokale sowie globale Vernetzung zu einem nicht mehr zu unterschätzenden Instrument der politischen Macht avanciert ist. Das Regime hatte sich zwar gut vorbereitet auf Proteste – Journalisten wurden eingeschüchtert oder verhaftet, die Milizen bewaffnet. Doch gegen die Kraft der Bilder von einer unschuldig sterbenden jungen Frau kommen diese Maßnahmen nicht an. Die iranische Regierung hat die Möglichkeiten und die Macht dieser Kommunikationsformen unterschätzt: Der Schuss in Nedas Brust traf Millionen Menschen ins Herz. Das Handy als Tor zur Freiheit

Die Sperre aller internationalen Kommunikationswege hat viele iranische Staatsbürger selbst zu Journalisten gemacht, die mit ihren Mobiltelefonen filmen, um es wenig später im Internet hochzuladen. Sie geben politischen Oppositionellen und Menschenrechtsaktivisten auf der ganzen Welt wertvolles Material zum Arbeiten und halten die internationalen Nachrichtensender auf dem Laufenden. Das Handy wird so zur Waffe des stummen Demonstranten, die er indirekt gegen seine Staatsmänner richtet.

Die fortwährend neuen Videos, die im Internet zu finden sind, liefern der internationalen Öffentlichkeit ein aktuelles und ehrliches Bild der Situation in ­Teheran. «Neda» heißt «Stimme». So lange die Presse blockiert ist und die Kommunikation verhindert wird, bleiben uns diese Stimmen aus Iran, an die wir uns halten müssen, die auf youtube in kurzen Echtzeit-Dokumentationen ihre Hilferufe, authentischer als durchdachte Reportagen, an uns richten. Weitere Informationen unter den Suchbegriffen: ­Nedas Tod auf www.facebook.com / Der Arzt spricht

über Nedas Tod auf www.news.bbc.co.uk / BaharestanMassaker und Where is «here» (Inja Kojast) auf www. youtube.com

der Horror geht in die Zweite Runde Ahmadinedschad reagierte auf das weltweit kursierende Video mit «Mißtrauen». Er gab bekannt, ein Demonstrant habe mit der aus dem Ausland geschmuggelten Tatwaffe wild um sich geschossen und dabei Neda am Hinterkopf getroffen. Er beschuldigte die ausländische Presse, die «schockierende» Dokumentation Nedas Todes als politische Propaganda zu missbrauchen und forderte die iranische Justiz zu einer «ernsthaften» Verfolgung des Mörders auf. Dem scheint Ahmadinedschad in seinem Sinne nachgegangen zu sein. Laut «Iran Human Rights» wurde der, der das bekannte Video gefilmt hat, verhaftet und unter grausamster Folter zu einem Geständnis gezwungen, Nedas Erschießung selbst mit geplant zu haben. Er ist in akuter Gefahr, hingerichtet zu werden. Handelt es sich dabei um Nedas Verlobten Caspian Markan?


6  Elementares

Das letzte Mal aus Teheran angerufen wurde ich zwei Tage vor der Wahl. Rezas Schilderungen von den nächtlichen Feiern auf der Straße, auf denen alle zusammenkamen und tanzten, machten Hoffnung. Eine Wahl, der mit solcher Freude entgegengefiebert wird, macht Mut. Auch wenn der eigentliche Grund des Anrufs der Hinweis war, dass SMS, die sonst auch verboten sind, neuerdings effektiv blockiert werden und der Kontakt ab jetzt erschwert sein könnte.

Wie lange dauert es, bis man die Hoffnung verliert? Text: Valerie Assmann / Fotografie: Unbekannt Nach der Wahl

Der Schock kam beim Lesen des Wahlergebnisses. Ich rief als erstes Reza an. Er saß in einem Taxi, ich konnte im Hintergrund Schüsse hören, der große Lärm machte es schwer, ihn zu verstehen. «Wir sind alle wählen gegangen! Wir alle haben uns den Schikanen der Wahl ausgesetzt, nur um eines zu erreichen – Ahmadinedschad loszuwerden. Dass sie jetzt behaupten, wir hätten alle gerade ihn gewählt, ist nicht nur eine Lüge – es ist die totale Erniedrigung des ­Volkes. Sie zeigen uns, wie egal unsere Meinung ist, wie machtlos wir sind. Mit Ahmadinedschad könnte ich mich irgendwie abfinden, aber mit derartigem Unrecht nicht!» Nach Verkündung der Ergebnisse, berichtete er, sei Teheran für Stunden verstummt. Bis mit einem Mal alle wütend aus ihren Häusern gekommen seien. Die Stimmung um ihn war noch durch das Telefon beängstigend. «Man sagt, eine Fotografin ist schwer verletzt, ein Journalist soll erschossen worden sein. Aber wir haben keine Nachrichten mehr, es gibt nur noch Gerüchte». Auf Donyas Facebookseite fand ich kurz später einen Hilferuf: «Sie wurde verhaftet!», schrieb dort eine Freundin, die dabei war, als Donya von der Polizei angegriffen wurde, selbst aber flüchten konnte. Im iranischen Gefängnis wartet Folter. Donya arbeitet für das deutsche Fernsehen, ihre Verhaftung war das klare Zeichen vom Ende der freien Presse. Am frühen Morgen erreichte mich die Nachricht, dass sie frei war. Sie war nach mehreren Stunden unter einem Kleiderhaufen in einem Mantelgeschäft zu sich gekommen, offenbar hatte jemand sie gerettet und versteckt, nachdem sie von den Polizisten bewusstlos geschlagen worden war. Ich wurde darauf hingeweisen, keinen Kontakt zu ihr aufnehmen, denn ­jeder Versuch würde sie in noch größere Gefahr bringen. Das war vor 13 Tagen. 13 Tage ohne Neuigkeiten von ihr.

Twitter als letzte Chance

Kurze Zeit später wurden die Telefonnetze gänzlich blockiert. In diesem Moment fing der wahre Terror an. Nur über Twitter war es noch möglich an Nachrichten zu kommen, hier wurden im Minutentakt knappe Sätze und Links zu youtube-Videos oder Fotos veröffentlicht. Ich sah Fotos der Verwüstung, nachdem in der Nacht Milizen ein Studentenwohnheim gestürmt hatten. Durch zerschlagene Türen gab es Einblicke in Zimmer mit den Spuren grausamer Gewalt. Dazu unklare Zahlen, wie viele Studenten bisher an den Folgen gestorben waren. Die nächste Schreckensnachricht hieß: Die Verwundeten seien nicht sicher, einige von ihnen seien von den Milizien aus ihren Krankenhausbetten entführt worden. Inzwischen weiß jeder in Teheran, dass er mit einer Schusswunde nicht ins Krankenhaus darf, vor dem die Milizen warten. Inzwischen weiß man aber auch, dass hunderte Menschen nach ihrem gewaltsamen Tod sofort verschleppt und anonym in der Wüste begraben werden, während ihre Familien zuhause auf sie warten und die fiktive Zahl der Todesopfer nicht wächst. Ende der Hoffnung

Die verzweifelten Hilferufe über Email wurden mehr. «Wir sind abgeschnitten von der Welt und werden auf der Straße mißhandelt! Ihr sollt es allen sagen! Bitte, die Welt muss wissen, was hier passiert!» / «Die Regierung knüppelt die Menschen unterschiedslos brutal nieder und tötet sie auch. Ich bin sehr verzweifelt und deprimiert. Ich hoffe, dass die Menschen in anderen Ländern angesichts dieser Tyrannei auf die Straßen gehen.» Khameneis Rede beim Freitagsgebet zerstörte jede Hoffnung auf ein friedliches Ende. Sie war die offizielle



8  Elementares

Legi­timation, jeden Demonstranten zu töten, um binnen einer Woche den Widerstand zu brechen. Die Demonstration für Samstag würde blutiger werden als alles zuvor, das war jetzt klar. Ich wartete, um ab 13:30 Uhr Berliner Zeit wieder schlimme Nachrichten über Twitter zu verfolgen. Mit «the city is closed down, streets r full of special forces. they beat pple with bats, cables, knives. oh god» fing es an. «From Enghelab Square up to Azadi Square two helicopters are pouring acid over ppl’s head» / «Shooting directly to the people in Amirabad ST» / «Tehran – today – fire & blood» / «Plz pray 4 iranians They’re beating innocent ppl 2 death. All witnesses I heard started 2cry when describing what they’ve seen 2day» / «forced confessions now on State TV…: 1 man said they were in touch with anti-rev ppl in UK» / «iran tv says 10 dead but that number is absolutely WRONG, we have had SO MANY MORE shot or savagely beaten to death» / «The streets are full of dead». Ich las die Nachrichten, wissend, dass alle meine Teheraner Freunde da waren. Am Abend versuchte ich anzurufen, ohne Hoffnung durchzukommen. Doch dann kam ich durch. Es war Rezas Nummer. Keine Antwort. Ich versuchte es immer wieder. In dieser Nacht suchte ich nach jedem fotografierten oder gefilmten Toten, in der Angst ihn hier zu finden. Eine unscharfe Leiche sah ihm ähnlich. Hier sah ich auch zum ersten Mal das Video von Neda, die an diesem Tag erschossen wurde. Am nächsten Tag kam die erleichternde Nachricht von Rezas Schwester «Reza hat mich gerade benachrichtigt, dass sein Telefon abgehört wird. Er sagt, er hatte einen schlimmen Tag, aber jetzt ist er in Sicherheit. Danke für Deine Sorgen. Halte die Daumen für uns gedrückt!»

Sq is same as Baharestan – unbelievable – people murdered everywhere». Als ich etwas später mit Reza chatten konnte, schrieb er sehr langsam. «ich war dort / du kannst Dir nicht vorstellen, wie schlimm das Leben hier in diesen Tagen ist / Du kannst es Dir nicht vorstellen… wie sie die Menschen behandeln. Sie haben so viele getötet / ich bin den ganzen Tag gerannt, vor den Motorrädern gerannt… / danke für Dein…». Der Satz brach ab. Kein weiteres Wort, obwohl ich sehen konnte, dass er noch online war. Und keine Reaktion auf meine Fragen, was gerade passiert sei. Lalezar Sq und Baharestan

Im Internet fand ich Schilderungen. Die Iraner hatten sich zu einer Demonstration zusammen gefunden. Die U-Bahneingänge wurden gesperrt, niemand sollte entkommen können. Exakt um 17 Uhr Teheraner Zeit kamen 500 bewaffnete Kämpfer aus Moscheen gestürmt, in denen sie sich vorher versteckt hatten. Die Menschen wurden gejagt wie Tiere, von bewaffneten Milizen auf Motorrädern. Eine Augenzeugin beschreibt «Wir haben gesehen, wie die Milizen mit der Axt Menschen wie Fleisch zerhackt haben – überall Blut – wie beim Metzger. Es war ein Massaker!» Es war wohl der blutigste Tag seit der Wahl, doch in den Medien in Deutschland wird darüber nicht berichtet. Iran rückt langsam aus den Schlagzeilen, es heißt, es sei wieder ruhiger geworden. Während ich das lese, versuche ich es mir klar zu machen – dieselben Freunde, mit denen ich im April vor klatschenden Zuschauern in der Ostsee gebadet habe, mit denen ich im Mai in der Sonne im Mauerpark lag und mit denen ich im März auf dem Bazar in Teheran nach dem schönsten Teppich gesucht habe – dieselben Freun«Du kannst Dir nicht vorstellen…» de sind den Nachmittag lang vor Milizen auf Motorrädern Was ist das für ein Land in dem die Presse abgeschaltet um ihr Leben gerannt und mussten mit ansehen, wie newird und die Bevölkerung nicht sprechen kann? In dem ben ihnen ihre schwächeren Mitmenschen gefangen und die Regierung die Bevölkerung als Dreck und Staub be- grausam gelyncht wurden. zeichnet? Ich fing an, in Emails meine Freunde anzuflehen, zu Hause zu bleiben, aber die Antworten wurden, Abschied am 26 .Juni wenn sie kamen, immer entschlossener. Nedas Video spielte dabei eine wichtige Rolle: «Gestern haben die Bas- Zwei Tage nach dem verstörend endenen Chat kam heusidsch sehr viele Menschen getötet. Auf youtube habe ich ei- te wieder ein Lebenszeichen von Reza. «Ich bin gerade aus nen Film gesehen, in dem ein Mädchen stirbt. Es ist hier sehr dem Krankenhaus zurück» – an den letzten Chat hatte er unsicher und die Nachrichten werden zensiert. Jeden Abend keine Erinnerung, die setzte erst irgendwann gestern im erscheinen die Kämpfer mit Libanonfahnen! Heute war ich auf Krankenhaus wieder ein. «Ich muss jetzt untertauchen, ich drei Demonstrationen, ich hatte Glück, es geht mir gut. Wir bin nicht mehr sicher. Ich werde in eine andere Stadt gehen, wo müssen raus, wir müssen kämpfen!» / «Zu viele Zeitungen mich keiner kennt. Wir können auch keinen Kontakt halten. In wurden eingestellt, Journalisten und Professoren sind verhaf- einem Monat, hoffe ich, dass alles anders sein wird.» Ausgemacht war ein letztes Telefonat mit einem tet! Ich glaube, hier hat keiner mehr Angst! Seit ich Nedas Film gesehen habe, fühle ich mich anders. Ich habe vor nichts mehr gemeinsamen Freund. Doch er nahm nicht ab. Die Angst ist zu groß. Nur sein Bruder schreibt mir heute Abend: Angst. Wir werden uns unsere Stimmen zurück holen.» Tage ohne Lebenszeichen. Nächte ohne Schlaf. «Hallo, mir geht es gut. Ich habe keine Hoffnung mehr, Mittwoch Mittag, wie immer gegen 13:30 Uhr, gab es auf meine Stimme zurück zu kriegen. Moussawi ist in seinem ­Twitter Schilderungen von Gewalt. Ein neunjähriges ­eigenen Haus gefangen. Wer noch auf die Straße geht, wird Mädchen wurde erschossen, den Umstehenden wurde ­umgebracht.» An Donyas Freund schicke ich ein Päckchen. In der verboten, ihr zu helfen. «the conflict is so hard in Baharestan Sq . They beat people so hard» und etwas später «Lalezar Hoffnung, dass es sie eines Tages erreicht.


Elementares  9

«As slow as possible»?

Kunst braucht Zeit – oder auch nicht. Eine Kollektion von Werken, die sich mit Flüchtigkeit oder Ewigkeit auseinandersetzen. Werke, die aus nichts anderem als Zeit bestehen, extrem viel oder extrem wenig Aufmerksamkeit und Aufwand von Künstler oder Publikum beanspruchen, genial hingerotzt wurden oder langjähriger Konzeption und Konstruktion entsprangen. Werke, die nirgendwo anderes als im – längst vergangenen? – Moment existieren (wollen) oder um Ewigkeit ringen.

