eigenart #72 - Utopie

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eigenart

AStA-Studierendenmagazin der      Universität der Künste Berlin

Februar 2009 #72


Utopia: Einladung ins Niemandsland

Text: Sonja Peteranderl

Die White Queen verlor die Bodenhaftung durch hartes Training: «Seither gelingt es mir manchmal, an bis zu sechs verschiedene unmögliche Dinge zu glauben – vor dem Frühstück!» Wie verlockend bis verstörend es ist, sich außerhalb der Gewohnheiten und Regeln zu bewegen, hat Alice im Wunderland erfahren. Ausbruch, und sei es auch nur in Gedanken, ist wohl die Grundlage jeder Utopie – der Visionär muss fähig sein, jenseits des Hier & Jetzt und jenseits der realen Situation Alternativen und Ausblicke zu produzieren. Erst durch Abstraktion, Phantasie, Kreativität werden Alternativen, selbst wenn sie noch so bizarr erscheinen, sichtbar gemacht. Womit auch klar wäre: Es ist auch oder gerade ein Ort wie die Universität der Künste, an dem Utopien entstehen können. Mit «Utopia», Nicht-Ort, hatte Thomas Morus 1516 seinen Roman betitelt, auf dem die fiktive ­Insel zum Raum für eine optimale Gesellschaftsordnung wurde. «Utopie» avancierte danach zum Sammelbegriff für frühere und spätere gesellschaftspolitische Ideal-Entwürfe, phantastisch an­mutende Gespinste oder düstere Zukunftsprognosen (Dystopien). Im utopischen Denken wird die Gegenwartsfixierung überwunden, indem die momentane Situation idealistisch oder kritisch in die Zukunft projiziert oder gänzlich neu entworfen wird. Beim postmodernen Menschen stellte Paul Watzlawick einen Trend zum Utopie-Syndrom fest, zur ständigen Orientierung am Unerreichbaren und den unbefriedigenden Konsequenzen. Selbstvorwürfe, Fremdvorwürfe, Enttäuschung oder missionarischer Eifer mit allen Mitteln führten angesichts der uneinlösbaren Ideale eher zur Verschlimmerung des Realzustands. Andererseits: Ohne Kritik, eine Aushandlung von Optionen und Avisierung langfristiger, nachhaltiger Ziele und Strategien, die zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht unrealistisch sind, kann sich eine Gesellschaft kaum (positiv) entwickeln. Hiltrud Gnüg sieht die Utopie gar als «Appell, der Vernunft zu ihrem Recht in der Geschichte zu verhelfen». Heute Phantasie, morgen Realität

Ob einer Utopie die Transformation zur Wirklichkeit gelingt, zeigt die Zeit. In «Gelebte Utopien» analysiert die eigenart, inwieweit morus’sche oder orwellsche Visionen sich im Alltag bewahrheiten. Dass man sich Räume erst erobern muss, wird bei der Exil-Kunstausstellung «Teheran-Biennale», «Frauen­ fußball im Iran» oder den Ausführungen Thomas Düllos zur Straße als utopischem Ort deutlich. Wie schwer und kleinteilig es ist, Visionen umzusetzen, zeigt Julia Bränzel, die sich in ihrer Politdoku ­«Interessenvertretung» mit dem letzten großen studentischen Streik beschäftigt hat. Ganz schnell zeigt sich, dass es die eine, gemeinsame, totale Utopie gar nicht gibt. Im universitären Teil hinterfragt die eigenart außerdem, wie es um den Mythos Interdisziplinarität an der UdK und die ambitionierten Ziele der Einsteinstiftung steht. Unser Ziel für 2009: Als AStA-Studierendenmagazin der Universität der Künste möchte die ­eigenart zum experimentellen Forum für die verschiedenen Fakultäten werden. Wir wollen den interdisziplinären Diskurs fördern, kreative Projekte und Personen vorstellen sowie hochschulpolitische Strukturen und Entwicklungen für die Studierenden transparenter machen. Ab sofort ist die eigenart übrigens auch online unter www.asta-udk-berlin.de/eigenart zu erreichen. Viel Spaß beim Lesen und Weiterdenken! Eure eigenart-Redaktion # 72


Elementares

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Aktion leere eigenart Dialog als Utopie Gelebte Utopien – Phantasmen im modernen Alltag Teheran Biennale Spezifisches Kino – Strategien zur Bemächtigung der Bilder Grenzgänger – Gedanken zu utopischer Architektur

Visuelles

14 ActiveStills – Fotos für Verständigung 16 Jakob Cevc – Beijing in Bewegung

Universitaeres

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Nur Freunde von Freunden? – Vernetzung an der Universität der Künste Der neue Nabel der Stadt Olafur Eliasson und das Institut für räumliche Gestaltung Einsteinstiftung – Einstein als Ansporn

Individuelles

26 Permeables aus Schwellen, Bewegungen, Übergängen – Interview mit Dr. Thomas Düllo 29 Urbane Verwandlung – Interview mit Yimeng Wu 33 Fremdprojekt: Marcuse und die Entstehung der Anti-Depressiva 34 «Bewegt eine Demo noch irgendwas, wenn alle daran glauben?» – Interview mit Julia Bränzel 36 Ein utopischer Moment – Frauenfußball im Iran 38 «If something doesn’t have a story, it’s meaningless» – Industrial Design von Noa Lerner

Sonstiges 0 Teminkalender 4 U3 Impressum


2  Elementares

Aktion

leere eigenart Ist die Menschheit durch Kunst noch zu retten? Wohin bewegt sich eine Universität der Künste? Welche Fragen stellt die Postmoderne? Was kommt danach? Wird das Virtuelle zur neuen Realität? Was passiert mit Berlin? Wie kommt das Neue in die Welt? Ist anders immer besser? Was ist utopisch? Und durch was wird Utopie real?

Um diese Zukunftsfragen mit dem gemeinsamen geistigen Dynamit einer Universität der Künste zu bearbeiten, haben wir 100 leere eigenart-Zines ausgelegt (unten rechts) und die Studierenden um Assoziationen und Feedback gebeten. Das Gros der Magazine hat sich leider selbst ins Niemandsland verflüchtigt. Alex Buschki und Daniel ­Kupferberg haben «hätte» als Wort der Utopie identifiziert (unten links) und für Roland Brückner sind die Bremer Stadtmusikanten (rechts) eine «Super­utopie», denen ein durch Sprache heraufbeschworenes Monster ihre Herzen mit Feuer aus dem Körper reißt.



4  Elementares

Dialog als Utopie Text: Sonja Peteranderl

Von monologischen, starren Strukturen zu dialogischen, kollaborativen Prozessen: Eine Veränderung des Kommunikationsprozesses ist die Grundlage vieler moderner Utopien. Ein Paradigmenwechsel von der unidirektionalen zu einer wechselseitigen, prozessualen und vernetzenden Kommunikationslogik ist es, der viele moderne Utopien und zukunftorientierte Gesellschaftsbeschreibungen inspiriert. Kommunikation ist dabei nicht nur als konkreter Informationsaustausch oder Interaktion zwischen Individuen zu denken, sondern betrifft alle Felder und Objekte, denen Botschaften und Bedeutungen inhärent sind. Dass den kulturellen Kommunikationsprozessen die Insignien von Macht und Hierarchie eingeschrieben sind, legten kommunistische Denker sowie die Kulturtheorie der Cultural Studies offen. Die einseitige Expressionsmöglichkeit bildet unausgewogene Beziehungsgefüge und Gesellschaftsformen auf individueller Ebene ab. Der Medientheoretiker Vilém Flusser entwarf eine auf Dialogen basierende «Telematische Gesellschaft», welche die alten, starren, einseitigen Diskurse der Macht aufbrechen sollte. Die revolutionäre Gesellschaft könne sich nach der Abschaffung der Autoritäten als undurchsichtiges Netzwerkgebilde, als «kosmisches Hirn», kybernetisch selbst lenken. Die utopische Weltversion von Flusser entspricht einem fluktuierenden, sich ständig erneuernden Dialog. Kommunikationsapparat statt Monolog

Bertolt Brecht regte 1932/33 an, den Rundfunk «aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln». Auch bei Walter Benjamin, insbesondere in seiner Rede «Der Autor als Produzent» (1934) sowie in Hans Magnus Enzensbergers «Baukasten zu einer Theorie der Medien» von 1970 findet sich die Vision einer neuen Kommunikationskultur. Über Brecht, Benjamin und Enzensberger formten sich die in den 70er Jahre aufgekommenen alternativen Medienkonzepte. Das Prinzip einer Gegenöffentlichkeit findet sich in aktuellen Topoi wie «Grassroots Journalism» und «Bürgerjournalismus» wieder, welche das Internet als Forum für die direkte Partizipation an öffentlicher und politischer Meinungsbildung erachten. Die Aufhebung von Produzent und Rezipient, Distributions- und Kommunikationskanal, die Möglichkeit, (Medien-)Institutionen mit dezentralisierter Stimmenvielfalt zu entgegnen, verwirklichen sich teilweise im Social Web. Es weist das strukturelle Poten-

zial auf, um Stimmen abseits der Massenmedien zu repräsentieren, auch wenn sich beispielsweise 70 Prozent der deutschen Weblogs noch mit privaten Problemen statt gesellschaftlichen Prozessen oder kollektiver Wissensproduktion beschäftigen. «Der Cyberspace besteht aus Beziehungen, Transaktionen und dem Denken selbst, positioniert wie eine stehende Welle im Netz der Kommunikation», schrieb John Perry Barlow 1996 in seiner «Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace». «Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft». Der Soziologe Manuel Castells, der 1996 den Begriff der «Netzwerkgesellschaft» prägte, beschrieb die Metastruktur der globalen Gesellschaft als einen Strom netzförmiger Verknotungen aus Information, Macht, Technik, Kapital. Castells verweist eine herrschaftsfreie Welt jedoch in den Raum der Utopie, indem er auch die Löcher, das Abseits des globalen Netzwerkes beschreibt, das Länder exkludiert oder benachteiligt.

Kollaborative Kunst: Fluxus, Performances und Happenings Im Kontext der Kunsttheorie formulierte der Schriftsteller Sergej Tretjakov 1923 das Postulat einer Aufhebung der Grenzen zwischen Produzent und Rezipient, der er beim «Kampf um das Bewusstsein» eine zentrale Rolle zuwies. In den vom Dadaismus inspirierten Kunstformen der 60er Jahre wie Action Painting, Fluxus, Performances und Happenings hoben die Künstler die Dominanz des statischen Leinwandwerkes auf. Kunst entstand auf einmal als Prozess, kollektiv und multimedial, durch Körper, Bewegung und Alltagsgegenstände. Der Passant und seine Reaktionen wurden zum Teil der Kunst. Joseph Beuys versuchte die Eintrittsbarrieren an Kunsthochschulen abzuschaffen, um jedem zu ermöglichen, sich künstlerisch zu betätigen. Mit dem «erweiterten Kunstbegriff» und seiner Vorstellung von einem utopischen Gesamtkunstwerk, der «Sozialen Plastik», forderte ­Beuys eine Beteiligung von Kunst und Künstlern an der Gestaltung der Gesellschaft. Bisher separierte Bereiche wie Kunst, Politik, Wissenschaften sollten gemeinsam an einer Zukunftsvision arbeiten. Konzeptkünstler wie Felix


Elementares  5

Gonzalez-Torres verdeutlichen das Prozesshafte und Vergängliche, indem die Elemente von Installationen wie «stacks» (Papierstapel) oder «candy spills» (Bonbons) von den Besuchern mitgenommen werden, die Aussage entsteht erst durch ihre Aktivität. Die künstlerische Arena der Postmoderne stellt Authentizität und Originalität in Frage, vielfach werden Werke, Zitate, Stile, Material, Bereiche wie Design, Kunst und Architektur verbunden und recycelt. Dennoch ist die exponierte Position des Künstlers gegenüber dem Normalbürger, zumindest im Kunstmarkt, nicht abgeschafft. Zwar kann jeder durch leicht zugängliche Software und Verbreitungswege seine 15 Minuten Ruhm erlangen, laut Siegfried Zielinski, Professor am Institut für zeitbasierte Medien der UdK, ist die Kunst der Massen aber eher ein Komplementärphänomen: «Mit diesen selbsternannten Künstlern und Künstlerinnen werden wir an die Grenzen des Nicht-Überschreitens von Vorhandenem stoßen, und dann brauchen wir Leute, die dazu in der Lage sind, auf ganz anderen Planeten zu Hause zu sein.»

Lebendige Städte als sozialer Raum Das Kunsthaus in Graz von Peter Cook und Colin Fournier schmiegt sich wie ein waberndes Science-Fiction-Gebilde an die Altstadt. Durch die «BIX»-Medieninstallation aus Lichtringen fungiert die Fassade als Membran zwischen Kunsthaus und öffentlichem Raum. Mit dieser Medialisierung schufen die Berliner Künstler «realities:united» eine kommunikative Fläche sowie Außenraum für Kunst, auf den Zeichen, Texte und Film aufgespielt werden können. Die interaktive Variante medialer Architektur oder medialer Installation auf Architektur bindet den Zuschauer in den Schaffensprozess ein. Die aus dem «ChaosComputerClub» hervorgegangene Gruppe «Blinkenlights» veröffentlicht ihre lizenzfreie Projektsoftware zur Erstellung von Animationen im Internet, so dass jeder seine Kreation einsenden kann und die kollaborativen Kunstaktionen auf Fassaden auch zahlreiche Nachahmer fanden. «Blinkenlights» realisierten bisher mehrere interaktive Projektionen auf dem Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz («Blinkenlights»), auf der Pariser Bibliothèque Nationale («Arcade») und 2008 wurde die City Hall in Toronto in Szene gesetzt («Stereoscope»). «Cities should generate, reflect and activate life, their structure (should be) organized to precipitate life and movement», forderte Peter Cook 1963 in seinem Magazin «Archigram». Als Formierung junger Londoner Architekten brach die «Archigram-Gruppe» den herrschenden statischen Architekturbegriff auf und prägte die Avantgarde in der 60ern und 70er durch verspielte, assoziative Visionen, die von Technologie und Pop-Art inspiriert waren.

Die Gruppe plädierte für eine «living city», Städte sollten als sozialer Raum einen einzigartigen Organismus darstellen, der sich den Bedürfnissen der Menschen anpasst.

Roboterähnliche Wohngebilde auf Beinen Dieses flexible Stadtkonzept spielte «Archigram» gedanklich bis zu einem permanenten Austausch aller Elemente durch. Inspiriert von Le Corbusiers Wohnmaschine setzte sich die «Walking City» aus roboterähnlichen Wohngebilden auf Beinen zusammen, die ihren Standort wechseln können. Das «Cushicle» stellte eine komprimierte Wohneinheit für den modernen Nomaden dar. Die individuelle, tragbare Ausrüstung mit Medienausstattung im Helm sowie Wasser- und Nahrungstanks sollte «part of a more widespread urban system of personalized enclosures» sein. Auch Roland Gnaiger plädiert für ein Verständnis von Wohnen als individuellem sowie gesellschaftlichem Prozess. «Siedlung ist nicht die Summe der Häuser, sondern deren Multiplikation. Da entsteht ein Mehrwert. Wir brauchen Häuser, Elemente, die miteinander im Dialog stehen.» Der österreichische Architekt formuliert weniger futuristisch anmutende Konstruktionen als Archigram. Er denkt an mobile, versetzbare Häuser, an Wohnungen als Module, die sich je nach Lebensphase von der Single-Wohnung zur Mehrfamilienkommune erweitern lassen. Durch Nutzungsneutralität sollten Flächen sich temporär von Wohnraum über ein Design-­Büro bis hin zur Arztpraxis verwandeln lassen können. Der Zwischenraum als Raum des Dialogs verbinde Wohneinheiten, Stadtviertel, Zentrum und Peripherie. Grüne Utopien

Utopien bilden auch vermehrt die Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt und die Notwendigkeit ökologisch sinnvoller Energiekreisläufe ab. Nachhaltigkeit und ökologische Aspekte sind aktuelle Themen, denen sich bereits der Science-Fiktion-Architekt Buckminster Fuller widmete, der sich verschiedener Disziplinen bediente und zum Beispiel schwebende, von Solarenergie angetriebene Megastadtkugeln entwickelte. Durch «Comprehensive Anticipatory Design Science» und Kooperation der Staaten, die zur Steuerung des «Raumschiff Erde» aufeinander angewiesen seien, sollten Probleme wie Armut gelöst werden: «Make the world work, for 100 percent of humanity, in the shortest possible time, through spontaneous cooperation, without ecological offense or the disadvantage of anyone.» Die Utopien von herrschaftsfreien, nachhaltig agierenden, sozialen Gesellschaften werden immer wieder aktualisiert – durch moderne Technologien, Wissensaustausch und den Willen zum Dialog scheinen sie ein Stückchen greifbarer zu werden.


