Weltzeit 1-2021 | FrauENtscheiderinnen bewegen die Welt

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FrauENtscheiderinnen

bewegen die Welt


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©©DW/R.Oberhammer

Editorial

Während ich dieses Editorial schreibe, läuft das Interview mit der deutschen Top-Ökonomin Monika Schnitzer in unserem weltweit ausgestrahlten TV Programm. Die Wirtschaftswissenschaftlerin berät als Mitglied des Sachverständigenrats auch die Bundesregierung. Starke, kluge, selbstbewusste und auch kämpferische Frauen finden sich in vielen unserer Programme. Aber machen wir uns nichts vor. Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist noch

In den Programmen der DW berichten wir über Frauen mit sehr unterschiedlichen Herkünften und zeigen ihre Herausforderungen. lange nicht erreicht. Weder in meinem Land Deutschland noch in den meisten Ländern weltweit. Frauen haben häufig schlechteren Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung oder werden für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt. Frauen sind öfter als Männer von Armut betroffen. Sexuelle oder körperliche Diskrimierungen gehören zum Alltag vieler Frauen in der Welt. Dazu kommen neue Herausforderungen. Ein widerliches globales Phänomen ist der Hass im Netz, und er richtet sich vor allem gegen Frauen. Gegen Politikerinnen, Aktivistinnen, Frauen mit Haltung. Auch Journalistinnen. Er kommt nicht nur aus einer Richtung,

sondern aus vielen und kann jederzeit eskalieren und eine Gefahr für Leib und Leben werden. In den Programmen der DW setzen wir dagegen klare Zeichen, berichten über Frauen mit sehr unterschiedlichen Herkünften, zeigen ihre Herausforderungen, ihren Alltag, ihre Probleme und Erfolge. Expertinnen kommen verstärkt zu Wort. Natürlich gibt es sie, von der Astronautin, Bäuerin, Künstlerin bis hin zur Kleinunternehmerin. Auch bei der Fotoauswahl achten wir darauf, keine Rollenklischees zu bedienen. Manchmal müssen wir dafür die sogenannte Extrameile gehen, mehr Zeit für die Auswahl verwenden aber das ist es uns wert. Ich freue ich mich besonders über diese Ausgabe der Weltzeit, weil sie einen wunderbaren Einblick in unsere Themenvielfalt gibt. Die Reportagen und Interviews dokumentieren Mut und Entschlossenheit, Unternehmerinnengeist und den Kampf gegen die nach wie vor praktizierte Genitalverstümmelung. Dass es nie zu spät ist, sich gegen die herrschenden Muster zur Wehr zu setzen, verdeutlicht die 74 Jahre alte Demonstrantin Nina Baginskaja aus Belarus, aber auch die Frauen, die die #MeToo-Bewegung auf dem Balkan angestoßen haben und endlich gehört werden. Viel Vergnügen mit dieser spannenden Lektüre. Ihre Manuela Kasper-Claridge DW-Chefredakteurin @ManuelaKC

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©©Victor Berezkin

MENSCHEN BEGEGNEN

Emily Sherwin Aus dem facettenreichen Russland mit seinen elf Zeitzonen gibt es jederzeit viel zu berichten. Seit 2017 ist Emily Sherwin Korrespondentin der DW im Studio Moskau. Auch Krisenregionen wie Belarus und Armenien gehören zu ihrem Einsatzgebiet. Das Gebiet bietet von den Folgen des Klimawandels in Sibirien bis zur Corona-Patrouille der Kosaken am Ural eine enorme Bandbreite an Themen. In Kirgisistan, knapp 4.000 Kilometer südöstlich von Moskau entfernt, besuchte Sherwin Frauen, die unter enormem Druck stehen, wenn sie weiblichen Nachwuchs zur Welt bringen. In Moskau berichtete sie live für die TV-Nachrichten von den Protesten für Alexej

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Nawalny, über Twitter liefert sie Videos und O-Töne. Multitasking auf Russisch, Englisch und Deutsch. Die gebürtige US-Amerikanerin wuchs in Deutschland und England auf, studierte Französisch und Russisch. 2012 entdeckte die Weltenbummlerin den deutschen Auslandssender, ihr Volontariat beinhaltete als zweimonatige Wahlstation die russische Hauptstadt. Im Studio Moskau bildet die enge Zusammenarbeit im neunköpfigen Team um Bureau Chief Juri Rescheto für Sherwin „eine wichtige Basis, um das Gebiet der früheren Sowjetunion journalistisch zu beackern“.


Inhalt 24 Hongkong: Zum Schweigen gebracht DW-Korrespondentin Phoebe Kong über die Folgen des neuen Sicherheitsgesetzes

AK TUELLES ERFAHREN

6 Porträtreihe Glaso Aus der Perspektive von Sinti und Roma

PROGR AMM-INSIDER

7 Fakes, Gerüchte und Propaganda Neuer Video-Blog über Russland T I T E LT H E M A

25 „Wir möchten alle erreichen“ DW-Verwaltungsdirektorin Barbara Massing über Gleichstellung, Inklusion und Diversity

8 Frauen und Wirtschaftskraft Caroline Kent, Women for Women ­International, Deutschland

28 Weit über die Schlagzeilen hinaus Interview mit Amrita Cheema, DW Bureau Chief Delhi

11 Hass und Hetze im Netz Silvia Chocarro, ARTICLE 19

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12 Initiative gegen digitale Gewalt Pakistanische Journalistinnen wehren sich

32 ENTR: Was bewegt Europas Jugend? Ein Medienangebot für mehr Verständnis

13 Nur nicht klein beigeben Belarus: Oppositions-Ikone Nina Baginskaja

MEDIEN ENTWICKELN

34 „Das Talent ist da“ Mehr Frauen im afrikanischen Film

15 Enge Schranken waren g ­ estern Ankita Mukhopadhyay sieht für Indien neue Perspektiven 16 #MeToo bewegt den Balkan Eine Debatte rüttelt die Öffentlichkeit in der Region auf

30 Global Media Forum Die DW-Medienkonferenz 2021: „Disruption and Innovation“

36 Kunst gegen Falsch­informationen Regisseurin Noor Faraj setzt auf Daten, Irak

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PERSPEKTIVE WECHSELN

18 Mutig Tabus brechen Die Frauenrechtsaktivistin Rugiatu Turay, Sierra Leone

38 Fokuswechsel nach dem Brexit Die deutsch-britische Politikerin Wera Hobhouse

DW FREEDOM

40 Vorbild für Geflüchtete Bjeen Alhassan über Integration

20 Über Medien und Misstrauen Die neue OSZE-Beauftragte für Medien­ freiheit im Interview

40 Impressum W E LT A N S C H AU E N

22 Wirksam gegen Willkür Kiran Nazish, Coalition For Women In ­Journalism, USA

42 Willkommen in Nairobi Mariel Müller ist neue DW-Korrespondentin in Ostafrika

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AK TUELLES ERFAHREN

Über Menschen, die die Welt verändern

Glaso ist ein Begriff der Romanes-Sprache und bedeutet Stimme. DW-Autorin Gilda-Nancy Horvath (Foto rechts) lässt Menschen zu Wort kommen, die nicht nur auf ihre Herkunft reduziert werden wollen. Sie lenken den Fokus auf Zeitgeist und Wertewandel in Europa – aus der Perspektive von Sinti und Roma. „Wir können nicht über Gesellschaft sprechen, ohne Identität zu thematisieren. Wie wollen wir zum Beispiel mit Diversität umgehen?“, fragt sich Gilda-Nancy Horvath, wenn sie Menschen unterschiedlicher Herkunft für ihre DW-Reihe vorstellt. p.dw.com/p/3onvC

Iran: DW verzeichnet starke ­Zuwächse

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Digitale Medien in Ostafrika entwickeln sich rasant, ihre Nutzung steigt: Frauen haben damit ungeahnte Möglichkeiten, ihre Meinung zu äußern und an der digitalen Gesellschaft teilzuhaben. Doch die Realität sieht oft anders aus: Wenn Frauen online gehen, sind sie mit unterschiedlichen Formen von Cyber-Gewalt konfrontiert – und die ist genauso zerstörerisch wie geschlechtsspezifische Gewalt offline. Um die digitale Teilhabe von Frauen zu fördern, hat die DW ­A kademie 2017 gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen das Netzwerk Women@Web in Ostafrika gegründet. Ausgehend von den Bedürfnissen betroffener Frauen in Kenia, Ruanda, Tansania und Uganda entwickelte Women@Web ein Trainings- und Beratungsprogramm. Digitale Rechte und Sicherheit, Online-Plattformen, sowie digitales Storytelling und Resilienz für Frauen stehen im Fokus. Ziel ist es, die digitale Kompetenz von Frauen zu erhöhen und sie zu befähigen, sich sicher und selbstbestimmt in Online-Räumen zu bewegen statt sich offline zurückzuziehen. Durch Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit auf nationaler und regionaler Ebene sensibilisiert Women@Web für die Thematik und versucht, Einfluss auf die Gesetzgebung und deren Umsetzung zu nehmen. ©©DW Akademie

©©DW

Women@Web, aber sicher!

Der Instagram-Kanal von DW Farsi hat jetzt die Marke von einer Million Abonnierenden übertroffen. Ein möglicher Grund für die wachsende Attraktivität des Angebots: Das Farsi-Team setzt zunehmend auf eigenproduzierte Social-Videos und Explainer mit aktuellen Themen und Analysen. Zur Berichterstattung aus Iran gehören auch die Situation der Frauenrechte und Menschenrechtsverletzungen. Seit Sommer 2020 konnte die Reichweite deutlich zulegen – um knapp 30 Prozent. Iran bleibt in der neuen Priorisierung der Zielländer der DW eine der wichtigsten Zielregionen. Die Regierung blockiert bis auf Instagram alle Angebote der DW.

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©©Marcus Wieser

„Glaso – Stimme“ nennt sich eine neue Reihe der DW über Menschen, die die Welt verändern. Ein Blick auf Diskurse in unserer Gesellschaft aus der Perspektive jener, die oft nur zu ihrer Herkunft befragt werden.


Undercurrent: Leicht und informativ An ein junges Publikum wendet sich der neue Newsletter „Undercurrent: News without noise“ der DW. Er widmet sich wöchentlich wichtigen Ereignissen und aktuellen Trends und bietet Analysen sowie Erkenntnisse aus dem globalen Korrespondentennetz der DW.

©©DW

DW-Korrespondentinnen und Korres­ pondenten greifen in einem leichten, informellen Stil komplexe Nachrichten und Trends auf. Ein Ziel: Nachrichten für ein 20bis 30-jähriges und global denkendes Publikum in den DW-Zielregionen Asien, Afrika und Amerika aufzubereiten. Undercurrent lädt darüber hinaus Lesende ein, sich einzubringen. Ansichten und Kommentare der Nutzenden werden in den Newsletter eingebunden.

Fakes, Gerüchte und ­Propaganda Rund eine Million Aufrufe und mehr als 5,6 Millionen Minutes Watched in einer Woche erreichte das erste YouTube-Video der neuen Reihe der Russisch-Redaktion. Thema der Premiere: Fakes, Gerüchte und Propaganda rund um „Putins Palast“. Das Redaktionsteam hatte Informationen über das von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny veröffentlichte Video über den angeblichen Palast des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft. Moderator Nikita Batalov präsentierte die Ergebnisse im Videoblogger-Stil und sorgte für Interaktion auf dem Kanal. Mehr als 5.000 Kommentare löste der erste Beitrag aus. Die Inhalte richten sich an 17- bis 24-jährige russischsprachige Nutzende. Sie wollen der Zielgruppe Kontext und Hintergrundwissen zu den Videos russischer Bloggerinnen und Influencer liefern und sie dabei unterstützen, Fake News von Fakten zu unterscheiden. „Der Erfolg zeigt, wie gefragt so ein Format in unserer Ziel­ region ist, in der Fakes und Propaganda leider zum Alltag geworden sind“, so Projektleiter Ilia Koval.

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Starke Frauen sind für ihre ­Gemeinden ein Wirtschaftsfaktor und ein Zukunftsversprechen. Caroline Kent

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In die Wirtschaftskraft von Frauen ­investieren Frauen, die einen Krieg überlebt haben und sich für eine ­friedliche Zukunft engagieren, finden in der Organisation Women for Women International wichtige Unterstützung. In einem Gastbeitrag beschreibt die Deutschland-Direktorin der Organisation ihr Credo: Frauen fördern und damit für ­stabilere Gesellschaften sorgen.

©©Rada Akbar/Women for Women International

Die Weltbank hat 36 Länder als fragil und „konfliktbetroffen“ eingestuft. Allein in diesen Staaten leben 264 Millionen Frauen. Sie gehören zu den ärmsten und am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen der Welt. Die meisten von ihnen sind von Konflikten und Unruhen in unterschiedlicher Weise betroffen und beeinträchtigt – durch Gewalt, Vertreibung oder durch den Verlust von Familienmitgliedern und Einkommensquellen. Sie erleben Diskriminierung und Gewalt aufgrund ihres Geschlechts und anderer Faktoren, etwa durch eine Behinderung oder ethnische Zugehörigkeit. Konflikte und Fragilität verhärten oft tief verwurzelte patriarchalische Strukturen, die die grundlegenden Rechte von Frauen beeinträchtigen. Ihnen bleibt der Zugang zu Verdienstmöglichkeiten und damit verbundenem sozialen Aufstieg sowie gesellschaftlicher Mitsprache verwehrt.

Schritt für Schritt zur ­Gleichberechtigung Gul Jan, eine Frau aus Afghanistan, konnte allen Widrigkeiten zum Trotz und auch gegen den Willen ihres älteren Bruders zur Schule gehen, fand aber danach keine Arbeit. Im Jahr 2017 nahm sie am einjährigen Programm von Women for Women International teil und lernte mehr über ihre Rechte und wie sie diese verteidigt. Seitdem engagiert sie sich gegen Gewalt und Kinderehen

©©Ingo Diekhaus

Text Caroline Kent

Caroline Kent ist Direktorin von Women for Women International in Deutschland. Sie engagiert sich seit mehr als 20 Jahren für soziale Gerechtigkeit im internationalen Kontext. Ihr Fokus liegt auf den Themen Gendergerechtigkeit und globale Gesundheit. In den Bereichen politische Interessenvertretung, Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnenführung hat Kent für internationale Nicht-Regierungsorganisationen gearbeitet. Zuvor war sie bei den Vereinten Nationen und Mitglied der Geschäftsführung der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW).