Ich gehe mit meiner Beretta und einem Klumpen Eis: 100 Jahre futuristisches Manifest: Francis Alÿs Lob auf die Geschwindigkeit 12 Minuten dauerte es bis die Polizei den Künstler Francis Alÿs festnahm, der mit einer geladenen 9-mm-Beretta Pistole in der Hand durch die Straßen von Mexico City spazierte. Nachdem er den Polizisten aber erklärt hatte, dass es sich hierbei um die künstlerische Arbeit «ReEnactments» handelt, konnte er sie überzeugen, die Szene noch einmal durchzuführen – die Polizisten wurden zu mitwisssenden Akteuren. Das Gegenüberstellen der Videoaufzeichnungen dieser beiden fast identischen Szenen lässt Wirklichkeit und Spiel verschwimmen. In seiner Arbeit «Sometimes Making Something Leads to Nothing (ice) – Part I (1997)» verbrachte er den Tag mit einem schmelzenden Eisblock. Vormittags schob er den Brocken noch mit ganzer Körperkraft durch die Straßen der Hauptstadt Mexikos, nachmittags wurde das Eis zum Fußballersatz und abends blieb schließlich nur die ­Pfütze.

«As slow as possible»: John Cage als Kaugummi 639 Jahre soll das längste und wohl auch langsamste Musikstück der Welt dauern, das von John Cage per Zufallsauswahl auf dem Computer komponiert worden war. Während die Uraufführung des Orgelstücks 1989 nur 29 Minuten dauerte, ist «Organ2/ASLSP» (letzteres auch: «as slow as possible») in der Langfassung auf über sechs Jahrhunderte angelegt: Am 5. September 2001 begann die Komposition in der Burchardikirche in Halberstadt, der erste Ton war jedoch aufgrund der Anfangspause erst Anfang 2003 zu hören. In diesem Jahr erfolgte der achte Klangwechsel: Durch das Hinzufügen zwei neuer Orgelpfeifen wurden die Töne d' und e'' ergänzt.

Vor 100 Jahren erschien in der Pariser Zeitung «Le ­Figaro» am 20. Februar 1909 das Manifest der Futuristen, die mit aller Gewalt und Fortschrittsglauben der Bildenden Kunst, der Literatur und dem Film in neue Geschwindigkeiten verhalfen. Die ersten fünf ihrer elf Thesen findet ihr hier. 1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. / 2. Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein. / 3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. / 4. Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen. … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. / 5. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt. Das komplette Manifest: www.kunstzitate.de


10  Elementares

«Getting into bed» (1887) Eadweard Muybridge

Marina Abramović: «Rhythm 10» Martin Munkácsi und Eadweard Muybridge: Voyeure der Bewegung

Körperliche und seelische Grenzerfahrungen prägen die Performances von Marina Abramovic´ (* 1946). Ihr Körper wird zum Zentrum der künstlerischen Arbeit, wandelt sich vom privaten hin zum öffentlichen Körper. Ihre Performances hält sie auf Video fest, durch ihre nüchternen Beschreibungen wird ihre Arbeit auch durch Sprache erfahrbar. Die erste Version der Performance «Rhythm 10» wurde 1973 auf einem Festival in Edinburgh vorgeführt. Vorbereitung: Ich lege ein weißes Blatt Papier auf den Boden. Ich lege zwanzig Messer von verschiedener Form und Größe auf den Boden. Ich stelle zwei Cassettenrecorder mit Mikrophonen auf den Boden. Performance: Ich schalte den ersten Cassetten­recorder ein. Ich nehme das erste Messer und steche, so schnell ich kann, zwischen meine ausgespreizten Finger der linken Hand. Jedesmal wenn ich mich schneide, wechsle ich das Messer. Wenn alle Messer gebraucht sind (alle Rhythmen), spule ich das Band zurück. Ich höre mir die Aufnahme der ersten Performance an. Ich ­konzentriere mich. Ich wiederhole den ersten Teil der Performance. Ich nehme die Messer in der gleichen Reihenfolge, verfolge den gleichen Rhythmus und schneide mich an der gleichen Stelle. Die Fehler aus der Zeit der Vergangenheit und die der Gegenwart sind in dieser Performance synchron. Ich spule das zweite Band zurück und höre mir den Doppelrhythmus der Messer an. Ich gehe.

Durch Bewegung und Diagonale revolutionierte der mittlerweile in Vergessenheit geratene Ungar Martin Munkácsi (1896–1963) die Fotografie und besonders die Modewelt. Seine Leidenschaft galt anfangs dem Sport, später avancierte er zu einem der bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts – und zum Vorreiter des ­modernen Fotojournalismus: «Geschwindigkeit war seine Obsession, die Diagonale das Mittel, das ihr Gestalt verlieh» (Kunstzeitung 151). Mit schwergewichtiger Spiegelreflexkamera und einem Faible für Großformat schoss Munkácsi Fotos – meist auf der Straße statt im Studio – und schaffte präzise Bewegungsstudien. Seine Maxime: «Think while you shoot». Ebenfalls mit Bewegungsstudien fasziniert der Chronofotograf Eadweard Muybridge (1830–1904). Seine Serienfotografien stellen mit wissenschaftlicher Genauigkeit die einzelnen Abschnitte eines Bewegungsablaufs dar. Bleibt die Frage, ob es ihm tatsächlich nur um die Wissenschaft ging, als er die ins Bett steigende Frau aus drei Perspektiven fotografisch festhielt.


Elementares  11

Prokrastination statt Alltagszwänge: Wie man nicht trotz, sondern gerade wegen dem strategischen Aufschieben und Verbannen ungeliebter Verpflichtungen glücklich werden kann, zeigen Kathrin Passig und ­Sascha Lobo in ihrem Buch «Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin». Eine Einführung in die Kunst des Prokrastinierens und den Abschied von der Selbstdisziplin.

UebernAechsten Mittwoch ist auch noch ein Tag Ein Auszug aus dem Buch «Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin» von Sascha Lobo und Kathrin Passig Text: Sonja Peteranderl / Porträt: Valerie Assmann / Illustration: Roland Brückner Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne. Ein großer Teil der Menschen draußen auf der Straße und ein noch größerer Teil der Menschen, denen man nicht auf der Straße begegnet, weil sie Besseres zu tun haben, schiebt alle möglichen anstehenden Aufgaben auf. Sie tragen den Müll nicht hinunter, sie tapezieren schon seit Monaten den Flur nicht, sie öffnen die Post selten, sie bringen dieses und jenes Projekt nicht zu Ende, sie rufen nicht zurück und hätten längst die Tabellenkalkulation für das dritte Quartal fertig machen müssen. Trotzdem sind sie nicht unbedingt faul, nicht alle dumm, nicht sämtlich bösartig, obwohl das die häufigsten Unterstellungen sind, mit denen sie zu kämpfen haben. Sie prokrastinieren, ein angenehmeres Wort für Aufschieben. «Cras» (morgen) ist die Wurzel des latein­ischen Wortes crastinus (dem morgigen Tag zugehörig). «Prokrastinieren» (im Englischen erstmals 1588 erwähnt) bedeutet also wörtlich übersetzt: für morgen lassen. Und bis morgen kann es noch sehr lange hin sein. Wir haben diese Menschen weitgehend ohne Hintergedanken LOBOs getauft. Das steht für Lifestyle Of Bad Organisation beziehungsweise dessen Anhänger. Prokrastination ist nicht auf spezielle Tätigkeiten oder Aufgaben begrenzt. Im Prinzip lässt sich alles Machbare aufschieben, sogar vollkommen Unumgängliches kann man bequem unterlassen. Die Konsequenzen sind breit gefächert. Oft passiert nichts. In schlimmeren Fällen steht der LOBO vor seiner Wohnungstür und kann sie nicht aufschließen, weil jemand, der seine Berechtigung aus der kalten Wut des missachteten Apparates herleitet, ein anderes Schloss eingebaut hat. Oder Kollegen und Freunde ziehen Konsequenzen und wenden sich ab. Oder Strom, Gas, Wasser, Telefon oder Internet sind plötzlich abgestellt.

Im Anfang schuf Gott erst mal gar nichts. «Dafür ist auch morgen noch Zeit», sprach er und strich sich zufrieden über den Bart Am zweiten Tag sprach Gott: «Ach, es sind ja noch fünf Tage übrig», und sank wieder in die Kissen. Am dritten Tag wollte Gott schon anfangen, das Licht von der Finsternis zu scheiden, aber kaum hatte er sich auch nur einen Kaffee gekocht, war der Tag irgendwie schon vorbei. Am vierten Tag dachte Gott ernsthaft darüber nach, jemand anderen die ganze mühsame Schöpfungs­ arbeit machen zu lassen. Aber es war ja noch niemand da. Am fünften Tag hatte Gott andere Dinge zu erledigen, die viel dringender waren. Am sechsten Tag überlegte Gott, ob es wohl möglich war, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Es fiel ihm aber nichts Rechtes ein. Schließlich war er allmächtig, was die meisten Ausreden ein bisschen unglaubhaft wirken lässt. Am Sonntag um fünf vor zwölf schließlich schluderte Gott hastig irgendwas hin: Wasser, Erde, Tag, Nacht, Tiere, Zeugs. Dann betrachtete er sein Werk und sah, dass es so lala war. «Aber für fünf Minuten», sagte er, «gar nicht so schlecht!»


12  Elementares

Diese Folgen sind dem Prokrastinierer nicht unbekannt und sind in der Regel für ihn ebenso unbequem wie für die meisten anderen Menschen. Er weiß auch, dass man den Schaden vermutlich abwenden könnte, wenn man den Stapel ­Briefe im Flur einfach doch öffnen würde. Dennoch hält ihn eine Macht davon ab. Oft wird angenommen, es handle sich dabei um Angst. Das mag manchmal stimmen, scheint aber nicht die Regel zu sein. Der wahre Grund, etwas scheinbar Notwendiges zu tun, liegt in der Natur des Menschen. Tief im Innern weiß er, dass Notwenigkeiten stets eine Einengung darstellen, die das Wohlbefinden einschränkt. Das Streben nach Glück bringt ein Streben nach weitestgehender Reduktion von Zwängen mit sich, also werden selbst vorgebliche Notwenigkeiten in Frage gestellt und praktisch überprüft. Das Ergebnis ist eine unbewußt ablaufende Abwägung: Soll man jetzt einen Moment der sicheren Unannehmlichkeit verbringen – oder später einen weniger wahrscheinlichen, dafür eventuell deutlich problematischeren Moment? Mit der Frage, warum diese Abwägung so oft zugunsten des Aufschiebens ausgeht, befassen sich Forscher aus unterschiedlichen Fachbereichen erst seit etwa dreißig Jahren. Woran es liegt, dass dieses Thema bis dahin trotz seiner Allgegenwart nicht erforscht wurde, und warum die Wissenschaft die Prokrastination dann doch noch entdeckte, ist eine interessante Frage, die dringend von anderen Menschen als uns untersucht werden sollte. […] Einigkeit herrscht darüber, dass zumindest in den bisher untersuchten westlichen Ländern große Arbeitsberge herumgeschoben werden. 75 bis 95 Prozent aller Studenten geben in Umfragen an, wenigstens hin und wieder zu prokrastinieren, fast 50 Prozent verschieben regelmäßig Aufgaben. Bei Studenten nehmen Prokrastinationstätigkeiten etwa ein Drittel der wachen Tageszeit ein. Nach dem Studium bessert sich die Lage, aber um die 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung gelten immer noch als harte Prokrastinierer. Zumindest zwischen den USA, Großbritannien, Australien, Spanien, Peru und Venezuela lassen sich dabei keine Unterschiede feststellen, für andere Länder fehlen die Vergleichsdaten.

Prokrastinierer sind dümmer als andere. Oder schlauer.

Studenten, die sehr viel porkrastinieren, sind manchen Theorien zufolge unbegabter als ihre Mitstudenten und drücken sich daher vor der Aufgabe, mit denen sie überfordert wären. Anderen Theorien nach sind sie überdurchschnittlich begabt und haben herausgefunden, dass sie es sich leisten können, erst in letzter Sekunde mit der Arbeit zu beginnen. Belegt ist aber keine der beiden Varianten. Copyright © 2008 by Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin Kathrin Passig und Sascha Lobo schreiben, arbeiten und denken zusammen unter anderem für die Zentrale Intelligenz Agentur oder das Weblog «Riesenmaschine». Als Blogger, Autor, Werbetexter und Kommunikationsstratege macht Sascha Lobo immer irgendwas mit ­Medien und studiert nebenbei im 28. Semester (davon 23 Semester an der UdK Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation) – «nur eben sehr, sehr langsam».


Elementares  13

«Man müsste das wie die Paperboys hinwerfen – Bamm. Puff. Wer nicht will, kann auch Nein sagen», beschreibt Aisha die ersten Gedankenspiele zu ihrem Projekt «Papergirl». Seit 2006 radelt nun einmal im Jahr eine Horde Freiwilliger durch Berlin und verteilt gerollte Kunst im Stil der amerikanischen Zeitungsjungs. Es ist eine «Mischung aus Zufall, Überraschen, Schenken und Glückhaben», erklärt die 27-Jährige das Papergirl-Prinzip. Anfangs Freunde, ­später Freunde von Freunden, mittlerweile 77 Künstler aus neun Ländern verschenken Bilder, Plakate, Geschichten oder Aufkleber an Unbekannte – «Tendenz steigend». Am Anfang habe Aisha wie eine «wandelnde Werbetrommel» bei Bekannten um Beiträge geworben, «mittlerweile kommen die von alleine – von überall her.»

stellt. Manchmal verwirrt das Papergirl-Verständnis von Gratiskunst die Gäste: «Manche wollen etwas kaufen, manche sind traurig und wütend, weil sie nicht bekommen, was sie haben wollen – sie verstehen nicht, dass sie das Glück haben müssen, zur rechten Zeit auf der Straße zu sein. Haben, haben, haben – das geht halt nicht, sondern lieber Mitmachen.» Jeweils zehn bis fünfzehn Arbeiten werden schließlich zusammengerollt. Darin? Überraschung: Mal ein JaNein-Vielleicht-Aufkleber mit Krakelmännchen in Neonfarben, mal ein Poster, Zeichnungen, eine Geschichte oder eine CD. «Ich möchte nicht kuratieren oder Sachen auswählen, das liegt im Ermessen des Künstlers», begründet ­Aisha die Mixtur verschiedener Ausdrucksformen und Professionalitätsgrade. Die Künstler, das sind Freunde und Kommilitonen von Aisha, die an der Kunsthochschule Weißensee Kunst und Grafik studiert; ebenso Überraschungsrollen Straßenkünstler, Maler, Fotografen, Autodidakten und Ankündigungen der Aktion werden vor allem in Weblogs Schüler. publiziert, die verschiedenen Artefakte sammeln sich Zufallsbekanntschaften dann im Briefkasten der Koordinatorin. «Da bin ich immer supernervös, weil kurz vor Abgabetermin nie so viel los ist Von etwa dreißig Fahrradkörben aus findet die Kunst und dann kommt plötzlich ein Haufen.» Vor dem Verteilen dann den Weg in die Öffentlichkeit: Statt den 100 Rollen werden die Einreichungen in einer kleinen Galerie ausgedes ersten Jahres hat die Crew auf Reifen bei der letzten

«Ist geschenkt» – Kunst per Wurfsendung Als die Gesetzesverschärfungen für Street-Art diskutiert wurden, erfand die Studentin Aisha Ronniger eine Alternative, um Kunst auf die StraSSe zu bringen: Per Wurfsendung. Über den Empfänger entscheidet der Zufall Text: Sonja Peteranderl / Fotografie: www.just.ekosystem.org / Arbeiten: Papergirl-Einsendungen