6  Elementares

Gelebte Utopien

Phantasmen im modernen Alltag

Text: Sonja Peteranderl

Die utopischen Klassiker von Platon, Morus, Orwell und Huxley zeichneten Ideale oder Schreckenbilder der Zukunft. Was für ihre Zeitgenossen kaum vorstellbar war, wurde nicht selten zur späten Wahrheit.

Platon: «Politeia» (370 v. Chr.)

Die weibliche Besetzung der Polit-Spitzenposition mit Frau Merkel ist ein Novum – trotz der mittlerweile fast empfundenen Selbstverständlichkeit. Als Platon in seiner Staatsutopie die Idee der Gleichberechtigung erläuterte, war dies geradezu provokant. «Es gibt keine Beschäftigung eigens für die Frau, nur weil sie Frau ist, und auch keine eigens für den Mann, nur weil er Mann ist», korrigierte er den Mythos vom schwachen Geschlecht. In seinem Idealstaat sollten die von Vernunft geleiteten Philosophen dirigieren – als Gradmesser der Eignung ließ Platon allein den Intellekt gelten. Ebenso radikal entwarf er die Ablösung von Familienstrukturen durch die Teilung von Gütern und Lust. Statt sexueller Revolution hatte der Philosoph allerdings ein optimiertes Fortpflanzungsprogramm im Sinn. Die selektive Reproduktion bis zum Aussortieren «untauglicher» Säuglinge finden sich im Traum vom arischen Übermenschen wieder. Angesichts von Prädiagnostik wie Gentechnik bedient Platon eine hochaktuelle ethische Debatte. Thomas Morus: «Utopia» (1516)

Thomas Morus erschuf mit seinem genreprägenden Werk über das Leben auf «Utopia» einen gesellschaftlichen Kosmos, der den Real-Verhältnissen diametral gegenüberstand. Als Grundlage und Hindernis für soziale Gerechtigkeit identifizierte Morus (als Weiterentwicklung von Platon) Privatbesitz – und nahm mit seinem Gemeinwesen die marxistische Grundkonzeption vorweg: «Wo allen alles gehört, ist jeder sicher, dass keinem etwas fehlt […]. Obwohl keiner etwas besitzt, sind doch alle reich.» Der Abschied vom Mittelalter drückt sich in einem säkularisierten Glücksversprechen aus; gemeinsame Organisation, Produktion, Konsum und die Arbeitsbeschränkung auf sechs Stunden ermöglichen ein «fröhliches Leben». Dem Rationalitätsprinzip folgt Homogenisierung: Die Utopier teilen die gleiche(n) Sprache, Sitten, Gesetze, auch Städter üben sich in Landarbeit (analog der Intellektuellen-Landverschickung unter Mao) und die standardisierte Architektur löscht durch strenge Geometrie Individualität und wilde Natur aus, was den Charme ­einer Reihenhaussiedlung besitzt.

George Orwell: «1984» (1948)

Durch den Einsatz von Röntgentechnik am Flughafen ist die Metapher vom «Gläsernen Menschen» 2008 in sehr konkreter Form aktualisiert worden. Orwell projizierte die Grundelemente von Nationalsozialismus und Kommunismus auf eine düstere Zukunft der Überwachung. Er beschreibt einen totalitären Staat, der das rebellierende menschliche Subjekt mittels Informations-, Medienund Gedankenkontrolle zum Scheitern verurteilt. Die an Kameratechnik erinnernden Televisoren stellen – als Negativ-Vision des Brechtschen Kommunikationsapparats – die ständige Kontrolle der Privatsphäre dar, sie entlarven durch Scanning von Mimik und Gestik auch Gedankenverbrechen. «Big Brother is watching you». «Big Brother», die Führungsfigur des Ein-Parteien-Systems, dringt in jegliche Intimität ein, gleichzeitig ist in den Familien gegenseitige Sorge Bespitzelung gewichen. Eine Legitimation der Herrschaft erfolgt wie bei Bush durch das «Shock-&-Awe»-Prinzip. Konstruierter Dauerkrieg und Hasssendungen sorgen für Zusammenhalt. Zwar ist Deutschland zumindest nicht totalitär – dafür ist der Zugang aller zu Daten fast «demokratisch». Jeder Neugierige oder Nachbar kann sich durch Online-Recherche, Inversanfrage oder Hacks persönlicher Daten bedienen. Gesetze zu Onlinedurchsuchung, Datenspeicherung, Abhörung etc. schaffen die Grundlagen. Wie unberechenbar der Datenverkehr ist, illustrieren die letzten Skandale – von Telekom über Lidl bis zu den statt Weihnachtsstollen versandten Daten der Landesbank Berlin. Aldous Huxley: «Schöne neue Welt» (1932)

Der Missbrauch der Wissenschaft zu eugenischen Zwecken ist das Leitmotiv von Huxley. Er skizziert – als dystopische Fortsetzung von Platon – die Verfahren künstlicher Reproduktion und die Anpassung der Menschen an ihre gesellschaftliche Funktion. Die Fragen nach freiem Denken, Individualität und gesellschaftlicher Kontrolle durch Wissenschaft bewegen Philosophie und Forschung noch immer. Ebenso ist die «Schöne neue Welt» von Jugendwahn, Todesverdrängung und der Suche nach Glück, das am Kontostand gemessen wird, getrieben. Willkommen in der modernen Konsumgesellschaft?


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Eine

Biennale Teheran in Istanbul ist eine andere als die Biennale Teheran in Berlin ist eine andere als die Biennale Teheran in Belgrad

Text: Claudia Dorfmüller / Interview: Claudia Dorfmüller & Ulrike Bernard / Fotos: Amirali Ghasemi & Lis Chevalier

«The art-people generally, also the art market and the system are going towards something which we don’t like. So if we keep standing, where we are standing they are going more far. Not us. [...] And sometimes […] you will think of other strategies to survive and to continue to built up your utopia.» Amirali Ghasemi und Serhat Köksal sind unterwegs. In zwei Koffern haben sie eine komplette Biennale untergebracht und ziehen damit von Großstadt zu Großstadt. Die beiden Ausstellungsorganisatoren waren bereits in ­Istanbul und in Berlin, ihre nächste Station wird Belgrad sein. Sie packen ein – sie packen aus. Dabei verändert sich ihr Projekt «Urban Jealousy» mit jeder Stadt, passt sich den Gegebenheiten an, greift ortspezifische Themen auf und gibt im Gegenzug ihre Ideen weiter. «In every city we would like to know what are the options not to use this space but to respect it and to work to understand it.» Diese Ausstellung ist eine Nomadin, die aus Teheran kommt, aber gar kein ­Interesse daran hatte, sich überhaupt in Teheran zu zeigen. Lieber reist man, die gepackten Koffer immer dabei, quer durch Europa. Mit der Unterstützung von freiwilligen Helfern, Mitstreitern und -denkern breitete sich die Biennale im ­November 2008 in Berlin aus. Diese Ausstellung war nie dafür vorgesehen, nur eine Sache von zwei Leuten zu sein; sie ist kein abgestecktes Feld, zu dem man nur kommt, um auszustellen oder um es sich anzuschauen, denn sie funktioniert nur dann, wenn es immer wieder Leute vor Ort gibt, die sich einbringen und Ideen haben. «The people have to open themselves and we can not tell them exactly what to do. We don’t want to keep the control or to have the power over them. We are in the same level. Because it’s not our exhibition. It’s everybodies.» Amirali Ghasemi und Serhat Köksal verstehen sich nicht als Kuratoren, die allein die Zügel in den Händen halten. Sie haben den größten Überblick über ihre Ausstellung, aber am Entscheidungsprozess sind oft mehrere beteiligt. «We started this idea together, but many people came to Istanbul and helped us. Then in Berlin we were even more people and together we decided some things. We are not the ­curators.»

Kunst als Möglichkeit der Kommunikation Als Serhat Köksal Ende 2007 am Artist-in-Residence-Programm des Künstlerhauses Bethanien teilnahm, besuchte ihn Amirali. Zusammen entwickelten sie die Idee der umherreisenden ‹Mini›-Biennale Teheran, sendeten im ­Februar über Mailinglisten ihren thematisch offenen Call-for-Artists in die ganze Welt und bekamen Massen an Zuschriften. Mehr als 400 Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt reagierten darauf und schickten ihre Arbeiten nach Istanbul zur ersten Station. Direkt in den Briefkasten von Serhats Mutter. In der heißen Phase kamen zehn bis 15 Päckchen am Tag und noch einen Monat nach der Eröffnung am 30. Mai schickten Leute ihre Kunst. Der Hintergrund der beiden erzählt einen Teil der Geschichte dieses Projektes. Serhat Köksal, der Mann aus Istanbul, weiß, was es heißt, mit Begriffen der kulturellen Gegenwart humorvoll umzugehen und dabei kritische Themen zu entlarven. Mit seinen audiovisuellen Performances ist er in der ganzen Welt unterwegs und recycelt die Massenkultur. Amirali Ghasemi hat in Teheran unter anderem die Parking-Gallery mitgegründet, ein Ort, an dem man mit Netzwerken arbeitet und große Öffentlichkeit meidet, lieber im etwas kleineren Stil ausstellt, dafür aber ohne Einschränkungen. Wichtig ist auch hier, wie bei der jetzigen Biennale Teheran, dass man die Kunst als Plattform, als


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Grund sich zu treffen, als Möglichkeit der Kommunikation versteht. In Berlin hat es funktioniert: «Through this strange combination of event and happenings and artworks so many things happened between the artists. A lot of musical collaboration started and a lot of other collaboration. A lot of knowledge transfer between the people how you do that, how you do this. From the very basic technical things to the more theoretical things.»

«Im Iran ist Kunst schwierig, oder sagen wir eher: Sie hat ihren eigenen Zustand.» Im Iran hat Kunst ihren ganz eigenen Zustand. Natürlich gibt es eine offizielle Kunstszene mit allem drum und dran: Großausstellungen, Biennalen, Fördergeldern und -möglichkeiten. Dazu sagt Amirali nur: «We never felt related to these kind of things. We always had our own low-budget projects.» Da es keine unabhängigen, experimentierfreudigen Jurys und Förderer gibt, wendet man sich von der offiziellen Szene ab. Außerdem wird viel manipuliert und in­ strumentalisiert, im politischen Sinn, aber auch im kommerziellen. Und auch das große Interesse des Westens am Mittleren Osten verfälscht die Kunst: «Oft wird die klischeebehaftete, von den Medien geprägte, westliche Sichtweise auf den Iran von den dortigen Künstler nur bestätigt, mit der Annahme, dass man diese Ästhetik im Westen leichter vermarkten kann.» Um sich ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren, ziehen sich Leute wie Amirali dann lieber ins Private zurück und organisieren mit Freunden und Kollegen etwas, für das nur ein minimales Budget zur Verfügung steht, aber man muss sich nicht rechtfertigen oder verbiegen. Ohne offizielles Geld auszukommen, bedeutet, mehr inhaltliche Freiheit und Beweglichkeit zu haben – für die Biennale Teheran zwei grundlegende Vorraussetzungen: «We can afford this kind of freedom in form, because we’re not going too much official. We could have applied for something, but then we would have to bring something in a certain standard that they expect. We should always go to meetings and presentations and always try to convince people what we want to do and we’re not really sure about. I cannot do and I don’t like this.» Wenn sie mit ihrer Biennale nach Europa kommen, geht es ihnen nicht darum, iranischen Künstlerinnen und Künstlern eine Möglichkeit zum Ausstellen in Europa zu bieten. Nur ein kleiner Prozentteil der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler kommt aus dem Iran. Es ist auch nicht ihr Anliegen, zu zeigen, wie es der Kunst im Mittleren Osten geht, oder was es heißt, in einem System wie dem iranischen als Künstler zu arbeiten. «No. It is not about that. This is not my concern. What I can do in Teheran and what is possible in Teheran is a different issue than what are the possibilities here. We don’t want to create a capsule around us, like: ‹we are from this and this city and we want to showcase this and that›. No.»

Biennale als Prozess Sie machen lieber das, was für sie viel interessanter ist: unterwegs sein, Leute kennenlernen, gemeinsame Themen finden, zusammen arbeiten, ausstellen. In Berlin haben sie dafür verschiedene Orte gefunden, an denen Performances, Konzerte, Video-Screenings, eine Podiumsdiskussion und Ausstellungen stattfinden. Die einzelnen Stationen veränderten das Projekt, ließen aus der Biennale einen Prozess werden. Hatte es in Istanbul noch ein dreistöckiges Gebäude für die Ausstellung gegeben, war die Situation in Berlin eine andere. Für die Präsentation der 400 eingesandten ‹travelsize›-großen Arbeiten steht im New Yorck, dem besetzten Teil des Künstlerhauses Bethanien, nur ein einziger Raum zur Verfügung. Trotz der kleinformatigen Arbeiten, die maximal A3-groß sind, hängen im Raum dicht an dicht Fotos, Zeichnungen, Malereien, Texte. Die Wände, Regale, Fensterbretter sind so vollgehängt und belegt, dass man das Ausgestellte kaum wahrnehmen kann. Was man dort sieht, verschafft einem eher einen Eindruck von dieser Biennale − der Raum erzählt von ihrer Improvisiertheit, ihrer Energie, ihrer Fülle und Vielfalt und auch von ihrer Offenheit, mit der eingehende Ideen verhandelt werden. Die dichte Hängung der Arbeiten lenkt zwar ab von der Wahrnehmung der einzelnen Inhalte, aber eine andere Art der Sichtbarkeit gibt es doch: «Of course visibility is important, but here in Berlin we tried to put a sign from everyone who was involved. So every work stands as a person, as a person who did an effort, who liked the idea, who wanted to take part.»

Der Raum erzählt von ihrer Improvisiertheit, ihrer Energie, ihrer Fülle und Vielfalt und auch von ihrer Offenheit Weitere Informationen: www.biennialtehran.com



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Spezifisches Kino Strategien zur BemAEchtigung der Bilder

Text: Sebastian Bodirsky

Kino des Kopfs, Kino der Körper: Anhand der Berliner Projekte «piratecinema» und «Basso» zeigt Sebastian Bordirsky, Absolvent der Experimentellen Mediengestaltung, unterschiedliche Wege auf, Film durch einen speziellen Rezeptionskontext vom Medium zum gemeinschaftlichen Bezugspunkt zu erweitern.