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©©Serrah Galos/Women for Women International

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Women for Women ­International Isoliert zu sein und nicht gesehen zu werden, war eines der Motive für die Gründung von Women for Women International vor 27 Jahren. Vor dem Hintergrund der Kriege in Ex-Jugoslawien und Ruanda Anfang der 1990er-Jahre hatte die Gründerin Zainab Salbi, irakische Aktivistin und selbst Kriegsüberlebende, eine Vision für die Zukunft bosnischer Frauen, die ihr Leben durch Völkermord, Vergewaltigung und Krieg zerstört sahen. Salbi gründete die Organisation, um Frauen dabei zu unterstützen, ihre eigene Zukunft aus den Trümmern des Krieges zu gestalten. Seitdem hat die Organisation mehr als eine halbe Million Frauen erreicht. Das Ziel: ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. In einem einjährigen Programm werden Frauen Ressourcen vermittelt, die dazu beitragen, ihr Lebensumfeld nachhaltig zu verändern. Was sind ihre Rechte, wie stärken sie ihre Gesundheit? In Gruppen lernen sie, die langjährige kriegsbedingte Isolation zu durchbrechen. Der Austausch über Erlebtes und Zukunftsträume schafft Vertrauen und Solidarität und führt in vielen Fällen zu unternehmerischen Existenzgründungen und Sparverbänden. Zudem – und das ist in der Frauenarbeit nicht alltäglich – bezieht Women for Women International auch Männer mit ein, um gesellschaftlichen Wandel und wirtschaftliche Selbstbestimmung zu fördern.

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und kämpft für mehr Gleichberechtigung in ihrer Gemeinde. Aus Gul Jan ist aber auch eine erfolgreiche Unternehmerin geworden: Mit einem Darlehen aus ihrer örtlichen Spargruppe (Village Savings and Loan Association) kaufte sie eine Nähmaschine und nähte Kleidung. Inzwischen hat Gul Jan mehr als 15 Frauen angestellt und denkt über eine weitere Expansion nach. Sie sieht sich als Vorbild für andere Frauen, die ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben führen wollen. Die größte positive Veränderung, die sie seit Beginn des Women for Women International-Programms in Afghanistan sieht, ist, dass mehr Familien ihren Töchtern einen Schulbesuch ermöglichen: „Viele Frauen sind sehr glücklich mit dem, was wir geschafft haben. Ich bin stolz auf das, was ich im Alter von 20 Jahren erreicht habe, bin selbstbewusst und unabhängig.“

Frauen gehören an den ­Verhandlungstisch Geschichten wie die von Gul Jan machen Hoffnung und zeigen, wie wichtig es ist, in die Wirtschaftskraft marginalisierter Frauen zu investieren – vor allem, wenn wir als internationale Gemeinschaft unser Versprechen, niemanden zurückzulassen, einhalten möchten. Die Covid-19-Pandemie hat vor allem Frauen in fragilen und konfliktreichen Ländern hart getroffen. Sie sind unter anderem einer überproportional erhöhten Ansteckungsgefahr ausgesetzt, Einkommensverluste der Frauen führen zu Nahrungsmittelknappheit für die gesamte Familie, Frauen werden sozial isoliert und zunehmend Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt. Es ist unerlässlich, dass Frauen endlich mit am Verhandlungstisch sitzen, wenn es darum geht, ihre Bedürfnisse und Lebensrealitäten anzuerkennen. Um extreme Armut zu bekämpfen, bedarf es ganzheitlicher und inklusiver Ansätze, die die soziale und wirtschaftliche Kraft von Frauen anerkennen und nutzen. Dafür muss die internationale Gemeinschaft Hindernisse und Stereotypen beseitigen. Und tatsächlich allen benachteiligten Frauen eine Sichtbarkeit verschaffen.


Weltweit sind Journalistinnen im I­ nternet Hass und Hetze ausgesetzt. Das gefährdet unabhängigen Journalismus, sagt die Vorsitzende der b ­ ritischen Menschenrechtsorga­ nisation ARTICLE 19. Sie f­ ordert Politik und M ­ edien auf, ­entschlossen und mutig zu handeln. Text Silvia Chocarro

Stellen Sie sich vor, die Hälfte der Weltbevölkerung hätte keine Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern. Medien müssten ohne die Stimmen von Journalistinnen auskommen, die aufgrund permanenter Belästigungen ihren Beruf an den Nagel gehängt hätten. Dass Journalistinnen zunehmend online bedrängt werden, ist kein Geheimnis. Öffnen Sie eine beliebige Social-Media-Plattform: Auf frauenfeindliche Drohungen müssen Sie nicht lange warten. Im Gegensatz zu ihren Kollegen werden Frauen nahezu überall auf der Welt mit geschlechtsspezifischen Belästigungen konfrontiert, darunter häufig Formen sexueller Art. Online-Belästigung findet nicht nur virtuell statt. Im schlimmsten Fall münden die Drohungen in körperliche Gewalt. Die emotionalen Folgen: Angst und Depression. Selbstzensur bis hin zum Rückzug aus dem Job sind keine Seltenheit. Studien zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Fälle nicht gemeldet wird, weil Frauen Angst haben, nicht ernst genommen zu werden. Laut der UNESCO-Studie „Online Violence Against Women Journalists: A Global Snapshot of Incidence and Impacts“ üben 30 Prozent der befragten Frauen in den Sozialen Medien eine Form der Selbstzensur. 20 Prozent weichen von jeglicher Online-Interaktion ab, 38 Prozent machen sich bei ihrer Arbeit weniger sichtbar, vier Prozent haben ihren Job gekündigt und zwei Prozent den Journalismus ganz aufgegeben. Die preisgekrönte brasilianische Journalistin Patricia Campos de Mello wurde selbst Opfer massiver Online-Schikanen und beschrieb in einem Interview mit dem „Committee to Protect Journalists“ den Zustand als „eine neue Form der Zensur“. Denn: „Jedes Mal, wenn wir einen Artikel schreiben, musst du am Ende zweimal nachdenken, weil du und deine Familie einiges durch-

machen müssen.“ Die mexikanische Journalistin Montserrat Ortiz sagte gegenüber der Organisation ARTICLE 19, sie habe Angst und fühle sich nicht mehr sicher. Nach ihrer Berichterstattung über sexuelle Gewalt habe sie Online-Morddrohungen erhalten. Weltweit leiden Frauen und Mädchen unter Formen der Diskriminierung, die ihnen die grundlegenden Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Teilnahme am öffentlichen Leben verwehren. Schulungen zu internationalen Menschenrechtsstandards, insbesondere zu Meinungsfreiheit und Anti-Diskriminierung sowie zu digitalen Technologien sollten gesetzlich gewährleistet werden. Das Gleiche gilt für die Strafverfolgung; Protokolle und Ermittlungsmethoden sollten ebenfalls einen menschenrechts- und geschlechtergerechten Ansatz berücksichtigen. Vor allem ist es an der Zeit, die Geschäftsmodelle der Social-Media-Plattformen kritisch zu prüfen. Menschenrechtsstandards gelten auch für diese Plattformen. Transparenz, Klarheit und Zugänglichkeit sollten in ihren Richtlinien und Nutzungsbedin-

©©Ignacio Monasterio

Hass und Hetze im Netz

Silvia Chocarro ist Vorsitzende bei ARTICLE 19, einer globalen Organisation, die sich weltweit für Meinungsfreiheit einsetzt. Sie sitzt im ­IFEX-Rat (Netzwerk International ­Freedom of Expression Exchange) und ist Mitglied des Centre for Freedom of Media (University of Sheffield). Zuvor arbeitete sie für Medienentwicklungsgruppen und zwischenstaatliche Organisationen sowie als Journalistin für zahlreiche Medien. @silviachocarro

gungen sowie in ihren Richtlinien zur Moderation von Inhalten und in ihren Beschwerdemechanismen garantiert sein. Auch Medienunternehmen kommt eine entscheidende Rolle zu: Die Entwicklung von Sicherheitsrichtlinien, das Angebot von Sicherheitstrainings sowie rechtliche und psychosoziale Unterstützung für Journalistinnen sollten einen festen Bestandteil der Unternehmenskultur bilden. Auch Journalistenverbände, Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft sind gefordert und sollten auf Fälle von Diskriminierung aufmerksam machen, sie dokumentieren, Kampagnen entwerfen und Lobbyarbeit betreiben. Die massive Online-Belästigung von Journalistinnen muss ein Ende haben.

UNESCO-Studie „Online Violence Against Women Journalists: A Global Snapshot of Incidence and Impacts“

30 % üben Selbstzensur in Sozialen Medien aus 20 % weichen von jeglicher Online-Interaktion ab 38 % machen sich weniger sichtbar

4 % haben ihren Job gekündigt 2 % haben den Journalismus ganz aufgegeben

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©©ARIF ALI/AFP via Getty Images

Pakistan ist eines der gefährlichsten Länder für Frauen. Die jährliche Veranstaltung „Aurat Azadi March“ (Freiheitsmarsch der Frauen) am 8. März ist mittlerweile zu einem Kulturkampf geworden.

Initiative gegen digitale Gewalt In Pakistan sind Journalistinnen immer w ­ ieder P ­ rovokationen und ­Bedrohungen in den O ­ nline-Medien ­ausgesetzt. ­Betroffene haben in einer ­Petition das ­Parlament ­aufgefordert, ­konkrete ­Schutzmaßnahmen zu erlassen. Text Abdul Sattar, DW-Korrespondent Islamabad

Zum Teil harsche Provokationen im Internet, die sich vor allem an Frauen aus der Medienbranche richten, nehmen in Pakistan zu. Rund 500 Journalistinnen protestierten 2020 mit einer Petition gegen Belästigung in den Sozialen Medien. Die Betroffenen wollten deutlich machen: Wir beugen uns nicht den vielfältigen Formen sozialen Drucks. In dem konservativ geprägten Land mit mehr als 200

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Millionen Einwohnern sind insbesondere couragierte Frauen häufig das Ziel von Anfeindungen. Einige von ihnen beschlossen, Täter öffentlich beim Namen zu nennen. Sie fordern die Regierung auf, Maßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die Frauen im Internet beschimpfen, sie verleumden – und das in einer oft obszönen Sprache. Der Protest ist ein mutiger und aufsehenerregender Schritt in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Konventionen und Bräuche tief in weiten Teilen der Gesellschaft verankert sind. Eine prominente Journalistin und Unterzeichnerin der Petition, Zabunnisa Burki, sagt zu den wiederholten Angriffen auf Kolleginnen in den Sozialen Medien: „Je mehr wir darüber sprachen, desto deutlicher wurde, dass diese Attacken Teil ­einer ­organisierten Beläs­tigungskampagne im Internet waren, die sich gegen Journalistinnen richtete. Sie betraf vor allem Personen, die sich kritisch direkt oder indirekt gegenüber der Regierungspartei äußern oder berichten.“ In Pakistan ist es üblich, dass Medienschaffende ihre Kolumnen, Berichte und Reportagen in den Sozialen Medien teilen, um Reaktionen von Nutzenden zu erhalten. Burki zufolge hätten die Online-Angriffe inzwischen zahlreiche Frauen von diesem Schritt abgehalten. „Solche Attacken haben dazu geführt, dass Journalistinnen davor zurückschrecken, ihre Meinung öffentlich zu äußern.“ Burki ist der Ansicht, dass alle politischen Parteien in ihrem Land auf Trolle im Netz setzen. Das gelte auch für die Partei PTI (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) von Premierminister Imran Khan, die bei der Online-Belästigung von Journalistinnen keine Zurückhaltung an den Tag lege. Burki: „Von der PTI erwarten wir einfach eine seriösere und aufrichtige Haltung. Bislang vergeblich.“


©©TUT.BY/AFP via Getty Images

Nur nicht klein beigeben Die 74-jährige Aktivistin Nina Baginskaja leistet regelmäßig bei Protesten in Minsk Widerstand gegen die P ­ olizei. Hier wird sie auf einer Kundgebung erneut inhaftiert.

Auch ohne die riesige selbstgenähte Fahne, die sie bei den Protesten im vergangenen Sommer in Minsk mit sich führte, ist Nina Baginskaja sofort erkennbar. Die stahlumrandete Brille, die zierliche Statur und ihr trotziger Gesichtsausdruck veranlassen Passanten immer wieder, ihr freundlich zuzuwinken und sie um Selfies zu bitten, selbst an einem kalten Morgen in der belarussischen Hauptstadt. Die TV-Bilder über Baginskaja, wie sie sich etwa mit der Bereitschaftspolizei anlegt, um sich ihre rot-weiße Oppositionsfahne nicht abnehmen zu lassen, gingen im August 2020 viral und machten B ­ aginskaja zu einer Heldin für die junge Generation des Landes. Insgesamt wurden bereits mehr als ein Dutzend ihrer Fahnen konfisziert; jedes Mal fertigte sie eine neue auf ihrer Nähmaschine an. An dem Tag, an dem wir uns zum Gespräch treffen, hat sie eine Fahne im Taschenformat dabei, klein genug, um eingepackt in einer Handtasche versteckt zu werden. Baginskajas Bereitschaft, die Machthaber des Landes herauszufordern, begann schon vor Jahrzehnten. 1986 arbeitete sie als Geologin an einem staatlichen Forschungsinstitut, als eine Explosion im Atomkraft-

werk Tschernobyl zum bis heute schwersten Atomunfall der Welt führte. „Die Behörden versuchten, alles zu vertuschen und bestanden darauf, dass unsere Kinder weitermachen, als wäre nichts passiert. Monatelang gab es radioaktiven Niederschlag“, erinnert sich die heute 74-jährige. Baginskaja begann damit, ihre Kolleginnen und Kollegen über die Auswirkungen der Strahlung aufzuklären und engagierte sich in der Opposition. Schon bald war sie arbeitslos. Doch das System, das sie für ihre Offenheit bestraft hatte, war bald selbst Geschichte. Im Jahr 1991 wurde Belarus unabhängig, die rot-weiße Flagge wurde wiederbelebt, dazu kam Weißrussisch als Amtssprache – statt Russisch. Vieles von dem, wovon Baginskaja und ihre Dissidentenfreunde geträumt hatten, war Wirklichkeit geworden. Aber die Freude sollte nicht von Dauer sein. Nur drei Jahre später ging ein Kolchose-Chef, der aus seiner Nostalgie für die Sowjetzeit keinen Hehl machte, als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervor: Alexander ­Lukaschenko. Nina Baginskaja ist seit langer Zeit fester Bestandteil der Minsker Demonstrationen. Von zweifelhaften Wahlergebnissen bis zur

„Bei 16.000 Dollar habe ich aufgehört, meine Bußgelder zu zählen.“ Die belarussische Oppositions-­ Ikone Nina Baginskaja im Gespräch mit der DW über ein vom p ­ olitischen ­Protest geprägtes Leben und ihre Hoffnungen. Text Nicholas Connolly, DW Bureau Chief Kiev

­ olidarität mit der Ukraine im Konflikt mit S Russland – ­Baginskaja hat sich nie gescheut, für ihre Haltung auf die Straße zu gehen. Sie hat den Preis dafür bezahlt – buchstäblich. „Bei 16.000 Dollar habe ich aufgehört, meine Bußgelder zu addieren. Ich mag keine ­Arithmetik“, sagt Baginskaja. Sie erhält nur die Hälfte ihrer ohnehin kargen Rente. Die andere Hälfte wird vom Staat einbehalten, um ihre Geldstrafen für nicht genehmigte Protest­ aktionen zu begleichen. Bei diesem Tempo würde es noch etwa 50 Jahre dauern, bis sie alles abbezahlt hat, scherzt sie. Hatte sie erwartet, dass die Proteste im vergangenen Jahr solche Dimensionen annehmen würden? „Ich war überrascht von

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der Hartnäckigkeit und dem Durchhaltevermögen der Menschen. Und überrascht, wie viele auf die Straße gingen“, sagt Baginskaja. „Moderne Menschen“ seien nicht bereit, „Sklaven ihrer Regierung zu sein. Meine Generation wurde durch die Angst vor dem sowjetischen System eingeschüchtert. Diese neue Generation geht bewusst Risiken ein. Sie weiß, was im Ausland passiert.“ Baginskaja nutzt weder Handy noch Computer. Zu ihrem letzten Geburtstag erhielt sie Hunderte von Glückwunschschreiben von Landsleuten. „Die meisten von ihnen“, bemerkt sie süffisant, „wurden von den Behörden geöffnet und gelesen, bevor sie mich erreichten.“ Ihre Enkelin gehört zu den Tausenden von Belarussen, die in den vergangenen Monaten aus Angst vor politischen Repressalien das Land verlassen haben. Die Polizei durchsuchte die Wohnung der Großmutter, in der die Enkelin monatelang gelebt hatte. Diese hatte sich bereits in Sicherheit gebracht und war nach Litauen ausgereist. Ein baldiges Wiedersehen mit der Enkelin und ihrem Urenkel scheint in weiter Ferne zu liegen.