14  Elementares

Aktion 273 Kunst-Geschenke auf Berliner Straßen verteilt. Nur eine knappe Stunde dauert das Spektakel, bei dem die Gruppe trötend und rufend durch einen Kiez kurvt – manchmal fällt bei der wilden Tour auch eine Rolle ungewollt zu Boden. Prenzlauer Berg, dann Kreuzberg und Friedrichshain wurden in den letzten drei Jahren überrascht. Bezirke wie Marzahn will Aisha grundsätzlich nicht ausschließen, Zweifel bleiben jedoch: «Das ist natürlich ein anderes Pflaster. Man braucht ein bisschen Infrastruktur, Leute in Cafés und auf der Straße – man kann es den Menschen nicht vor die Wohnzimmerscheibe werfen.» Wer von den Papergirls mit Kunstwerken bedacht wird, entscheidet sich impulsiv: «Meist nur ein kurzer Blickkontakt, dann werfe ich und schreie etwas wie ‹Papergirls›, ‹Für dich›, ‹Ist geschenkt› oder ‹Extrablatt›.» Cafétrinker, Straßenmusikanten oder Leute an der nächsten Ecke werden von der gerollten Kunst bombardiert. Manchmal lassen die Zielpersonen Rollen, die auf dem Fußweg gelandet sind, kurz liegen, sehen demonstrativ weg oder unterhalten sich weiter. Bis die Neugier doch dazu zwingt, die Wurfsendung näher zu inspizieren. Nur einmal wurden die Papergirls selbst überrascht: Ein junger Mann schleuderte die Kunstrolle mit empörtem Ausruf («Ey, du blöde Fotze») direkt zurück. Weitere Informationen: www.papergirl-berlin.de


Elementares  15

Getriebe, stueckweise, von geringer Ausdehnung, Geschaeftigkeit, Wirbel, beinahe, Knall und Fall, Kontrolle, tempo, voran, zukuenftig, dalli, Beschleunigung, Eile, Zeitmangel, Hetzjagd, los, wie aus heiterem Himmel, Gegenwart, zwanglos, unvorhersehbar, etappenweise, komprimiert, Pause, tatenlos, unbeteiligt, nuechtern, rar, monoton, Start, MuSSe, von neuem, Ruhelosigkeit Versucht man der Geschwindigkeit mit einem Messgerät auf den Leib zu ­rücken, wird man nichts von ihr verstehen. Studenten der UdK nähern sich dem Verlauf der Zeit und lassen die Km/h auSSer acht. eigenart bedankt sich herzlich bei allen Einsendern. Wo ist meine Zeit? Text: Hardy Dummert, Student der GWK Der Tag ist vorbei. Keine Möglichkeiten mehr. Keine Nutzung öffentlicher Infrastrukturen oder individueller Konsumangebote. Die Bibliotheken und die Bars sind geschlossen. Stillstand auf den Straßen. Nur noch Nacht und ich. Dabei will ich so viele Dinge tun. Hätte ich heute nur nicht so viel Zeit verschwendet. Allein 40 Minuten für die Fußwege von A nach B nach C und zurück. 20 ­Minuten Wartezeiten an Bahnsteigen. Mehrere Minuten für das Interpretieren von Weg- und Fahrtbeschreibungen Mehr als eine Stunde für Zugfahrten. Und dazu all die anderen kleinen Momente der erzwungenen Passi-

Fotografie: Almudena Lobera

vität. Die Warteschlange an der Kasse, fünf Minuten. Von der Auswahl meiner Produkte und den Entscheidungen für meine Marken im Supermarkt ganz zu schweigen. Sieben Minuten für das mehrmalige Starten des Computers einschließlich der Lade- und Übertragungszeiten. Für das Filtern von Emails nach Bedeutung von «persönlich» bis «Spam», sechs Minuten. Woher soll ich nur all die Zeit nehmen? Wenn ich nun noch die Zeit hinzurechne, die ich mit geschlossenen Augen im Bett liege und mich nicht einmal bewege, nämlich mehrere Stunden täglich, dann bleibt nur ein Bruchteil der Zeit übrig, die ich eigentlich nutzen ­könnte, um mich aktiv und effektiv selbst zu verwirklichen. Dabei versuche ich angestrengt, die Leerlaufzeiten zu minimieren oder wenigstens mit Aktivitäten zu füllen, die leider meistens eher angepasste Zugeständnisse

Fotografie: Jakob Cevc


16  Elementares

in Form trivialer Literatur in der U-Bahn sind als konzentrierte Handlungen in Form wissenschaftlicher Arbeit. Weit mehr als die Hälfte meines Tages, grob überschlagen, wird verschlungen von unfreiwilligen, jedoch notwendigen Ruhezuständen, die mich meinen eigentlichen Zielen kaum näher bringen. Wenn ich diese Rechnung nun auf mein gesamtes Leben anwende, dann scheint es für einen Moment, als sei dieses Leben schon beinahe vorbei.

das gebet Text: Hans Kämmerer

während sich satellitenschüsseln unbeirrt starr an sanierungsfällen demütig über balkonbrüstungen hinaushängen, gen süden verneigen (und es wirkt so als zeigten sie ganz bewusst 24 stunden am tag ein anderes land an), rannte ich mit 14 noch schnell weg mit 24 machte ich yoga, sang mantren, passte besser in die ganze dramaturgie, wenn bilder der banlieues Wofür wurde die Zeit erfunden? Ein auszug französischer großstädte in berlin 36 am 1. mai Text: Johanna Preusse live und hautnah gegengeschnitten werden

Um Termine zu machen! Oder als Mittel zum unglücklich werden, als Downer und Antioptimistikum. Dass wir alle die Zeit als Bedrohung empfinden, ist kein Wunder, wenn man auf die Attribute achtet, die unsere Sprache der Zeit zu tragen erlaubt: Die Zeit, die man in Worte fasst, kann vor allem vergehen. Sie kann rasen wie ein Drängler auf der Autobahn. Sie kann abgelaufen sein wie ein alter Joghurt. Verlieren kann man sie wie Marcel Proust. Gewinnen kann man sie so wahrscheinlich wie den Jackpot im Lotto. Sie arbeitet gegen uns wie die intrigante Halbschwester in einer Seifenoper. Angeblich kann sie Wunden heilen, wobei ein fader Beigeschmack nach Verdrängung bleibt. Und bestenfalls kann sie stillstehen, jedoch bekanntlich nur in seltenen Augenblicken von Verliebtheit und Staunen. Und: Man empfindet es als eine Wohltat, sogar als Wunder. Das heißt: Die Zeit, an die wir glauben, ist ein feindliches Prinzip.

Fotografie: Jakob Cevc

das ist bei uns geschwindigkeitskunst hände graben sich flink am kotti in die mutter erde, pflastern mit steinen luft, flattern durch rauch verpasster abwrackprämien, weswegen wasserwerfer strahlen, ich im asana «stehender held» kontrastreich auf einer mauer verweile, ihre zeit festhalte, innerlich dehne, bis ein polizist fragt was machen sie hier, und ich sage, unseren alltag ganzheitlich studieren – er sagt amen, ich sage atme

Geschwindigkeit? Text: Micheal Irrling, Student der Bildenen Kunst (Lehramt) Geschwindigkeit ist laut Definition die Strecke, die ein Objekt in einer bestimmten Zeit zurückgelegt hat. Die Zeit ist daran, anders als Strecke oder Objekt, etwas unvorstellbares und ungreifbares aber trotzdem modellierund formbar. Man kann sie lang ziehen und dehnen wie eine Sehne oder raffen wie einen Rock. Man kann sie stückeln und portionieren wie beim Hacken einer Zwiebel in kleine Würfel. Man kann sie genießen in Gemeinschaft oder erleiden in Melancholie. Manchmal steht sie auch einfach nur still für Sekunden oder Jahre.

Malerei: Miachel Irrling, «Metaphysik 1.»


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Daumenkinos fuer die Welt Text: Claudia Dorfmüller / Fotografie: Lea Emma Rosa Brumsack

Lea Brumsack, Studentin des Studiengangs Produktdesign, hat für ein Projekt des Interinstituts Momente in Szene gesetzt, die mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar sind. Typische Handlungen rückt sie in den Fokus: Wie knotet man eigentlich eine Brezel? Wie wird ein gutes Bier gezapft? Wie tanzt sich ein Schuhplattler? Ihre Antworten darauf hat sie in sechs bis neun Sekunden andauernde Daumenkinos verpackt, die wiederum mit der Hand bedient werden und kurze Einblicke in deutschtypische Kulturausprägungen ermöglichen. Warum deutschtypische? Das Auswärtige Amt war auf der Suche nach «Kontakt­pflegegeschenken», die charmant und klug in aller Welt ein Bild von Deutschland vermitteln. So entstand Ende 2008 der Kontakt zum Interinstitut, das vom UdK-Professor Axel Kufus und Marc Piesbergen gegründet wurde. Das Interinstitut ist die Weiterführung des zweijährigen, disziplinübergreifenden UdK-Forschungsprojekts «Design Reaktor Berlin». Für das Projekt ­«DeutschlandKollektion» arbeiteten Studenten und Professoren aus vier verschiedenen Kunsthochschulen zusammen: Burg ­Giebichenstein – Hochschule für Kunst und Design Halle, Hochschule für Design und Gestaltung Karlsruhe, FolkwangHochschule Essen und UdK Berlin. Die Bildreihe ist aus einem der sieben Daumenkinos von Lea Brumsack entnommen. Mehr: www.deutschlandkollektion.de / www.interinstitut.de / www.design-reaktor.de


Visuelles  19

Gewitterzicken in der erweiterten Vorstellungskraft Text: Claudia Dorfmüller / Zeichnung: Lamine Noah Bodanowitz, 4 Jahre

Man glaubt als Erwachsener so einiges. Begrifflichkeiten beispielsweise werden nur in dringlichen Fällen in Frage gestellt. Denn eigentlich ist ja alles klar. Geschwindigkeit, hier als Exempel dienend, ist ein Begriff, mit dem wir hartnäckig bestimmte Dinge in Verbindung bringen: schnell, Auto (am besten Lamborghini o.ä.), Stress, die Zeit geht flöten, Langsamkeit, Internet, Gesellschaftswandel, usw., usf. Ist ja alles nicht falsch, aber: Herzlich Willkommen an den selbstgesteckten Grenzen. Das Gegenbeispiel, das hier nun natürlich ­kommen muss, sind die frischen, noch unvoreingenommenen Zöglinge der Menschheit. Nennen wir sie Kinder. Und sogar diese sind in die Struktur der UdK einbezogen – durch die UdK-Kita, die sich im Siegmunds Hof 17a befindet. Wir haben nachgefragt wie sich dieses relative Abstraktum «Geschwindigkeit» vom Kopf, durch die Hand, aufs Blatt Papier bei unseren Nachkommen verbildlicht. Und: Wer Babysitten möchte oder einen Babysitter für sein Kind braucht kann sich beim Sozialreferat des AStA melden. Dort liegt eine Liste bereit, in die man sich eintragen kann bzw. auf Anfrage erhält.


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Ein Bild an der Wand, 1000 Bilder an der ­Mauer: Animationen im oeffentlichen Raum Text: Sonja Peteranderl / Zeichnung: Blublu

Straße als Atelier: Der sich stets im Wandel befindende urbane Raum ist Basis von Street-Artisten, die Mauern inzwischen nicht nur für einzelne Bilder verwenden, sondern ganze Filme schaffen. Blublus Metamorphosen, die durch Malen und Übermalen in Räumen oder auf Häuserwänden entstehen, werden durch die Videoaufnahme zum genuinen Prozess. Mehr: www.blublu.org


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MAKE INTERFLUGS 20plus Interflugs feiert Geburtstag Text: Interflugs Zum 20-jährigen Geburtstagsfest reflektiert Interflugs gemeinsam mit vielen ehemaligen TutorInnen und Gründungsmitgliedern die eigene Geschichte – von den Anlässen der Gründung 1989/90 bis zu ihrer heutigen Entwicklung: Nach den kochenden Diskussionen und bildungspolitischen Protest-Aktionen der Anfangszeit bildete sich in kurzer Zeit die noch immer existierende Struktur von Interflugs und der Freien Klasse heraus. Die Hochschule stellte dafür Budget zur Verfügung – kam diese Unterstützung nach kluger Einsicht, dass die Lehre auch von Studenten mitgestaltet werden muss? Oder war es ein erfolgreiches Ablöschen von Protest und Kritik in Bonbonform? Diese Frage, immer wieder gestellt, führt direkt zur Überlegung nach der Verwendung des – zugegebenermassen relativ umfangreichen – InterflugsBudgets. Die damit verbundene Verantwortung nicht in die Fallen der Selbstorganisation und -institutionalisierung zu tappen, bleiben Gegenstand fortwährender ­Diskussion. Ach ja – was macht Interflugs überhaupt?

sei hier erinnert: hunderte Liter Schweineblut, ausgekippt auf dem Weg zwischen der amerikanischen und irakischen Botschaft während eines Protestmarsches gegen den ersten Golfkrieg, fielen in den Augen der ­Polizei leider nicht mehr in die Kategorie ‹‹künstlerische Freiheit››. Und auch die im Abstand von einigen Jahren immer wieder hoch kochenden Aktivitäten der Freien ­Klasse fügen sich zu einem Bild retrospektiver Ordnung zusammen. Wann immer es etwas zu beanstanden gab im High und Low der Hochschulpolitik wurden Interflugs und Freie Klasse aktiv – oft in Zusammenarbeit mit dem AStA, den Fachschaften, der Frauenbeauftragten und einzelnen Dozenten – um temporäre Aktionen sowie kreative und diskursive Plattformen innerhalb und außerhalb der Hochschule zu entwickeln. Etwa während der Auseinandersetzung mit der künstlerischen Lehre in den Jahren 2003 und 2006, die einerseits in der temporären Akademie ‹‹Haus Selba›› mündeten und andererseits die Gefahren durch die Umstrukturierung im Zuge des Bologna-Prozesses reflektierte. Gerne denken wir auch an das schwarz-rot-goldene Erbrochene vor den Füßen des Hochschulpräsidenten zurück, als dieser die Auszeichnung ‹‹Deutschland – Land der Ideen›› für die UdK entgegennahm. In einer Mischung aus Ironie, Aktivismus und in manchmal klug und manchmal polemisch artikulierter Kritik stellten solche Aktionen immer wieder die Hochschule und die generellen Konditionen kultureller Arbeit in Frage. Mit jeder Studierendengeneration müssen diese Fragen neu gestellt werden. Das ist eine sich wiederholende Geschichte einerseits; andererseits jedoch auch eine immer wieder notwendige Arbeit für eine selbständige Kritikbildung, für eine informierte Auseinandersetzung mit den Umständen der Ausbildung. So, wie es für die Studierenden später, als ‹‹fertige Künstler››, um eine fortwährende Auseinandersetzung mit den Umständen der Wirklichkeit gehen muss. Gegen die von oben konstruierte Realität und deren scheinbar unverrückbare Ausuferungen wird Interflugs wahrscheinlich auch die kommenden 20 Jahre an einer selbstgestrickten Gegenrealität basteln. Diese kann ihren Anfang in dem eigenständigen Entwurf der Ausbildung und Wissensvermittlung nehmen.