Ins «piratecinema» geht man allein, grüßt nur ein bisschen beim Eintreten, unterhält sich eher gedämpft und eher zu zweit. Der Film des Abends wird veranstalterseitig hoch verehrt und leicht missachtet zugleich. Wer kommt, kennt die E-Mails, die Woche für Woche zum Screening einladen: Scharfsinnig finden sie zu den Filmen und ihrem Zusammenhang stets ein, zwei neue Gedanken. Wie selten! Man will jedes Mal kommen und die Thesen anhand des Films überprüfen, auch wenn man diesen schon kennt. Manchmal kommt man mit dem vagen Gefühl, dass es eigentlich auch genügen würde, den Text gelesen zu haben und zu wissen, dass irgendwo der Film zum Text gezeigt wird. Vielleicht, weil auch mal eine Kabelleiste mitten in der Projektionsfläche liegt. Oder der Ton so hallt, dass man die Dialoge kaum versteht. Der Film steht nicht wirklich im Mittelpunkt. So einfach die Veranstalter ihr Rezept präsentieren – nur heruntergeladene Filme werden gezeigt, die man sich im Laufe des Abends kopieren kann –, so wenig ist das tatsächlich der Kern des Funktionierens von «­piratecinema». Die E-Mails besprechen selten ausschließlich den Film, nie nur seinen Inhalt, immer auch seine politische Implikation oder Herkunft. Sie sind das Versprechen eines Diskursraumes, der mit und neben der Projektion aufgemacht wird. Die Schieflage des Kinos, Urheberrechtsverletzung, Skurrilitäten von Volksbühne und KW, deutsche Gedenkkultur, Weiblichkeit gedacht als mit spezifischen Nachteilen verbundene soziale Konstruktion, Computerspiele, Propagandafilm. Man hat nicht an einer Diskussion dieser Themen teil, indem man zum Screening geht und gemeinsam den Film ansieht. Es wird keine Diskussion über sie geführt, aber es wird ein anderer Diskurs am Leben gehalten. Das politische Projekt, das derzeit weltweit unter dem Begriff des «geistigen Eigentums»

vorangetrieben wird, darf nicht in die Sphären der Spezialisten und Lobbyisten abtauchen, es steht in Verbindung mit einer ungemeinen Breite aktueller Phänomene und mit uns als Einzelnen. Das ist, was man mit jedem Film unterschreibt, den man im «piratecinema » sieht.

Da ist keine Distanz zum Film, und auch der Film will einen ganz. Ins «Basso» geht man und hat jemanden dabei. Und trifft noch jemanden auf dem Weg. Und gibt Küsschen denen, die dort schon gut aussehend auf einem Sofa lungern. Es liegt eine Vorfreude im Raum, die nicht drängt. Die Leute genießen noch eine Weile sich selbst, bevor sie sich an den Film geben. Da ist keine Distanz zum Film, und auch der Film will einen ganz. Betörend, berauschend oder bedrückend. Was da im Laufe der Wochen kombiniert wird, verbindet die sinnlichen Exzesse und Obsessionen Einzelner mit den deprimierenden Exzessen der Gegenwart und Vergangenheit. Nicht der Einzelne ist pervers, sondern die Situation etc. Fast immer sind es radikale Lebensentwürfe, die von den Filmen transportiert werden. Immer wieder ist es der Körper, um den alles kreist. «­Basso» ist nicht nur eine Filmreihe, sondern auch ein Raum, eine Gemeinschaft und ein Magazin. Wenn Yusuf über den Film spricht, kennt er fast alle im Publikum. Sie schreiben für das Heft, geben Bilder, tanzen auf seinen und anderen Partys. Wenn er eine Einführung in den Film gibt, kann er auf dem Grat zwischen Ironie und Verbundenheit mit dem Film bleiben, weil es hier die Autorität des Expertentums nicht braucht, um gehört zu werden. Der Film muss nicht wichtig geredet werden, denn er wurde ausgesucht, weil er eben richtig ist für die Gemeinschaft, die Publikum und Veranstalter bilden. Film,


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der wirkt. Es mag Einbildung sein, doch die Distanz zwischen dem Handeln inner- und außerhalb der Projektion scheint kleiner, wenn man einen Film im «Basso» sieht. Die Filmreihen haben als Motto den Titel der nächsten Ausgabe des Magazins. Sie sind dabei nicht Recherche, sondern ermöglichen ein Leben zum Thema.

Es ist nicht mehr notwendig, dass Kino für andere gemacht wird, man kann Kino für das Eigene machen. Für den eigenen Diskurs, die eigene Gemeinschaft, den eigenen Zweck. Die Frage der Aufmerksamkeit, die vom kommerziellen Kino an erster Stelle bearbeitet wird, steht da dann zurück hinter der Frage des Anknüpfungspunkts. «piratecinema» macht Kino, um einem abstrakten Diskurs die Breite zu geben, die ihm zusteht. «Basso» Filmprojektionen haben die große, macht Kino als Futter für eine antikonventionelle Lealleinstellende Eigenschaft, eine Gruppe von benspraxis. Beide zeigen nicht ohne Grund eine gewisse Respektlosigkeit dem Film gegenüber, den sie zeigen: EiMenschen für eine bestimmte Zeit in einer nerseits sind es zwar großartige Situationen und Erzähsehr spezifischen Erfahrung einen zu können. lungen, die auf der Leinwand erscheinen, andererseits aber ist es eben auch nur ein Film. Zukunftsweisendes Üblicherweise verpufft dieses Gemeinsame, Kino zeigt nicht Filme, es zeigt Praxen (seien sie im Film wenn die Gruppe sich nach der abgebildet oder in die Art des Filmemachens eingeschrieben), die einer Gemeinschaft zu Gute kommen können. Vorführung zerstreut. Temporäre Kinos! Diskursspezifisches Kino! Kino der Das sind die Pole. Ein Kino des Kopfs und ein Kino der bestehenden Gemeinschaften! Körper begrenzen das Feld, auf dem zukunftsweisend mit Film umgegangen wird. So unterschiedlich die beiBeamer und Filesharing-Netzwerke lösen den beschriebenen Orte sind: Sie beide machen kein Kino zwei Vormachtstellungen der Filmtheater an und für sich, sie machen Kino als Mittel. Filmprojektionen haben die große, alleinstellende Eigenschaft, eine auf: Technologie und Distribution. Gruppe von Menschen für eine bestimmte Zeit in einer sehr spezifischen Erfahrung einen zu können. Üblicher- Ich rede nicht davon, einer Gemeinschaft einfach Filme weise verpufft dieses Gemeinsame, wenn die Gruppe sich zu einem bestimmten Thema zu zeigen. Ich schreibe benach der Vorführung zerstreut. Und sich immer weiter wusst «Kino machen», mit all dem Anspruch, den das zerstreut. Die vergangenen 15 Jahre haben eine solche mit sich bringt: Sehnsüchte wecken, Idole produzieren, Differenzierung der Informationskanäle hervorgebracht, sichtbar machen, das eigene Medium reflektieren, Kördass Menschen, die ihre Interessen verfolgen, kaum ei- per, das Leben schmähen, das Leben feiern. Nur wenn die nen gemeinsamen ganzheitlichen Bezugsrahmen haben. Parataxe der Filme alles beinhalten will, bricht sie mit der Mit steigender Wahlfreiheit sinkt die Dichte zwangsläu- Logik der Zerstreuung und Ausdifferenzierung. Solches figer Beziehungen. Angesichts dessen ist eine Aktivität, Kino weist einen Weg aus dem bürgerlichen Dilemma die es schafft, die Gegenwart vieler dauerhaft in einer des voyeuristischen Blicks. Film, den eine Gemeinschaft breiten gemeinsamen Erfahrung zu bündeln, an sich sich selbst angeeignet hat und der mit dem Wunsch der schon als politisch zu betrachten. Anwendbarkeit seiner Inhalte behandelt wird, ist nicht mehr länger Objekt einer voyeuristischen Partizipationsphantasie. Die lähmende Haltung, alles ansehen zu Nur wenn die Parataxe der Filme alles können und zu müssen, weil man mit allem verbunden beinhalten will, bricht sie mit der Logik der ist, steht einem tatsächlichen Handlungsimpuls nur im Weg. Politisches Kino heißt heutzutage, gemeinsam zu Zerstreuung und Ausdifferenzierung. überlegen, welche Bilder man sich aneignet. Film ist so allgegenwärtig und überreich vorhanden, Weitere Informationen: www.basso-berlin.de/ dass man ihn nicht mehr in kanonischer Form denken www.piratecinema.org kann. Die Figur des Cineasten hat ausgedient. Beamer und Filesharing-Netzwerke lösen zwei Vormachtstellungen der Filmtheater auf: Technologie und Distribution.


12  Elementares

Grenzgaenger   Gedanken zu

Architektur utopischer

Text: Anna Mauch

Im Grunde genommen funktioniert der Computer, in den ich diesen Text eingebe, fast wie ich. Er bewegt sich in einem System von Einsen und Nullen, positiv und negativ. Mein Denken basiert auf nichts anderem als Entscheidungen. Ein K.O.-System, welches zu groben Kategorien führt. Unser Denken ist nur weit komplexer als die Funktionsweise des Computers, denn unsere Denkweise erweitert sich um Assoziationen; das K.O.-System wird so durch Graubereiche ergänzt. Dinge und Sachverhalte, die uns bereits bekannt sind, speichern wir als Fragmente ab und für den Fall, dass eine solche oder ähnliche Frage wieder auftritt, fischen wir diese vorbereiteten Fragmente aus unserem Datenspeicher und können so in kürzester Zeit ein ungemein kleinteiliges Netzwerk erzeugen, mit dem wir neue Sachfragen nahezu klären können. Die Kategorien werden feinteiliger und vielfältiger. Man kann also behaupten, dass mir mein Computer in seiner Geschwindigkeit, Prozesse zu vollziehen, überlegen ist, ich aber dafür frei wählen kann, welche Prozesse ich miteinander verbinde.

­Architektur als noch nicht festgelegte Wissenschaft Architektur in sich ist ein hierarchisches System, welches alle Vorgänge strukturiert, angefangen bei Atomen, die sich zu Materie zusammenfügen, über Mauern, die politische Machtsysteme trennen, bis hin zu synoptischen Vorgängen, die mein Gehirn dazu bringen, Bewusstseinsvorgänge in physische Handlungen umzusetzen. Alles befindet sich in einem chaotischen «Außen», welches wiederum die Grenze von außen nach innen überwinden muss, um in mein inneres System aufgenommen zu werden, bis letztendlich in einem Meer von Neuronen und Atomen ein Gedanke entsteht und insofern mit Hilfe des oben beschriebenen Systems kategorisiert werden kann. Deshalb stelle ich die Behauptung auf, dass Architektur – und somit die Kategorisierung dieser – eine noch nicht festgelegte, sich nur annähernde Wissenschaft ist. Denn sie folgt den Mustern, in denen wir denken, und zu oft sind wir im Begriff, die Grenzen zu überschreiten, ohne uns der Konsequenzen bewusst zu sein.

Fliegende Dächer, Tragwerke aus magnetischen Gegenpolen

Der Umstand, dass ich die Welt in Kategorien einteile, um sie mir verständlich zu machen, ist vergleichbar mit dem Bauen eines Hauses, welches über verschiedene Räume verfügt. Jeder Raum grenzt sein Inneres nach außen durch eine materielle oder zumindest angedeutete Teilung ab. Es entsteht ein Diesseits und ein Jenseits des Raums und dasselbe gilt auch für Kategorien. Anders aber als bei der Kategorie kann ich zumindest theoretisch die Grenzen von Räumen mathematisch bestimmen. Bei Kategorien ist das etwas schwieriger. Noch immer bestimmt sich die Grenze über das Innen und Außen, jedoch ist die Begrenzung selbst nicht mehr mathematisch linear oder flächig trennbar. Im Gegenteil, sie ist vielmehr ein waberndes und dehnbares, sowie permeables als auch impermeables Kontinuum. Anhand der architektonischen Kategorie «utopisch» kann ich dies vielleicht anschaulich machen: Was im Zentrum dieser Kategorie steht, ist leicht zu ersehen und meist differenziert darstellbar – fliegende Dächer, Tragwerke aus magnetischen Gegenpolen, «The walking City» (Peter Cook) und alles andere, was man sich baukonstruktiv nicht vorstellen kann und was ich formal für absurd halte. Was liegt definitiv außerhalb dieser Kategorie? Das Haus, in dem wir aufgewachsen sind, die chinesische Mauer, einst der Palast der Republik, der «Chrystel Palace» (Joseph Paxton). Die Grenze ist innerhalb jeder Disziplin ein Phänomen, egal ob das kulturelle, politische, topographische oder psychologische Grenzen betrifft. Mathematisch sind sie oft nur in der Theorie exakt, die Unzulänglichkeit der Mittel lässt alle physischen Beweise träge hinterherhinken und die Wand, welche diesen vom Nachbarraum trennt, ist nur ein undefinierbarer Atomklumpen. Die architektonische Grenze zur Utopie jedoch lässt selbst die Theorie nur hinken, denn wie ich oben bereits erwähnte, war es mir ein Leichtes zu bestimmen, was im Zentrum dieser Kategorie steht: Die Frage nach den Bauten, welche sozusagen direkt Wand an Wand an der Grenze zur Utopie, dem Nicht-Ort, und zur diesseitigen Kategorie (was die Frage aufwirft, in welcher Kategorie wir uns eigentlich befinden) stehen, kann zumindest ich


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nicht beantworten. Diese Bauten verstehe ich als die Triebkraft der Architektur. Sie treiben die bauliche Evolution voran, denn sie sind das entwurfliche und technologische Moment, welches die Grenzen zwischen den Architekturen beweglich hält.

Bekannt scheint mir das Zentrum der Kategorie Utopie zu sein, ihre genaue Grenze kenne ich hingegen nicht. Nach meinen Versuch, die Grenzen der Utopie zu denken, glaube ich nun, dass die Grenze gar keine Differenz darstellt, sondern eher eine Frage nach der Referenz aufwirft. Denn wo soll man die Linie ziehen? Wann ist der Moment erreicht, in dem eine Idee noch realisierbar ist und ab wann wird die Idee zu einer Utopie, einem wünschenswerten «Nicht-Ort»? Bekannt scheint mir das Zentrum der Kategorie «Utopie» zu sein, ihre genaue Grenze kenne ich hingegen nicht. Hingegen kenne ich die Referenz, über welche ich die Grenze definieren möchte, denn die Referenz meiner Utopie ist die Idee, welche ich mit meinem eigenen Denken generiert habe. Wenn es nun die Triebkraft des Fortschritts ist, diese Grenze zu überwinden, so muss ich sie festlegen. Sie scheint aber beweglich zu sein und mehr Raum einzunehmen, als die Mathematik erlaubt. Sie orientiert sich mitunter am Zeitgeist und den durch den technischen Fortschritt bedingten Möglichkeiten. Sie kann meines Erachtens aber nicht flexibel sein, denn sonst würde sie nicht nach Gesetzmäßigkeiten funktionieren, wäre nicht bestimmt, mithin nichts und würde die angrenzenden Kategorien auflösen. Elegante Grenzüberschreitung

In der Architektur werden Bauwerke als utopisch bezeichnet, wenn sie die Grenze soeben überwunden haben, spektakulär sind und unsere Phantasien sprengen. Weil aber die Grenze zum utopischen Bau einer Hürde ohne genaue Position gleicht, schließt der Architekt die Augen, läuft mit Tempo auf sie zu und springt weit übers Ziel hinaus. Was ich sagen will, ist, dass das Phänomen

der Grenze einen alles bestimmenden Faktor in der Architektur darstellt, und dass es im Grunde nicht darum geht, sich zu fragen, wie wir in Zukunft bauen werden, sondern einzig, wie wir uns in unseren Denkarchitekturen bewegen, wie wir die Grenze bestimmen, wo wir sie ziehen, wie wir sie verlagern und was die Konsequenz dieses Umgangs mit der Grenze ist.