Moderne Menschen sind nicht bereit, Sklaven ihrer ­Regierung zu sein.

©©DW/N. Connolly

„Die Leute meiner Generation haben Mitleid mit Lukaschenko. Wir denken, es ist Zeit für ihn, in den Ruhestand zu gehen“, so Baginskaja, die sieben Jahre älter ist als der Präsident. Sie sieht keine Notwendigkeit, ihre politischen Aktivitäten zurückzuschrauben. Auch wenn die Proteste in den kalten Wintermonaten auf der Straße abgeflaut sind, ist sie zuversichtlich, dass sie in diesem Frühjahr wiederaufleben, in Minsk und anderen Regionen des Landes. Und wenn nicht? „Das menschliche Leben ist nicht dazu bestimmt, einfach zu sein“, sagt sie. „Das Leben ist eine Herausforderung.“

Nicholas Connolly ist Leiter des DW-Büros in Kiew und berichtet seit 2017 als Korrespondent für DW News aus Mittel- und Osteuropa. Er hat von der Krim und aus dem Donbass berichtet und zahlreiche Reportagen von Polen bis Georgien produziert. Im Sommer 2020 begleitete Connolly über Wochen die Proteste in Minsk gegen den umstrittenen Staatschef Alexander Lukaschenko. Connolly studierte Geschichte und Slawistik an der Universität Oxford und arbeitete als freier Journalist in Osteuropa, bevor er 2015 zur DW kam. @niklasconnolly

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Enge ­Schranken waren ­gestern Vielen Mädchen in ­Indien bleibt der Z ­ ugang zur ­Schul­bildung verwehrt. Die neue ­Korrespondentin im k ­ ürzlich e ­ röffneten DW-Büro in Neu-Delhi ließ sich nicht ­entmutigen. Sie bahnte sich hart­ näckig ihren Weg an die ­Universität und blickt hoffnungsvoll in die ­Zukunft. Text Ankita Mukhopadhyay


©©Unsplash.com/Raj Rana

Eine fortschrittliche ­Gesellschaft braucht starke, selbstbewusste Frauen.

Ich bin in einer Familie in Mumbai aufgewachsen, in der mein Bruder und ich die gleichen Chancen erfuhren. Diesem Privileg, vor allem im Hinblick auf meine Meinungsfreiheit, war ich mir bis zum 16. Lebensjahr nicht bewusst. Im Zuge der Finanzkrise 2008 konnten sich meine Eltern die Ausbildung von zwei Kindern in der Stadt jedoch nicht mehr leisten. Die bittere Folge: Sie schickten mich auf eine Schule im ländlichen Kernland von Westbengalen. Mein Leben veränderte sich schlagartig. Ich durfte keine Jeans mehr tragen, mit meiner Meinung musste ich mich zurückhalten. Ich wurde ermahnt, wenn ich zu schnell ging, zu langsam aß oder zu viel ­redete. Die Schülerinnen durften nicht einmal die Buchmesse in unserer Stadt besuchen. Ich erinnere mich, dass ich den Schulverwalter fragte: „Warum wird den Mädchen etwas so Grundlegendes wie das Lesen verwehrt, wenn Jungs tun können, was sie wollen?“ Er reagierte wütend und warf mich aus seinem Büro. Mehr Unterdrückung war kaum denkbar. Meine Mitschülerinnen hatten den Wunsch zu studieren aufgegeben. Der Gegenwind in der Familie war zu stark geworden, sie hatten kapituliert. Meine Freundin sagte: „Bis ich 18 bin, kann ich nahezu machen, was ich will, aber danach muss ich einen Mann heiraten, den meine Eltern für mich ausgesucht haben.“ Rückblickend wird mir klar, wie schwierig es war, die gesellschaftlichen Barrieren zu überwinden und ein Leben nach meinen Vorstellungen zu führen.

Indien ist wie eine Münze: Die eine Seite steht für das urbane Indien – Frauen ­erhalten zwar Chancen, werden aber gesellschaftlich konditioniert, sich bestimmten Idealen anzupassen. Die andere Seite steht für das ländliche Indien – Frauen werden als Last gesehen, ihnen wird eine Reihe von Grundrechten verwehrt. Am schwierigsten war es, mich selbst zu motivieren, stark zu bleiben, auch wenn Schule und Gesellschaft mich ständig in enge Schranken verwiesen, meinen minderwertigen Status zu akzeptieren. Die grassierende Geschlechterdiskriminierung war auch innerhalb meiner Familie offensichtlich. Plötzlich machte der Hass meines Großvaters auf mich Sinn oder die Neigung meiner Großmutter, meinen Bruder mehr zu lieben als mich. Ich bin damit aufgewachsen und habe nicht daran geglaubt, dass Frauen ihr ganzes Potenzial ausschöpfen können. Ab 2010 studierte ich in Delhi an einer renommierten Universität. Als Mädchen vom Land spürte ich sofort meine Minderwertigkeit, umgeben von Studentinnen mit Abschlüssen an den Top-Schulen Indiens. An manchen Tagen fürchtete ich, niemals in diese akademischen Kreise vordringen zu können. Heute drängen meine Brüder auf eine gute Ausbildung für ihre Töchter. Für die Frauen in meiner Familie ist es mittlerweile normal geworden zu arbeiten. Langsam, aber sicher ändert sich die Situation der Frauen in Indien, sie finden immer häufiger Anerkennung und emanzipie-

©©privat

ren sich. Eine fortschrittliche Gesellschaft braucht starke, selbstbewusste Frauen, die fragwürdigen Stereotypen ein langersehntes Ende bereiten. Meine Geschichte ist nicht einzigartig. Unzählige Frauen in Indien kämpfen jeden Tag darum, dass ihre Stimme gehört wird. Die Corona-Pandemie hat die soziale Mobilität Tausender gedämpft, die gezwungen waren, die Schule zu verlassen und keine Möglichkeit haben, ihre Ausbildung online zu absolvieren.

Ankita Mukhopadhyay berichtet als DW-Korrespondentin aus Neu-Delhi, Indien, über ­Südasien und internationale Politik. 2020 erhielt sie ein Stipendium der National Geographic Society, um eine Reportage über die Auswirkungen des indischen Lockdowns auf die Gesundheit von Frauen in städtischen Slums zu schreiben. Mukhopadhyay arbeitete zuvor als Tech-Researcher für das Forschungsunternehmen Gartner und als Corporate News Writer für The Economist Group. Sie schloss 2015 ihr Studium der Geschichte der internationalen Beziehungen an der London School of Economics ab – mit Auszeichnung. @muk_ankita

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©©Iva Ilincic

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#MeToo bewegt den Balkan Als eine serbische Schauspielerin ihren Schauspiellehrer der wiederholten Vergewaltigung beschuldigte, gab es einen Aufschrei von Frauen über die Landesgrenzen hinweg. Die #MeToo-Bewegung auf dem Balkan hat gerade erst ­begonnen. Text Aida Salihbegović

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Das Jahr begann in Serbien mit einem Skandal. Mehrere Frauen beschuldigten den bekannten Schauspiellehrer und Regisseur Miroslav Mika Aleksić der Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs. Alle waren Schülerinnen an seiner Schauspielschule, und mindestens eine von ihnen war minderjährig, als der mutmaßliche Missbrauch geschah. Milena Radulović, eine erfolgreiche 26-jährige serbische Schauspielerin, war die erste, die im Januar ihre Geschichte der Öffentlichkeit erzählte. In einem Interview sagte sie, Aleksić habe sie vergewaltigt, als sie 17 war: „Ich war sechs Jahre lang auf der Schule von Mika Aleksić, als er mich vergewaltigt hat. Es geschah nicht nur einmal.“ Das Interview löste auf dem gesamten Westbalkan eine Lawine von Reaktionen aus. Andere Frauen und Opfer sexueller Belästigung, nicht nur in Serbien, sondern auch in Kroatien, Montenegro und Bosnien und Herzegowina, erhoben ihre Stimme gegen die Gewalt. Viele von ihnen äußerten sich wie Radulović.

Eine Revolution starten Das Thema sexuelle Belästigung sei immer noch das größte Tabu in der Region, Frauen empfinden Scham und haben Angst, darüber zu sprechen, erklärt Sanja Pavlović, Aktivistin des Autonomen Frauenzentrums Belgrad, gegenüber der DW. „Wir haben uns als Gesellschaft am wenigsten mit diesem Problem auseinandergesetzt. Wir haben die schwächsten Gesetze und die geringste Anzeigequote, wenn es um Vergewaltigung und sexuelle Belästigung geht. Dieses Interview hat eine Revolution ausgelöst“, so Pavlović.


©©Nisam tražila

Mit ihrer Initiative „Ich habe nicht darum gebeten“ (Nisam tražila) möchten Matea Mavrak, Ana Tikvić, Asja Krsmanović und Nadine Mičić (von links) zeigen, dass Frauenfeindlichkeit allgegenwärtig ist.

Eine kleine Revolution begann mit Ana Tikvić, einer ehemaligen Studentin an der Akademie der Darstellenden Künste in Sarajevo, die zusammen mit drei ihrer Kolleginnen die Initiative „Nisam tražila“ („Ich habe nicht darum gebeten“) ins Leben rief.

Nisam tražila – Ich habe nicht darum gebeten „Wir denken, dass es höchste Zeit ist, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass sexuelle Belästigung und Frauenfeindlichkeit überall in unserer Gesellschaft zu finden sind“, so Tikvić. Die Facebook-Seite der Initiative hatte innerhalb weniger Wochen mehr als 40.000 Follower sowie mehr als 4.000 anonyme Meldungen über sexuelle Gewalt aus der ganzen Region. „Nach 19 Jahren des Schweigens habe ich mich endlich zu Wort gemeldet. Ich erlebte sexuellen Missbrauch als achtjähriges Kind durch ein Familienmitglied, das damals 16 Jahre alt war. Es hat mich viele Stunden Psychotherapie gekostet, um mich zu trauen, meiner eigenen Erinnerung zu glauben, um mir nicht mehr einzureden, dass ich übertreibe“, war nur eine der anonymen Nachrichten, die auf der Seite veröffentlicht wurden. „Wir wollen einen sicheren Raum bieten, in dem jeder frei sprechen kann, ohne Angst vor Verurteilung“, so Tikvić. Sie sagt, die Angst, offen über sexuelle Gewalt zu sprechen oder mit dem Finger auf den Täter zu zeigen, sei umso größer, da es kaum Unterstützung oder Verständnis seitens der Gesellschaft gebe.

Nachdem Radulović ihre Geschichte erzählt hatte, „verhielt sich die Öffentlichkeit in Serbien und der Region nach dem Motto ‚Sie hat es so gewollt‘. ‚Sie ist eine Schauspielerin, was hat sie erwartet? Das ist normal in ihrem Beruf‘“, sagt die Kroatin Ana Tikvić, die in Bosnien lebt. Deshalb, erklärt sie, lautet der Name der Social-Media-Plattform „I didn’t ask for it“. Obwohl die Initiatorinnen der Plattform alle ihren Abschluss an der Akademie der Darstellenden Künste in Sarajevo gemacht haben, wo ebenfalls ein Professor nun mit mindestens 16 Anzeigen wegen sexueller Belästigung konfrontiert ist, ausgelöst durch Milena Radulovićs Anschuldigungen in Serbien, wollen die jungen Frauen nicht darüber sprechen, ob sie selbst solche Erfahrungen an der Akademie gemacht haben. Aber sie sagen, dass sie alle ihr ganzes Leben lang Frauenfeindlichkeit erlebt haben. „Es gibt keine einzige Institution, die von diesen Skandalen verschont bleibt“, sagt Tikvić.