Interflugs besteht aus derzeit elf wechselnden studentischen TutorInnen, die in Mini-Beschäftigung ihr prekäres, aber glückliches und selbstorganisiertes Dasein fristen. Wünschend und hoffend, dass die Studierenden selbst der entlegensten Fakultäten sich auf die Reise in die Hardenbergstraße machen und in der Geräteausleihe Technik abholen oder sich zu einem Workshop anmelden. Oder um sich die Lecture einer durchreisenden Künstlerin anzuhören, das eigene Film-Projekt bei ­Q-Cine zu diskutieren, oder um mit der Freien Klasse Luftschlösser zu bauen; vielleicht auch, um beim Interflugs-Plenum eine Projektförderung zu beantragen. Oder um Hallo zu sagen und mitzumachen, denn auch das geht. Die gegebenen Strukturen des Interflugs-Büros, der Materialausleihe, der Lecture Series – all dies garantiert ein fortwährendes Plus zur UdK-Lehre. Aber man will mehr: Weil der Willen zur Veränderung da ist, weil persönliches Engagement in der Ausbildung oft an bürokratischen Hürden oder Zeitmangel scheitert, weil die Bibliothek von einem Autobauer geschenkt wurde und das nicht gefällt. Weil keiner weiss, wo all die Entscheidungen getroffen werden, die sich auf Interflugs feiert Geburtstag! das Studium auswirken… darum war und bleibt Interflugs auch immer wieder in der Position des Schreihalses, «Die Menschen müssen miteinander sprechen über das, was des Initiators von Statements und von Öffentlichkeit. An sie produzieren, was sie denken, was sie fühlen, welche Bildie erste und letzte Anzeige am Hals von Interflugs 1991 dungsabsicht sie haben.»  Joseph Beuys


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Interflugs hat das verstanden und versucht die Gedankenblasen in diesem Sommer Wirklichkeit werden zu lassen. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens laden wir euch herzlich zu den großen Geburtstagsfeierlichkeiten ein. Defekt: Kongress 18. Juli 2009 - Festsaal Kreuzberg

Müssen die Wände der Universität einen hermetischen Raum bilden, um die Lehre vor den Einwirkungen der Aussenwelt zu bewahren? Wie würde ein von Studierenden entworfenes Studium aussehen? Wohin führt uns der jugendliche Glaube, alles besser machen zu können? Kann das Mitwirken an den Bedingungen der Lehre als Teil der Ausbildung gedacht werden? Geplant sind ‹‹Interflugs-Talks›› ein Treffen mit internationalen Studierenden-AktivistInnen zur vergleichenden Diskussion um die europaweiten Bildungsstreiks, ein Filmscreening über Hochschulproteste, die Ausstellung ‹‹Nicht-Annehmen›› mit Arbeiten abgelehnter UdK-Bewerber sowie die Aufwärm-Party ‹‹AprèsFlugs›› mit MonoTekkToni und den Parabelles.

boten. Es gibt weder Zulassungsbeschränkung noch Beitragsgebühren – jeder kann mitmachen. Unser temporärer Stützpunkt ‹‹Campus Rütli›› in Neukölln bildet die Basis aller Aktivitäten des gemeinsamen Wohnens und Arbeitens: Drucktechniken, Soundproduktion, Installation, kritische Theorie, Performance und Aktion, Tanz und Bewegung, Video / Film, Theater, Clownerie. Die Rütlistraße wird für die Dauer der Sommerakademie zur ‹‹temporären autonome Zone›› genutzt – als kreatives Feld für Pflanzung, Forschung, Austausch, Nonsense, Performance, Ausstellung, Straßenparty. Und: ­Akademie heißt nicht nur Workshop und Experiment, sondern auch geteilte Momente zwischendurch – auf englisch, auf deutsch, nomadisierend in der Stadt oder beim Gemüse schneiden zu Hause. Reflekt-Defekt-Effekt

Eines soll bei all dem deutlich werden – Interflugs kann sich nicht damit begnügen, mit dem von der Hochschule zur Verfügung gestellten Etat, ausschließlich Dienstleistungen für UdK-Studierende anzubieten. In der bestehenden Struktur ist ebenso eine Verantwortung zur Erneuerung der künstlerischen ­Lehre Effekt: Sommer-Akademie verwurzelt. Diese Erneuerung der Ausbildungsidee 23. Juli - 13. August im Camp Rütli Neukölln möchten wir gemeinsam mit denen entwickeln, um die es geht: die Kulturschaffenden von morgen, von hier und In der Sommerakademie werden Workshops, Lectures, von überall.­­ Filmscreenings und öffentliche Diskussionen ange-


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Asta?– Asta! Das Geheimnis der vier Buchstaben

Text: Claudia Dorfmüller / Anordnung der Porträts folgt der Nennung der Referate

HOCHSCHULPOLITIk

sehr genau wissen, welche Rechte und Möglichkeiten es gibt, um in den Gremien auf die oft undurchschaubaren Entscheidungsprozesse einwirken zu können. Genau das ist Svens Feld: Er weiß, welche Vorgehensweisen Chancen haben, Veränderung zu bewirken. Sein Wissen gibt er in Beratungsgesprächen und Infoveranstaltungen weiter und berät Studenten bei Problemen mit ihrer Studienordnung. Er sorgt also dafür, dass die hochschulpolitischen Rechte der Studenten nicht untergehen. Allerdings wird Herr Cishmack sein Referat zum 01. November 2009 abgeben – ihr könnt euch also darauf bewerben. Und natürlich könnt ihr in diesem Referat auch andere Schwerpunkte setzen, wie etwa die Organisation von fächerübergreifenden S­eminaren und anderer Lehrformen.

Karoline Kreißl, Lehramtsstudentin der Bildenden Kunst, verschafft Überblick in der manchmal undurchschaubaren Hochschulpolitik. Wer hat wo wieviel Geld, wie ändern sich die Studienbedingungen, wer hat Schuld an Zuständen, die keiner versteht. Der politische Verwaltungsapparat der UdK ist alles andere als Kunst, aber ohne Überblick kann man nichts verändern. Und den braucht man, um eure Interessen innerhalb der UdK zu vertreten, damit diese in verschiedenen Gremien eingebracht werden können. Außerdem umfasst ihre Arbeit die Kooperation mit anderen Studierendenvertretungen in Berlin sowie auf überregionaler Ebene, wofür Landesund Bundes-Asten-Konferenz stehen. Für eure hochKontakt: vernetzung@asta-udk-berlin.de schulpolitischen Anliegen hat sie ein Ohr und vertritt studentische Interessen an der richtigen Stelle mit orFinanzen dentlich Einsatz. Kontakt: unipolitik@asta-udk-berlin.de

HOCHSCHULPOLITIK VERNETZUNG UND ­INTERDISZIPLINARITÄT Sven Cishmack kümmert sich darum, dass der Laden der studentischen Hochschulpolitik läuft. Genauer gesagt heißt dies: In der hochschulpolitischen Verwaltungsstruktur gibt es verschiedene Ebenen. Auf jeder dieser Ebenen werden wichtige und für Studenten relevante Entscheidungen getroffen. Als Studierender kann man in diese Entscheidungen eingreifen, wenn man in die dafür bestimmte Position gewählt wurde. Allerdings muss man

Was passiert eigentlich mit den 8 Euro 20, die jedes Semester als Teil eurer Rückmeldegebühr an den AStA überwiesen werden? Schließlich muss da einiges zusammen kommen bei über 4600 Studierenden an diesem Kunsthaus. Nis-Momme Stockmann führt Buch. Über jede Einnahme, über jede Ausgabe. Das Geld fließt in die Sozialförderung, in die finanzielle Unterstützung eurer künstlerischen und kulturellen Projekte, den Zinnoberball und die Zuschüsse fürs Semesterticket. Und natürlich werden auch die Damen und Herren, welche die ­AStA-Referate führen, mit diesem Geld entlohnt. Nis, Student des Studiengangs Szenisches Schreiben, hat dabei die hütende Hand über diesem ganzen Geldfluss.


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Öffentlichkeit: Internet Was passiert eigentlich gerade so beim AStA? Und wo bekomme ich diesen Förderantrag in die Finger? Und wann sind die Sprechzeiten des AStA? Für die Beantwortung dieser Fragen begibt man sich am besten ins Netz. Auf der AStA-Homepage findet ihr Antragsformulare, Sprechzeiten, Infos über die Referate und ob gerade wieder mal eines zu besetzen ist. Damit das Ganze nicht in einem visuellen Kauderwelsch untergeht und gut zu bedienen ist, gibt es Martin Luge. Der Student der Visuellen Kommunikation programmiert und designt nicht nur unsere Homepage, sondern gestaltet Flyer, Aushänge und überhaupt alle Infos, die aus dem AStA kommen. Er schafft die optiEr berechnet und bewacht den Haushaltsplan und übersche-gestalterische Einheit, damit auch alle auf den ersprüft, ob dies in geregelten Bahnen von statten geht. ten Blick verstehen: dieser orangene Zettel – da gibts was Auch sein Referat wird ab 01. Oktober wieder frei wichtiges vom AStA. Auch sein Referat wird ab 01. Ausein. Wer also eine Affinität zur Zahlenjonglage und grogust neu besetzt sein. ßen Geldmengen hat, ist aufgerufen sich zu bewerben! Kontakt: oeffentliches@asta-udk-berlin.de Kontakt: finanzen@asta-udk-berlin.de

Kultur HOCHSCHULPOLITIK SEMESTERTICKET Das Referat Kultur wird von Fernanda Trevellin de ­Almeida betreut. Damit ist sie ein Anlaufpunkt für ausländische Studierende (Erasmus u.a.): sie unterstützt und berät die internationalen Studenten in ihren Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit dem Akademischen Auslandsamt. Im Moment arbeitet sie daran, dass Studieninformationen in Chinesisch, Japanisch und Koreanisch erscheinen werden. Immer wieder steht Fernanda, Studentin der Bildenden Kunst bei Olafur Eliasson, auch im Kontakt mit Institutionen außerhalb der UdK, um Veranstaltungen, Workshops und interessante Kooperationen auf die Beine zu stellen. Wenn ihr Fragen zu euren kulturellen Projekte oder einem anstehenden Auslandssemester habt, seid ihr auch damit beim Kulturreferat gut aufgehoben Kontakt: kultur@asta-udk-berlin.de

Dirk Eiles ist im Besitz der Anträge für die Zuschüsse zum Semesterticket. Wenn er sich nicht in eure Anfragen vertieft, dann verhandelt er regelmäßig mit den Verkehrs­betrieben des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB) über die Höhe des Betrags eures Semestertickets. Das tut er nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit dem Semesterticketbüro der UdK und TU und der SEMTIX-Länderkoordination. Wenn ihr also Fragen bezüglich des Semestertickets habt, eine Befreiung oder einen Zuschuss beantragen wollt, dann könnt ihr Dirk in den wöchentlich stattfindenden Beratungszeiten im AStA-Büro vorfinden. Kontakt: semesterticket@asta-udk-berlin.de

ÖFFENTLICHKEIT: EIGENART Soziales Man ist mit den eigenen Projekten mal wieder voll einge-

Der AStA der UdK verfügt über einen Sozialfonds, aus dem Studierende in schwierigen finanziellen Situationen unterstützt werden. Dieser Fonds ist in erster Linie für ausländische Studierende mit begrenzter Arbeitserlaubnis, es werden aber auch deutsche Studierende in besonderen Notsituationen gefördert. Deinen Antrag kannst Du in der Sprechstunde des Sozialreferats bei Anja ­Bodanowitz stellen. Bei ihr bekommst Du auch Informationen zu weiteren Förderungsmöglichkeiten, Studienfinanzierung, Studieren mit Kind, etc. Kontakt: soziales@asta-udk-berlin.de

bunden und bekommt nicht mit, was sonst noch an der Uni läuft? Die «eigenart» stellt visionäre Projekte, eigentümliche Ideen und absurde Gedanken vor und berichtet über die neuesten Bewegungen in der Hochschulpolitik. Ihr erfahrt über Studierende anderer Fakultäten und über Kunst-, Design- und sonstige Projekte, die sich auch über die Uni hinaus im kulturellen Leben verankert haben. Die Studenten sind die Basis für ein interessantes Heft: Wer also etwas zu zeigen, zu veröffentlichen, etwas zu sagen hat, der ist eingeladen, sich bei der Redaktion zu melden!

Kontakt: eigenart@asta-udk-berlin.de Mehr: www.asta-udk-berlin.de


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«Globalfinanzierungsmodell» Grundfinanzierung Leistungsbezogene Mittelvergabe

Wir leben und studieren in unsicheren Zeiten. Nicht nur die Umstrukturierung der Studiengänge zum BA/ MA-System und der damit verbundenen «Verschulung» sowie die Zunahme der Kontrollmechanismen der Universität gegenüber den Leistungen der Studierenden, hat das Studium verändert. Jetzt soll sich auch noch das Finanzierungsmodell der Berliner Universitäten ändern.

«Preismodell»  Grundfinanzierung  Model «Geld gegen Studierenden»  Forschung  Gleichstellung und Wieterbildung

Finanzierungsmodell mit Denkfehlern WIE WERDEN BERLINER HOCHSCHULEN IN ZUKUNFT FINANZIERT? FÜR FAIRE VERTRAGSVERHANDLUNGEN IST DIE ZEIT ZU KNAPP. Text: Karoline Kreißl Alle vier Jahre handeln die Berliner Universitäten und Hochschulen mit dem Senat die sogenannten Hochschulverträge aus, die die Finanzierung regeln. In der aktuellen Hochschulvertragsverhandlung läuft einiges anders als gewohnt: Die Hochschulen, als auch die Interessen-Vertretungen der verschiedenen Statusgruppen haben bereits vor über einem Jahr auf einen Beginn der Hochschulvertragsverhandlungen gedrängt. Der Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Prof. Dr. E. Jürgen Zöllner, hat allerdings erst im Dezember mit den Sondierungsgesprächen begonnen. Der Zeitplan war zu diesem Zeitpunkt schon etwas knapp. Die Landeskonferenz der Rektoren und Präsidenten (LKRP) hat, um den Status Quo halten zu können, einen Bedarf von 176 Mio. Euro mehr festgestellt. Allein 8 Mio. Euro davon würden die zusätzlichen Kosten der UdK decken. Der Mehrbedarf setzt sich aus den absehbaren Tarifsteigerungen der Angestellten im öffentlichen Dienst, den Pensionen für Professoren und den steigenden Kosten für Sachmittel wie Bauerhaltung und Energie zusammen. Senator Zöllner bietet den Universitäten und Hochschulen allerdings nur eine Erhöhung von 5,4 % an, was 48 Mio. Euro entspricht. Dies deckt nur einen Bruchteil des festgestellten Mehrbedarfs ab. Diese Unterfinanzierung in Kombination mit dem neuen Finanzierungsmodell ergab eine für die LKRP untragbare Situation. So wurden die Hochschulvertragsverhandlungen am 16. März 2009 nach einer Krisensitzung unterbrochen. Eine Pressekonferenz und weitere informelle Treffen haben stattgefunden. Informationen zu weiteren Entwick-

lungen lagen zum Zeitpunkt der Abgabe des Artikels noch nicht vor. Globalfinanzierungsmodell vs. Preismodell

Das bisherige Modell der Hochschulfinanzierung, das sogenannte «Globalfinanzierungsmodell», legt über eine Vertragsdauer von vier Jahren 70 % der Zuschüsse fest. Damit ist Planungssicherheit gegeben. 30% werden durch leistungsbezogene Mittelvergabe, also nach Leistungsindikatoren, zwischen den Universitäten aufgeteilt. Die Indikatoren sind: Lehre (50 %), Forschung (45 %) und Gleichstellung (5 %). Dieses funktionierende Modell verbindet laut LKRP finanzielle Planungssicherheit mit Wettbewerbselementen. Von der LKRP wird kein Grund gesehen ein Paradigmenwechsel einzuleiten. Das von Herrn Zöllner vorgestellte «Preismodell» gibt dahingegen nur eine Sicherheit über 33 % der Finanzierung und unterwirft den größeren Teil von 67 % einem indikatorgesteuerten Modell. Dieses Modell setzt sich so zusammen: 31 % des Geldes wird nach der Anzahl der Studierenden berechnet (Geld folgt Studierenden), 31 % wird für Forschungszwecke gegeben und 5 % für die Erfüllung der Gleichstellung. Die Finanzierungssicherheit ist damit nicht gegeben. Der dominierende Indikator soll aus der Zahl der Erstsemester und der Studienabschlüsse in Regelstudienzeit berechnet werden. Das würde bedeuten, dass jeder Studierende im ersten Semester die Finanzierung von den Studienplätzen der folgenden Semester mit sichert. Das heißt, für jeden Studienanfänger


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bekommt die Universität Geld für dessen vorgesehene Regelstudienzeit, also sechs oder acht Semester. Für höhere Semester bekommt die Universität kein Geld, denn diese werden durch den Studienanfänger mitfinanziert. Wenn also ein Erstsemesterstudent abbricht, fällt die Finanzierung von mindestens sieben Studienplätzen weg. Zwangsexmatrikulation für Studierende auSSerhalb der Regelstudienzeit?