Suche nach etwaig richtigen Referenzen Mithin ist die Utopie die Vorstellung von einer besseren Welt, der Antrieb für die weitere technische, humanistisch funktionale sowie formale Weiterentwicklung der Architektur. Und es ist wichtig, dass für gewisse Kategorien die etwaig richtigen Referenzen gelten und nicht um jeden Preis fantastische und spektakulär futuristische Bauten für Regime entstehen wie der «Media Tower» von Rem Koolhas – denn das sind keine Utopien, das sind Dystopien. Ich will kein apokalyptisches Szenario aufzeichnen, ich will lieber dazu auffordern, über die Grenze nachzudenken, denn sie ist das Arche-Problem der Architektur, welches man, wenn man so will, überwinden kann. Hierfür muss man sich aber seiner Position bewusst sein, um sie mit Feingefühl und nicht mit einem Paukenschlag hinter sich zu lassen. Nachhaltiges Bauen würde deshalb bedeuten, dass man durch das Bedenken der Konsequenzen die Referenz einer Kategorie feststellt und so ihre Grenze elegant überschreitet.


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Activestills Fotos fuer verstaendigung

Text: Valerie Assmann Fotos: ActiveStills

1.600 pro Nacht. Ihr Publikum ist die breite Masse auf der Straße – die, die sie am stärksten beeinflussen möchten. Dass in Tel Aviv die plakatierten Wände von der Stadt überstrichen werden, dass sie auf der Straße als Nestbeschmutzer beschimpft werden, stört sie nicht: «Immerhin reagieren diese Leute, das heißt doch, es passiert etwas mit ihnen», sagt Nir Landau von den «ActiveStills» in einem Interview mit ZeitCampus. Manchmal kommt die Anerkennung jedoch auch von institutioneller Seite: Bei der Ausstellung «Disengagement» im Tel-Aviv-Museum wurden die Arbeiten der «ActiveStills» 2006 als urbane Kunst präsentiert. Die Haupt-Klebeziele sind Tel Aviv (unten, rechts oben), «We seek to bring awareness to issues and ­Jerusalem (rechts unten) und die palästinensische Seite der Mauer, situations that we believe create social die Israel vom Westjordanland trennt. Dass die Bilder in den israelischen Städten das Gewissen der wegschauenden Menge anstoßen injustice, through images that question the sollen, ist offensichtlich. Überraschend wirkt zuerst der Gedanke, society in which we live in.» den Palästinensern ihr eigenes Leid vor Augen zu halten. Hier steh­ en die Fotos symbolisch für Solidarität und Verbrüderung. Sie zeiDie Fotos geben Einblicke in das palästinensische Legen, dass es auch auf der anderen Seite der Mauer Menschen gibt, ben jenseits der acht Meter hohen Stahlmauer. Die Ausdie für sie kämpfen. stellungen werden nachts illegal vorbereitet, indem die Weitere Informationen: www.activestills.org «ActiveStills»-Mitglieder und freiwillige Helfer öffentliche Wände mit ihren politischen Fotos bekleben. Bis zu Die politische Künstlergruppe «ActiveStills» wurde 2005 an der Fotografie-Hochschule in Tel Aviv-Jaffa gegründet. Vereint hat die sechs Fotografen ihr gemeinsamer Glaube – nicht nur an die Macht der Fotografie, sondern auch an ihre Pflicht, durch ihre Fähigkeit ein Bewusstsein für Missstände beim Betrachter erwecken zu können. Mit ihren dokumentarischen Fotografien möchten sie sozialen Wandel herbeiführen: «Die Kamera ist der Mund. Das Foto der Schrei».



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Beijing in bewegung Fotos: Jakob Cevc



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Nur freunde von freunden? Vernetzung an der Universitaet der Kuenste Text: Sonja Peteranderl / Illustration: Valerie Assmann

Interdisziplinäre Vernetzung ist die Zauberformel, die öffentlichkeitswirksame Selbstbeschreibungen der Studiengänge der UdK ebenso wie zukunftsweisende Konzepte schmückt. Vernetzung ist ebenso die Achillesferse der universitären Visionen – denn sie funktioniert nur ansatzweise.

Als eine der international größten künstlerischen Hochschulen verfügt die Universität der Künste mit ihren über 40 Studiengängen der vier Fakultäten Bildende Kunst, Gestaltung, Musik und Darstellende Kunst sowie dem Zentralinstitut für Weiterbildung über vielfältige Potenziale. 4.600 Studierende erarbeiten sich die verschiedenen Varianten der Schönen Künste und/oder deren wissenschaftliche, kommunikative oder pädagogische Begleitung in der Hoch- und Populärkultur. Theoretisch eröffnet sich damit ein riesiger Raum von Wissen und Können, der durch die Querverweise der Disziplinen dazugewinnen würde. Wahrnehmung, Kommunikation und – strategische – Zusammenarbeit zwischen den Fakultäten scheinen sich aktuell jedoch mehr durch einzelne Knotenpunkte in Gestalt von institutionellen Projekten oder freundschaftlichen Netzwerken zu vollziehen, anstatt in einen umfassenden Integrationsprozess eingebunden zu sein.

Mehr Wunsch als Wirklichkeit? Nach der Vereinigung der einzelnen Akademien zur Hochschule der Künste (HdK), später Universität der Künste, hätten sich die einzelnen Bereiche seit 1975 «zu vernetzten Fakultäten entwickelt», so die Historie der UdK. «Ohne in ihren künstlerischen und gestalterischen Disziplinen Kompromisse einzugehen, ermöglichen sie durch interdisziplinäre Projekte, gemeinsame theoretische Ansätze und die Stärkung der wissenschaftlichen Bereiche eine Gesamtsicht auf die Künste.» Mehr Wunsch als Wirklichkeit? Zweifelsohne existieren institutionalisierte Netzwerke für einzelne Bereiche. Als Galerie und «disziplinübergreifendes Forschungsprojekt» stellt beispielsweise «designtransfer» Arbeiten aus den Bereichen Architektur, Produktdesign, Mode- und Textilgestaltung, Wirtschafts- und Gesellschaftskommunikation, Visuelle Kommunikation und Experimentelle Mediengestaltung aus, fördert und betreut Projekte und führt Veranstaltungen durch. Außerdem wird der Bogen von der Universität in die Wirtschaft geschlagen: Studierende realisieren zum Teil Projekte mit Institutionen oder Unternehmen. In zwei hochschulübergreifenden Zentren wird die Universität der Künste zudem mit anderen Instituten ver-

netzt. Im Jazz-Institut Berlin (JIB) treffen UdK-Studierende auf die Eleven und Lehrenden der Hochschule für Musik Hanns Eisler, das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz (HZT) verbindet die UdK mit der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch sowie über den Tanzraum Berlin mit der freien professionellen Tanzszene. «Vernetzung soll an der UdK groß geschrieben werden», stimmt auch Sven Cishmack, «AStA»-Referent für Vernetzung, zu. «Dafür stehen Leuchttürme wie das Projekt ‹Stille Post› und auch ganz konkrete Lehrveranstaltungen wie zum Beispiel das Seminar ‹Musikvideo, Geschichte und Analysen› im Sommersemester 2008, bei dem Musiker, Künstler und Studierende der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation gemeinsam in Gruppen arbeiteten.» Gemeinsame Seminare sind jedoch oft nur auf die Initiative einzelner Professorinnen und Professoren zurückzuführen. Im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation sind die Bachelor-Seminare oft voll besetzt, sodass schon Diplomstudierende des gleichen Studiengangs kaum die Chance haben, ihre Wunschseminare zu belegen. Im Zuge der Umstellung auf Bachelor und Master treten zwei weitere Negativfaktoren auf. Durch den straffen Zeitplan und den hohen Arbeitsaufwand bleibt kaum Zeit, um Kurse abseits des eigenen Pflichtplans zu besuchen. Auch die Möglichkeit, sich fachfremde Seminare anrechnen zu lassen, ist nicht gegeben. «Die theoretischen Veranstaltungen anderer Fakultäten zu besuchen, sollte einfacher werden. Dort erworbene Scheine sollten einfacher anerkannt und die Studierenden ermuntert werden, sie zu besuchen», meint auch Sven Cishmack. «Bisher geschieht dies nur aus tiefstem freiwilligen, oftmals Schein-unbelohnten Interesse.» Auch die räumliche Distanz zwischen den zwölf Standorten der Universität der Künste schränke die intensive Auseinandersetzung der Disziplinen ein. Bei einem Workshop zur Vernetzung, die die Projektgruppe «UdK Campus» für ihr Abschlussprojekt der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation durchführte, beschwerten sich Schauspieler über «Isolation» durch den abgelegenen Standort. «Jeder Studierende hat sein individuelles Bild der Uni», sagt Tobias Hömberg, der Musik auf Lehramt studierte, «für einen Musiker, der jeden Tag in seinem Zimmer an der Bundesallee Bratsche übt, ist ‹das› eben die UdK.»


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«Die Vernetzung zwischen der UdK funktioniert ganz wunderbar» Oft fehlt einfach das Wissen um das, was an der UdK passiert. «Es herrscht so gut wie keine Verbindung zu anderen Studiengängen und Fakultäten», berichtet Christoph Gerber von der Gruppe «UdK Campus» über den Workshop mit zehn Studierenden der vier Fakultäten. «Es gibt in der Regel nicht einmal eine klare Vorstellung davon, wie viele Studiengänge es an der UdK Berlin gibt, und was diese genau beinhalten». Auch Sven Cishmack bezweifelt, dass zum Beispiel die Bildenden Künstler wüssten, wie die Studierenden der Visuellen Kommunikation mit ähnlichen Medien und Ansätzen arbeiteten. Nicht alle Studiengänge werden mit dem Privileg bedacht, so wie die Neulinge des Masterstudiengangs Kulturjournalismsus zur Einführung durch verschiedene Fachbereiche geführt zu werden. «Die Vernetzung zwischen der UdK funktioniert ganz wunderbar», beurteilt die Studiengangskoordinatorin Verena Tafel hier den Status Quo. Zweimal im Jahr geleitet sie die angehenden Kulturjournalistinnen und Kulturjournalisten in fachfremde Seminare, etwa zum aktuellen Schwerpunkt Musik, damit sich die Studierenden untereinander austauschen können. Für 435 Euro im Monat erhalten die Masterstudierenden zudem ein beneidenswertes Bouquet von Dozentinnen und Dozenten aus allen Bereichen, die oft zum Zweitbetreuer der Masterthesis werden. Von außen betrachtet, das muss auch Verena Tafel zugeben, sieht es aber anders aus. Bei einer Umfrage an der Hardenbergstraße hätten viele nicht gewusst, dass Kulturjournalismus an der UdK überhaupt existiere. Die Kommunikationsflüsse zwischen den verschiedenen Fakultäten sind gehemmt, besonders die Masterstudiengänge des Zentralinstituts für Weiterbildung wie Kulturjournalismus oder Sound Studies ähneln fernen Satelliten. Bei der Vielfalt der UdK und fast 500 Veranstaltungen pro Jahr kann man leicht den Überblick verlieren. Große Veranstaltungen sind beispielsweise die Musikfestwochen «Crescendo!» und der «Rundgang», bei dem die UdK am Ende des Sommersemesters drei Tage lang Ateliers, Klassen, Probenräume, Studios und Werkstätten öffnet. «Interflugs» − die Autonome Studierendenorganisation der UdK − plant, den Rundgang 2009 in eine umfassendere Veranstaltungsreihe mit theoretischem wie praktischem Fokus auf Interdisziplinarität und Kollaboration zu integrieren. «Interdisziplinarität wird als Schlagwort genutzt, aber es ist nicht vorhanden», so Naomi Hennig von Interflugs. «Die Events sollen ein Forum für alle Fakultäten werden, wir machen das Angebot, studentische Projekte in einer Struktur mit PR und so weiter vorzustellen.» Der Rundgang soll mit Aktionen wie Partys, Symposien,

Filmen und der Präsentation alternativer Lehrformen den Auftakt darstellen, im Rahmen einer Sommerakademie finden dann weitere Lectures und Workshops statt und die finale Präsentation wird in Form einer «kleinen Biennale» realisiert. Letzten Endes liegt es auch in der Hand der Studierenden, sich Raum für vernetztes Arbeiten zu schaffen. Das mittlerweile eingestellte «Teiler»-Projekt ist ein Beispiel für gescheiterte Wechselseitigkeit. Die Abspiel- und Austauschstation für Videodaten vor der AV-Werkstatt im Medienhaus sollte ein Forum für studentische Arbeiten darstellen: «Der Teiler ist Ausdruck der Hoffnung, dass, wenn das Haus schon zu ist, jetzt mehr in den Gängen passiert – und nicht nur hinter Türen. Er ist sachter Anstoß zu mehr Kollaboration – beispielsweise durch Sharing von Film-Rohmaterial und Freigabe zum Remix», so die Projektbeschreibung. Zwar nutzten viele Studierende die Möglichkeit, die Filmedition des Filminstituts der UdK zu sehen und CDs zu brennen, umgekehrt fiel das Resümee dagegen «deprimierend» aus. Nur zwei Studierende spielten ihre eigenen Arbeiten auf. Auch von den Lehrenden wurde die Filesharing-Einrichtung weder thematisiert noch unterstützt.

Drei Ansätze für mehr Interdisziplinarität: eine Online-Plattform, interdisziplinäre Projekte und die Einrichtung fakultätsübergreifender Treffpunkte Generell sieht Christoph Gerber von «UdK Campus» unter den Studierenden aber Bedarf und Bereitschaft zur Vernetzung: «Von interdisziplinärer Arbeit versprechen sich die Studierenden neue Kontakte, bessere Ergebnisse, Wissenstransfer, persönliche Weiterentwicklung und technisches Know-How.» Bei dem Workshop hätten sich drei Ansätze für mehr Interdisziplinarität herauskristallisiert: eine Online-Plattform, interdisziplinäre Projekte und die Einrichtung fakultätsübergreifender Treffpunkte. Um die Realisierung der Online-Lösung kümmert sich die Projektgruppe «UdK Campus» gerade, ab dem Wintersemester 2008/2009 soll sie dann in den Universitätsalltag integriert werden. Auch die Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Fakultäten könnte dadurch leichter werden – denn nicht jeder Studiengang hat einen E-Mail-Verteiler. Interdisziplinäre Projekte aus Eigeninitiativen heraus gibt es zwar auch jetzt schon, aber eine Onlineplattform ist zumindest ein Angebot, den Rahmen freundschaftlicher Kollektive zu sprengen. Auch vor Ort entwickeln sich Schnittstellen. ­Jennifer Schmitt hat 2008 ihre Wohnung für den interdisziplinären Austausch geöffnet. Die temporäre Gale-


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rie «18er Gold» ist ein Wohnzimmer ihrer WG, das sich sporadisch in ein Experimentierfeld für junge Kunst verwandelt. Im letzten Sommer richtete das Trio hinter «18er Gold» – neben Jennifer Schmitt (Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation) noch Florian Fusco (Textilund Flächendesign / KH Berlin Weißensee) und Cornelia Huth (Kunstgeschichte und Philosophie / FU Berlin) – die erste Vernissage aus. In der Wohnzimmer-Galerie treffen unterschiedliche Leute verschiedener Disziplinen, verschiedener Studien- und Stilrichtungen aufeinander und tauschen sich aus. Auch der neue «Club Um die Ecke», der umgestaltete Raum 09 in der Hardenbergstraße, eröffnet den Studierenden ein Forum, sodass der abstrakte Mythos «Interdisziplinärität» konkretisiert werden kann.