Geringes öffentliches ­Vertrauen in Institutionen Universitäten, Akademien der darstellenden und dramatischen Künste, staatliche Parlamente und viele andere Institutionen in Belgrad, Podgorica, Sarajevo, Zagreb und vielen anderen Städten außerhalb der Hauptstädte haben nun erste Schritte unternommen, um sexuelle Gewalt zu stoppen oder zu verhindern, meist durch die Einrichtung von Gremien, in denen Studierende jede Art von sexuellem Missbrauch oder Gewalt melden können. Nichtregierungsorganisationen sowie das Europäische Parlamentarische Forum

für sexuelle und reproduktive Rechte sind dem Beispiel gefolgt und haben sich dem Hashtag #nisisama („Du bist nicht allein“) angeschlossen. Es scheint, als habe Milena Radulović die ganze Region miteinander verbunden. Aber es ist noch ein langer Weg. Sanja Pavlović zufolge ist das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institutionen extrem niedrig. Noch am Tag der Veröffentlichung von Milena Radulovićs Interview reagierten die Behörden und verhafteten Miroslav Mika Aleksić. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm acht Vergewaltigungen im Zeitraum von

#nisisama – Du bist nicht allein 2008 bis 2020 und sieben „illegale sexuelle Handlungen“ vor. „Wenn es darum geht, jemanden anzuzeigen, der sich in einer Machtposition befindet oder in der Gesellschaft respektiert wird, fragt sich das Opfer: ,Wie wichtig wird mein Wort im Vergleich zu seinem genommen werden?’“, erklärt Pavlović das häufige Schweigen von Opfern von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. In der Zunahme der Meldungen über sexuelle Gewalt sieht Pavlović eine große Veränderung: „Jetzt wird es für alle Opfer einfacher, sich zu trauen, die Gewalt zu melden, darüber zu sprechen, vielleicht nicht öffentlich, aber innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften oder Familien. Das ist sehr positiv, aber es ist auch ein großer Test für die Institutionen. Wir werden sehen, wie sie damit umgehen.“

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T I T E LT H E M A

Mutig Tabus brechen Die Lehrerin Rugiatu Turay engagiert sich in Sierra Leone gegen weibliche Genitalverstümmelung. Schätzungen zufolge müssen 86 Prozent der Mädchen in dem westafrikanischen Land die brutale Praxis über sich ergehen lassen. Weltweit leben mehr als 200 Millionen Frauen mit den Folgen der Genitalverstümmelung. Text Julia van Leuven, DW-Redakteurin

Rugiatu Turay ist zwölf Jahre alt, als sie kurz nach dem Tod ihrer Mutter mit ihren drei Schwestern und einer Cousine zu einer Tante gebracht wird, angeblich für einen Besuch. Mit verbundenen Augen wurde sie in einen Raum gebracht, erinnert sich Turay. „Jemand setzte sich auf mich, und ich fühlte einen schneidenden Schmerz. Ich blutete stark und hätte fast mein Leben verloren. Eine Woche lang konnte ich nicht laufen.“ Weibliche Genitalverstümmelung ist in Sierra Leone Teil der Einführung in sogenannte „geheime Frauengemeinschaften“ oder Bondo-Gemeinschaften, die Mädchen auf Ehe und Mutterschaft vorbereiten. Junge Mädchen werden über die Initiationsriten vorab nicht aufgeklärt. Turay flüchtete während des Bürgerkriegs, der von 1991 bis 2002 im westafrikanischen Sierra Leone wütete, ins benachbarte Guinea. Im Flüchtlingslager Kaliya erlebte sie,

Sie setzt sich für alternative Übergangsriten ein, um die Tradition des Initiationsritus zu respektieren, jedoch ohne die traumatisierende Gewalterfahrung. Dazu geht sie vor allem auf die Soweis zu, jene älteren Frauen, die die Verstümmelung durchführen.

Die Kultur ist nicht ­wichtiger als das Leben der Frauen. dass Frauen, die kaum ihre Familie ernähren konnten, an den grausamen Riten festhielten. Ein Schlüsselerlebnis für Turay: „Wir liefen vor der Gewalt weg, die uns andere Menschen antaten, und jetzt fügen wir uns diese Gewalt selbst zu.“ 2003 beschloss sie, auf das Thema aufmerksam zu machen. Und gründete die Organisation Amazonian Initiative Movement (AIM).

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Die Frauenrechtsaktivistin Rugiatu Turay kämpft seit Jahrzehnten gegen Genitalverstümmelung. Bei ihrer Aufklärungsarbeit geht sie auch in entlegene Dörfer.

„Ich mache den Frauen klar, dass ich nicht ihre Gemeinschaft in Frage stellen will. Vielmehr geht es mir darum, ihre Werte und das Leben der Frauen zu schützen“, so Turay. „Die Kultur ist nicht wichtiger als das Leben der Frauen.“ Turay geht es um Aufklärung, Schutz und Betreuung von Mädchen, aber auch um die Vermittlung von neuen Perspektiven für diejenigen Frauen, die mit dieser Praxis ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Aktivistin bewertet auch die Arbeit mit Männern als entscheidend im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Unter Männern in Sierra Leone sei das bislang „kein Thema“. Dennoch kommt ihnen, so Turay, „eine Schlüsselrolle bei der Veränderung des Narrativs zum Schutz von Mädchen und Frauen zu, da sie die Entscheidungsträger sind.“ Ein langer Prozess, der auch von Drohungen begleitet wird. Ihrer Aufklärungsarbeit tut das keinen Abbruch. Ihre Stimme gegen Verstümmelung zu erheben, bedeutet für Turay auch, in die Konfrontation mit eigenen „traurigen und schmerzhaften Erinnerungen“ zu gehen. Doch sie habe Mut gefasst, sagt sie: für ihre jüngeren Schwestern und Freundinnen,


©©TERRE DES FEMMES e.V.

©©DW

Mädchen aus armen Familien, Analphabetinnen. So kämpft sie gegen die hohe Kindersterblichkeits- und Morbiditätsrate im Land, setzt sich für die Bildung und Stärkung von Frauen und Mädchen ein. Die Furchtlosigkeit von Turay und ihren Mitstreiterinnen zahlt sich aus: „Die Einstellung zur Tradition hat sich geändert“, so die Aktivistin. „Wir haben das Schweigen über ein Tabu-Thema gebrochen. Heilige Schreine werden für den Bau von Schulen entfernt, Praktizierende haben öffentliche Erklärungen abgegeben, ihre Rituale aufzugeben und alternative Übergangsriten zu unterstützen.“ Turays jüngere Schwester, die ihre Arbeit unterstützt, hat ein Lied für die Organisation AIM geschrieben, den „Amazonen-Song“. Der Bezug auf die Amazonen aus der griechischen Mythologie kommt nicht von ungefähr: „Stark und furchtlos“, wie die Amazonen-Kriegerinnen müsse man auch in der Arbeit gegen die Verstümmelung sein, so Turay: „Ich wusste, dass es ein harter Kampf werden würde.“

50 Folgen The 77 Percent – eine Stimme für Afrikas ­Jugend Seit der ersten Ausstrahlung im April 2019 hat sich das ­crossmedia­le Format zu einer wichtigen Dialog-Plattform entwickelt. Die Gruppe der unter 35-Jährigen stellt mit 77 Prozent eine deutliche Mehrheit an der gesamten Bevölkerung in Subsahara-Afrika und ist dennoch politisch unterrepräsentiert. Das DW-Format The 77 Percent widmet sich seit zwei Jahren genau dieser Zielgruppe, hört ihre Standpunkte und ermuntert sie zum Dialog – im TV, Radio und in den Sozialen Medien. Für die 50. Ausgabe des TV-Magazins hat die Redaktion das Tabu­ thema der geschlechtsspezifischen Gewalt von Männern an Frauen in den Fokus genommen. Mit dabei ist auch der deutsch-namibische Musiker EES. In seinem eigens für die Sendung geschriebenen Song „Chooser“ macht er darauf aufmerksam, dass Männer die Wahl haben, wie sie sich Frauen gegenüber verhalten. Sie sind „Chooser“, sie treffen bewusste Entscheidungen, die Auswirkungen auf ihr unmittelbares Umfeld und die gesamte Gesellschaft haben. Eine begleitende Social-Media-Kampagne mit Gewinnspiel soll das Publikum animieren, eigene Videos hochzuladen und sich so am Dialog zu beteiligen. Claus Stäcker, DW Director Programs for Africa, möchte mit der Jubiläumsausgabe an den Erfolg der vergangenen Folgen anknüpfen: „Unser Format wird von der jungen Zielgruppe als cool, konstruktiv und authentisch-afrikanisch wahrgenommen. Der panafrikanische, dia­logische und lösungsorientierte Ansatz ist ein Mehrwert für unsere digitalen, Radio- und TV-Partner in der Region.“ 44 Vertriebspartner in ganz Afrika strahlen die Sendungen aus, die in den Sprachen Englisch, Portugiesisch und Haussa produziert werden. Das Auswärtige Amt fördert das Projekt von Beginn an. Die Jubiläumsausgabe mit Rapper EES ist in der Mediathek der DW abrufbar.

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DW FREEDOM

Misstrauen gegenüber ­Nachrichtenmedien Teresa Ribeiro, ehemalige Außenministerin Portugals und neue OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, sieht die Medien­freiheit inner- und außerhalb Europas durch ­Populismus, Desinformation und staatliche Regulierungen bedroht. Fragen Julia van Leuven, DW-Redakteurin

Die digitale Sphäre hat durch die Pandemie noch mehr an Bedeutung gewonnen. Wie kann man Desinformation entgegenwirken? In Zeiten, in denen wir Abstandsregeln einhalten, verlassen wir uns mehr denn je auf das Internet, wenn es um Nachrichten und Informationen über unsere Gesundheit geht. Gleichzeitig hat sich das Internet als Verbreiter von „Fake News“ erwiesen. Propaganda und Desinformation sind kein neues Phänomen, aber die Geschwindigkeit und die Reichweite, mit der sie sich verbreiten, sind neu. Deshalb müssen wir Medienpluralismus unterstützen und weiterhin in eine freie und lebendige journalistische Szene investieren. Journalistinnen sind besonders anfällig für Online-Gewalt. Wie kann ihre digitale Sicherheit verbessert werden? Wir möchten mit unserem SOFJO-Projekt (Sicherheit von Journalistinnen im Internet) das Bewusstsein für dieses Thema schärfen. Erst kürzlich haben wir einen umfassenden Leitfaden für staatliche und nichtstaatliche Akteure in der gesamten OSZE-Region herausgebracht. Er stellt Praktiken und ­Beispiele vor, wie internationale Standards umgesetzt werden können und bietet mit 40 ­Maßnahmen einen systemischen

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­ ulti-Stakeholder-Ansatz für Akteure, die M für die Schaffung eines sicheren Medien­ umfelds zentral sind. Eine Ihrer Aufgaben ist es, Frühwarnungen auszusprechen. Wie wollen Sie dieser Verantwortung gerecht werden in einer Zeit, in der laut Rangliste der Pressefreiheit 2020 von Reporter ohne Grenzen (RSF), nur 26 Prozent von 180 Ländern eine Situation aufweisen, die „gut“ oder „zufriedenstellend“ ist?

DW Freedom ist ein ­Projekt der DW für mehr Meinungsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Medienfreiheit. Wir informieren unser globales ­Publikum zu ­ diesen Themen online: dw.com/freedom @dw_freedom dw.freedom

Meine Hauptaufgabe ist es, die Entwicklung der Medien in allen 57 Teilnehmerstaaten der OSZE zu beobachten und einzugreifen, wenn es ernsthafte Probleme gibt. Dafür arbeite ich mit den Behörden der Teilnehmerstaaten zusammen, ich kann das nicht allein tun. In der OSZE-Region gibt es viele Probleme, wenn es um die Medienfreiheit geht. Gleichzeitig gibt es eine Bereitschaft, die Situation zu verbessern. Die Verpflichtungen zur Medienfreiheit sind die Staaten selbst e ­ ingegangen;

©©NOEL CELIS/AFP via Getty Images

Was sind in diesem Jahr die größten ­ edrohungen für die Pressefreiheit? B Unter den vielen Bedrohungen ist das wachsende Misstrauen gegenüber den Nachrichtenmedien sehr beunruhigend. Meist ausgelöst durch populistische Politiker und Behörden, die Zweifel säen wollen, um ihre antidemokratischen Tendenzen und Taten zu vertuschen. In den vergangenen Jahren ist es für Medienschaffende immer gefährlicher geworden, ihre Arbeit zu machen. Das berührt das Herz unserer demokratischen Gesellschaften.


©©OSZE

Protect plurality.

Wir müssen in Medienpluralismus und eine freie und lebendige journalistische Szene investieren.

Protect female journalists online. It’s our responsibility. Die OSZE ist mit 57 Teilnehmerstaaten in ­Nordamerika, Europa und Asien die weltweit größte regionale ­Sicherheitsorganisation. Sie engagiert sich für Frieden, ­Demokratie und Stabilität.

es ist meine Aufgabe, sie immer wieder daran zu erinnern.

Was ist Ihr oberstes Ziel als OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit? Ich würde mich freuen, wenn ich dazu beitragen könnte, sowohl bei den Behörden als auch in der Öffentlichkeit den Grundgedanken wiederherzustellen, dass freie und pluralistische Medien die einzige Möglichkeit sind, dass unsere demokratischen Gesellschaften gedeihen können. Dies ist eines der Kernprinzipien der OSZE. Es wäre gut, wenn sich jeder Mensch, der in unserer Region lebt, dessen sehr bewusst wäre.

©©C. Azevedo/Portal do Governo de Portugal

von Big Tech? Wobei nicht vergessen werden darf, dass es unseren demokratischen Institutionen und Gerichten obliegt, die Mit Blick auf die neuen Social-Media-­ Regeln zu definieren und ihre Anwendung Regulierungen in Ländern wie Russland, zu überwachen. Ich denke, es ist wichtig, der Türkei oder Ungarn: Sehen Sie eine immer eine Möglichkeit des Rechtswegs ­Zunahme des staatlichen Einflusses auf zu haben. Hier liegt die Herausforderung: die digitale Sphäre? Wie macht man die Spielregeln transparent Das Thema bietet wahrscheinlich eine der und damit offen für eine rechtliche Überwichtigsten Debatten, die wir in den nächs- prüfung? ten Jahren führen müssen. Fragen wie: Welche Regeln sollen gelten? Was ist die Rolle

Teresa Ribeiro

Demonstrantin bei einem Studierendenprotest für mehr Pressefreiheit in Manila, Philippinen, 2018.

wurde im Dezember 2020 als Nachfolgerin von Harlem Désir zur OSZE-­ Beauftragten für Medienfreiheit ernannt. Die Portugiesin verfügt über langjährige Erfahrung in der internationalen Politik und Diplomatie, ihre Themenschwerpunkte sind Menschenrechte und Medien. Von 2015 bis zu ihrer Ernennung war sie Außenministerin Portugals und Präsidentin der Nationalen Kommission für Menschenrechte.

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DW FREEDOM

Wirksam gegen Willkür Immer mehr Journalistinnen werden zur ­Zielscheibe staatlicher Einrichtungen – und häufig juristisch zum Schweigen gebracht. Die Gründerin der US-Organisation The C ­ oalition For Women In Journalism schreibt über die Hintergründe der besorgniserregenden ­Entwicklung. Text Kiran Nazish

Oktober 2020: Während einer Razzia in der osttürkischen Stadt Van nehmen Polizisten einige Mitarbeitende der kurdischen Nachrichtenagenturen Mesopotamia News und JinNews fest. Unter ihnen die Journalistinnen Nazan Sala und Şehriban Abi, die über die Folter kurdischer Dorfbewohner in der Kleinstadt Catak berichtet hatten. In der Haft wurden ihre Telefone, Laptops und Kameras von der Polizei beschlagnahmt. Ihrem Anwalt zufolge wurden sie in Männer-Gefängnissen festgehalten, um sie zu demütigen. In den kalten Wintermonaten baten die Frauen vergeblich um warme Kleidung. Zudem sei ihnen vorübergehend Essen und Wasser verwehrt worden, stundenlang hätten sie im Stehen ausharren müssen. Die Vorwürfe der Justiz: Mitgliedschaft in einer „terroristischen Organisation“ und „Treffen mit unbekannten Verdächtigen“. Diese häufig angeführten Anschuldigungen sind darauf ausgelegt, Journalistinnen in ermüdende juristische Verfahren zu verwickeln und sie von ihrer Arbeit fernzuhalten. Die meisten können sich einen Rechtsstreit finanziell nicht leisten. Ihre Anwältinnen und Anwälte werden über Hilfsorganisationen v ­ ermittelt und arbeiten in der Regel ehrenamtlich oder verfügen selbst nur über geringe Ressourcen. Die Folge: Viele unabhängige und oppositionelle Medien vermeiden es, über die Arbeit der Regierung zu berichten. In den vergangenen drei Jahren wurde die Presse­ freiheit in der Türkei deutlich eingeschränkt. Im internationalen Vergleich ist die Türkei zusammen mit Iran und Saudi-­Arabien trauriger Spitzenreiter mit Blick auf die Zahl inhaftierter Journalisten und Journalistinnen. Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan wenden staatliche Institutionen unterschiedliche Methoden an, um Medienschaffende aufgrund ihrer Berichterstattung zu verfolgen. Nazan

Polizisten nehmen eine Journalistin während einer nicht genehmigten Kundgebung für faire Wahlen in Moskau fest.