Die Regelstudienzeit bezeichnet den Zeitraum, in dem Studierende, die sich ohne weitere Verpflichtungen voll auf ihr Studium konzentrieren können. Es handelt sich hierbei also eigentlich um eine Mindeststudienzeit. Studierende zu benachteiligen, die aus sozialen sowie finanziellen Gründen ihr Studium strecken müssen, sollte weder im Interesse der Hochschulen noch des Landes ­liegen. Das Kriterium der Regelstudienzeit bei der Geldvergabe schafft jedoch für die Hochschulen Anreize, diese Studierenden zu benachteiligen, sie zwangsweise zu exmatrikulieren oder raus zu prüfen, wie es beispielsweise über den Umweg von geplanten «Malus-Punkten» oder Zwangsberatungen bereits geschieht. Außerdem besteht die Gefahr, dass marktgängigere Fächer wie Architektur und Jura ausgebaut und kleinere Fächer wie Kulturjournalismus eingestellt werden. Die Vielfalt im Fächerspektrum wäre damit gefährdet. Im Bereich der Forschung soll die Finanzierung vor allem an die Anwerbung von Drittmitteln gekoppelt werden. Somit würde die Forschung noch viel mehr als bisher von der Privatwirtschaft abhängig werden. Grundlagenforschung und Forschungsbereiche mit unwirtschaftlicheren Forschungszielen wären dann nicht mehr finanzierbar. Aber nicht nur die freie Wirtschaft bekäme mehr Steuerungsmöglichkeiten, sondern auch der Senat könnte mehr Einfluss auf Lehr- sowie Forschungsinhalte und die demokratischen Entscheidungsprozesse innerhalb der Universitäten nehmen. Damit könnte die im Grundgesetz verankerte «Freiheit der Lehre» unterwandert werden. Im Artikel 5 des Grundgesetzes Absatz (3) heißt es: «Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. […]».

Was bedeutet das Preismodell für die UdK?

Falls der wichtigste Finanzierungsindikator die Anzahl der Erstsemester sein sollten, ergäbe sich für alle Studiengänge der UdK, die den Zugang über eine Aufnahmeprüfung regeln, ein erhöhter Aufnahmedruck. Dadurch würden mehr Studierende aufgenommen und die Qualität leiden – somit auch die Wertigkeit eines Studienabschlusses an der UdK. Ganz nach der Devise: Quantität vor Qualität. Zusätzlich wären die Folgen: überfüllte Seminare und Vorlesungen, wie es an den anderen Universitäten bereits Alltag ist. Was würde mit dem Verständnis von künstlerischen Prozessen passieren? Diese brauchen ihre Zeit! Menschen sind zum Glück sehr unterschiedlich und das würde mit der Erhöhung des Drucks, sein Studium in Regelstudienzeit zu absolvieren, nicht mehr berücksichtigt werden. Außerdem würden alle Weiterbildungsstudiengänge aus der Rechnung raus fallen und wären damit nicht mehr ausfinanziert. Die Zukunft für die betroffenen Studiengänge kann man sich ausmalen.

Eure Preise sind pures Geld Wir als Studenten der UdK können dafür sorgen, dass es mehr Geld für unsere Universität gibt. Denn: Alle von uns durchgeführten Einzel- oder Gruppenausstellungen, gewonnenen Preise und Stipendien, Publikationen, Konzerte und Aufführungen, usw. zählen als sogenannte Leistungserfüllung. Je mehr «Leistung» also erbracht wird, desto mehr Geld gibt es für die Universität. Deshalb meldet euch bitte bei eurer Verwaltung und gebt eure Erfolge an. Es ist pures Geld. Kontakt: Marjanne Kotala, Hardenbergstr. 33, Raum 128 /

marjanne.kotala@udk-berlin.de / Telefon 3185-2699 / Fax 3185-2406 / Sprechzeiten: Mo, Di, Do 9–12:30 Uhr und 14–15 Uhr, Fr 9–12:30 Uhr

Ist es schon zu spät?

Mittlerweile ist der Zeitrahmen so eng geworden, dass für die LKRP kaum mehr die Möglichkeit besteht, sich dem Preismodell von Herrn Zöllner zu entziehen. Eine Beratung in den parlamentarischen und akademischen Gremien wird somit nur noch der Form halber stattfinden. Demokratische Entscheidungsprozesse werden ­dadurch unterbunden.

LandesKonferenz Rektoren und Präsidenten (LKRP) Mitglieder der LKRP sind die Rektoren bzw. Präsidenten folgender Bildungseinrichtungen: TU, FU, HU, UdK, HfM «Hans Eisler», KH Weißensee, HfS «Ernst Busch», HfT «Beuth», HWR Berlin, Alice ­Salomon Hochschule, Evangelische FH, HTW Berlin, K ­ atholische HSB


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Die Graduiertenschule ist ein Projekt der UdK, das im November 2006 in eine aktive Vorbereitungsphase überging. Toni Bernhart, Projektleiter und Koordinator, führte Gespräche mit 64 Professoren und Dozenten der UdK, als auch mit Leuten, die außerhalb des Hochschulbetriebs arbeiten. Außerdem fanden Podiumsdiskussionen statt. In diesen Treffen wurde in Erfahrung gebracht, wie das angestrebte Ziel – Wissen zu schaffen durch die Verknüpfung von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung – mit einer solchen Schule erreicht werden kann. Das Ergebnis davon war einen möglichst offenen Raum zu entwickeln, um sich an den Interessen und Bedürfnissen der Stipendiaten orientieren zu können und deren Forschungsinhalte in den Mittelpunkt zu rücken. Erstaunlich ist, dass in dieser Vorbereitungsphase kaum mit Studenten der UdK oder mit Studierenden, die in ähnlichen, schon existierenden Forschungseinrichtungen arbeiten, gesprochen wurde. Interessant wäre auch gewesen, interdisziplinär arbeitende Künstler und Wissenschaftler zu befragen, die nicht in der Hochschule verankert sind. Man hätte die Möglichkeit gehabt aus deren Erfahrungen ganz pragmatisch Bedürfnisse abzulesen, die für die inhaltliche Strukturierung dieses Projekts interessant gewesen wären.

Kunst Befruchtet Wissenschaft Befruchtet Kunst

Die UdK arbeitet seit Ende 2006 daran, einen institutionellen Rahmen zu schaffen, um künstlerische und wissenschaftliche Forschung zu ­vereinen. Ab Oktober 2009 wird die Graduiertenschule regulär anlaufen. Text: Claudia Dorfmüller / Notizen: Soo-eun Lee / Fotografie: Soo-eun Lee In der Pilotphase von November 2008 bis April 2009 wurden Forschungsvorhaben von acht Stipendiaten gefördert und das Projekt Graduiertenschule an diesen ausprobiert. Ein Probelauf, mit dem herausgefunden werden sollte, was mit der angebotenen Freiheit passiert, was in Zukunft nötig sein wird, welche Problemfelder es gibt. Öffentlicher Raum als Theaterbühne

Bühnenbildnerin Soo-eun Lee hatte sich für die Graduiertenschule mit dem Vorhaben beworben, den öffentlichen Raum auf seine Möglicheiten hin zu untersuchen, die er für das Theater bietet. Ihre Forschung setzte an einem vorangegangenem Projekt der Musiktheatergruppe «Oper Dynamo West» an, das während eines Workshops in Korea erarbeitet wurde. Darin ging es um die Verbindung des Stücks «Der Findling» von Heinrich v. Kleist mit einem Stück von Heiner Müller, das darauf Bezug nimmt: «Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling». Heiner Müller verfrachtete Kleists Motiv des Adoptivsohns, der sich gegen seinen Vater wendet, in die DDR: Der regimetreue Vater wird mit seinem kommunismuskritischen Sohn konfrontiert. Diese Thematik ist im geteilten Korea aktuell und es lassen sich Verbindungen zwischen der Vergangenheit Deutschlands und der gegenwärtigen ­Situation Koreas ziehen. Soo-euns Anliegen war es, diese Auseinandersetzung wieder zurück nach Berlin zu führen. Dort wollte sie nach der Vergangenheit ihrer Orte suchen, den öffentlichen Raum anders verstehen und ihn als Theaterbühne wieder begehbar machen. Subjektive Wahrnehmung als Ausgangspunkt

Bei ihrer Forschungsarbeit begann sie zunächst mit intensiver Literaturrecherche und Stückanalyse. Dabei merkte sie bald, dass sie diese Arbeit am Schreibtisch nicht weiter


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führte. Sie ging also raus, zurück an die Orte ihrer eigenen Berliner Vergangenheit: alte Wohnungen, Plätze, Straßen. Die Konstrukte ihrer Wahrnehmung versuchte sie dabei hinter sich zu lassen. Welche Gegenstände, Gerüche, Personen, Architektur wecken noch unbekannte Assoziationen? Welche Zeiten, welche Erinnerungen kommen wieder, in welche Zukunft haben Begegnungen geführt? Und sie lässt ihre koreanischen Wurzeln einfließen, indem sie Gegenstände mit Geistern verbindet, die sie dem koreanischen Schamanismus entlehnt. Auf diese Weise entsteht eine Struktur, ein System von Zeitebenen und die Graduiertenschule unterschiedlichen Welten. Dieses System will sie in eine abstrakte Form bringen, um Die Stipendiaten der Graduiertenschule sollen in ihrer die Verbindung von realem und imaginä- bisherigen und in ihrer kommenden Arbeit «künstlerische rem Raum wieder auf Anderes übertragen und gestalterische Disziplinen integrieren, sich im Schnittfeld zu können. zwischen den Künsten und den Wissenschaften befinden oder dieses Schnittfeld explizit thematisieren.» Die finanzielle Inhalte und Aufgaben der Förderung beträgt mindestens 1100 Euro pro Monat. Pro Graduiertenschule Jahr sollen fünf Plätze international ausgeschrieben werden. Dem Stipendiaten werden zwei Mentoren aus dem Nach bisherigen Planungen wird es in der UdK-Lehrkörper zur Seite stehen. Die Graduiertenschule kommenden Anlaufphase wenig inhaltliche ist angelegt auf zwei Jahre. Liegt der Schwerpunkt auf Vorgaben geben. Daher wird die Auswahl wissenschaftlicher Forschung kann ein Doktortitel erder Studierenden umso wichtiger. Künstler worben werden, liegt er auf einem künstlerischen, erhält und Wissenschaftler bewerben sich mit ihman ein Zertifikat. (Die Initiatoren sehen keinen Vorteil ren Ideen und Projekten und geben an, mit für Künstler, wenn sie eine akademische Auszeichnung welchen Fächern sie interdisziplinär arbeierhalten, da sie sich im Umfeld von Museen, Theatern, ten werden. Für die Graduiertenschule heißt Musikhäusern usw. bewegen). Die Graduiertenschule dies, aufzunehmen, was die Stipendiaten soll komplett durch Drittmittel finanziert werden. Bisanbieten und Möglichkeiten der Vertiefung her wurde das Projekt vom Berliner Senat mit 310.000 in den einzelnen Beschäftigungsfeldern zu Euro bis Ende 2009 gefördert. schaffen. Neben der reinen finanziellen UnBestrebungen, Kunst und Wissenschaft im dritten terstützung steht noch die Frage nach der Ausbildungszyklus zu vereinen gibt es weltweit, etwa an inhaltlichen Förderung. Vorerst ist geplant, der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel (Institut alle zwei Wochen Kolloquien zusammen HyperWerk). Im engchlischsprachigen Raum kann man mit den Stipendiaten und dem 10-köpfigen einen «Doktortitel auf der Grundlage künstlerischer Leitungsteam, das aus UdK-Professoren ­Praxis» (Practice-based PhD) erlangen. und Dozenten bestehen soll, abzuhalten. Zu diesen Kolloquien sollen entweder Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft eingeladen werden oder die Treffen finden in Institutionen außerhalb der UdK statt. Während der Pilotphase war man beispielsweise zu Gast im Radialsystem V oder der ­Akademie der Künste. Außerdem steht das Koordinationsteam im Moment im Gespräch mit Institutionen, die sich im Geistes- und Naturwissenschaftlichen Bereich bewegen. Gleichzeitig wird es an den Stipendiaten liegen, sich ihr eigenes Studienprogramm zu erarbeiten, weil ein allgemeingültiges Curriculum nach Ansicht der Initiatoren eher einschränkend als fördernd wäre. Eine Aufgabe steht allerdings schon fest: Die Stipendiaten sollen mit der universitären Struktur verwoben werden, indem sie Seminare in den Fakultäten der UdK abhalten. Die angestrebte Interdisziplinarität soll so in die grundständigen Studiengänge weiter getragen werden.


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Freiheit der Forschung trotz Sponsoren?