Der neue der Stadt

Weitere Informationen: Interflugs: www.interflugs.de / UdK Campus: Anmeldung für Teilnahme an Test-Phase (ab 15. Februar 2009): info@campus-udk-berlin.de / Galerie 18er Gold: www. myspace.com/18ergold / Stille Post: www.stillepost.tk, Designtransfer: www.designtransfer.udk-berlin.de / Design Reaktor: www. design-reaktor.de/projekte_prod.html

Nabel

Text: Tobias Hömberg

Die UdK ist drauf und dran, sich stärker mit ihrer Umgebung zu verzahnen und zugleich ihre Strahlkraft auf die westliche Innenstadt besser zu entfalten. Gemeinsam mit der TU, Senats- und Bezirksverwaltungen wird derzeit deshalb ein «Masterplan Uni-Campus City West» erarbeitet. Die Planung wird vorangetrieben von der Wista Management GmbH, die auch für die Entwicklung der Wissenschaftsstadt Adlershof verantwortlich zeichnete und mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern vorübergehend ins Amerika-Haus in der Hardenbergstraße gezogen ist. Der Senat und der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf stellen für das mit «Nachhaltige Vitalisierung Charlottenburg» (Navi) überschriebene Projekt zunächst insgesamt 500.000 Euro aus EU-Mitteln bereit.

Ch’lottenburg als Kreativkiez Beide Universitäten sollen lokal enger miteinander und mit den sie umgebenden Stadtquartieren verbunden ­werden. Die Gedankenspiele reichen von der räumlichen Verbindung beider zentraler Hochschulgelände über die stärkere Konzentration der UdK-Standorte oder die Ansiedlung inhaltlich assoziierter Firmen in Campus-Nähe bis hin zur Schaffung eines «Gründerzentrums», in dem UdK-Absolventinnen und -Absolventen in Sichtweite zur Uni e­rste Schritte in die Selbstständigkeit unternehmen können. Die Nähe der Institutionen zueinander – das Planungsgebiet umfasst beispielsweise auch das FraunhoferInstitut und fünf Theater – soll künftig stärker spürbar werden, um Kooperationen anzuregen und neue Potenziale zu erschließen. Die Begegnung von technischen Disziplinen der TU und gestalterischen Disziplinen der UdK etwa könnte auch ökonomisch produktiv werden und schließlich ein ganzes Stadtviertel beleben. Die fanatisch umworbenen «Kreativwirtschaftler», aber auch Künstlerinnen und Künstler wären dann eines Tages vielleicht nicht mehr auf die Fabriklofts in Prenzl’Berg oder die Hinterhöfe in Kreuzkölln abonniert. Willkommen in Ch’lottenburg!


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Olafur Eliasson Und das Institut fuer

raeumliche experimente

Text: Fanny Rieber / Illustration: Valerie Assmann

Ab dem 1. April 2009 kommt der dänische Künstler an die UdK Berlin.

Das Wasser der Spree färbt sich überraschend grün. Ästhetik, die Angst macht, lässt das giftgrüne Wasser doch sofort an eine Naturkatastrophe denken. Es handelt sich jedoch nicht um schädliche Farbpigmente. Die Reaktion der nicht informierten Berliner wird Teil des Kunstwerks: «Green River» 1998. Warmes gelbes Licht durchströmt die Turbinenhalle der Tate Modern in London. Als hätte jemand die Sonne selbst in das Museum gehängt. Eine in Nebel gehüllte Scheibe aus Leuchtioden und ein Spiegel, der die gesamte Decke ausfüllt, erzeugen naturgewaltige Stimmung: «The Weather Project» 2003–2004. Aus 35 Metern Höhe stürzt Wasser von Gerüsten in den East River in New York. Vier enorme künstliche Wasserfälle erstaunen rund um die Südwestspitze Manhattans die Passanten, Jogger und Touristen: «The NYC Waterfalls» 2008.

Natur­phänomenen im urbanen oder musealen Raum Der 41-jährige Künstler Olafur Eliasson hat Weltruhm. Er beschäftigt sich in seinen Installationen und Aktionen meist mit physikalischen Naturphänomenen, die er im urbanen oder musealen Raum reinszeniert. Auch außerhalb Berlins färbte er Flüsse grün und machte so die Bewegung des Wassers in Tokio, Los Angeles und Stockholm zum Thema. Dem sphärischen Charakter seiner Werke kann man sich kaum entziehen, denn auf spektakuläre Weise stellt Eliasson natürliche Phänomene künstlich her. Der naturwissenschaftliche Aspekt seiner Arbeiten steht nicht im Widerspruch dazu, dass den Betrachtern eine entscheidende Rolle zugesprochen wird. Ihre Wahrnehmung und die Gewohnheiten, auf denen sie beruht, stehen im Zentrum der Beobachtung. Gleichzeitig ist der Künstler bemüht, sich politisch zu positionieren. So betont er, dass er für die Wasserfälle in New York mit Umweltorganisationen zusammengearbeitet habe. Die 13.116.451.832 Liter Wasser, die hier in den East­ river geschüttet wurden, seien durch Kredithandel mit Windenergie kompensiert. Eliasson schafft ein Zusammenspiel von Naturgesetzen und Technik, das die Betrachter zur Selbstreflexi-

on herausfordert. Häufig beginnen die Werktitel mit dem Wort «Your» und sprechen uns so direkt an. «Your sun machine» 1997, «Your spiral view» 2002, «Your activity horizon» 2004, «Your space embracer» 2004, «Take your time» 2007. Geboren in Kopenhagen, verbrachte ­Olafur Eliasson seine Kindheit in Island und studierte von 1989 bis 1995 in Kopenhagen, an der Königlich Dänischen Kunstakademie. Heute lebt und arbeitet er in Berlin. Am Pfefferberg − auf der Rückseite des BassyCowboy-Clubs, zugänglich vom Grundstück Christinen­ straße 18/19 − steht das imposante Backsteingebäude, in dem Eliasson mit rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern arbeitet. Das Projekt in der ehemaligen Brauerei hat Factory-Charakter. Völlig verschiedene Menschen arbeiten hier zusammen. Einmal täglich versammeln sich Künstler, Architekten und Handwerker zum gemeinsamen Mittagessen im Erdgeschoss. Im Obergeschoss dieses Hauses soll ab dem Sommersemester 2009 das «Institut für räumliche Experimente» entstehen, in dem Eliasson in Kooperation mit der UdK als Professor lehren wird. Nach fast dreijährigen Verhandlungen gelang es der UdK endlich, mit dem Künstler über die Bedingungen seines Lehrauftrags einig zu werden. Auf fünf Jahre befristet ist der Vertrag mit Eliasson, der Senat steckt vorerst eine Million Euro in das ungewöhnliche Projekt. Der neue Professor an der Fakultät für Bildende Kunst wird zwar einen Raum im UdK-Gebäude in der Hardenbergstraße 33 haben, doch dort wird er sich selten aufhalten. 15 bis 20 Studenten will Eliasson in seine Klasse aufnehmen. Diese Auserwählten werden dann im «Institut für räumliche Experimente» unterkommen und sollen am Pfefferberg arbeiten. Betreut werden die Studierenden neben Eliasson von GastdozentInnen und MitarbeiterInnen des Studios. Dennoch gelten für sie die üblichen Bedingungen, die vorsehen, dass sie auch die Werkstätten in der Hardenbergstraße nutzen. Prof. Dr. Ana Dimke, Vizepräsidentin der UdK und Dekanin der Fakultät Bildende Kunst, versichert, dass auch Vorträge und Veranstaltungen geplant seien. Außerdem ist sie zuversichtlich, dass es sich bei ­Eliassons Idee um ein innovatives Projekt handelt, das eine TopLehre beinhaltet. Die Arbeit in einem großen ­Betrieb,


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v­ erbunden mit individueller künstlerischer Entwicklung, könne wichtige Erfahrungen mit sich bringen. Zwischen freien Künstlerinnen und Künstlern und Lehramtsstudierenden mache Eliasson keinen Unterschied, zumal er selbst an Kunstvermittlung interessiert sei. «Ich glaube, das wird ziemlich klasse», so Frau Dimke, die seit einem Jahr intensiv an den Verhandlungen mit Eliasson mitgewirkt hat. Auf der Pressekonferenz am 10. Oktober 2008, als Eliasson seinen «transdisziplinären Ansatz» vorstellte, war auch von der Vernetzung räumlicher Praktiken in Bildender Kunst und Architektur die Rede. Konkrete ­Pläne für die Miteinbeziehung der Fakultät Architektur in ­Eliassons Konzept gibt es jedoch noch nicht. Dem Künstler schwebt auch eine enge Zusammenarbeit des Instituts mit Berliner und internationalen Kulturinstitutionen, Museen und Kunsthallen vor. Studentische Projekte sollen in öffentlichen Ausstellungen präsentiert werden, die gemeinsam mit hochkarätigen GastdozentInnen und KünstlerInnen organisiert werden.

Zusätzliche Elite im ohnehin elitären System der Kunsthochschule Wir können uns freuen, dass Eliasson seinem Ruf an die UdK folgt, anders als Stan Douglas und Daniel Richter, die unserer Universität trotz langwieriger Verhandlungen den Rücken kehrten. Mit ihm gewinnt die UdK einen international renommierten Künstler, mit dem zu arbeiten für die Studierenden eine große Chance der Weiterentwicklung ermöglicht. Durch die räumliche Distanz zwischen UdK und dem Studio Eliasson besteht jedoch die Gefahr, dass sich im ohnehin elitären System der Kunsthochschule eine zusätzliche Elite herausbildet, die mit den restlichen Klassen der Fakultät Bildende Kunst nicht im Austausch steht. Enorm viel Geld wird hier in ein Projekt investiert, von dem womöglich nur sehr wenige Studierende profitieren. In jedem Fall darf man gespannt sein, welche Entwicklung das «Institut für räumliche Experimente» mit seinem außergewöhnlichen und erfrischenden Konzept nehmen wird.

Kommentar Unter Vorbehalt

Text: Karoline Kreißl

Da die Stelle von Olafur Eliasson aus den Masterplanmitteln der Einsteinstiftung bezahlt wird, stellt sich die Frage nach der tatsächlichen Zuständigkeit und dem Umfang der geplanten Zusammenarbeit mit der Fakultät Bildende Kunst. Wird Herr Eliasson auch die sonstigen Pflichten eines Professors der Fakultät 1 übernehmen, wie zum Beispiel die Arbeit in den offiziellen Gremien und Kommissionen? Wie und wo finden die Prüfungen statt? Die räumliche Trennung unterbindet nicht nur den Austausch zwischen den Studierenden, sondern verhindert auch eine Kollektivbildung, die Voraussetzung für studentische Organisation ist. Denn nur eine Zusammengehörigkeit schafft gegenseitige Verantwortlichkeiten. Auch über die konkrete Organisation ist noch nichts bekannt: Wann und wie finden Klassenbesprechungen statt? Sind sie für alle interessierten Studierenden der Bildenden Kunst frei zugänglich? Können auch Lehramtsstudierende in die Klasse? Es bleiben zu viele offene Fragen, um Ausmaß und Wirkung eines Engagements von Olafur Eliasson an der UdK schon jetzt (positiv) bewerten zu können.


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Einstein

als Ansporn Text: Tobias Hömberg / Illustration: Valerie Assmann

Berlin fördert exzellente Forschung und Lehre – und die UdK profitiert.

Allzu viel ist nicht übrig geblieben von der geplanten «Super-Uni», die Berlins Wissenschaftssenator Jürgen Zöllner (SPD) als Teil seines umfassenden Masterplans «Wissen schafft Berlins Zukunft» einst ergrübelt hat. Die vier Berliner Universitäten lehnten das vor eineinhalb Jahren erstmals präsentierte Vorhaben der Zusammenführung von Forschungseinrichtungen unter einem gemeinsamen Dach ab. In der «Super-Uni» sollten exzellente Bereiche der Hochschulen sowie außeruniversitäre Einrichtungen – etwa die HelmholtzGemeinschaft, die Max-Planck-Institute und die Fraunhofer-Gesellschaft – vereint werden, um den Forschungsstandort Berlin zu stärken. Ursprünglich schloss der Senator sogar eine komplette Zwangsvereinigung der großen Berliner Unis nicht aus. Nach heftigem Gegenwind seitens der betroffenen Einrichtungen war dann schnell nur noch von «institutioneller Durchlässigkeit» die Rede, um die «absolute Spitzenforschung» der Stadt dennoch auf ein höheres, international auch zukünftig konkurrenzfähiges Niveau zu heben. Ein Leuchtfeuer an zündenden Ideen

Ein Jahr lang werkelte Zöllner weiter an seinem Masterplan, dessen sogenannte «Forschungsoffensive» ihn dabei ein ums andere Mal in die Defensive brachte. Doch wer einen Leuchtturm errichten und sich selbst als dessen Leuchtturmwärter einsetzen will, der darf keine Angst haben vor dem Feuer, das er da entfacht. So lang die Vorgeschichte schon währt, so bunte Namen für das Vorhaben geisterten zwischenzeitlich durch die Presse: «International Forum of Advanced Studies in Berlin», «International Free Humboldt Forum» (nicht zu verwechseln mit dem Arbeitstitel für das zu rekonstruierende Stadtschloss), zuletzt «Ber-

lin Institute for Excellence» (auch in der UdK gerne «Bifi» gerufen). Und jetzt muss eben Einstein herhalten, der war ja selbst auch exzellent.

Politischer Einfluss auf die Forschung Das im Sommer 2008 vorgestellte, überarbeitete Konzept sieht nunmehr den Verbleib der herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Universitäten und Instituten vor, wo sie an ausgesuchten Vorhaben herumtüfteln dürfen. Sie sollen miteinander kooperieren und unter dem gemeinsamen Label «EinsteinStiftung» auftreten. In einem «Memorandum of Understanding» einigten sich die Leiter der vier Berliner Universitäten – darunter UdK-Präsident Martin Rennert – gemeinsam mit Zöllner auf die Gründung einer Stiftung, um ebenjene Leuchtturmprojekte zu fördern. Der Grundstock des Stiftungskapitals soll fünf Millionen Euro betragen, deren Zinsertrag zur Deckung der laufenden Kosten dient. Für Forschungspläne, Gastprofessuren oder Graduiertenprogramme einschließlich Promotionsmöglichkeiten sollen jährlich 35 bis 40 Millionen Euro bereitstehen. Die «Einstein-Stiftung Berlin gGmbH» besteht aus einer wissenschaftlichen Kommission, die sich aus elf externen und fünf Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammensetzt, sowie einem Aufsichtsrat, in dem unter anderem die Präsidenten der beteiligten Unis vertreten sind. Der Aufsichtsrat soll über die einzureichenden Förderanträge beraten, zu denen die Wissenschaftliche Kommission zuvor Stellung genommen hat. Der Haken an der Sache: Das Konstrukt sieht mit der zusätzlichen Dachstiftung «Einstein-Stiftung Berlin» noch eine weitere, übergeordnete Ebene vor. Nicht nur scheint die Namensverwirrung jetzt perfekt – die Dachstiftung als Alleingesellschafterin der gGmbH soll auch konkrete Vorgaben zu den Forschungsfeldern machen können. Auf diese Weise wird der deutliche Einfluss der Politik auf die Berliner Forschungslandschaft manifest: Der Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin benennen die Mitglieder der Dachstiftung, Wissenschaftssenator Zöllner und Finanzsenator Thilo Sarrazin gehören ihr von vorneherein ebenfalls an. Dass der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Günter Stock, zugleich Vorsitzender des Kuratoriums der Humboldt-Universität ist, hat zu massiven Protesten unter anderem an der FU geführt, weshalb diese Personalie in Zusammenhang mit der Dachstiftung mittlerweile wohl zurecht korrigiert wurde.