Sala und Şehriban Abi sind nur zwei Beispiele. Allein im Januar 2021 dokumentierte The Coalition For Women In Journalism 16 Verfahren gegen Journalistinnen. In China wurde die 37-jährige Bürgerjournalistin Zhang Zhen im Juni 2020 nach einem Live-Streaming in Wuhan verhaftet. Sie hatte den Umgang chinesischer Behörden mit dem Ausbruch des Coronavirus kritisiert. Als sie während ihrer Inhaftierung gezwungen wurde, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu akzeptieren, trat Zhang in einen Hungerstreik. Die Journalistin wurde wegen Verbreitung falscher Informationen im Internet zu fünf Jahren Haft verurteilt. In Belarus erhielten die Journalistinnen Katsiaryna Andreyeva und Darya Chultsova im Februar 2021 eine zweijährige Freiheitsstrafe, weil sie im vergangenen Herbst ­einen Protest in Minsk live gestreamt hatten. Beide wurden der Störung der öffentlichen Ordnung beschuldigt. Die juristische Verfolgung hat sich in vielen vermeintlich demokratischen Staaten zu einem der wirksamsten Mittel entwickelt,

Die juristische Verfolgung hat sich zu einem der wirksamsten Mittel entwickelt, Medien zum Schweigen zu bringen.

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Medien zum Schweigen zu bringen. Razzien, willkürliche Inhaftierungen, Prozesse gegen Journalistinnen und Journalisten unter dem Vorwurf des Terrorismus, meist ohne jegliche Beweise, gehören vielerorts zum traurigen Alltag.


©©picture alliance/dpa/Fabio Teixeira

©©Alexander Nemenov/AFP via Getty Images

Berichterstattung vor einem Wahllokal in Rio de Janeiro, Brasilien.

©©The Coalition For Women In Journalism

Mit der Coalition for Women In Journalism gehen wir weltweit den Übergriffen gegen Journalistinnen nach und dokumentieren die Vorfälle. Im Jahr 2019 haben wir 291 Verletzungen der Pressefreiheit gegen Journalistinnen registriert. Im vergangenen Jahr stellte unsere Organisation einen exponentiellen Anstieg auf 716 Fälle fest.

Demokratische Institutionen gegen demokratische Werte Zu diesen Verstößen gehörten physische Angriffe und Behinderungen, sexistische Angriffe, Gewaltandrohungen und Einschüchterungen sowie drei Morde. Journalistinnen werden vielerorts auch von Behörden ins Visier genommen: Unsere weltweite Bilanz 2020 belegt 100 Festnahmen, 97 Fälle rechtlicher Schikane, 52 Verhaftungen und vier Berichte über Folter während der Inhaftierung. Vier Journalistinnen wurde die Akkreditierung entzogen, zwei wurden in den ersten zwei Monaten dieses Jahres entführt, zwei weitere Journalistinnen werden vermisst. Die Mehrheit dieser Angriffe geht staatlichen Institutionen aus. Die Zahlen erzählen eine Geschichte über die Risiken, denen unsere Demokratien heute ausgesetzt sind. Autoritäre Staaten setzen demokratische Institutionen gegen demokratische Werte ein. Am meisten gefährdet sind Journalistinnen und Journalisten.

Kiran Nazish berichtete aus Auslandskorrespondentin unter anderem aus Afghanistan, Irak, Mexiko, Türkei und Pakistan und erlebte die Schwierigkeiten ihrer Kolleginnen in vielen Teilen der Welt. Sie gründete die globale Mentorenund Advocacy-Organisation The Coalition For Women In Journalism und ist als Stanley Knowles Distinguished Professor an der Brandon University in Kanada tätig. @kirannazish

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Phoebe Kong ist DW-Korrespondentin in Hongkong. In den vergangenen Jahren berichtete sie oft aus China und Taiwan.

Zum Schweigen ­gebracht

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©©DW/P. Kong

einen abschreckenden Effekt mit sich bringen. Insbesondere Aktivistinnen könnten eine entscheidende Rolle spielen. Agnes Chow, die die inzwischen aufgelöste politische Partei Demosisto gründete, wurde zusammen mit Joshua Wong im vergangenen Dezember zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die 23-Jährige ist nicht nur eine Ikone der pro-demokratischen Bewegung in Hongkong, sondern auch im benachbarten Japan, wo sie seit Jahren für Unterstützung wirbt. Ihre Inhaftierung sorgte in Japan für Schlagzeilen. Der Hashtag #FreeAgnes trendete in Japan auf Twitter. Das Jahr 2020 markierte einen Wendepunkt in der G ­ eschichte Das Engagement von Frauen bei den Protesten ist generatio­Hongkongs. Für die Weltzeit b ­ eschreibt die dortige Korres­pondentin nenübergreifend. Vor Wochen der DW die gravie­renden Auswirkungen des neuen Sicherheits­ traf ich die jüngste Asylbewerberin Hongkongs. Ein 15-jähgesetzes auf die Pressefreiheit in der Stadt. riges Mädchen, das aus Angst Text Phoebe Kong vor politischer Verfolgung allein ins britische Exil gegangen war. Eine 64-jährige Frau, die wäh Das Tränengas, das durch die Straßen in Hongkong wehte, ist für rend der Bewegung ständig protestierte und von ihren Mitstreitenviele vor Ort noch nachhaltig in Erinnerung. Ein Jahr danach sind es den liebevoll „Oma Wong“ genannt wird, wurde Berichten zufolge 14 nicht mehr der Rauch und Flammen, die Hongkong einhüllen, son- Monate lang in Festlandchina festgehalten. Es ist eine der bislang herausforderndsten Zeiten für die journadern eine allgegenwärtige Angst und Kälte. Einst die freieste Stadt in listische Arbeit in Hongkong – auch weil die schlimmste politische ganz Asien, steht Hongkong am Scheideweg. Die 2019 ausgebrochenen Anti-Regierungsproteste kamen Umwälzung auf eine öffentliche Gesundheitskrise trifft. Reportedurch Inhaftierungen inmitten der Corona-Pandemie zum Erliegen. rinnen und Reporter sind online und offline mit zunehmenden AnJüngste offizielle Zahlen enthüllen, dass bis Ende 2020 mindestens feindungen konfrontiert. Belästigende Einträge in den Sozialen Me10.200 Personen wegen ihrer Beteiligung an den Protesten festge- dien, diffamierende Kritik oder sogar Vergewaltigungsdrohungen sind Folgen, denen wir durch unsere Berichterstattung ausgesetzt nommen wurden, darunter 40 Prozent Studierende. Als Antwort auf die größten politischen Unruhen in China seit sein können. In den Redaktionen ist eine wachsende Selbstzensur Jahrzehnten verhängte Peking im vergangenen Juni ein Gesetz zur spürbar. Amtlicherseits wird versucht, kritische Berichterstattung nationalen Sicherheit über Hongkong. Es verbietet Subversion, Erb- einzuschränken: Die Maßnahmen reichen von der Verhängung von folge und Kollaboration mit ausländischen Kräften. Für „terroristi- Bußgeldern gegen Bürgerjournalistinnen und -journalisten wegen sche Aktivitäten“ können Verurteilte lebenslang hinter Gitter kom- Verstoßes gegen die Anti-­Corona-Regeln bis zur strafrechtlichen men. Trotz seiner weitreichenden Wirkung wurde das Gesetz nicht Verfolgung einer preisgekrönten Journalistin, weil sie in einer Reporvon Hongkongs eigener Legislative geprüft, sondern lediglich vom tage über die Proteste berichten wollte. In diesem Jahr ist in Hongkong mit einem tiefgreifenden Wandel Parlament in Peking abgesegnet. Fast hundert Personen wurden unter dem weitreichenden Sicherheitsgesetz festgenommen, darunter in allen gesellschaftspolitischen Bereichen zu rechnen, insbeson55 Oppositionelle, die an einer Vorwahl teilgenommen hatten, sowie dere innerhalb der Zivilgesellschaft, in der Justiz, aber auch im Bilder Medienmogul Jimmy Lai und führende Aktivistinnen und Akti- dungswesen. Auch mit weiteren Urteilen gegen Aktivistinnen und visten. Das neue Gesetz könnte für das internationale Finanzzentrum Aktivisten muss gerechnet werden.


PROGR AMM-INSIDER

„Wir möchten alle erreichen“

©©DW/P. Böll

Die Gleichstellung von Frau und Mann und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben bei der DW einen hohen S ­ tellenwert. Im Interview spricht Verwaltungsdirektorin ­Barbara ­Massing auch über Inklusion und ­Diversity – und warum ihr an diesen Themen so gelegen ist. Fragen Ivana Drmić, DW-Redakteurin

Als Verwaltungsdirektorin sind Sie auch für die Personalpolitik zuständig. Wie sieht es bei der DW mit der Gleichstellung von Frauen und Männern aus? Spontan würde ich antworten: Es hat sich viel getan. Für die DW hat die Förderung der Chancengleichheit besondere Bedeutung, und wir arbeiten kontinuierlich an neuen ­Ideen und Instrumenten, um sie für alle Mit-

kürzlich für die DW verabschiedet haben, um die Bilder im Kopf zu verändern. Ohne die vielfältigen Kompetenzen, den beeindruckenden Einsatz und den Gestaltungswillen unserer Mitarbeiterinnen wäre die DW heute nicht so erfolgreich, wie sie ist. Für mich als Führungskraft in der Deutschen Welle ist das Öffnen von Türen für viele unterschiedliche Menschen eine zentrale Aufgabe.

Es braucht starke Vorbilder, damit Frauen wie Männer ­gleichermaßen als Führungskräfte und als Expertinnen gesehen werden – und starke Frauen nachziehen.

Wie hoch ist der Frauenteil in Führungs­ positionen der DW? Mit 51,9 Prozent weiblichen Führungskräften in programmverantwortlichen Positionen und gewichtet nach Führungsebenen gehören die DW und der RBB laut einer Studie von „ProQuote Medien“ aus dem Jahr 2018 zu den fortschrittlichsten Rundfunkanstalten. Darauf bin ich wirklich stolz! Bei der DW sind aktuell 40 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt. Auch die Führungs­ ebene im Programm ist in den letzten Jahren weiblicher geworden: Hauptabteilungen und Redaktionen für Asia, Latin America, Middle East, Sport und andere werden von Frauen geführt.

arbeitenden überall in der DW zu realisieren. Es braucht starke Vorbilder, damit Frauen wie Männer gleichermaßen als Führungskräfte und als Expertinnen gesehen werden – und starke Frauen nachziehen. Für mich ist es selbstverständlich, dass Frauen wie Männer Karriere und Privatleben gut unter einen Hut bekommen sollen. Wir als DW müssen die Rahmenbedingungen schaffen. Da hilft auch gendersensible Sprache, wie wir sie

Welche Maßnahmen ergreift die DW, um die Gleichstellung zu ­erreichen? Neben dem Fokus auf mehr Frauen in Führung haben wir gezielte Mentoring-­

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PROGR AMM-INSIDER

Programme von erfahrenen Führungskräften für neue weibliche Führungskräfte auf­gesetzt und fördern so die Vernetzung unserer Female Leaders. Wir haben dank der tariflich gebundenen Vergütungsstruktur eine gute Grundlage, um den Gender

Diversität: DW tritt BBC-Projekt bei Mehr Vielfalt und Diversität in der Berichterstattung berücksichtigen: Das ist das Ziel einer Initiative, die ihren Ursprung vor wenigen Jahren im Londoner Newsroom der BBC hatte. Im Februar schloss sich die DW der britischen Initiative an. „Die DW mit ihren Sprachangeboten und Mitarbeitenden aus vielen Kulturen passt perfekt zum 50:50-Projekt der BBC,“ sagte Programmdirektorin Gerda Meuer bei der Unterzeichnung der Vereinbarung. An einem ersten Austausch zwischen BBC- und DW-Beteiligten waren zahlreiche Redaktionen und Abteilungen aus Bonn und Berlin beteiligt. Die BBC-Projektkoordinatorin Angela Henshall verwies darauf, dass die BBC seit dem Start vor vier Jahren über 80 Partner aus 24 Ländern weltweit für das Projekt gewinnen konnte. DW-Chefredakteurin Manuela Kasper-Claridge zur Bedeutung von Vielfalt in der Berichterstattung: „Vielfalt ist schon jetzt unsere Stärke. Dazu gehört, dass wir auch die Perspektiven anderer Medienhäuser wahrnehmen. Wir werden zudem Journalistinnen und Journalisten helfen können – mit Ideen und unserer Erfahrung.“

©©BBC

bbc.co.uk/5050

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Pay Gap zu verhindern. Wir unterstützen Frauen wie Männer gezielt mit Weiterqualifizierungsmaßnahmen wie berufsbegleitenden Studien, um die Voraussetzungen für höherwertige Tätigkeiten und damit höhere Vergütung zu schaffen. In manchen Bereichen haben wir einen Förderungsbedarf, wie in den technischen und IT-Berufen. Hier optimieren wir Rekrutierungswege, stärken das Angebot von Trainee-Programmen und setzen uns konkrete Ziele zur Steigerung des Frauenanteils in den Bereichen. Für das Programm sind Programmdirektorin, Chefredakteurin und unsere Diversity-Managerin dem BBC-Projekt „50:50“ beigetreten, das einen ausgeglichenen Anteil von Akteurinnen und Akteuren vor und hinter der Kamera bringen soll. Die ­Initiative will Medienhäuser dabei unterstützen, in der Programmgestaltung auf Diversität zu achten. Wie wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei den Mitarbeitenden gefördert? Erst wenn Frauen wie Männer sich gleichermaßen um die Familie „neben“ dem Beruf kümmern, werden wir mit der Gleichstellung einen bedeutenden Schritt weiter sein – und die Schere im Kopf wird hoffentlich verschwinden. Daher freue ich mich über jeden Vater, der Elternzeit nimmt. Zur Unterstützung der Gleichberechtigung auch in der Care-Arbeit haben wir freie Partner-Tage nach der Geburt eines Kindes ­eingeführt. Wir bieten flexible Arbeitszeitmodelle, damit verantwortungsvolle Arbeit auch in Vollzeit mit Familie vereinbar ist. Dieser Punkt ist nicht zu vernachlässigen, gerade mit Blick auf die Höhe späterer Altersversorgungsansprüche. Neu haben wir das Modell des Top Sharing unter bestimmten Bedingungen eingeführt, so dass auch Führung in Teilzeit leichter möglich ist. Besonders stolz bin ich auf unsere Möglichkeit, Ausbildung in Teilzeit anzubieten, die sich vor allem an junge Mütter und Väter richtet. Somit besteht für viele die Möglichkeit, trotz privater Herausforderungen eine Ausbildung zu absolvieren und sich von dort aus später weiter zu entwickeln. Bereits vor der Pandemie haben wir das Thema Flexibilisierung von Arbeit ganzheitlich verstanden. Es geht nicht nur um Teilzeitmodelle, sondern beispielsweise auch um die Frage nach dem Arbeitsort. Wo dies mit den Aufgaben vereinbar ist, ist seit einigen Jahren das Arbeiten von zu Hause oder anderen Orten aus möglich. Auch haben wir – gemeinsam mit den Personalräten – die Möglichkeit eines Sabbaticals geschaffen.


sticks-and-stones.com

Welche besonderen Maßnahmen haben Sie seit Beginn der Pandemie ergriffen? Neben den großen Anstrengungen unserer Technikbereiche, die – unterstützt durch die Flexibilität unseres Personalrats – die schnelle Einführung des Tools MS Teams

Vielfalt als Stärke zu nutzen. Die direktionsübergreifende Diversity-AG erarbeitet im Kernteam Handlungsempfehlungen für die Diversity-Strategie. Zusätzlich werden als Soundingboard die Interessensvertretungen unter anderem Gleichstellungs­

Beim Recruiting setzt die DW explizit auf ­ihre Diversität, so etwa durch die Teilnahme an der Sticks and Stones, Europas ­größter LGBTQ+ Job- und Karrieremesse.