Ob die geplante inhaltliche Freiheit sich in den nächsten Jahren halten kann ist allerdings fraglich, da die Finanzierung der Graduiertenschule über Drittmittel geplant ist. Die Vermutung liegt nahe, dass die Geldgeber ihr Sponsoring in Verbindung mit bestimmten Inhalten stellen werden. Ergebnisse, die im weitesten Sinn verwertbar und anwendungsbezogen sind, werden hier sicherlich favorisiert. Die Zeit wird zeigen, wie die UdK sich diesen Erwartungen stellt. Im Moment strebt sie größtmögliche Offenheit an und möchte weniger ergebnisorientiert sein als der freie (Kunst-) Markt. Dadurch will sie Experimentierfelder öffnen, die dann zu Ergebnissen führen, die im Moment noch gar nicht denkbar sind. Im schlechtesten Fall werden diese hohen Ziele zu wenig Geldgeber ansprechen, und die Ziele müssten auf Kosten der Forschungsfreiheit neu ausgerichtet werden. Nach der Pilotphase

Die Resultate der sechsmonatigen Pilotphase sind Zwischenergebnisse. Die Zeit war zu kurz, um endgültige Forschungsergebnisse präsentieren zu können. Soo-eun hat in dieser Zeit ein Archiv angelegt, das ihr subjektives System der Bilder, Gedanken und Verknüpfungen festhält. Für die Zukunft plant sie eine Aufführung oder Performance, an der sie ihr Forschungsmaterial ausprobieren kann. Zudem plant sie Kontakt mit Heiner-MüllerExperten aufzunehmen, um Wissenslücken zu schließen. In der Zeit des Stipendiats war es wichig für Soo-eun zu entdecken, welche Wege sie gehen kann um Raumkonzepte zu entwickeln. Sie hatte Zeit, die eigene Vorgehensweise genau zu überdenken und in zuvor ungeahnte Richtungen weiter zu treiben. Geholfen habe ihr dabei der Austausch mit den anderen Stipendiaten und das Kennenlernen der unterschiedlichen Herangehensweisen, sagt sie. Durch die minimale Anzahl an Teilnehmern entsteht eine kleine Gruppe, in der nach der Idee der Initiatoren, auch die Stärke liegen soll. Dieser Rahmen soll die Grundlage sein, in der sich durch das Gespräch unter den Stipendiaten und den Professoren Interdisziplinaritäten und Reibungspunkte ergeben, Horizonte erweitern.


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Die vom Stapferhaus Lenzburg realisierte Ausstellung «nonstop» läuft vom 6. März bis 29. November im Zeughaus-Areal Lenzburg (Nähe Zürich). Das Stapferhaus Lenzburg ist eine schweizerische Kultureinrichtung, die sich mit Alltagsfragen in Form von Ausstellungen, Seminaren und Projekten im In- und Ausland auseinandersetzt.

«nonstop.»

eine ausstellung über die Geschwindigkeit des Lebens Telefoninterview: Thomas Willis / Fotografie: www.stapferhaus.ch

Beat Hächler, einer der beiden Kuratoren der Ausstellung «nonstop», berichtet über deren Herangehensweise an große Gegenwartsthemen, über Chancen und über Probleme solcher Vorhaben. Wie kamen Sie auf die Idee, eine Ausstellung über «die Geschwindigkeit des Lebens» zu machen?

Das Stapferhaus Lenzburg hat den Auftrag, Ausstellungen zu Themen der Gegenwart zu machen. Themen der Alltagskultur, die der Gesellschaft gewissermaßen unter den Nägeln brennen. Die Beschleunigung unseres Alltags mit all ihren Konsequenzen wie Multi-Tasking, Zeitmanagement und die Entwicklung zu einer High-Speed-Gesellschaft ist ein sehr relevantes Thema – und wir stecken da alle bis zum Hals drin!

Was verstehen Sie unter «Zeitkultur der Gegenwart»?

Unter Zeitkultur verstehe ich die Kulturtechniken im Umgang mit Zeit. Dazu gehört die ganze Problematik der Geschwindigkeit, also wie wir Zeit wahrnehmen und gestalten. Ich denke Beschleunigung einerseits und Verdichtung von Zeit andererseits sind zwei wesentliche Phänomene unserer Gegenwart, was auch von vielen Philosophen und Soziologen so gesehen wird. So spricht der Philosoph Hermann Lübbe von «Gegenwartschrumpfung» und der Soziologe Hartmut Rosa von «sozialer Beschleunigung» – was die Eltern gerade erst kennen gelernt haben, ist für ihre Kinder längst passé. Ich glaube, es ist ein Urbedürfnis einer Gesellschaft, eine gemeinsame Vorstellung von «Zeit» zu haben. Aber bei den ständigen Veränderungen – Rosa spricht von «fahrenden Rolltreppen» – müssen wir schon rennen, nur um an einem Punkt stehen zu bleiben.


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Welche Strategien haben Sie kennen gelernt, mit der zunehmenden Lebens-Geschwindigkeit umzugehen?

Obwohl es gewiss viele Ansätze gibt, möchte ich hier drei vorstellen. Der erste lautet: Optionen weglassen. Es gibt immer zahlreiche Optionen, die sich gleichzeitig anbieten. Die Kunst besteht im Weglassen, im Nein-Sagen. Das klingt banal, ist aber, wie jeder weiß, gar nicht so einfach. Der zweite ist so etwas, wie einen Rhythmus finden. Einen gesunden Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung. Man kann Geschwindigkeit ruhig genießen, aber man braucht auch wieder Ruhephasen. Der dritte Ansatz bedeutet, die Gegenwart, also den Augenblick wahrnehmen zu können. Also nicht ständig mit einem Bein schon in der Zukunft stehen, sondern im hier und jetzt bleiben. Wenn man für sich selbst in diesen drei Bereichen einen Weg findet, hat man schon viel gelöst! Wie halten Sie es selbst mit den Zeit-Strategien?

schichten auf Schallplatten anhören kann. Soweit eine klassische Ausstellungssituation: Es werden Inhalte angeboten, die für die Besucher aufbereitet wurden. Darüber wollten wir hinausgehen und engagierten Freiwillige, die an der Bar bedienen. Das sind Menschen, die uns ihre Lebenszeit schenken, um an diesem Projekt mitzuarbeiten. Die «Storykeeper» verwickeln das Publikum in Gespräche über den Umgang mit ihrer Lebenszeit. Was zwischen ihnen und den Besuchern passiert, ist nicht planbar – und eventuell wichtiger als der Inhalt der Schallplatte! Als weiteres Element wurde die Bar so gemütlich gestaltet, dass man schnell die Zeit vergisst und sich dort locker eine halbe Stunde aufhält – was das Zeit-Budget des Ausstellungsbesuchs von zwei Stunden über den Haufen wirft. Wir arbeiten also auf mehreren Ebenen, um den Gegenstand «Zeitkultur» zu inszenieren und spielen mit diesen. Was kann eine gesellschaftskritische Ausstellung wie «nonstop» bewirken und wo sehen Sie die Grenzen des Mediums?

Das ist schon etwas paradox! Ich habe selten ein Projekt erlebt, das uns so sehr ans Limit des Zeit-Managements und unserer Kräfte gebracht hat, wie das bei «nonstop» der Fall war. Man könnte auch sagen, wir haben noch nie so wenig bei einem Projekt gelernt wie dieses mal!

Ich glaube, die Stärke ist hier zugleich die Schwäche. Die Stärke ist, dass wir ein sehr bewusstes und hoch motiviertes Publikum haben – man kann sich ja nicht in eine Ausstellung zappen! Und da beginnt auch die Schwäche: Höchstwahrscheinlich sind nämlich genau die Menschen nicht da, für die es vielleicht am sinnvollsten wäre, sich über GeschwindigAuf welche Art werden die Besucher von keit und Zeitmanagement Gedanken zu machen. Es müssten der Ausstellung angesprochen und welche viel mehr 30- bis 60-jährige Männer in der Ausstellung sein, Mittel werden dafür eingesetzt? weil es doch gerade sie sind, die im immer schneller drehenden Gegenwartsthemen haben die Chance, ihre Besucher als GegenHamsterrad der Arbeitswelt gefangen sind! wartsexperten einzubeziehen. Diese Möglichkeit wollen wir auch nutzen. Wir wollen den Besuchern nicht einfach ein ferti- mehr: www.stapferhaus.ch ges Resultat präsentieren, sondern eine Situation schaffen, die dieses Expertenwissen nutzbar macht. In diesem Fall arbeiten wir mit der Aufenthaltszeit der Besucher in der Ausstellung. Es gibt zum Beispiel eine Geschichten-Bar, wo man sich Lebensge-

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Ein Gespräch mit Dr. Siegfried Zielinski, Autor und ­Medienwissenschaftler, Gründer der Kunsthochschule für Medien in Köln, Forscher und Visionär auf dem ­Gebiet der Archäologie und Variantologie der Medien, aktuell an der Universität der Künste Berlin.

«Das Verschwinden der Bilder im Rauschen»

Der flüchtige Moment und die (Un)Haltbarkeit der Digitalen Kunst Interview: Sonja Peteranderl, Wilkin Schröder / Illustration: Valerie Assmann

Vita brevis, ars longa – Das Leben ist flüchtig, die Kunst dauerhaft: Verliert diese Aussage in Bezug auf Digitale Medienkunst ihre Gültigkeit?

Bei der Kunst, die durch die Digitalen Medien hindurchgeht, können wir nicht von Dauer oder Ewigkeit sprechen, wir wissen noch gar nicht wie lange sie hält, 10 Jahre, 15 Jahre? Die Museen, die vor einigen Jahren solche Werke gekauft haben, leiden jetzt schon erheblich darunter, dass sie alles umprogrammieren, umcodieren müssen; das kostet wahnsinnig viel Geld. Und oft ist es so, dass die Hardware auf der die Arbeiten entwickelt worden sind, gar nicht mehr existiert. Das Werk muss eigentlich verändert werden, zum Beispiel beim Umsteigen von herkömmlichen Monitoren, die noch mit großen Röhren arbeiteten auf neue LCD-Monitore – damit sieht das Werk auch völlig anders aus. Das sind Probleme, mit denen man sich jetzt als Kurator, als Museumsdirektor herumzuschlagen hat. Und wahrscheinlich war das auch der Grund, warum man lange Jahre so zurückhaltend an die Kunst herangegangen ist, die durch Medien hindurch hergestellt worden ist. Man wollte nichts mit ihr zu tun haben, und befürchtete: Oh Gott, das hat Folgen, die wir noch gar nicht absehen können. Aber das ist ja auch Herausforderung der Kunst, dass sie neue Strömungen aufgreift, oder?

allerseltensten Fällen leben. Etwas, was sich verflüchtigt, lässt sich unglaublich schwer so umsetzen, dass man sich selbst davon finanzieren kann. Sammler wollen etwas kaufen, die wollen irgendetwas in der Hand haben, was sie sich aufstellen oder an die Wand hängen können, und das ist mit diesen flüchtigen Werken natürlich sehr schwierig. Es gibt einige wenige Künstler z. B. aus Russland, die daraus sehr schöne Konsequenzen gezogen und witzige Objekte entwickelt haben, in denen die Digitalen Künste sehr ironisch vergegenständlicht werden. Diese Objekte werden für zigtausende von Euros verkauft, aber das sind ganz große Ausnahmen. Wie können sich denn die Jüngeren ­positionieren?

Indem sie zunächst einmal voll auf Risiko fahren und auch in Kauf nehmen, dass es ihnen einige Jahre ökonomisch nicht so wahnsinnig gut geht. Man braucht, um seinen Weg zu finden ungefähr fünf bis sieben Jahre nach dem Studium – bis man viel besser ist als andere, bis man sich absetzen kann und bis man das Gefühl hat: Das ist das Ding, mit dem ich mich wirklich den Rest meines Lebens beschäftigen will. Das geht nicht sprunghaft, man ist nicht sofort bekannt, die Welt schreit nicht sofort nach einem und bezahlt einen gut, auch wenn man noch so tolle Arbeit als junger Mensch macht.

Inwieweit findet sich das Verschwinden, der Vanitas-Moment, thematisch in den Werken Zumindest wäre das wünschenswert und einige haben das ja der Digitalen Kunst wieder?

auch versucht, indem sie beispielsweise Kunstprozesse entwiDa gibt es Möglichkeiten, die uns aus anderen Medien gut ckelt haben, die nur im Netz existieren, so genannte Web- oder bekannt sind. Das geht los bei so einfachen Mitteln und Tricks Net-Art. Nur, die Künstler können von diesen Dingen in den


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wie der Herstellung von Schwärze als Bild für die Unendlichkeit der Materie, das Verschwinden der Bilder im Rauschen, da gibt es ganz unterschiedliche Strategien je nach Künstler. Die Wenigsten haben etwas geschafft, was mit diesem Verschwinden eigentlich notwendig einhergehen müsste: Nämlich selber unwahrnehmbar zu werden, unwahrnehmbar im Sinne einer verkaufbaren, auch vermarktbaren Person. Sich nur noch mit dem Werk zu identifizieren, mit dem Werk identifiziert zu werden, das wäre eigentlich die richtige Konsequenz aus einer prozessorientierten Kunst. Nur: Auch prozessorientierte Künstlerinnen und Künstler sind erstmal Künstler – egomanisch, eitel, sie wollen berühmt, sie wollen bejubelt werden, sie wollen den Applaus haben und damit stecken sie in allen Fallen der traditionellen Kunst drin. Permanenter Wandel – oder gibt es auch Zeitlosigkeit in der Digitalen Kunst?

Es gibt den Wunsch danach, aber die Realisierung von Zeitlosigkeit oder Ewigkeit, die ja immer auch eine Anrufung Gottes beinhaltet, können wir uns noch nicht vorstellen. Es gibt ein sehr gutes Beispiel für die Diskussion dieser Frage: Eine Gruppe von Künstlern und Computerfreaks hat vor wenigen Jahren ein Projekt auf die Beine gestellt, das sie «The long Now» nennen. Das ist im Wesentlichen eine Uhr, die 10.000 Jahre lang exakt gehen soll, die wirklich realisiert wurde. Man hat sie in einem Salzbergwerk gelagert, tief in der Erde. Das war natürlich die Idee, so etwas wie eine Ewigkeit zu erzeugen durch Technik. Der Mensch – sein Leben – ist begrenzt, die Maschine kann ewig leben. Aber diese Vorstellung, dass Menschen in 5.000 Jahren oder irgendwelche andere lebendige Entitäten in 10.000 Jahren irgendein Interesse daran haben könnten, was Brian Eno im Jahre 2003 gedacht hat oder formuliert hat, ist unglaublich eingebildet, arrogant. Die Phantasie, dass man Ewigkeit erzeugen kann, mit Hilfe von Technik, ist stark. Und Künstler, die sich in die Ewigkeit hineinschreiben wollen, selbstverständlich:

Der große Gestus – aber die Realität sieht anders aus. Die Realität ist, dass auch Maschinen sterben. Es gibt ein Projekt, dass ein guter Freund entwickelt hat, Bruce Sterling, der Science-Fiction-Autor, das heißt «The dead media project». Er hat einfach aufgelistet, welche Technik, welche Programme, Software, Hardware, welche Apparate gestorben sind in den letzten 30 oder 40 Jahren, die es nicht mehr gibt. Die Liste ist mittlerweile sehr lang und das sollte die Ewigkeits­phantasien ein bisschen relativieren und natürlich auch unsere Arroganz. Wie sieht denn der Stand der Dinge in Berlin in Bezug auf die Digitale Kunst aus?