Universitäres  25

Finanzierung des prestigeträchtigen Modells Zöllner war in den vergangenen Monaten viel an den Unis unterwegs, um weitere Kritik aufzunehmen und, wo möglich, in Wohlgefallen aufzulösen. Die unauslöschbare Skepsis – auch bei den Studierendenvertretungen – bezieht sich dabei insbesondere auf die Finanzierung des prestigeträchtigen Modells. Denn der Mehrwert, der für Berlin mit Einsteins Beistand zu Buche schlagen soll, darf nicht auf Kosten der Grundausstattung der Hochschulen gehen. Sosehr Zöllner sich bemüht, beide Themen auseinanderzuhalten: Das Bemühen um Exzellenz auf der einen und Effizienz auf der anderen Seite erzeugt ein merkwürdiges Bild. Und dann gibt es da ja auch noch den Finanzsenator, der ohnehin nicht einsieht, weshalb die Universitäten in den laufenden Verhandlungen zu den neuen Hochschulverträgen so viel mehr Geld fordern, als er ihnen zugesteht. Spitzenforschung hier, Spatzenportionen da – nicht unbedingt das Geheimrezept, eine kränkelnde Berliner Hochschullandschaft aufzupäppeln. Die Opposition im Abgeordnetenhaus lässt unterdessen prüfen, ob die geplante Konstruktion als Stiftung bürgerlichen Rechts überhaupt zulässig ist. Was die UdK davon hat

Noch steht Einstein also auf tönernen Füßen, auch wenn er hier und da schon ein Tänzchen wagt. Die UdK profitiert als allererste von dem Zöllnerschen Masterplan. Von 2009 bis 2011 fließen insgesamt eine Million Euro, mit denen der international renommierte Künstler Olafur Eliasson als frisch berufener Professor sein hochgepriesenes innovatives Lehrkonzept erproben darf. Der neuartige Ansatz sieht die Verknüpfung «experimenteller räumlicher Praktiken» mit Architektur und verschiedenen Wissenschaften vor, weshalb unter anderem internationale Gastdozenten vorgesehen sind.

Für die Fakultät Bildende Kunst bedeutet dies das Aufbrechen verkrusteter Lehrstrukturen, wenngleich es möglicherweise mit der zukünftigen Privilegierung einiger Studierender erkauft ist. Exzellenteste Exzellenz ganz so, wie sie dem Senator gefällt: «Mit seinem Institut wird Professor Eliasson zu einem Exzellenzträger für neuartige Verknüpfungen zwischen Wissenschaft und Kunst in Berlin. Mit exzellenter Forschung und Kunst sowie Interdisziplinarität und Nachwuchsausbildung erfüllt das Institut die gleichen Voraussetzungen, die auch die Wissenschaften in der Exzellenzinitiative erfüllen müssen.» Eine weitere Summe erhält die UdK als Anschubfinanzierung ihrer zukünftigen «Graduiertenschule», deren Pilotphase im April abgeschlossen sein wird. Auch sie widmet sich in besonderem Maße der Begegnung von Künsten und Wissenschaften. Dass Zöllner seine Förderprogramme explizit für die Künste und die anverwandten Wissenschaften öffnet, ist abseits sonstiger Polemik durchaus bemerkenswert, hatte er ursprünglich namentlich insbesondere die «Medizin, Geistes-, Gesellschafts-, Natur- und Ingenieurwissenschaften» im Blick. Die UdK sitzt aber eben seit einiger Zeit als anerkannte vierte Berliner Universität gemeinsam mit HU, FU und TU beim Senator an einem Tisch. UdKPräsident Martin Rennert sieht sich aufgrund der konkreten Vorteile also nicht in der Rolle des Kritikers. Und auch der Akademische Senat der UdK hält, ihm folgend, mit seinen Bedenken eher hinterm Berg. Vermutlich lässt sich frühestens in einigen Monaten feststellen, welche Auswirkung das Ringen Zöllners um Berlin als Brutstätte zukunftsweisender Forschung wirklich hat, welche Befürchtungen hinsichtlich unangenehmer Nebenwirkungen sich dabei erfüllen und ob für Berlin wie auch die UdK tatsächlich ein Zugewinn zu verzeichnen ist. Womöglich ist am Ende, frei nach Albert Einstein, doch auch alles schlicht relativ.


26  Individuelles

Permeables aus Schwellen,   Bewegungen, uebergaengen

Interview: Anna Grieben Illustration: Valerie Assmann Foto: Fridolin Schöpper

Ein Interview mit dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Dr. Thomas Düllo zur Utopie der Straße

Urbane Utopien entfachen sich entlang von gesellschaftlichen, politischen und stadtplanerischen Visionen dessen, was noch nicht ist, aber als Verlautbarung in die Zukunft weist und Lebensentwürfe konstruiert. Dazu gehört auch die Straße. Herr Düllo, was ist für Sie eine StraSSe?

Nein, er beschreibt keine Straße. Er spricht auch von Schwellen, was Hauseingänge und Dielen betrifft. Auch im Sinne der Ritualbegegnung. Aber ich glaube, das lässt sich ganz gut auf Straßen übertragen. Die Passagen haben oft ihren Glanz verloren. Sie werden ja immer noch gebaut, aber ähneln nicht mehr so sehr den Passagen aus dem Paris des 19. Jahrhunderts, auch architektonisch nicht. Teilweise sind es ja wahre Vorhöllen, was auch die Läden und deren Gestaltung betrifft. Ich glaube, dass der Gedanke der Passage eher in andere Bereiche gewandert ist, auch auf die Straße. Seit den 70er/80er Jahren gibt es so was wie die Wiederentdeckung des städtischen Raumes. Vorher ist in Nordeuropa sogar das Leben im öffentlichen und halböffentlichen Raum sehr zurückgedrängt worden, während man jetzt sieht, dass Ladenbesitzer und Straßencafés versuchen, diesen Raum multifunktional und mit diffusen Übergängen zu gestalten. Diese diffusen Übergänge haben was mit der Schwelle zu tun.

Straßen sind für mich Orte, die einen utopischen Glanz haben. «Straße» kann aber auch anders definiert werden. Sie ist ja auch Raum der Gefährdung, der sich versammelnden Menge. Das machen die faschistischen Erfahrungen deutlich, also die der unseligen Versammlung. Aber für mich ist «Straße» eher auch eine Verheißung, ein Versprechen für Vitalität, für Begegnung. Sie ist auch, im Übergang vom Innenraum zum Außenraum, erst einmal schlichtweg Wirklichkeitsbegegnung in einer überraschenden und auch gestalteten Form. Die Utopie vom begrifflichen ou-tópos, im Sinne eines utopischen, noch nicht realisierten Entwurfs, geht bei der Straße so nicht auf. Die Straße ist ja schon real. Aber das, was einem Wenn man die StraSSe als permanente Schwellenlandschaft von Öffentlichem und widerfahren wird, kann erst einmal utopisch sein. Also Verkehrsweg, Bürgersteig, Übergangsraum?

Privatem imaginiert, wem gehört sie denn im ideellen Sinne?

Die Straße gehört auch den Nutzern. Das mit dem öffentlichen Raum hat sich ja auch als utopisch umkämpfte Vokabel eingeschlichen. Es gab aber den emphatisch begriffenen öffentlichen Raum auch historisch in den Städten gar nicht. Also den gänzlich freien Raum, der weder einem Privaten, dem Staat oder sonst wem gehört. Interessen und Macht waren daher immer auch im öffentlichen Raum mitstrukturiert. Die Straße Aber Benjamin spricht vom Schwellenzauber gehört aber doch eher vielen, vor allem denen, die sich darauf in Bezug auf die Passagen, auf die Illusion bewegen. Es ist die Frage, wie sie im städtebaulichen Ensemble dieses Exterieurs im Interieur, welches abge- relativ vielen zugänglich und nutzbar ist, auch im Sinne einer schlossen ist. Das beschreibt keine StraSSe Einschreibung. Ja, aber in Bezug auf die urbane Straße. Landstraßen und Schnellstraßen haben in diesem Zusammenhang eine andere Verheißung. Die Frage des von innen nach außen, also des Schwellencharakters, ist dabei interessant. Walter Benjamin hatte in seinem Passagen-Werk von «Schwellenzauber» gesprochen.

an sich, sondern das Innere der Passage.


Individuelles  27

Was bestimmt die StraSSe als kulturellen Aktionsraum, wie Sie sie nennen?

zipation, Einschreibung und Umnutzung zu tun. Man kann es heute auch Transformationsprogramm nennen. Der andere Strang ist das Kontrollprogramm. Beide stehen städteräumlich eher gegeneinander, als dass sie miteinander vermischt würden. Wenn innerstädtische «Malls» die Kontrollbereiche sind, so sind andere Straßen in Vierteln, die noch nicht so ganz entdeckt sind − eher die Transformationsbereiche.

Es geht um die Inszenierung eines temporären Settings und Ensembles in diesem Raum, der etwas ermöglicht und nicht endgültig definiert ist. Es käme darauf an, etwas eher offen zu inszenieren. Die Akteure entscheiden darüber, was sie dort tun. Umnutzung passiert viel, auch genau in Umbruchszeiten. Die Oranienburger Straße ist zum Beispiel auch sehr früh nach der Wie könnte man die Dystopie einer StraSSe Wende fest definiert worden und in dem Sinne auch erledigt. beschreiben? Man darf gespannt sein, ob es da eine Revitalisierung gibt. Die kann man in vielfacher Hinsicht beschreiben. Historisch in Sie haben mit Siegfried J. Schmidt zusammentotalitären Gesellschaften ist der Gang auf die Straße ein Sichgearbeitet. Nach ihm könnte man die Art und Aussetzen, ein Sich-Gefährden. Man sieht es diesen Straßen Weise der Artikulation der StraSSe auch als auch an. Siegfried Kracauer hat das mal in einer Erzählung Kulturprogramm oder als Teil eines Wirküber die Straßen von Berlin während des Nationalsozialismus’ lichkeitsmodells der Gesellschaft sehen. dargestellt. Er hat beschrieben, wie der faschistische TromWelche Aussage hat ihrer Meinung nach die melwirbel, der faschistische Mob, die Straßen kontrolliert, Überwachung von öffentlichen Räumen? und hat dieses Ensemble den Straßen atmosphärisch abgeSehen Sie dort einen Verweis auf das derzeilesen. Als nicht-utopisches Element. Dann gibt es aber auch tige kulturelle Programm? heute Straßen, die architektonisch ein grauenhaftes Ensemble Ich würde S. J. Schmidt zustimmen, dass die Artikulation bilden, die auch nicht mehr umgenutzt werden können und immer auf der Grundlage eines Kulturprogramms geschieht. denen sich dadurch der utopische Charakter verwehrt. Man kann das für bestimmte Städte auch noch mal unterHaben Sie ein Beispiel dafür? schiedlich betrachten, wie sich unterschiedliche KulturproJa, die Schnellstraßen in Hannover, die in den 70er Jahren gramme artikulieren. Im Augenblick ist es, wie fast immer, gebaut wurden. Sie wurden nach verkehrsfunktionalen ein ambivalentes Programm. Einerseits hat es was mit Parti­Prinzipien wie in Chicago gebaut, schneiden sich in das


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Weichbild der Stadt ein. Als Ausweg könnte man sie höchstens sperren und umnutzen. Das würde ich auch für 80 bis 90 Prozent der Fußgängerzonen behaupten. Sie sind einerseits tot, wenn der Konsumlärm weg ist und andererseits sind sie in der architektonischen Anmutung von Bänken, Blumenrabatten, Lampen, der Darbietung von in der Regel globalen Marken ästhetisch langweilig und standardisiert, so dass kein utopischer Glanz mehr möglich scheint. Martina Löw spricht vom «Spacing» und «Gegenspacing» des sich Einschreibens der Verortung. Wo diese Verortung schon strukturell wenig vorhanden ist, entsteht kein Ort. Entpuppt sich die Örtlichkeit mit der Anzahl der Möglichkeiten, die in ihr wohnen?

Ja, das finde ich. Utopie und Anzahl der Möglichkeiten ist ja fast ein Synonym. Nach Ulrich Beck leben wir durch die vielen Möglichkeiten und Optionen unfrei. Das ist vielleicht die andere Seite. Ich kann es aber für den öffentlichen beziehungsweise halböffentlichen Raum eher nicht feststellen. Die städtebauliche Entwicklung in den letzten Jahren war ja nicht so schlecht. Im Gegensatz zu dem Immer-Gleichen als Gegenteil des Möglichen entsteht doch auch Pluralität. Mit dem Weg

zur Definiertheit der Räume verringern sich auch die Möglichkeitsformate. In Berlin kann man ja relativ froh sein, dass es noch genügend Nischen gibt. Mehr Definiertheit führt auch immer zu einem Pluralitätsverlust. Dr. Thomas Düllo vertritt ab Frühjahr 2009 die Professur für Theorie der Verbalen Kommunikation im Studiengang GWK an der UdK. Der Lehrstuhl war zuvor bis zum Wintersemester 2006 von Prof. Dr. Dr. Lutz Huth besetzt.


Individuelles  29

Urbane

Verwandlung Interview: Heiko Müller / Foto: Livius F. Dietzel

Orte der Erinnerung und Transformation in Shanghai und Berlin

Die gebürtige Shanghaierin Yimeng Wu lebt seit ihrem neunten Lebensjahr in Deutschland und studierte Visuelle Kommunikation an der Universität der Künste Berlin. In ihrer Diplomarbeit setzte sie sich mit der Wechselwirkung von Individuen und ihren Orten im städtischen Raum auseinander. Anhand eines urbanen Experiments namens «Random Tours» verglich sie Existenzformen in Shanghai und Berlin miteinander. Eine mosaikhafte Bestandsaufnahme urbaner Lebenssituationen, die von globalen und lokalen Tendenzen geprägt sind. Du kommst gerade aus Shanghai zurück. Wie provinziell ist Berlin?

Wenn man den Kontrast zwischen den Städten vor Augen hat, schon ein bisschen. Es ist alles sehr klein hier. Heimelig. Überall ist es grün. Fast ein bisschen ländlich. Aber das ist nur die Oberfläche. Beide Städte stecken seit zwanzig Jahren in unglaublichen Transformationen. Hier die Überreste zweier Staaten, die es nicht mehr gibt und die immer noch zusammenwachsen müssen, die noch immer Versatzstücke aufweisen, unverheilte Wunden. Dort die wirtschaftliche Öffnung. Das Paris des Ostens. Die zweite Renaissance.

etwas bedeutet. Die Menschen berichteten mir ihre Geschichten zu diesem Ort und ich machte mich auf den Weg, ihn zu entdecken. Dort angekommen startete ich von vorn, insgesamt zwanzig Mal pro Stadt. Vierzig Orte auf zwei Kontinenten. Verschwimmen da die Grenzen?

Nur in kurzen Augenblicken. Es gibt Orte in Shanghai, da denkst Du nicht, dass Du in China bist. Aber das ist nur die Bildebene. Es sind andere Menschen und es passieren andere Geschichten. Was ist das für ein Unterschied? Ein äuSSerlicher oder ein innerlicher?

Er ist eingewoben. Die Geschichten der Menschen und der Orte sind eingebettet in die Stadtgeschichte. Ich traf in Berlin eine Frau, für die war die Oberbaumbrücke der Inbegriff der Freiheit. Das lag einfach an der Geschichte. Sie kam aus Kreuzberg und konnte ihre Tante in Friedrichshain über viele Jahre nicht besuchen. Wenn sie heute über die Brücke geht, ist das noch immer etwas Besonderes für sie. In Shanghai wiederum traf ich eine Frau, die ihr Leben lang in einer Bonbonfabrik gearbeitet hat. Die Fabrik gibt es heute nicht mehr, stattdessen stehen Es sind Städte der Verwandlung ... dort Wolkenkratzer. Die alte Frau geht gern dort spazieren, Ja, aber das bringt sie nicht zusammen. Sie lassen sich nicht weil sich Shanghai für sie zum Guten gewandelt hat, auch so einfach zusammenbringen. Vielleicht überhaupt nicht. wenn sie selbst noch immer in einem dunklen Zimmer lebt, Deswegen ist es in der Arbeit auch eine Gegenüberstellung. Sie ohne Sanitär, ohne elektrisches Licht. sollen für sich stehen. Wie funktioniert diese Gegenüberstellung? Was ist das Prinzip?