Wir als DW müssen die­ Rahmen­bedingungen schaffen, um die Bilder im Kopf zu verändern. und damit die weitgehende Ausweitung des mobilen Arbeitens möglich gemacht haben, wurde auch die technische Ausstattung (Laptops, VPN-Zugänge) durch umfangreiche Beschaffungen neuer mobiler Geräte deutlich verbessert. Wir haben zu Beginn der Pandemie Sonderzuschüsse zur Kinderbetreuung gezahlt. Und den Führungskräften nahegelegt, in Absprache mit ihren Mitarbeitenden größtmögliche Flexibilität rund um Arbeitszeiten und Urlaubsregelungen zu gewährleisten. Stichwort Diversität: Was unternimmt die DW, um sicherzustellen, dass der Anteil der Frauen vielfältig ist? Das Merkmal Geschlecht ist eine der Dimensionen, es gibt aber noch andere wie Alter, sexuelle Orientierung oder ethnische Herkunft. Vor zwei Jahren haben wir ein Diversity-Management eingerichtet, um unsere

beauftragte, Beauftragte für Menschen mit Behinderung, Vertretungen der Personalräte und der Freien Mitarbeitenden hinzugezogen. Wir haben uns außerdem an der Kampagne #inclusionmatters beteiligt und setzen beim Recruiting explizit auf unsere Diversität, um neue Mitarbeitende zu gewinnen, so etwa bei der Messe „Sticks and Stones“ mit LGBTQ+-Schwerpunkt. Zusätzlich planen wir eine Kooperation mit der digitalen ReDi-­School of Integration, bei der Mitarbeitende der DW als freiwillige „Lehrkräfte“ für Geflüchtete eingesetzt werden. Das sind nur einige Beispiele, die zeigen: Wir bauen auf unsere Stärke und stellen uns für die Zukunft auf – und die gehört starken Mitarbeitenden, die im Dialog untereinander und mit den Nutzenden diese komplexe Welt verstehbar machen.

Barbara Massing ist seit 2014 Verwaltungsdirektorin der DW. Zur Deutschen Welle kam sie vom deutsch-französischen Sender Arte 2006 als Referentin des Direktors Distribution, ab 2008 baute sie die Abteilung Strategische Planung auf und war deren Leiterin. Zwei Jahre lang war sie für die DW Mitglied der internationalen Beratergruppe „Wissenschaft und Gesellschaft“ für die EU-Kommission. Die Volljuristin ist Mitglied im Aufsichtsrat der Universitätsklinik Bonn. Weitere Themenschwerpunkte ihrer Arbeit sind Digital Leadership, New Work, Nachhaltigkeit und Förderung von Diversity.

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PROGR AMM-INSIDER

Weit über die Schlagzeilen hinaus

Mit dem neuen Korrespondentenbüro in Indien baut die DW ihre Berichterstattung aus und über Südasien in mehreren Sprachen aus. Büroleiterin Amrita Cheema spricht über das neue Team und was der Umzug von Berlin zurück in ihr „­ Mutterland“ für sie persönlich bedeutet.

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Fragen Anne Samba, DW-Redakteurin

Geboren und aufgewachsen im Herzen der größten Demokratie der Welt, ist Amrita Cheema eine Weltbürgerin und erfahrene Journalistin. Cheema begann ihre journalistische Laufbahn bei Indiens nationalem Radiosender All India Radio (AIR) als Redakteurin und Moderatorin. Nach ihrer Promotion in Geschichte an der Universität Oxford wechselte die Rhodes-Stipendiatin als Redakteurin zur DW. Sie arbeitete als Redakteurin für das Programm Asia Pacific Report, das für seine unabhängigen Nachrichten vor allem aus Krisengebieten bekannt war. Nach Stationen in Indien und Sydney kam sie als Moderatorin und Redakteurin 2008 zurück zur Deutschen Welle.

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Amrita Cheema


Warum ist es für die DW wichtig, ein Büro in Indien zu haben? Man kann nicht aus der Ferne über Ereignisse vor Ort berichten. Man muss hier ansässig sein, um den Puls zu fühlen, um zu wissen, was die Menschen bewegt. Mit dem Büro will die DW näher an eines ihrer wichtigsten Zielgebiete rücken. Unser Ziel: Nachrichten und Stories für die Region aus der Region liefern. Indien hat eine junge, diverse und technologieafine Bevölkerung. Welche Art von Inhalten produziert das Büro für diese Zielgruppe? Das Korrespondentenbüro in Delhi ist ein mehrsprachiger, multimedialer Hub, der alle DW-Plattformen abdecken wird, insbesondere Soziale Medien, aber auch TV. Es gibt in Indien ein großes Interesse an Nachrichten und eine große Neugier. Aber wir liefern auch informative und interessante Hintergründe zu Themen aus Umwelt, Wirtschaft, Kunst und Kultur. Die Idee ist, über Schlagzeilen und Klischees hinauszugehen und ein nuanciertes Bild der Situation zu vermitteln. Mehr als fünfzig Prozent der Inder sind unter 25 Jahre alt, und dieser jungen, aufstrebenden Bevölkerung wollen wir interessante Inhalte anbieten. Wer arbeitet im Korrespondentenbüro? Wir haben ein starkes Team mit 16 Journalistinnen und J­ournalisten. Ich freue mich, dass es eine komplett geschlechterparitätische

Gruppe mit je acht Frauen und Männern ist. Neben Englisch bieten wir die Sprachen Hindi, Urdu, Bengali und bald auch Tamil. Das Büro ist eine Drehscheibe für Südasien. Was bedeutet die neue Position für Sie persönlich? Ich kenne sowohl Deutschland als auch Indien gut. Mein Mutterland Indien und mein Vaterland Deutschland sowohl beruflich als auch emotional zusammenbringen zu können, ist ein Geschenk! Ich sehe ein riesiges Potenzial in der Entwicklung des Büros in Delhi in einer Zeit, in der Regionalisierung und Digitalisierung die wichtigsten Prio­ritäten der DW sind. Die Möglichkeiten in Indien sind immens, auch die Herausforderungen. Es wird hier nie langweilig – schließlich ist es eine der dynamischsten und lebendigsten Regionen der Welt. Wie fühlt es sich an, wieder in Indien zu leben? Meine Ankunft in Delhi wurde durch das Coronavirus verzögert. Die Leitung unseres Pilotbetriebs hier inmitten einer Pandemie war eine Herausforderung. Eine der ersten Aufgaben, war die Moderation eines Panels beim jährlichen Alumni-Treffen meines Colleges in Delhi via Zoom. Als ich so viele meiner ehemaligen Klassenkameraden und Freunde während der Sitzung sah, fühlte ich mich, als ob ich nach Hause gekommen sei.

Als unabhängiges, internationales Medienunternehmen aus Deutschland informieren wir Menschen weltweit, damit sie sich frei entscheiden können. Mit Kooperationen sowie Büros für Korrespondentinnen und Korrespondenten wie in Neu-­Delhi sind wir nah an den Debatten, die die Menschen in unseren Zielländern beschäftigen.

Deutsche Welle

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PROGR AMM-INSIDER

Drei Streams, zwei Tage, ein Global Media Forum Die globale Ausbreitung des Coronavirus hat gezeigt, dass längst nicht alle Errungenschaften der heutigen Zeit als gegeben betrachtet werden ­können. Gleichzeitig haben wir erlebt: Mit Mut und Kreativität lassen sich aktuelle ­Auswirkungen überwinden und die Zukunft unabhängig von ­Corona gestalten. Diesem Spannungsfeld widmet sich das diesjährige Deutsche Welle Global Media Forum am 14. und 15. Juni. Titel: „Disruption and Innovation“.

Anne Applebaum, US-Journalistin und Historikerin

„Jede Demokratie braucht einen Ort mit weitgehend akzeptierten Regeln, an dem Diskussionen und Debatten stattfinden können. Historisch gesehen, ist diese Aufgabe den Medien zugefallen“, sagte die US-Journalistin und Historikerin Anne Applebaum im Oktober 2020 bei einer der digitalen Sessions des Global Media Forums. In diesem Sinne bietet die DW mit dem diesjährigen Global Media Forum erneut eine (digitale) Plattform, um über das Zusammenspiel von Demokratie und Medien, aber auch über Diversität, Erlösmodelle und politische Kommunikation zu diskutieren. In mehreren Streams, die live aus dem Funkhaus der DW in Bonn übertragen werden, diskutieren Medienschaffende aus der ganzen Welt mit Entscheidern und Multiplikatoren aus Politik und Zivilgesellschaft, Kultur und Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft. Anne Applebaum wird sich im Juni erneut in die Debatte einschalten. Ein weiterer Speaker, der sich mit der Rolle der Medien in disruptiven Zeiten auseinandersetzen wird, ist Timothy Snyder. Der Historiker hatte sich zuletzt intensiv mit der Rolle des Lokaljournalismus befasst. Seiner Auffassung nach habe etwa Donald Trumps Aufstieg gezeigt, „wohin es führt, wenn seriöser Journalismus – gerade

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Text Michael Münz, DW Events

Timothy Snyder, Historiker

auf lokaler Ebene – zugrunde geht und durch Soziale Medien ersetzt wird“, sagte Snyder vor kurzem im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Zu den weiteren namhaften Gastrednern, die ihre Teilnahme bereits zugesagt haben, gehören die philippinische Journalistin Maria Ressa, die iranische Menschenrechtsaktivistin Masih Alinejad, der Direktor des Oxford Internet Institute, Philip N. Howard, sowie Irene Khan, Sonderberichterstatterin über die Förderung und den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung. Sie alle werden in digitalen Formaten ihre Gedanken zu Zukunftstrends, Medienfreiheit, dem Verhältnis zwischen intermediären und klassischen Medienanbietern und Constructive Journalism teilen. Ergänzt wird das Programm dieses ­Streams aus Bonn durch Keynotes, Interviews sowie Video-Einspielern. So werden an den beiden Konferenztagen sechs Start­ups aus NRW, die sich in dieser disruptiven Zeit mit Innovationen hervorgetan haben, in einer Video-Reihe vorgestellt. Zudem wird im Rahmen der Konferenz zu einem Startup-Programm eingeladen, an dem sich kreative Köpfe aus der internationalen Medienbranche beteiligen können.


Philip N. Howard, Direktor des Oxford Internet Institute

Analog zu den bisherigen Ausgaben des Global Media Forums wird auch die diesjährige, hybride Konferenz den DW-Partnern Räume für eigene Sessions bieten: An beiden Tagen wird es zusätzlich zu den digitalen Plenarsessions einen zweiten Livestream geben, der mit Inhalten von NGOs, Vertriebs­partnern und der DW Akademie bespielt wird. Unter anderem werden der WDR, die Friedrich-Ebert-Stiftung, das Hans-Bredow-Institut, die Stiftung Entwicklung und Frieden sowie VAUNET – Verband Privater Medien Themen aus dem Plenar-­Stream vertiefen, darüber hinausgehende thematische Akzente setzen und Workshops anbieten. Ebenfalls fest verbunden mit dem GMF und somit auch Bestandteil der hybriden ­Variante ist der DW Freedom of Speech Award, der am Ende des ersten Konferenztags verliehen wird. Auch für die so genannten Fellows, ausgewählte Medienschaffende aus dem Globalen Süden, für die die DW in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt in den vergangenen Jahren ein Bildungsprogramm im Rahmen des GMF organisiert hat, wird es Angebote zu den Themen Medientraining und journalistisches Arbeiten geben. Einziger Unterschied: Die Teilnehmenden und

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Masih Alinejad, iranische Menschenrechtsaktivistin

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Maria Ressa, philippinische Journalistin

Irene Khan, Sonderberichterstatterin über die Förderung und den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung

­ ozentinnen und Dozenten begegnen sich ausschließlich digital D im dritten ­Stream der Konferenz. Dass das GMF wieder seinem Ruf als Dreh- und Angelpunkt eines internationalen und interdisziplinären Netzwerks gerecht wird, dafür sorgen innovative Formate und die Einbindung aller Teilnehmenden im Verlauf der zwei Konferenztage und drei Streams. Die Teilnahme ist kostenlos – eine Anmeldung ist erforderlich. Alle Informationen dazu unter dw.com/gmf. Das Global Media Forum 2021 zeigt Wege auf, die Herausforderungen und Chancen disruptiver Innovationskraft zu verstehen und diese Entwicklungen in die eigene Arbeitspraxis zu übertragen. Kooperationspartner ist die Stiftung Internationale Begegnung der Sparkasse in Bonn; unterstützt wird der Kongress zudem vom Auswärtigen Amt, der Landesregierung NRW und der Stadt Bonn.

dw.com/gmf

DW_GMF | dw.gmf GMFconferencce

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PARTNER SCHAFT LEBEN

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Was bewegt Europas Jugend? Das Pilotprojekt ENTR – What’s Next ist im März an den Start gegangen. Hinter dem Medien­angebot für Europäerinnen und Europäer im Alter von 18 bis 34 Jahren steht ein K ­ onsortium mit ­Partnern in sechs euro­ päischen Ländern. Die DW leitet das Projekt als ­Konsortialführer. Text Patrick Leusch, Project Director

Das sechssprachige Projekt richtet sich an junge Menschen in Europa, die vor wegweisenden Entscheidungen für ihr Leben stehen. Die Inhalte werden auf Englisch, Deutsch, Französisch, Portugiesisch, Polnisch und Rumänisch auf Facebook, YouTube und Instagram veröffentlicht. Die Berichte orientieren sich an den Lebensrealitäten und Interessen der jungen Zielgruppe, die durch Studien und Datenanalysen ermittelt werden. Junge Menschen in ganz Europa stehen vor ähnlichen Fragen: Welchen Lebensweg möchte ich gehen? Wie verdiene ich meinen Lebensunterhalt? Welchen Beitrag möchte ich zur Gesellschaft leisten? Ein paneuropäischer Austausch über unterschiedliche Perspektiven kann bei der Orientierung helfen. Das Projekt stellt so eine Verbindung zwischen den Alltagswelten der jungen Europäerinnen und Europäer her. Da auch viele junge Menschen skeptisch gegenüber der Europäischen Union sind, werden neue, nach vorn gerichtete Argumente benötigt. Daher legt das Projekt einen Fokus auf konstruktive Debatten über die Zukunft Europas. Die Redaktionsteams bei den Partnern produzieren Inhalte unter dem Motto „Value Differences and Celebrate Communalities“ in ihren Sprachen.