Ich denke, dass Berlin noch verdammt viel aufzuholen hat. Die haben das lange Zeit verpennt, die Gründung des Instituts für zeitbasierte Medien ist ja relativ spät erfolgt. Es gab natürlich einzelne Unternehmen wie ART+COM, die es heute immer noch gibt, und die mit Joachim Sauter als Professor ja immer noch vertreten sind hier an der Universität der Künste. Es gibt eine kleine Galerie für Digitale Kunst in Mitte, die aus London herübergekommen ist, und es gibt einige wenige Galerien, die sich mittlerweile auch um diese Dinge kümmern. Aber da hat Berlin noch enorm viel aufzuholen, und ich glaube, das liegt sehr stark auch an den akademischen Institutionen, an denen man studieren kann, da fehlt es an allen Ecken und Enden noch an laboratoriellen Möglichkeiten, an Arbeitsbedingungen, die Voraussetzung dafür sind, dass sich so etwas blühend entfalten kann. Es ist hochinteressant, dass die Einrichtungen, die diesen laboratoriellen Charakter haben, fast alle an der Peripherie entstanden sind, nicht in den Hauptstädten. Karlsruhe ist eine gottverdammte Provinz gegenüber Berlin, genauso wie Köln. Und das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auch in anderen Ländern. Das ist ein interessanter Punkt, dass die Peripherien immer für Revolution und für Veränderung wichtiger waren als die Zentren. Die Zentren beuten das dann nur aus irgendwann und machen sich fett und breit.

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Wie stellt man sich der Zeit, ohne den einen Moment durch ständige Flucht atemlos gegen den nächsten einzuwechseln? Ein konzeptioneller Versuch von ­Birgit ­Bender, auf den Spuren des One-Year-Performance-Künstlers Tehching Hsieh ein neues Verhältnis zur Geschwindigkeit zu definieren – und sich selbst umzutakten. Ein Marathon ist 42 Kilometer und 195 Meter lang. Wenn man ein durchschnittlicher Läufer ist, schafft man diese Strecke in circa vier Stunden, erzählt Haruki ­Murakami in seinem Buch «Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede.» Ich habe keine Ahnung was 42,195 gelaufene Kilometer sind, das ist mir ebenso unbekannt, wie am Stück gegangene, Fahrrad gefahrene oder geruderte Kilometer. Dafür habe ich zu selten Gelegenheit. Auch müsste ich trainieren, meine Muskeln erziehen, richtig essen und vor allem Zeit einräumen, die man als Künstler oder Student mit vielen Stunden Arbeit, Administration und Recherche hinter dem Schreibtisch oder im Studio verbringt. Auf körperliche Bewegung kann ich mich nur halbwegs einlassen, denn es ist immer an der Zeit schon das Nächste zu tun. Das ist ein Lebensstil. Die Antwort auf die Frage, wie viel eine bewusste Entscheidung zu dieser Lebensweise beiträgt, stimmt mich missmutig.

Flucht Pro Stunde

Konzeption einer Alltagserfahrung ohne künstliche G ­ eschwindigkeit Text: Birgit Binder / Dokumentation: www.one-year-performance.com

60 Minuten

Zeit lässt sich in diesem Lifestyle in der Anzahl von Fluchten messen, im Durchschnitt ist es etwa eine Flucht pro Tagesstunde. Als Flucht kann hier der Übergang von einer Aktivität zur anderen verstanden werden, der vor allem durch Vergessen oder Verdrängen der vorigen Aufgabe bewältigt wird. 45 bis 60 Minuten dauert der durchschnittliche Zeitabstand von einer Pause zur anderen. Auf diese Länge können wir uns ohne weiteres einlassen. Auf diese Länge werden wir schon in der Schule eingetaktet: 45 oder 50 Minuten, Pause – Flucht, nächste Unterrichtsstunde, zweiter Teil des Seminars. Es gibt bestimmt unzählige Gegenbeispiele, die jedoch meistens eher in der Zeit unseres Lebens angesiedelt sind, die der emanzipierte Bürger Freizeit getauft hat. Eine Flucht pro Stunde ist der Rhythmus der Lohnarbeit, des institutionalisierten Lernens, der ­Wellnesskur.

365 Tage Zeitkarten stempeln

Der Künstler Tehching Hsieh, der sich früher Sam Hsieh nannte, weil er verdeckt als illegaler Einwanderer aus Taiwan in New York lebte, radikalisierte den Zustand des in 60 Minuten-Intervallen getakteten (Arbeits-) Lebens. Während seiner One-Year-Performance von 1980 bis 1981 wurde dieses Intervall mehr als nur zeit- und lebensbestimmend. Das Abstempeln von Zeitkarten vollbrachte er nicht nur tagsüber, sondern auch nachts, 365 Tage ohne Unterbrechung. Jedes zu späte Abstempeln wurde von ihm registriert und von einem Zeugen verifiziert, der die Zeitkarten unterschrieb. Es war sein Tanz, eine kompromisslose Choreographie. Was von der Performance übrig geblieben ist, gleicht einem «No, no thanks» zu einem System, das unsere Lebenszeit, als Ware verwertbar macht und uns dazu zwingt, sie zu veräußern. Tehching Hsieh hielt dieses One-Year-Performance auf einem 16mm-Film fest: ­Jedes mal, wenn er seine Zeitkarte abstempelte, wurde ein Frame mit der Kamera aufgenommen – insgesamt


Individuelles  37

etwa sechs Minuten. Die zeitliche Spanne auf dem Film wurde vor allem durch sein wachsendes Haar sichtbar, da er die Performance mit kahl geschorenem Kopf begann und mit schulterlangem Haar beendete. Ein Jahr ist die Zeitspanne, die die Erde benötigt die Sonne zu umrunden. Es ist die größte Einheit – und ein natürlicher Zyklus – um unsere menschliche Zeit zu messen. Ein Jahr im Leben eines Menschen scheint nicht viel zu sein. Jedoch wird ein Jahr, das radikal einer einzelnen Aktivität untergeordnet wird, schmerzhaft und gebärt sich als das, was der freien Entfaltung unseres ­Lebens entgegensteht. Seine Performance vollzieht sich sehr langsam für unseren Kunstbegriff, der, wie ich meine, auch davon ausgeht, ein Kunstwerk innerhalb einer Zeitspanne wahrnehmen zu können und so unseren Alltag nicht durcheinander bringen kann. Ein Kunstwerk könnte nach diesem Begriff nicht durch die Zeitspanne «unkonsumierbar» werden.

Freizeit auszuselektieren, sondern zur Notwenigkeit zu erklären. Wir bewegen uns aus eigener Kraft, also sind wir. Das heißt allerdings nicht, dass wir in der U-Bahn nicht sind. Wir sind nur eben anders: nicht ganz in uns selbst, eher ganz in der U-Bahn. Die U-Bahn als die Beschleunigung unseres Körpers. Um meine Familie im Südwesten Deutschlands zu besuchen, müsste ich zwei Wochen lang auf dem Fahrrad sitzen; um nach England zu gelangen, müsste ich segeln lernen. Vorhaben

Berlin, xx.xx.xxxx / Vorhaben / Aus dem Grund der Unwissenheit, wie sich mein Leben ohne Motor und fremd angetriebenes Vehikel anfühlt, werde ich für ein Jahr auf jegliches Fortbewegungsmittel, das nicht von meinem Körper angetrieben wird, verzichten. Eine Ausnahme wird der Krankenwagen sein, falls mir etwas zustoßen sollte. / Die Performance wird am xx.xx.xxxx um xx:xx Uhr beginnen und bis zum xx.xx.xxxx um xx:xx Uhr Kleinteilige Prozesse fortgesetzt werden. / Dies wird solange ein Vorhaben bleiben, bis ich stark und mutig genug bin, den «EineUnd so produzieren wir auch in der Regel Kunst: in kleiFlucht-pro-Stunde-Rhythmus» umzutakten. ne Teile, Etappen und Prozesse unterteilt, was uns ermöglicht parallel zu arbeiten und zu multitasken. Also Mehr: www.one-year-performance.com über den Dingen stehen zu können, sie zu überschauen, zu orchestrieren, um letztendlich als Künstler irgendwie überleben zu können. Tehching stempelte seine Zeitkarte zu jeder vollen Stunden, 8760 Mal – eine langwierige Prozedur und ein strenger Rhythmus. Er verwendete Zeit an sich als künstlerisches Medium, unterteilte es in 60-Minuten-Abschnitte, die vor allem in Industrie beziehungsweise Post-Industrie Nationen eine bestimmte Bedeutung haben. Es ist auch nahe liegend, dass er für seine Performance eine graue Arbeiter­uniform wählte. Menschen, deren Leben nicht von einem Stundenrhythmus bestimmt wird, würden sich diese Performance wohl ganz anders erschließen, sie würden vielleicht lachen. Zeit und Geschwindigkeit werden hier zu unserem – nicht nur irgendeinem – kulturellen Bedeutungsträger. Eine Flucht pro Stunde?

Um vom Hermannplatz an die Universität der Künste zu gelangen, würde ich vielleicht zwei Stunden brauchen, wäre das Gehen mein gewählter Fortbewegungsmodus. Zwei Stunden würden eine radikale Intervention in meinen Alltagsrhythmus von einer Flucht pro Stunde bringen. Ein Fußgänger schafft ungefähr 3,5 bis 5,5 Kilometer pro Stunde. Hätte ich eine Vorlesung um zehn Uhr, müsste ich um sieben Uhr aufstehen und mich um Acht auf den Weg machen. Mit der U-Bahn dauert es ungefähr 40 Minuten, also nicht erheblich weniger. Ich weiß nicht, was es heißt, eine solche Fußstrecke von zehn Kilometern in meinen Alltag zu integrieren – es also nicht nur als Mittel zur Gesundheitserhaltung während der


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«Der Mann, der die Welt aSS» Von der Mitte an den Rand – Ein Auszug aus dem Stück «Der Mann, der die Welt ass» von Nis-Momme Stockmann Text: Nis-Momme Stockmann / Zeichnung: Valerie Assmann

Wie schnell entgleist ein Leben? Für sein Stück über Ich hab immer daran geglaubt. Aus dir wird was den namenslosen Mann, der von der satten Mitte im­Großes. mer stärker an den Rand des Scheiterns getrieben wird, Sohn: … wurde Nis-Momme ­Stockmann, Student des Studi- Vater: Ich will dich mal angucken. Nee – kuck mich mal direkt an, kuck mir mal in die engangs «Szenisches Schreiben», beim Heidelberger ­Augen. Ah ja – mein Sohn. Du schaffst das. Verrückt. Stückemarkt 2009 mit dem Autoren- sowie dem PubliDu bist ein Verrückter. kumspreis ausgezeichnet. Du schaffst das. Sohn: Ja, ist gut, Papa. Szene 6 – Selbstständig. Vater: Ich steig da ein. Da brauchst du doch bestimmt mal Personen: Vater. Sohn. ­einen für das Einfache und so. Für das Grobe, oder? Ort: Beim Sohn zu Hause. (Vater lacht) Zeit: Abend. Ich merk das, jetzt kommen neue Zeiten. Sohn: Ja also … hier ist dein Bett, Papa. Vater: Du willst dich wirklich selbstständig machen? Vater: Ich falle dir doch nicht zur Last, oder? Sohn: Ja, das muss nur noch mit der Bürgschaft durchgehen. Sohn: Nein, Papa. Vater: Bürgschaft? Vater: War das nicht mal dein Arbeitszimmer? Sohn: Ja ja. Kein Problem, ne Formalität. Sohn: Ja. Vater: Du selbstständig … Vater: Brauchst du das nicht jetzt? Sohn: Ja … Sohn: Nee, ich … (es kommt schwer raus) hab ein Büro. Vater: Verrückt. Also nicht, dass ich das nicht geglaubt hätte. Vater: Ach so … Ist das nicht teuer?


Individuelles  39

Sohn: Vater: Sohn: Vater: Sohn: Vater: Sohn:

Vater:

Sohn: Vater: Sohn: Vater: Sohn:

Vater:

Sohn:

Ach. Ah. Komm, pack mal erst mal aus. Ja. Willst du was trinken? Nee – oder warte mal, na klar – wir trinken jetzt mal schön einen Cognac. Papa, es ist gerade mal … Während der Vater redet, holt er Cognac und ­Gläser aus seiner Reisetasche. Na mal aufs Geschäft. Du bist jetzt dein eigener Chef. Mann, ist das großartig. Man lebt nur einmal, oder? Wir trinken einen und fahren raus an den See. So wie früher. Na? Ein «44’er Bons Bois»? Ja ja. Der kostet doch bestimmt 200 Euro. Ach … Du wohnst hier bei mir, du bezahlst keine Miete. Und gibst dafür 200 Euro für einen Cognac aus. Gewichtige Pause. Ich bin jetzt 10 Minuten hier. 10 Minuten. Und du hältst mir vor …Du hältst mir vor, dass ich keine … Miete zahle? … Du hast 24 Jahre bei mir gelebt. 24 Jahre … Waren deine Mutter und ich geduldig … Mit all deinen wechselnden Hobbys, Überzeugungen, Freundinnen, mit deinen seltsamen Freunden, die regelmäßig geklaut und uns den Hausflur vollgekotzt haben. Sogar mit dem Gekiffe – Nie haben wir einen von euch geschlagen. Papa! Ich will jetzt sofort wissen, wie du an diesen ­Cognac … Warum das … du machst mich fertig. Warum muss das sein? Pause.

ater: Ich hab mir die 200 Euro geliehen. V Sohn: Wie bitte?

Vater:

Sohn: Vater:

Sohn:

Vater:

Sohn:

Pause. Du hast dir 200 Euro für einen Cognac geliehen? Mein Sohn macht sich selbstständig. Dass das mal passiert. Das ist etwas ganz Besonderes. Das passiert ein Mal. Das ist besonders. 200 Euro Papa! Cognac! Jetzt, mein Sohn, kommen bessere Zeiten. Mach dir mal keine Sorgen. Das ist Sache von Papa. Hm? Mann, du! Für 200 Euro kann ich dich fast ne Woche pflegen lassen. Pause. – Der Vater stellt den Cognac langsam auf die Fensterbank. Nimmt seine Reisetasche. Tschuldigung, Papa. Der Vater geht. Nein, Papa, komm. Das war echt nicht so … Pack erst mal aus – Der Sohn will die Reisetasche nehmen. Der Vater hält sie fest, er reißt an ihr um sie loszumachen. Es kommt zu einem kleinen Gerangel. Komm, Papa. Mann. Setz dich mal hin. Setz dich doch mal. Wir trinken jetzt deinen scheiß Cognac, okay. Okay? Er stößt den Vater. Härter als geplant. Er fällt aufs Bett. Die Hand gegen deinen Vater … Der Vater steht auf, schlägt den Sohn ins Gesicht. Der Sohn hält sich entsetzt die Wange, lange Pause. Der Vater will gehen. Der Sohn stößt ihn aufs Bett. Du! Jetzt ist wirklich Schluss. Du bleibst hier!

Uni abschließen – Karriere starten Für alle, die einen Bühnenberuf ergreifen wollen, bieten wir spezielle Unterstützung für die Berufsbereiche: Haben Sie Fragen zu oder Probleme mit: Prüfungsvorbereitung Casting- / Probespieltraining Bewerbungsstrategien Bühnenpräsenz Existenzgründung Förderungsmöglichkeiten Lampenfieber / Auftrittsangst Mentaltraining Umgang mit Medien Marketing für Performer

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40  Individuelles

Die Durchsicht meiner Essvorräte ergibt, dass ich in Zusammenhang mit dem Frühstück in diesem Hotel, in das mich meine Erschöpfung verschlagen hat, wohl nichts mehr einkaufen werde, außer etwas Brot. Die Durchsicht meiner Aufzeichnungen von während und kurz nach meiner letztjährigen Fußwanderung ergibt, dass ich für das Frühstück in diesem Hotel, in das man mich eingeladen hat, wohl nichts mehr werde einkaufen müssen, außer etwas Brot.