Ich habe die Städte auf Grundlage der Erfahrungen der Menschen mit ihren Orten verglichen. Die Menschen, die ich traf, hatten ganz individuelle Geschichten, die vielschichtig und wandlungsfähig waren. Widersprüchlich wie die Lebensräume selbst. Sie kannten die Geschichte ihrer Orte, weil sie ihre eigene Geschichte kannten.

Die negative Seite des Fortschritts ist ja die Auslöschung ...

Das stimmt. Ich fand viele Orte, die es gar nicht mehr gab. Orte der Erinnerung. Durch neue Architektur, aber auch durch Überschreibungen der Handlungsräume. Damit verschwindet Identität. Meine Arbeit ist auch der Versuch, ein Stück Geschichte festzuhalten, indem ich den Menschen die Möglichkeit gebe, sie zu erzählen.

Das ist die Perspektive der Beobachterin. Inwieweit bist Du denn selbst Teil der TransJa, aber dieser Zufall folgte strengen Regeln. Ich startete jeweils formation, ist die Transformation Teil von am ältesten Punkt der Stadt. Ich nahm den Ort sorgfältig wahr Dir? Waren das zufällige Begegnungen?

und achtete auf die Menschen, die dort ihren Dingen nachgingen. Ich suchte mir jemanden heraus, der freundlich und einheimisch aussah und fragte ihn, ob er sich in der Gegend auskenne und ob er mir einen Ort empfehlen könne, der ihm

Natürlich ist diese Arbeit auch eng mit meiner eigenen Geschichte verbunden. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, stand ich mit meiner Mutter am Bund, auf der Kolonialseite des Huangpu. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses


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war nichts. Dann ging ich zwei Jahre nach Deutschland und als ich wiederkam, war da die Skyline. Vom Nichts zur Megacity. Durch Deutschland erlebe ich Shanghai in diesen enormen Sprüngen. Eine Stadt, in der alle drei Monate die Stadtpläne gewechselt werden.

Du suchst immer noch nach einem Bindeglied (lacht). Ich weiß nicht, natürlich sind wir alle miteinander durch ein globales Wirtschaftssystem verbunden. Aber in China ist es akuter als in Berlin. Europa war immer schon offen, China bricht erst jetzt auf. Das setzt eine brachiale Kraft frei. Shanghai ist eine Stadt, die ganz viel nachholen muss. Ein Symptom davon sind Da gibt es ja auch eine Parallele zur Mauerübermenschliche Werbebotschaften von Luis Vuitton. Mit öffnung in Berlin. unerschwinglichen Produkten an westlichen Models. Und das Ja, stimmt. Da änderte sich auch alles in einem einzigen macht natürlich auch etwas mit den Menschen, es verwandelt Moment. Die Menschen wurden zu Fremden in der eigenen sie. Berlin erscheint mir da viel harmloser. Stadt. Eben noch läufst Du durch Deinen Kiez, dann biegst Du um ein, zwei Häuserecken und plötzlich bist Du mitten Die Verwandlung, das ist ja ein ganz klassiim Neuland. Oder auch die vielen Umbenennungen im Osten, sches Motiv. Ist diese städtische Transformadie jegliche Orientierung auf Stadtplänen und im öffentlichen tion poetisch? Oder dramatisch? In China ist sie poetisch, weil sie keine Grenzen kennt. Die Nahverkehr unmöglich machten. Stadt wird dominiert von einer Gigantomanie. Dramatisch ist Diese Umbenennungen, das ist interessant. sie eher in Berlin. Das Stadtschloss zum Beispiel. Das hat ja auch etwas mit einem Zaubermythos zu tun.

Du meinst Rumpelstilzchen? … verrate mir Deinen Namen und ich erkenne Dein Wesen ...

Wäre das in Shanghai vorstellbar gewesen?

Niemals. Das ist eine kulturelle Frage, in China wurde immer alles erneuert. Die Welt ist eher zirkulär, nicht so linear wie hier in Europa. Sie ist immer im Wandel, man wird nicht versuchen, etwas aufzubauen, was nicht mehr der Zeit entspricht. Ich finde es unverständlich, dass man in Berlin versucht, einen wichtigen Teil der Stadtgeschichte zu negieren, den Charme, die Widersprüchlichkeiten auszulöschen und stattdessen etwas völlig Fremdes herzuholen.

Naja, in Berlin hat man ja vorwiegend Namen von Personen gegen die Namen von schöneren Personen getauscht. In Shanghai passiert ein radikalerer Umbruch. Da werden Straßen zu Marken. Fantastraße zum Beispiel. Das habe ich sonst noch nirgendwo gesehen. Eine dreiste Art der Übernahme des öffentAus gestalterischer Sicht: Was ist Deine lichen Raums. Auch in Berlin gibt es Orte wie das SonyCenter und nur unweit davon entfernt wird am Leipziger Platz die Stadt selbst durch bespannte Hohlräume simuliert. Eine Reduktion auf Schauseiten. Ist das das fehlende Bindeglied?

Vision für Shanghai und Berlin?

Ich würde mir für beide Städte wünschen, dass sie unfertig bleiben. Unperfekt und rau. Weil dadurch Plätze gegeben sind für die junge Generation, um selber daran mitzubauen. Um nicht immer den Ballast der Geschichte zu haben. So wie in Paris, wo alle Fassaden perfekt sind, mit Glamour bestückt. Kultur besteht aus Reibung und Widerständen.



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FRemdProjekt: marcuse und die entstehung der

anti-repressiva Text: Urszula Wozniak

Urszula Wozniak, Janna Schlender und Franziska Langner vom Institut für europäische Ethnologie der Humboldt-Universität ließen sich von Marcuse inspirieren. Das «AntiRepressiva»-Projekt war vom 10. Juli bis zum 2. November 2008 auch als Installation im Ephraim-Palais zu sehen. Es sucht in Herbert Marcuses Aufsatz «Repressive Toleranz» aus dem Jahr 1965 nach Antworten auf die Frage, worin die Faszination der marcus’schen Theorie für die Studentenbewegung um ’68 lag und inwieweit diese heute von Relevanz sein kann. In jener Schrift zeigt der Sozialphilosoph, dass sich hinter dem vermeintlichen Widerspruch des Zusammenspiels von Toleranz und Repression ein trickreicher Herrschaftsmechanismus verbirgt.

Medizin gegen Konsumwahn In Anlehnung an Marcuses Warnung vor der Verinnerlichung falscher Bedürfnisse, welche die repressive Ideologie des schlechten Ganzen reproduzieren, haben wir die Anti-Repressiva entwickelt. Die Tablette steht symbolisch für die Inkorporierung der marcusschen Theorie und greift durch ihr Format zugleich Marcuses Kritik am blinden Konsumwahn auf. Wie bei einem Placebo tritt die Veränderung allerdings nicht durch den Wirkstoff selbst, sondern mittels der inneren Bereitschaft zum Wandel ein. Näheres findet sich im Beipackzettel.


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Demo

«Bewirkt eine noch irgendwas, wenn alle daran glauben?» Interview: Steffen Krämer Screenshots aus dem Film

Julia Bränzel über utopische Elemente und ihre Film-Doku über den Studierendenstreik

Julia Bränzel hat mit «Interessenvertretung» ein Portrait des Berliner Studierendenstreiks von 2003/2004 angefertigt. Es besteht überwiegend aus Zeitungsartikeln, Flugblättern, Resolutionen und vereinzelten Film- und Tonaufnahmen. Das collagierte Tableau wird als knirschende und klackende Diskursmaschine gezeichnet, deren Sprecher und Buchstaben sich beständig überkreuzen und aus deren Ventilen die nächsten Forderungen gespuckt werden: Utopien vielleicht? Nach dreijähriger Produktionszeit schloss Julia mit dem Film ihr Studium der Experimentellen Mediengestaltung ab. Ihr Zweitstudium läuft noch: Physik. Julia bringt zu unserem Interview Ernst Blochs «Geist der Utopie» mit. Meine erste Frage zur Utopie im Streik wird mit der Gegenfrage gekontert, was das denn sei, eine Utopie. Ich kneife und verweise eingeschüchtert auf den abgegriffenen Suhrkamp-Band zwischen uns.

Lassen sich jenseits der Eigendynamik des Diskurses unterschiedliche Produzenten von Utopien identifizieren?

Direkte Personen nein, Haufen ja. Es haben ja auch nicht alle zugestimmt. Studenten und Tageszeitungen greifen sich an oder wechseln die Meinungen. Das ist ein laufender Diskurs. Die Studenten haben ja nicht nur über Zeitungen miteinander diskutiert. Es gab Vollversammlungen, AGs und die Demonstrationen selbst. Da ist viel mehr an Auseinandersetzung gewesen, als man in meinem Film sehen kann. Im Film sieht man nur, wie diese Diskussionen in einem Artikel von Einzelnen zusammengefasst wurden. Wortführer und Führungsanspruch gab es eigentlich nicht. Du hast eine Diskursanalyse mit filmischen Mitteln gemacht…

Man kann eine daraus machen? (lacht) Was stört dich an dem Wort «Diskursanalyse»?

Eine Analyse will auf etwas hinaus. Ich habe nur unterschiedDas ist nicht so kompliziert. Das Buch erklärt nicht die Utopie. liche Meinungen chronologisch collagiert und war mitunter Eher den Geist der Utopie mit schönen Sätzen, wie zum Beiselbst überrascht, wie gut sie zusammen passen. spiel: «Wie nun. Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen.» Kann man utopische Forderungen als Dramaturgie oder Motor des Studierendenstreiks 2003/2004 ausmachen?

Je mehr Menschen daran glauben, desto eher wird etwas als real wahrgenommen. Wenn mehr Leute für eine Sache auf die Straße gehen, rückt es in greifbarere Nähe, weil sie etwas dafür machen und nicht nur im Kämmerchen sitzen. Durch die Masse kommt das Gefühl: «Man könnte etwas erreichen». Man kann sich nun streiten: Bewirkt eine Demo noch irgendwas, wenn alle daran glauben? Schwieriger wird es, wenn man nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner anschaut, sondern das Spiel und den Kampf unterschiedlicher Meinungen. Was ist da die Utopie? Im Streik gab es eine Ursache, auf die mit Protesten reagiert wurde. Das Studium, so wie es vorher war, sollte auf einmal Utopie werden. Also war der erste Antrieb eine Gegenutopie: Erhalt des Studiums, wie es war.

Haben sich die unterschiedlichen Forderungen im Streik vermischt?

Sicherlich. Die Meinungen und Forderungen haben sich mit der Zeit aber auch konkretisiert und damit voneinander abgegrenzt. Da stecken dann sicherlich jeweils unterschiedliche politische Einstellungen dahinter, und wenn diese diskutiert werden, dann gibt es viel Uneinigkeit und Grundsatzdiskussionen. Am Schluss bleibt als kleinster gemeinsamer Nenner die Verhinderung der Studiengebühren und die Zurücknahme der Kürzungen. Weg vom Streik zur Utopie im Film allgemein: Dein Film vermeidet, einen fiktiven Ort zu zeichnen. Inwieweit ist der (Spiel-)Film deiner Meinung nach ein utopisches Medium?

Da könnte man Bücher drüber schreiben. Ich denke, dass Filme als Projektionsfläche von Hoffnungen/Ängsten, Ablenkungen


Individuelles  35

etc. schon auf die Menschen abfärben. Der Film hat das mal eine Zeit lang stärker versucht, mit dem Anspruch, Menschen Hoffnung und Antrieb zu geben, und letztlich viel Redundanz in der Filmgeschichte produziert. Die Botschaften sind irgendwann immer die gleichen. Es bleibt eine gemeine Frage. Ich denke auch an Godards «Histoire(s) du Cinema». Er thematisiert das und hat mich damit auch geprägt. Ich bin zwar nicht so poetisch wie er, aber die Schlussfolgerungen, die er zieht, habe ich zum Teil auch für mich gezogen. Kannst du das konkretisieren?

Godard thematisiert die Traumfabrik Kino als Unterfiliale der Kosmetikindustrie. Aber es ist schwierig, das zu erklären, auch aus persönlichen Gründen: Eine Zeit lang wollte ich mich aus der Filmbranche zurückziehen, weil ich dort zu sehr eine Art Sprachverwirrung und Lüge gesehen habe. Es wird immer schneller, du hast immer mehr Stilmittel. Wenn man davon ausgeht, man hatte mal eine Abbildung, die wurde so und so verstanden, dann hat sich das Prinzip des Zitierens und als etwas anderes Missbrauchens immer weiter beschleunigt. Nun gibt es Bildsprachen, die von unterschiedlichen Generationen jeweils anders verstanden werden. Ich habe auch ein Problem damit, den Menschen etwas einzureden. Weil es zu ungewiss ist, wie sie es «verstehen»?

Es ist halt manipulativ. Auch Nachrichten sind manipulativ. Ich will nicht unterstellen, dass jemand das mit Absicht macht. Aber es geht in eine fatale Richtung. Du hörst Schreckensnachrichten jeden Tag, aber sollst in deiner Welt schön diszipliniert nach vorne gehen. Das zerreißt einen. Ich glaube, dass das Prinzip der Überbietung in der Presse dich relativ taub macht. Diese Logik kann man super benutzen: Womit überbiete ich, damit du nicht mehr weißt, wie die Story eigentlich weiterging, damit du Sachen vergisst.

Fändest du ein anderes Medium geeigneter für dich als den Film? Eines, das dir weniger manipulativ erscheint?

Ich glaube, das ist nun zu utopisch. Es vermischt sich alles. Die Trennung von Nachrichten und Film, von Dokumentation und Fiktion ist schwieriger geworden. Es gibt inszenierte Doku-Fictions, die so realistisch und authentisch daherkommen, dass du nicht mehr unterscheiden kannst zwischen inszeniert und nicht inszeniert. Benutzt man so etwas dann für Propagandazwecke als eine Art Beweis… Siehst Du auch Chancen?

Ich denke, man schafft etwas, wenn sich Leute mehr interessieren, zum Beispiel für den Zeitlauf von Dingen. Ich würde gern in dem Stil meines Films auch über andere Sachen etwas machen, es ist nur extrem aufwändig. Aber es könnte auch eine Webseite sein, die dir etwa zum Afghanistan-Krieg die Pressemitteilungen von Anfang an bereitstellt. Ein Ziel wäre für mich, gegen die Verdrängung etwas zu tun und zu zeigen, wo manche Dinge eigentlich entstanden. Die DVD kann ausgeliehen werden beim Filminstitut im Medienhaus der UdK Berlin, Grunewaldstraße 2−5, www. filminstitut.udk-berlin.de/edition.html. Auch bei dem Wettbewerb der eigenart könnt Ihr die «Interessenvertretung» gewinnen (siehe Seite 40).