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Die Idee für „ENTR – What’s Next“ entstand im Rahmen der strategischen Partnerschaft der DW mit dem französischen Auslandsrundfunk France Médias Monde. Das Projekt ist im Deutsch-Französischen Vertrag von Aachen verankert, was die große politische Unterstützung widerspiegelt. Ermöglicht wird ENTR durch Förderungen der Europäischen Kommission und des Auswärtigen Amts. Neben der DW und France Médias Monde sind weitere öffentlich-rechtliche sowie private Medienhäuser und Organisationen beteiligt: in Portugal Rádio e Televisão de Portugal (RTP); in Polen Ringier Axel Springer Polska (RASP), der Betreiber des größten polnischen Web-Portals onet.pl; in Rumänien RFI Romania, ein Tochterunternehmen von FMM, und die Nichtregierungsorganisation Group 4 Media Freedom and Democracy (G4 Media). Zu den weiteren Partnern gehören ZEIT Online, die Stiftung Genshagen und der Bildungsanbieter Good Conversations in Deutschland sowie die irische Produktionsfirma Tailored Films. entr.net


InfoMigrants jetzt in sechs Sprachen

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Migranten aus Bangladesch vor einem Krankenhaus in Rom. ­InfoMigrants bietet Nachrichten für Menschen, die über Migration nachdenken und für diejenigen, die schon in den Zielländern angekommen und Desinformationen ausgesetzt sind.

InfoMigrants ist eine Nachrichten- und I­ nformationsseite für Migranten, die mit Fehlinformationen aufräumen will: in ihrem ­Herkunfts­land, entlang der Route und an den Orten, an denen sie hoffen, ein neues Leben zu beginnen. Ab 2021 weitet die Plattform ihr Sprachenangebot aus und bietet neben Arabisch, Dari, Englisch, Französisch und Paschtu künftig auch Inhalte auf Bengali. Die Projektmachenden reagieren damit auf aktuelle Entwicklungen der Migrationsbewegungen nach Europa und einem zunehmendem Informationsbedarf der Zielgruppe. Im vergangenen Jahr stellten Bangladeschis die zweitgrößte Gruppe der irregulär ankommenden Migranten in Italien. Ein Grund: Im Zuge der Coronakrise verloren viele in Libyen lebende bengalische

Migranten ihre Jobs; die Zahl derer, die eine gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagten, stieg. Im fünften Jahr seines Bestehens wächst das DW-Partnerprojekt weiter kontinuier­ lich. In 2020 verzeichnete die Webseite rund 9,5 Millionen Zugriffe; die Zahl der Facebook-Fans liegt bei zwei Millionen. ­ ­Darüber hinaus folgen rund 100.000 Men-

schen InfoMigrants auf YouTube, Twitter, Instagram, Telegram und Viber. InfoMigrants bietet Nachrichten und Informationen für Menschen, die über Migration nachdenken, als auch an jene, die sich schon auf dem Weg befinden oder in Zielländern in Europa angekommen sind. Das Online-Projekt ist eine Kooperation von Deutsche Welle, France Médias Monde und der italienischen Nachrichtenagentur ANSA und wird von der Europäischen Kommission kofinanziert. Infomigrants.net wurde im Februar 2017 gestartet und ist auf 16 verschiedenen Social-Media-Kanälen abrufbar. infomigrants.net

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MEDIEN ENTWICKELN

„Das Talent ist da“ Weibliche Perspektiven auf die große Leinwand bringen: Dafür brennt Lara Utian-­Preston, Marketing-Expertin aus S ­ üdafrika. Als sie vor ­einigen Jahren für das Zanzibar International Film Festival (ZIFF) arbeitete, stellte sie fest, dass afrikanische F ­ ilmemacherinnen kaum vertreten waren. Sie gründete 2017 gemeinsam mit Edima Otuokon aus Nigeria die Ladima ­Foundation, die afrikanische Frauen im Filmgeschäft fördert. Fragen Jasmin Rietdorf

Kann der Film die Stellung der Frau in traditionellen afrikanischen Gesellschaften verändern? Bilder sind alles. Videoinhalte werden überall und jederzeit konsumiert, ob auf YouTube oder Netflix. Wer diese Inhalte erstellt, ist wichtig: Es geht um Herkunft, Geschlecht, Diversität. Wenn Sie nur eine homogene Gruppe haben, die Geschichten erzählt, bekommen Sie auch nur eine Version. Visuelle Inhalte sind die mächtigste Form des gesellschaftlichen Einflusses. Damit meine ich nicht nur Filme, sondern auch Fernseh- oder Webserien. Es ist für afrikanische Frauen grundlegend wichtig, dort in ihrer Vielfalt gesehen zu werden.

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Hat das nur im afrikanischen Kontext oder auch global eine große Bedeutung? Im vergangenen Juli veranstalteten wir gemeinsam mit der DW Akademie den Kurzfilmwettbewerb „Women in the times of COVID-19“. Etwa 200 afrikanische Filmemacherinnen nahmen teil. Es gab eine unglaubliche Vielfalt an Geschichten und doch verbinden sie uns alle. Auch jemand in Berlin kann sie nachempfinden: die Isolation, die Last der familiären Verantwortung, die gerade in Krisenzeiten auf den Frauen liegt. Aber auch die Hoffnung und Widerstandskraft der Frauen. Das sind universelle Erfahrungen. Für eine globale Frauenbewegung ist das von großer Bedeutung. In Afrika leben über eine Milliarde Menschen, die Hälfte davon sind Frauen. Sie müssen in die Lage versetzt werden, für sich selbst zu sprechen.

Diese Stimmen müssen gehört werden: in Afrika und in der Welt. Was ist nötig, um Frauen im afrikanischen Filmgeschäft zu stärken? Wenn wir Geschlechterparität und andere Genderfragen mitdenken, können wir etwas bewirken. Das gilt für Filmfestivals, staatliche Filmboards, Produktionshäuser internationale Geberorganisationen. Es beginnt mit der Zusammensetzung der Jurys und wie Ausschreibungen formuliert werden, geht über Kategorien und Auswahlprozesse bis hin zu der Frage, ob es funktionierende Mechanismen gegen sexuelle Belästigung gibt. All das beeinflusst, ob Frauen in der Branche Erfolg haben. Dafür müssen wir ein Bewusstsein schaffen. Und das ist ein Prozess, in den die Gate-Keeper einbezogen

Filmszene aus „Worlds Apart“ von Yehoda Hammond, einem der Beiträge des ­Wettbewerbs „African Women in the Time of COVID-19“.

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Mit der Ladima Foundation wollen Sie die große Geschlechterungleichheit in der afrikanischen Filmindustrie korrigieren. Wie sieht die Situation für Frauen gegenwärtig aus? Schlüsselrollen wie Regie oder Drehbuchschreiben, viele der technischen Aufgaben wie Schnitt und Kamera sind männlich dominiert. Daraus ergeben sich zwei Probleme. Die Filmbranche wächst schnell, sie schafft Arbeitsplätze und damit Chancen. Frauen sind aber von vielen dieser Möglichkeiten ausgeschlossen. Das zweite Problem ist die Art der Darstellung von Frauen auf der Leinwand. Nehmen wir die Nollywood-Filme. Die nigerianische Filmindustrie ist die zweitgrößte weltweit, was den Output angeht. Die weiblichen Rollen in dieser Flut an Filmen sind sehr stereotyp: sie sind die Betrogenen, starke Frauen sind oft die Bösen. Im afrikanischen Kontext führt der Mangel an Frauen hinter der Kamera zu einer Menge sexistischer Inhalte. Das festigt das Patriarchat. Erzählen afrikanische Frauen ihre eigenen Geschichten, ist das eine ganz andere Perspektive.


©©Ladima Foundation

Ladima Foundation

werden müssen. Wer bekommt Fördermittel, welche Filme werden finanziert, wer wird eingestellt? Die Mehrheit der Entscheider sind immer noch Männer. Ein Wandel ohne sie wird nicht möglich sein – und nicht von selbst passieren. Manche sehen die Gefahr, dass Frauen als Quotenfrauen abgetan werden. Gibt es genügend qualifizierte Frauen? Mit der Ladima Film Academy, die von der DW Akademie unterstützt wird, engagieren wir uns in der Aus- und Weiterbildung von Frauen. Das Ziel ist natürlich, dass mehr Frauen einen Einstieg in die Branche finden. Wir haben auch ein Online-Netzwerk: die A-List. Oft höre ich, „wir konnten keine Cutterin finden“. In der Datenbank haben wir über 2000 Frauen in 20 Disziplinen und aus 40 Ländern. Das Talent ist da – und man kann es finden.

Filme werden aber nie auf Netflix landen. Die afrikanische Filmindustrie muss wie ein Ökosystem funktionieren: vom Kontinent für den Kontinent. Wir müssen nachhaltige Mechanismen finden, die viele Verbreitungsmodelle nutzen: von der digitalen Übertragung durch mobile Netzwerke und Streaming-Plattformen bis hin zur TV-Ausstrahlung. Ein Großteil der Bevölkerung hat kein Geld, um für Filme zu bezahlen. Wir haben aber mehrere Millionen potenzielle Zuschauer, auch mit kleineren Beiträgen ließe sich langfristig arbeiten. Die Regierungen haben nicht viel Geld, um Filme zu finanzieren. Nicht nur Filme, sondern jede Art von Kunst wird als Luxus und nicht als Notwendigkeit angesehen. Das ist eine ständige Herausforderung. Aber langsam setzt sich die Auffassung durch, dass afrikanische Institutionen den Kreativsektor besser finanzieren müssen.

Sie haben Netflix erwähnt. Der globale Streaming-Riese investiert in Inhalte des afrikanischen Kontinents. Hilft das, die Frauenförderung in der Branche voranzutreiben? Netflix stellt mit den African Originals afrikanische Produktionen ins Rampenlicht und arbeitet mit lokalen Kreativen. Viele Geschichten haben starke weibliche Protagonistinnen. Die meisten afrikanischen

Was treibt Sie weiter an? Der Kurzfilmwettbewerb im vergangenen Jahr hat mich begeistert. Inzwischen hat eine der Frauen ein Berlinale-Stipendium bekommen, eine andere wurde zum Frauengipfel „Forbes Woman Africa“ eingeladen, viele waren mit ihren Filmen auf anderen Filmfestivals. Der Erfolg kommt zu ihnen, und wir haben einen Anteil daran – das motiviert mich.

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Filmszene aus „2020“, einer von rund 200 Beiträgen des Kurzfilmwettbewerbs der DW Akademie und der Ladima Foundation.

Die Ladima Foundation wurde 2017 von Lara Utian-Preston (im Bild unten) aus Südafrika und der Politikberaterin Edima Otuokon (rechts) aus Nigeria gegründet. Die pan-afrikanische Non-Profit Organisation unterstützt und würdigt durch Partnerschaften und Kooperationen in mehreren Ländern afrikanische Frauen in Film, Fernsehen und anderen kreativen Branchen. In Zusammenarbeit mit der DW Akademie entsteht die Ladima Film Academy in Lagos/Nigeria. Einführungs- und Aufbaukurse – online und in Präsenz – in den Bereichen Schnitt, Kamera, Regie, Drehbuch, Animation, Produktion und Dokumentarfilm erweitern die beruflichen Möglichkeiten für weibliche Fachkräfte. 2020 veranstalteten beide Partner den Kurzfilmwettbewerb „African Women in the Time of COVID-19“ für afrikanische Filmemacherinnen. Die Dokumentation “The call – 1 pandemic, 20 countries, 172 filmmakers“ stellt 33 der ­eingereichten Filme vor und lässt zehn

Filme­macherinnen zu Wort kommen. Sie diskutieren insbesondere das Geschichtenerzählen und die Filmindustrie aus der Perspektive afrikanischer Frauen. Die von der DW Akademie geförderte Dokumentation wird voraussichtlich ab Juni auf verschiedenen Filmfestivals zu sehen sein. @LadimaAfrica |

ladima.africa

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MEDIEN ENTWICKELN

Männer und Frauen gemeinsam auf der Bühne – in Basra heutzutage fast undenkar. Hier ein Stück im Nationaltheater in Bagdad 2018.