Im Waehren des Gehens

Im Waehrend des Gehens geraet der Su das von seinen Zuständen ­wimmelt. Anmerkungen Text: Friedemann Heckel / Zeichnung: Friedemann Heckel

Erlebtes Leben, geschriebenes Leben

Eine einfache erste Empfindung beim Durchsehen war die, zu merken, dass die Notizen viel zu kurz, viel zu nachlässig gehalten sind und einen Großteil der wichtigen Erlebnisse völlig auslassen und andere nicht detailliert genug schildern. Ich vermute, angesichts des Erlebten zu lebendig gewesen zu sein, zu sehr im Leben, als dass es meinerseits einer Erlebnisintensivierung mittels des Schreibens bedurft hätte. Andernorts wird gesagt, es brauche mindestens fünf Jahre, um einen erlebten Stoff erzählen zu können. Wieder andernorts sagt einer, Schreiben sei überhaupt nicht das Aufzwängen einer Form über einen erlebten Stoff, es sei vielmehr ein inneres Aufbauen von etwas völlig neuem, Schreiben sei somit Erleben. So kann ich also nicht den passierten Gang in ­Worte setzen, ein Text zu diesem ist vielmehr und nicht nur ein Zusatz, sondern selbst Gang, selbst voll Schritte, deren Stete erst das Zu-sich-Kommen ermöglicht, deren Rhythmus erst ins Präsenz führt. Vom Rückgriff auf das Erlebte zu schweigen, vom Rückgriff auf das Gelesene zu schweigen, von den Methoden zu schweigen und kein Ich mehr zu nennen, ist das Sich-Hochziehen am Hier

und Jetzt. Spricht einer von dem Zustand der Moderne als einem der chronischen Reflektion, trifft er hier seinen Punkt an und entlarvt mich als unfähig einfach zu erzählen. Deichvorland, Qualmwasser und Rotbauchunken

Die Elbe, ein perennierender Fluss, wird auf Teilen der Strecke ihres Laufes begleitet von einer Deichlandschaft, die man in wie folgt benannte Bereiche aufteilt. An den Fluss schließt das Ufer, daran das Deichvorland, darauf folgt der Deich, hinter dem, unter Umständen, neben den bebauten oder besiedelten Gegenden auch Auwälder und Qualmwasser zu finden sind. Diese Bereiche sind als Gebiete vorzustellen, die dem Lauf des Flusses folgen, ihre jeweils spezifische Fauna und Flora beherbergen und in ihrer Ausdehnung in der Länge von weit größerem Ausmaß sind als in der Breite. Die Breite denke ich als quer zum Fluss liegend, die Länge als längs zum Fluss verlaufend. Die Länge ist für denjenigen der zu vergehende Teil, der sich mit der Bewegungsrichtung des


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nd s

ucher in das Hier und Jetzt, nmerkungen zu einer Wanderung

Flusses bewegen will, d.h. von der Quelle zur Mündung hin. Unter all dem, was sich in dieser Landschaft als an der menschlichen Rezeptivität rührendes aufzählen lässt, möchte ich den sonst seltenen Ruf der Rotbauchunke besonders hervorheben. Dieser Ruf, der die Weite des Landes hörbar macht, begleitet den Jäger, den ich getroffen habe schon seit den Tagen seiner Kindheit als der Ton seiner Heimat. Begegnung mit einem Wilderer

An dem Morgen des Tages, an dem ich ihm begegnet bin, ist er schon in den Wiesen gewesen, um einen Bock zu schießen, heute nur, weil er Lust hatte einen abzuknallen, wie er sagte. Über mich lachte er, als ich seine Frage, ob ich denn wenigstens Angel und Pfanne dabei hätte, verneinen musste und erkannte in mir einen vermeintlich wirklichen Stadtmenschen. Er bot mir dann aber den Dachhasen, die Katze an, die er morgens, weil sie ihm wiederholt seine Fischköpfe geklaut hatte, «abgemurkst» hatte und erklärte mir anschaulich, wie ich sie zuzubereiten hätte. Als ich dieses Angebot trotz einiger Versuchung dankend ablehnte, lachte er abermals über

mich und erklärte mir, wie ich eine Biberfalle über dem Wechsel des Tieres zu bauen hätte, schlug diese Idee dann aber selbst in den Wind, da fünfundzwanzig Kilo Fleisch für einen Einzelnen doch etwas zu viel seien. Am letzten Ende unseres Beisammenseins durfte ich drei vorsichtig in mein Hemd gewickelte Eier mitnehmen und ging so von ihm in den Schein der Abendsonne, die über dem flachen Land mit ihrer Wärme schon vom kalten Nebel der Nacht spricht und Heimweh aufstößt. Steter Schritt, strömende Landschaft, Stille

Im Während des Gehens gerät der Sucher in das Hier und Jetzt, das von seinen Zuständen wimmelt. Die Präsenz nimmt ihn auf, die er sich zurückerläuft, durch die Taktung der Stete des Schrittes im Vorwärtstreiben von weit hinten her in das Eigene zurück, das immer in der Ferne blinkt. Aber sein Blick übersteht den Schritt, der ihn trägt. Wie ein Haupt trägt der Schritt den Kopf durch das stehende Gras. Der Kopf schwimmt durch die stehende Landschaft. Vorbei am stehenden Kopf fließt die strömende Landschaft und in der Gegenrichtung zerzaust Wind die Haare des Kopfes und Wind und Fluss des Landes umher heben im Gegen ihrer Richtungen ihre Bewegungen auf und um den Kopf entsteht eine Stille, das ist die Präsenz. Das Wissen und Können, das mit diesem Zustand aufkommt, sich in der Erinnerung erneut zu erschaffen, will kaum gelingen. Der Weg, das Gegangene verschwindet zwischen den Erlebnissen und Stationen, wie er eben «nur» der Weg vom Wegwollen nach dem Hinwollen ist.


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Traumtaenzer der udk Berlin

Performance der Rhythmikklasse im Hamburger Bahnh «Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer» Text: Fanny Rieber / Fotografie: Hanne Pilgrim, Fanny Rieber Träume haben ein eigenes Tempo. In den Welten, in die uns der Schlaf mitnimmt, verschwimmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Räume nehmen verwirrende Formen an, Ort- und Zeitsprünge werden möglich, die Vorstellungskraft macht sich selbstständig und wir sind der Geschwindigkeit unserer Gedanken ausgeliefert. Und sind sie auch noch so beklemmend. Der Traum erhebt sich über jegliche Regeln unserer realen Logik und erschafft diese neu. Wer einschläft, verlässt seine Ruhestätte und gleitet kaum merklich ins Chaos des autonomen Gehirns. Das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff und George Bures Miller machen den Traum und seinen willenlosen Schrecken zum Thema ihrer jüngsten, gewaltigen Sound Installation «The murder of Crows», die bis zum 17. Mai im Hamburger Bahnhof zu hören und zu sehen war. Im Englischen bezeichnet der Titel den Trauergesang, den Krähenschwärme beim Tod eines Artgenossen anstimmen. 98 Boxen, aus denen mittels einer speziellen, stereophonen Technik aufgenommene Geräusche strömen, umfasst das Werk der kanadischen Künstler. Überlagerung von Klanginstallation und Tanzperformance

Die Rhythmikklasse der UdK hat zu diesem imposanten Raum-Klang-Kunstwerk eine Performance erarbeitet. «Doppelhelix» nennen sie ihr gewagtes Projekt, mit dem sie das Ineinandergreifen von Traum und Wirklichkeit verkörpern wollen. Gewagt deshalb, weil die klangliche Welt von «The murder of Crows» die Aufmerksamkeit eigentlich schon völlig beansprucht. Jeder Besucher wird in einen Traum mitgenommen, viele schließen die Augen. Es fällt schwer


Individuelles  43

r an n

ahnhof

diesem Versinken in der auditiven Welt eine visuelle Komponente hinzuzufügen. Hans Block, Student der Rhythmikklasse, erzählt, dass sich dynamische Bewegungsabläufe bei den Proben eher als störend erwiesen haben. Daher entwickelte sich eine subtile Abfolge von tänzerischen und szenischen Bildern, die eigene Träume ausdrücken. Die Tanzenden fallen anfangs nur durch ihre helle Kleidung auf. Ihre Bewegungen sind bedächtig. Krähen fliegen über unsere Köpfe hinweg, ihre Schreie sind menschlichen Schreien verwandt. Eine einzelne Gestalt tanzt nah an der weißen Wand. Die anderen liegen im Raum verteilt auf dem Boden. Die verschlafene Stimme Janett Cardiffs spricht aus einem Grammophon im Mittelpunkt der ­Halle. Sie erzählt einen Alptraum, während die weißen Traumtänzer sich langsam erheben, in Zeitlupe vorwärts schreiten. Klang und Träume formen die Körper

Aus allen Richtungen tönt der Klang einer unwahrscheinlichen Welt in die Gehörgänge. Aus jedem Lautsprecher eine andere Stimme, alles fügt sich zusammen als stünde man in Mitten eines Chors von Mönchen. Das Hörerlebnis ist räumlich unsagbar real, aber die erzeugte Welt führt von einem Ort zum anderen. Vom Außenraum in den Innenraum. Überdimensional laut. Die Performance antwortet mit Zurückhaltung. Linien werden im Raum vollzogen, aufeinander zulaufen, doch jeder bleibt in seiner eigenen Welt. Flügelschlagen, Schritte, der verzweifelte Fluchtversuch aus dem eigenen Unterbewusstsein. Musik bringt Erlösung. Instrumente mischen sich mit russischen Männerstimmen, die ein antifaschistisches Kriegslied singen. Zu diesem Zeitpunkt

e­ rreicht die Performance ihren Höhepunkt, nun teilen die Tanzenden sich mit dem Sound endgültig die geballte Aufmerksamkeit. Sie bewegen sich mit einer Stoffbahn, lassen das Tuch mit der Musik anschwellen und abflachen, verschwinden dahinter als Schattenfiguren, nehmen die abstrakten Körper erträumter Figuren ein. Aus dem Grammophon in der Mitte des Raumes keucht es schwer. Die spontane Konnotation wirkt beim zweiten Hinhören nicht wie ­sexuelle Erregung, sondern wie das ­angstvolle Stöhnen einer Schlafenden. Zuletzt singt Cardiffs Stimme schön und sanft ein Wiegenlied, das die Besucher wieder in die Realität befördert. Und auch die Traumtänzer, die vor dem Fenster in farbigen Gewändern einen Freudentanz vollführen kehren unter die Menschen zurück. «Manches geschieht beiläufig am Rande, vielleicht vom Publikum unentdeckt, anderes drängt sich in den Vordergrund und fordert zum Hinsehen auf. Es entspinnt sich eine zweite Wahrnehmungsebene, die sich um das Hören schlingt: Doppelhelix.» Das Projekt wurde koordiniert von Prof. ­Dorothea Weise-Laurent und Hanne Pilgrim vom Institut für Musikpädagogik der UdK Berlin und Daniela Bystron des Hamburger Bahnhofs.


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Termine Projekte zum Mitmachen

Ausstellungen

Zukunftspreis Kommunikation

As Time Goes By – Kunstwerke über Zeit

Zum vierten Mal wird am 3. November 2009 der «Zukunftspreis Kommunikation» für das innovativste Konzept, die beste futuristische Vision oder eine herausragende Analyse zukünftiger Kommunikationsformen verliehen. Der Wettbewerbsbeitrag zur Kommunikation der Zukunft kann in Form von Konzepten, Objekten oder Zeichnungen, Modellen, Programmen oder Visualisierungen bis zum 30. September 2009 eingereicht werden. Mehr: www.zukunftspreis-kommunikation.de Gesellschafter Art.Award

bis zum 31. August 2009 Die Auseinandersetzung mit der Zeit ist so alt wie die Kunst selbst. In dieser Ausstellung werden Historiengemälde, Fotografie, Video, Modelle und andere Genres gezeigt und die Wahrnehmung zeitlicher Abläufe hinterfragt. Mehr: www.berlinischegalerie.de Rundgang an der UdK Berlin

17.–19. Juli 2009 Die Studierenden der verschiedenen Fakultäten zeigen u.a. Projekte, Diplomarbeiten und Kunstwerke. Ein ausführliches Programm mit Standorten und Veranstaltungen ist auf der Homepage der UdK zu finden. Mehr: www.udk-berlin.de.

Die Kölner Kunstmesse Art.Fair 21 und die Aktion Mensch laden junge Künstler ein, sich mit der Fragestellung «In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?» auseinanderzusetzen. Der Art.Award wird in den Bereichen Fotografie und Malerei verliehen und zu gewinnen gibt es Wettbewerb für die kommende eigenart #74 den Druck eines Kataloges, die Gestaltung einer eigenen Website sowie einen Gutschein für Künstlerbedarf. Be- Wir haben uns über zahlreiche Einsendungen zum Thema «Geschwindigkeit» gefreut und die Besten mit DVDs werbungsschluss ist der 31. Juli. Mehr: www.diegesellschafter.de prämiert. Auch für die kommende eigenart rufen wir euch auf, dabei zu sein. Das Thema und den Einsendetxt’hype – Magazin für Sprachkultur schluss findet ihr nach der vorlesungsfreien Zeit auf Dieses neue Magazin wird ab September die Sprache und Mehr: www.asta-udk-berlin.de/eigenart. den Ausdruck in den Mittelpunkt rücken und untersuchen, wie die Gesellschaft ihr Kommunikationsinstru- Die eigenart sucht natürlich auch abgesehen vom Wettment benutzt. Mitschreiben, -fotografieren, -denken ist bewerb immer intelligente, talentierte, kritische Grafiker, erwünscht und Beiträge können von allen, die sich von Journalisten und Gastautoren sowie UdK-Studierende, Wort und Formulierung begeistern oder verwirren las- die ihre Werke der Öffentlichkeit vorstellen möchten. sen, an die Redaktion gesendet werden. Mehr: www.txthype.de

Eigenart_187x85_0509_5:Layout 2

28.05.2009

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Herausgeber

Allgemeiner Studierenden-Ausschuss (AStA) Universität der Künste Berlin Hardenbergstraße 33 10623 Berlin Telefon 030. 31852464 Redaktionsleitung / Anzeigen

Claudia Dorfmüller, Sonja Peteranderl eigenart@asta-udk-berlin.de www.asta-udk-berlin.de/eigenart Gestaltung

Valerie Assmann, Theresa Grebin Autoren

Valerie Assmann, Birgit Binder, Claudia Dorfmüller, Hardy Dummert, Mirus Fitzner, Friedemann Heckel, Interflugs, Michael Irrling, Hans Kämmerer, Karoline Kreißl, Sonja Peteranderl, Johanna Preusse, Fanny Rieber, Wilkin Schröder, Nis-Momme Stockmann, Thomas Willis Illustrationen

Valerie Assmann, Roland Brückner, Sandra Gobet Fotografie /Zeichnungen

Lamine Noah Bodanowitz, Lea Brumsack, Jakob Cevc, Friedemann Heckel, just.ekosystem.org, Almudena Lobera, Hanne Pilgrim, Fanny Rieber Lektorat

Claudia Dorfmüller Druck

Druckerei Conrad GmbH, Berlin Die eigenart ist das AStA-Studierendenmagazin der Universität der Künste und e­ rscheint einmal im Semester. Veröffentlichungen stellen die persönliche Meinung des Verfassers dar. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion.



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