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Ein utopischer Moment

Frauenfussball im Iran Text: Valerie Assmann Foto: Golareh Kiazand

Alles schien hoffnungsvoll gut. Zum ersten Mal sahen wir die iranische Frauennationalmannschaft eigentlich erst in dem Moment, als wir auf Anweisung unsere Kabine im Ararat-Stadion in Teheran verließen und uns plötzlich in unseren islamischen Fußballtrikots gegenüberstanden. Durch den engen Gang im Inneren des Stadions liefen wir gemeinsam nach draußen, wo wir von singenden, schreienden und jubelnden iranischen Frauen empfangen wurden. In diesem Moment ging die Realität verloren. Wie kamen all die Zuschauerinnen hierher? Das Spiel war geheim gehalten worden, jegliche Werbung verboten. Dennoch waren weit über tausend Iranerinnen da, schwangen ihre Fahnen und machten einen Lärm, der einfach nicht mehr leiser wurde. Die auf einmal so schwach wirkenden Sittenwächterinnen wurden nervös, die feiernde Menge ließ sich nicht einschüchtern; es war, als wären die strengen Regeln des Landes draußen geblieben, hätten keine Macht an diesem Ort. Es war ein Fest, ein öffentlicher Freudenausbruch unter Frauen, an einem ganz normalen Nachmittag mitten in Teheran. Die iranische Nationalmannschaft kämpfte mit Leidenschaft um einen Sieg, die Zuschauerinnen tobten für beide Seiten gleichzeitig. Alles schien hoffnungsvoll gut. Auch die engen Sportkopftücher, mit denen am Tag vorher beim Training noch jede Bewegung so schwierig gewesen war, traten ganz in den Hintergrund. Alle Anstrengungen, die zu diesem Ereignis geführt hatten, waren vergessen. Nach Abpfiff fielen die Spielerinnen sich in die Arme und liefen zu den Frauen auf der Tribüne. Die auf den drei Seiten gemeinsam gefeierte Freude wurde bald von persischen Lautsprecherdurchsagen gestoppt, alles ging sehr schnell. Die iranischen Spielerinnen wurden von schwarz gekleideten Aufseherinnen in ihren Mannschaftsbus geschleust. Wir blieben ohne ein Wort verstanden zu haben zurück. Seitdem ist das Ararat-Stadion das Heimstadion der iranischen Frauenfußballnationalmannschaft. Es ist ein Sportplatz der armenischen Gemeinde in Teheran, ein Heterotop, ein abgeschlossener Ort, an dem die Gesetze der Islamischen Republik Iran nicht gelten. Die iranischen Fußballerinnen spielen für Iran, im Iran, aber dennoch nicht auf iranischem Boden. Der iranische Frauenfußball bleibt eine Utopie.

Der 28. April 2006 ist den Beteiligten in Erinnerung geblieben, als ein Moment, der der Realität enthoben war. HIntergrund: Valerie Assmann war beim Spiel der iranischen Frauenfußball-Nationalmannschaft gegen den

«BSV Al-Demirspor» aus Kreuzberg dabei. Das erste öffentliche Frauen-Fußballspiel auf iranischem Boden seit 1979 dokumentiert der Film «Football Under Cover» von Ayat Najafi und den Geschwistern Assmann. Weitere Informationen : www.football-under-cover.de



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«If something

doesn’t have a story, it’s meaningless» Text: Sonja Peteranderl / Foto: Noa Lerner

Music Drop und Ghandis Toilette: Industrial Design von Noa Lerner

Ein graziles Glasgebilde in Form einer Ampulle lässt einen einzigen Song ins Ohr fließen, sobald man es in selbiges einführt – der Miniatur-Soundtrack für einen singulären Moment: «One drop of music that contains one song that can be used only one time». Der «Music Drop» reduziert ubiquitären Musik-Konsum auf das Wertvolle, auf ein Erlebnis, dessen Bedeutung durch die Nicht-Wiederholbarkeit vom Moment zum Momentum veredelt wird. In Zeiten des Überflusses ist das Elementare wieder distinktiv. Für «Existentiellen Luxus» gewann die Industrial-Design-Studentin Noa Lerner 2007 den Karl-Hofer-Preis, das «MoMA» in New York zeigt den «Drop »auf der Webseite zur Ausstellung «Design and the Elastic Mind» und auf der Musik-Messe Midem wurde die Erfindung auf den zweiten Platz der vielversprechendsten Weltneuheiten des «Music Ally/MidemNet New Business Showcase» gewählt. Trotz der internationalen Aufmerksamkeit – in letzter Konsequenz ist der Music Drop auch in der Hinsicht Luxus, dass er verzichtbar ist. Woher kommt das Bedürfnis, den unendlichen Vorrat der Dinge um ein weiteres Produkt zu ergänzen? Für Noa ist jedes Artefakt die Materialisierung einer Geschichte, woran sich auch dessen Bedeutsamkeit misst: «I have an image in my head, I must have a story – if something doesn’t have a story, it’s meaningless.» In Tel Aviv-Jaffa aufgewachsen, wechselte sie vom Script-Writing zum Industrial Design, um die Brücke zwischen Worten und deren physischer Manifestation zu schließen. Am Anfang sei dies schwierig gewesen: «I was the most horrible student in the first year, I am totally oldschool, I hate computer, nobody could understand me.» Als Designerin musste sie lernen, wie man Abstraktes «down to earth» transformiert: Storytelling durch Objekte. Fremdes Design oder Kunst wirken dabei selten inspirierend auf Noa – primär sind es «human behaviour, communication, human being», welche die Entwürfe der Israelin beeinflussen, oft auch eigene Alltagsprobleme. «I always design things for myself, and then I share it». «One story, one time, one muse»

Zu ihren bisherigen Ideen gehören Kommunikationsanlässe in Form eines Plastik-Aufsatzes für Trinkflaschen, um jemandem einen Schluck zu gewähren («Take a sip») oder das parfümierte lederne Schulterband, das die olfaktorische Orientierung im sozialen wie realen Raum betont und eine blinde Testerin derart berauschte, dass sie sich endlich wieder erotisch fühlte. Der «Music Drop» soll nun das erste klassische Industrial Design werden: Erste Prototypen wurden in Zusammenarbeit mit dem «Design-Reaktor Berlin» realisiert, das internationale Patent ist angemeldet, und wenn Noa mehr Zeit hat, werden vielleicht irgendwann Millionen von Tropfen hergestellt werden – als besonderes Geschenk, als Werbeträger für neue Songs oder sogar als erweiterte und iPod-artige 1-GigabyteVersion, welche den Grundgedanken des Tropfens allerdings auflöst.

«The music drop started because I wanted her to understand.» Auch der «Music Drop» teilt eine Geschichte mit seiner Schöpferin. Die vorläufige Endstation Berlin sollte einen temporären Studienortswechsel darstellen, ein Experiment, sich in einem neuen Areal zu bewegen, das und dessen Sprache man nicht versteht. Genau dieses rätselhafte Neue wurde dann zum Anlass für Verzweiflung, aus der Retrospektive jedoch auch zum Ursprung des «Music Drop». «My German was bad, I was in love, and we couldn’t communicate», erinnert sich Noa an die kommunikative Hilflosigkeit. «The music drop started because I wanted her to understand.» Wie der Babelfisch aus Douglas Adams’ Roman «Per Anhalter durch die Galaxis», der seinem Träger ein Verständnis aller gesprochenen Sprachen ermöglicht, lasse sich der Music Drop als Medium einer Botschaft ins Ohr einführen. «The romantic, poetic version is one story, one time, for one muse – it started as a big fantasy.»


Individuelles  39

Abseits von künstlerischer Ästhetisierung arbeitet Noa Lerner seit Monaten an einem Diplomprojekt von ganz anderem internationalen Gewicht. Zusammen mit Fionn Dobbin entwickelt sie ein Toilettensystem für Teile der indischen Bevölkerung. Für dieses Projekt begeistert hatte sie eine Veranstaltung der WTO – in diesem Fall die Nichtregierungsorganisation «World Toilet Organization», die sich für eine weltweite Verbesserung sanitärer Strukturen engagiert. «We got totally touched, from the beginning on we felt like in a mission», so Noa. «Before we came to India, we thought we were dreamers and had just a plan for a better world – but there’s really a huge necessity.»

«They are trying to liberate the Untouchables, trying to break the cast system» Über ein Drittel der Weltbevölkerung besitzt keine Toilette, 2008 hatten die Vereinten Nationen das «Internationale Jahr der sanitären Grundversorgung» ausgerufen, um den Mangel in der Aufmerksamkeitsarena sozialer Themen präsenter zu machen. Toiletten sind in Indien in manchen Bevölkerungsgruppen kein weit verbreiteter Gegenstand des Alltags; viele Inder in Armutsvierteln oder auf dem Land haben keinen Platz oder kein Geld für die Anschaffung. Toiletten sind über den gesundheitlichen und ökologischen Faktor hinaus auch ein Politikum: Nach Ansicht der Organisation «Sulabh International», mit der Noa in Indien zusammenarbeitet, ist das menschliche Abfallprodukt eng mit dem sozialen Status der als ebenso unrein geltenden Kaste der Unberührbaren verbunden. Nur zu niederen Tätigkeiten zugelassen, gehörte es traditionell zum Aufgabenbereich der diskriminierten und meist der Armut verhafteten Kaste, die Exkremente der Reichen mit den Händen zu entfernen. Dr. Phatta, der Gründer von «Sulabh International», setzt auf den «Mahatma Ghandi way», indem er gesellschaftliche Veränderung durch Sanitärsysteme anvisiert. «They are trying to liberate the Untouchables, trying to break the cast system», erzählt Noa, die während des Besuchs in Indien einer beeindruckenden Zeremonie beiwohnte, bei der Dr. Pathak 50 Frauen der Unberührbaren in einen Tempel brachte – ein «historical moment», der für westliche Augen mit fast bizarr anmutender Bedeutung aufgeladen war. «Simply shit equal gold!»

Auch dem legendären Volkshelden Ghandi war die Toilette offensichtlich ein Anliegen: «Ghandi itself had a mobile toilet», eine zweiteilige Konstruktion mit mobiler Nachttopfschüssel. Als «Win-win-Situation» beschreibt Noa diese Entdeckung, die sie während der Projektrecherche machte und die sie in ihrer Zielsetzung bestärkte. Das Sanitärmodell, das Noa Lerner und Fionn Dobbin innerhalb eines interdisziplinären Teams entwickeln, ist vielmehr Verwertungskreislauf als Produktdesign. «One part stays at home, to increase the awareness of the people», beschreibt Noa die Alternative zu Feld und Straße, «and you bring one part to the mothership». In der zentralen Sammelstelle sollen die Exkremente über ein biotechnologisches Verfahren in Methangas – und dieses wiederum in Energie – umgewandelt werden. Die «Spender» der natürlichen Ressource werden in Energie oder Geldwert entlohnt: «Simply shit equal gold!», resümiert Noa die Essenz des «Social-Business»-Modells, bei dem alle verdienen. «One day we might bring it to Europe.» «I don’ t want to change the whole world», meint Noa, aber sie ist überzeugt davon, dass man durch Handeln und gutes Design zumindest ziemlich viele Dinge ändern kann. In einem klassischen Unternehmen sieht Noa sich auch in Zukunft nicht: «This toilet was just a trigger to do other projects». Ihre Vision: «Totally into the social business.» Sie könnte sich vorstellen, im Team gesellschaftliche Projekte zu verwirklichen, möchte aber gleichzeitig Solo-Projekte weiterentwickeln können. Das Spektrum, das sich zwischen «Music Drop und der indischen Toilette eröffnet, bezieht seine Konsistenz aus den zugrunde liegenden Geschichten – den kleinen, intimen, und den ganz großen.


40  Sonstiges

Sonstiges Terminkalender

Projekte zum Mitmachen

Berlin. Im Stil amerikanischer Zeitungsjungen werfen Ausstellung «Embedded Art – Kunst im Namen der Sicherheit»

24. Januar bis 22. März 2009 Multidisziplinäre künstlerische Aufarbeitung der internationalen Sicherheitsfrage mit Ausstellung, Performances und Filmreihe Akademie der Künste / www.adk.de Ausstellung «Islands & Ghettos»

14. März bis 26. April 2009 Architektonische Utopien neben Armutsvierteln: Ausstellung über territoriale Segregation in Städten des 21. Jahrhundert am Beispiel von Dubai und Caracas Neue Gesellschaft für Bildende Kunst / www.ngbk.de

die «Papergirls» gerollte künstlerische Artefakte auf ahnungslose Passanten. 77 Künstler aus neun Ländern haben sich im letzten Sommer an der Geschenkaktion beteiligt. Free your idea: www.papergirl-berlin.de

Tübingen. Utopische Entwürfe zum Themenkomplex «Mensch und Maschine» sucht das unabhängige Medienfestival plattform: [no budget] #7, das vom 22. bis zum 24. Mai 2009 stattfindet. www.plattform-nobudget.de Köln. um[laut] erschien erstmals im Juli 2008 deutsch-

landweit, versteht sich als genreübergreifendes Forum für gesellschaftskritische Kunst und sucht junge Fotografie, Literatur, Streetart, Journalismus, Politcomics, Kurzzeiler. Alles per E-mail mit dem Betreff «einsendung» an info@umlaut-magazin.de

taz-Kongress «Tu was! Freiheit & Utopie»

17. bis 19. April 2009 30 Jahre taz: Werkstätten, Diskussionen, Podiums­ streitigkeiten, Lesungen und ­Performances zu den wichtigen Fragen für Morgen Haus der Kulturen der Welt / www.30jahre.taz.de Zinnober

29. Mai 2009, 21 Uhr Mondäne Tradition: Kostümball der Universität der Künste UdK Berlin / www.myspace.com/zinnobermaskenball Rundgang

17. bis 19. Juni 2009 Hinter den Kulissen: Ausstellung von Projekten und Einblick in die Ateliers, Studios, Probebühnen und Seminarräume der Universität der Künste UdK Berlin / www.udk-berlin.de

Wettbewerb für die Neue eigenart #73

Bei freier Wahl der Form prämieren wir Eure ­genialsten Beiträge mit DVDs des Filminstituts der Universität der Künste Berlin. Zu gewinnen gibt es zum Beispiel die Polit-Doku «Interessenvertretung» von Julia Bränzel, den Filmessay «Nicht-Mehr/Noch-Nicht» von Daniel Kunle & Holger Lauinger oder reale Phantasien von Paul ­Leyton: «Fucked you’re 10 years old». Das Thema findet Ihr in Kürze auf www.asta-udk-berlin.de/eigenart. Einsendeschluss ist der 1. April, eigenart #73 erscheint dann Anfang Juni. Die eigenart sucht natürlich auch abgesehen vom Wettbewerb immer intelligente, talentierte, kritische Grafiker, Journalisten und Gastautoren sowie UdK-Studierende, die ihre Werke der Öffentlichkeit vorstellen möchten.


Herausgeber

Allgemeiner Studierenden-Ausschuss (AStA) Universität der Künste Berlin Hardenbergstraße 33 10623 Berlin Telefon 030 31852464 Redaktionsleitung/Anzeigen

Sonja Peteranderl eigenart@asta-udk-berlin.de www.asta-udk-berlin.de/eigenart Gestaltung

Theresa Grebin Autoren

Valerie Assmann, Ulrike Bernard, Sebastian Bodirsky, Claudia Dorfmüller, Anna Grieben, Tobias Hömberg, Steffen Krämer, Karoline Kreißl, Anna Mauch, Heiko Müller, Sonja Peteranderl, Fanny Rieber Illustrationen

Valerie Assmann, Roland Brückner Fotografie

ActiveStills, Julia Bränzel, Jakob Cevc, Lis Chevalier, Livius F. Dietzel, Amirali Ghasemi, Golareh Kiazand, Noa Lerner, Fridolin Schöpper Lektorat

Tobias Hömberg Druck

Druckerei Conrad GmbH, Berlin Die eigenart ist das AStA-Studierendenmagazin der Universität der Künste und ­erscheint einmal im Semester. Veröffentlichungen stellen die persönliche Meinung des Verfassers dar. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion.



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