Daten und Kunst gegen Falsch­informationen und Diskriminierung Noor Faraj ­arbeitet als Reporterin und Theaterautorin in Irak. In einem Gespräch mit Viktoria Kleber, Medientrainerin der DW Akademie im Nahen Osten, setzt sie auf eine bessere ­Zukunft für die Frauen in ihrem Land. Text Viktoria Kleber

„Es hat mich gestört, dass ich den Behauptungen von Politikerinnen und Politikern in Interviews oft nichts Richtiges entgegensetzen konnte“, sagt Noor Faraj. Die 28-Jährige arbeitet als Radiojournalistin in Irak. Irgendwann entdeckte sie die Aussagekraft von Daten. „Ich will aufklären über Missstände im Land und mit Fakten gegen Falschinformationen und andere Dinge kämpfen, die hier schieflaufen“, sagt sie. Im Rahmen des Online-Projekts Code >Her< der DW Akademie hat Noor Faraj einen Artikel über den ungleichen Zugang zum Internet in Irak geschrieben. Während

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rund 53 Prozent der irakischen Männer online sind, können sich nur 37 Prozent der Frauen mit dem Internet verbinden. Das hat drastische Auswirkungen, erklärt Faraj: „Vielen Frauen wird so der Weg zur Bildung verwehrt.“ Über 14 Wochen hat Faraj an Seminaren und Coachings teilgenommen. „Das tolle an Code >Her< ist es, nicht nur neue Dinge zu lernen, sondern sich auch mit anderen Journalistinnen aus der Region zu vernetzen.“ Vor allem sei dieser Workshop wegen eines Aspekts wichtig: „Da ist jemand, der dich als Frau ermutigt und der dir sagt: ,Du bist gut, du kannst das!‘“

Aufgewachsen in einer ­patriarchalischen ­Gesellschaft Wie wichtig Ermutigungen und Förderung von außen sind, hat Noor Faraj von klein auf erfahren. Sie ist in der Hafenstadt Basra im Süden Iraks groß geworden. Einer Stadt, in deren Gesellschaft eine Frau noch gehorchen muss. „Als Frau hast du nichts zu wollen, du musst dich den Männern fügen“, sagt Faraj. „Und als Frau bist du an allem schuld: Wenn ein Mann dich schlägt, hast du ihn provoziert. Wenn ein Mann dich vergewaltigt, hast du mit deinen Reizen gespielt.“ Immer wieder stößt sie schon als Kind gegen die Mauern des Patriarchats. Es sind Frauen – Lehrerinnen und Nachbarinnen –, die sich für das Mädchen einsetzen. Als die Familie nicht sicher ist, ob sie überhaupt in die Schule gehen soll, geht eine Frau auf ihre Eltern zu. „Sie konnte selbst weder schreiben noch lesen“, erzählt Faraj. „Sie hat meine Schul­ uniform bezahlt und drängte darauf, dass


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Als Frau hast du nichts zu wollen, du musst dich den Männern fügen.

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ich zur Schule muss.“ Bis heute ist sie ihren Unterstützerinnen dankbar. Faraj träumt sich als Teen­ager in eine andere Welt. Als Theaterregisseurin will sie der Realität der konservativen Gesellschaft, dem Krieg entfliehen. Faraj studiert Theaterwissenschaften an der Universität in Basra. Auf die Bühne darf sie nicht, das verwehrt ihr ihre Familie. Deshalb fängt sie an, Theaterstücke zu schreiben. „Durch die Kunst will ich andere mitnehmen in eine andere Realität, die ein wenig Liebe und Leichtigkeit bringt“, sagt Faraj. In ihren Theaterstücken stehen auch Frauen auf der Bühne – ein Affront in Basra, einer Stadt, in der heute vor allem in Religion und Moscheen investiert und darauf geachtet wird, dass Frauen so

Träumte sich als Kind auf die Bühne – heute ist Noor Faraj Theaterregisseurin und Datenjournalistin.

Demonstrantinnen am Internationalen Frauentag in Basra, Südirak, März 2021.

wenig Raum wie möglich in der Öffentlichkeit einnehmen.

Der Traum von Basra, wie es früher war Faraj weiß, dass das früher anders war. In den 60er und 70er Jahren gab es viele Bars und Clubs, über 50 Kinos, ein Konzerthaus und zwölf Theater. Heute zeugen nur alte Postkartenmotive von der damals lebendigen kulturellen Szene. Sie zeigen auch malerische Kanäle wie in Venedig, und eine grüne, aufgeräumte Stadt. Aktuelle Fotos zeigen Müll und Zerstörung. Krieg, Korruption und Fundamentalismus haben Basra zu einer anderen Stadt gemacht.

Vor zwei Monaten ist Faraj in die Hauptstadt Bagdad gezogen. Es war ein Befreiungsschlag. Hier kann sie ein freieres Leben führen als in ihrer Heimatstadt, und hier warten neue datenjournalistische Projekte auf sie. So bewarb sich Faraj zusammen mit einer tunesischen Teilnehmerin von Code >Her< erfolgreich für die vierte Ausgabe von „Visualize 2030“, einem Data Camp und Ideenwettbewerb des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP). „Es gibt noch so viele Themen, zu denen wir Daten ausgraben müssen“, sagt sie. Und auch im Theaterbereich hat Faraj noch viel vor. Wenn die Pandemie vorüber ist, plant sie in Basra eine Theateraufführung – mit Frauen und Männern gemeinsam auf der Bühne.

Daten, Daten, Daten: Code >Her< Aufstiegschancen für Journalistinnen im arabischen Raum sind rar. In Zeiten des ­digitalen Wandels kann jedoch eine Qualifizierung zur Datenjournalistin neue Karriere­ chancen bieten. Die DW Akademie bietet im Rahmen des Projekts Code >Her< Frauen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika Schulungen an. Bislang nahmen Journalistinnen aus Tunesien, Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Jemen und Irak am Kurs teil. Sie erhielten Online-Workshops zum Datenjournalismus und individuelle Coachings. Der Schwerpunkt des Trainings liegt auf der Vermittlung von Kenntnissen der Datenrecherche, der Aufbereitung der Daten bis hin zur visuellen Darstellung. Weitere Themen sind Datensicherheit, Datenethik und der Einsatz von neuen Technologien wie Künstlicher Intelligenz.

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PERSPEKTIVE WECHSELN

Fokus­wechsel nach dem Brexit „Ein Wiedereintritt des ­Vereinigten Königreichs in die EU wird – wenn überhaupt – lange brauchen, und ich fürchte, dass ich ihn nicht mehr erlebe. Er könnte gut 30 Jahre dauern.“ Geradlinig, rational und – der aktuellen Situation ihres Landes zum Trotz – gut gelaunt wirft die britische Abgeordnete Wera Hobhouse für diese ­Weltzeit-Ausgabe einen Blick zurück auf die politischen Entwicklungen im V ­ ereinigten Königreich seit 2019. Und ­erläutert, für welches Thema sie sich künftig primär ­engagieren will.

„Der Brexit ist ein historischer Fehler. Dass ich und gleichgesinnte Brexit-Gegner ihn nicht stoppen konnten, empfinde ich auch als persönliche Niederlage“, schildert Hobhouse das politische Dilemma, das mit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 begann. „Referenda müssen eine einfache ,Ja‘oder ,Nein‘-Entscheidung sein, sonst entsteht ein entsetzliches Kuddelmuddel.“ Das Brexit-Referendum hingegen habe eine zusätzliche Alternative beinhaltet, über die ein „konfuser politischer Diskurs entbrannte“. Die Diskussionen über den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Deal oder irgendeine, nicht definierte Alternative führten zur Forderung eines zweiten Referendums. Rückblickend, sagte Hobhouse, „wäre die einzige Frage, die der Bevölkerung dann hätte gestellt werden können, eine Zustimmung zu oder Ablehnung von Mays Deal gewesen. Bei einer Ablehnung wäre

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Text Vera Tellmann, Head of Corporate Communications

wiederum ein neuer Vorschlag notwendig geworden, der klar mit ,Ja‘ oder ,Nein‘ zu beantworten ist. Demokratie braucht Zeit.“ Seit seinem Amtsantritt im September 2019 habe Premierminister Boris Johnson die konservative Partei „von moderaten Abgeordneten gereinigt“, so Hobhouse. „Trotz ihres Enthusiasmus“ sei es den Oppositionsparteien im Unterhaus nicht gelungen, Johnsons Pläne zu beeinflussen. Von der EU und Brexit-Verhandlungsführer Michel Barnier fühlt sich die Politikerin ebenfalls „verraten“. „Fast zwei Jahre lang

hieß es: Es gibt nur diesen einen Deal oder keinen Deal. Und plötzlich gab es doch noch einen anderen, der innerhalb einer Woche auf dem Tisch lag, nachdem Boris Johnson mit dem irischen Premierminister einen langen Spaziergang gemacht hatte.“ Hobhouse sagt, sie habe nie daran gezweifelt, dass in letzter Minute ein Deal zustande kommen würde und Johnsons „leere Drohungen“, ohne ein Abkommen die EU zu verlassen, nicht ernst genommen. Die Mehrheit der Briten kenne bekanntlich die Einzelheiten des finalen, sehr


­ mfangreichen Brexit-Abkommens nicht, u alle müssten sich schrittweise vortasten. „Die Unsicherheit hängt wie ein Damoklesschwert über der Gesellschaft“, so Hobhouse. Vom 1. Januar 2021 an hätten viele Menschen in Großbritannien deutlich zu spüren bekommen, was der Brexit wirklich bedeutet. Betroffen seien nicht nur der viel diskutierte Fischfang, sondern ­beispielsweise auch Kreativschaffende, Speditionen und Regulierungsbehörden. Viele Unternehmen prüften aktuell, in welchem EU-Mitgliedsstaat sie Büros, Lagerhallen oder Produktionsstätten anmieten oder aufbauen können, um ihre Geschäfte aufrechtzuerhalten. Eine weitere ungeklärte Frage sei, ob Briten, die zusätzlich die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes besitzen, diese langfristig behalten können.

„Schleichender Plattfuß“ Auf die Frage, warum die Bevölkerung nicht gegen die Regierung protestiere, sagte die Politikerin, ein Grund sei die Coronakrise. Die Pandemie verzögere, dass die Auswirkungen des Brexit sichtbar würden und Johnson schiebe die Schuld an Problemen einfach der EU zu. Der zweite Grund: „Die Briten zeichnen sich durch eine positive, flexible Mentalität aus. Und das ist ja auch genau, was ich an ihnen schätze,“ so Hobhouse. Sie

Wera Hobhouse ist seit 2017 Abgeordnete des britischen Unterhauses für die Partei der Liberal Democrats, die gegen den Brexit war. Sie ist Sprecherin der Liberalen für die Themen Justiz, Frauen und Gleichstellung und erreichte eine Gesetzespräzisierung gegen sexuelle Belästigung durch Upskirting. Geboren und aufgewachsen in Deutschland, lebt die ehemalige Radiojournalistin, Künstlerin und Lehrerin seit 1990 in England. Vor 15 Jahren tauschte sie die deutsche gegen die britische Staatsbürgerschaft ein.

©©picture alliance/dpa/PA Wire/Chris J. Ratcliffe

Wegsehen hilft nicht: Die Regierung Johnson nehme das Thema Klimakrise nicht ernst, so Wera Hobhouse. Hier der Premierminister mit Naturforscher David Attenborough beim UN-Klimagipfel 2020.

bezeichnet die Situation als schleichenden Plattfuß („slow puncture“): „Die Leute werden sich noch angeschmiert fühlen.“ Hobhouses Hoffnung auf einen politischen Wandel ist aufgrund des britischen Wahlrechts und Parteiensystems gering. Ihre Partei der Liberal Democrats, die 2019 11,5 Prozent der Wählerstimmen gewinnen konnte, hätte im Deutschen Bundestag 80 Sitze, im Unterhaus sind es elf. Diese entsprechen nur zwei Prozent aller Sitze im Unterhaus. Zudem seien Koalitionen der sehr unterschiedlichen Oppositionsparteien – darunter Labour, die britischen Grünen und die schottischen Nationalisten – kaum denkbar, es gäbe wenig Zusammenhalt und keine gemeinsame Strategie. Hobhouse wagt einen Blick in die Glaskugel: Sie könne sich durchaus vorstellen, dass nach den Wahlen in Schottland im Mai 2021 der Ruf nach einem zweiten EU-­Referendum lauter werde. Diesem müsste jedoch die Regierung in London zustimmen. In Nordirland halte sie mittelfristig eine engere Bindung an das EU-Mitglied Republik Irland als an Großbritannien für ein realistisches Szenario. Die Abgeordnete zeigt sich gelassen: Vielleicht müsse das Vereinigte Königreich künftig nicht zu den starken Mächten auf der Welt gehören, „vielleicht kann man auch in einem Land ohne politischen Einfluss gut leben.“

Britische Medien in der Krise Es sei „kein Wunder, wenn die BBC auf Schmusekurs mit der Regierung geht“, da sie von deren Unterstützung finanziell abhängig sei, sagt Hobhouse auf die Frage, wie sich die britischen Medien in Krisenzeiten verhielten. Es komme auf die Persönlichkeiten an – einige Journalistinnen und Journalisten seien durchaus objektiv, fakten­orientiert und kritisch. Liberale Medien hätten es allerdings schwer, neben den EU-feindlichen Boulevardblättern und Plattformen von Rupert Murdoch zu bestehen. Hobhouse: „Ich habe zwar die Hoffnung, dass die Mehrheit im Land progressiv ist, sie ist aber momentan zu schwach.“

Drängend: der Kampf gegen den Klimawandel „Die Klimakrise wird an Dominanz gewinnen“, so Hobhouse. „Und mir persönlich ist sie viel wichtiger als der Brexit.“ Die Regierung Johnson nehme das Thema nicht ernst, dabei sei eine „Zero Carbon“-Strategie unerlässlich. „Als Politikerin braucht man ja immer ein Schwerpunktthema. Nach dem Brexit fokussiere ich mich jetzt ganz auf den Klimawandel.“

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PERSPEKTIVE WECHSELN

Vorbild für Geflüchtete Eine ungewöhnliche Karriere: Mit 21 floh Bjeen Alhassan vor dem Krieg aus Syrien nach Deutschland, sechs Jahre später erhielt sie im Bundeskanzleramt den Nationalen Integrationspreis aus den Händen von Bundeskanzlerin Angela Merkel. ­Alhassan ist ein Vorbild für viele geflüchtete Frauen. Text Bjeen Alhassan

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Christoph Jumpelt REDAKTION

Ivana Drmić, Steffen Heinze G E S TA LT U N G

Lisa Jansari, Jorge Loureiro BILDNACHWEIS

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MKL Druck GmbH & Co. KG Das Papier für diese Weltzeit wurde aus Holz erstellt, das aus verantwortungsvoller, nachhaltiger, europäischer Waldwirtschaft stammt. Es wird auf Düngemittel und ­Pestizide verzichtet und der Bestand wird wieder aufgeforstet. WERBUNG IM PROGR AMM

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„Lernen mit Bijin“ – in ihrer während des Corona-Lockdowns ­gegründeten Facebook-Gruppe hilft Bjeen Alhassan arabisch- und kurdischsprachigen Frauen bei der Integration in Deutschland.

2011 war ein Jahr, das viele Syrerinnen und Syrer nie vergessen werden. Der Ausbruch des Kriegs in meiner Heimat hat einen demographischen Wandel ausgelöst. Bildung für Kinder und Jugendliche hatte in der kurdischen Region in Nordostsyrien einen hohen Stellenwert. Dort, wo ich geboren bin, in Qamishli, gibt es keine staatliche Universität. Für mein Studium hätte ich in eine größere Stadt ziehen müssen wie zum Beispiel Aleppo oder Damaskus. Dies war durch den Krieg nicht mehr möglich. Vor dem Krieg haben viele Frauen meist erst nach ihrer Ausbildung oder ihrem Studienabschluss geheiratet. Doch dann entschieden sich manche Syrerinnen früher für den sogenannten „Safe Haven“, den Schritt zur Heirat. Auch 2015 war ein einschneidendes Jahr für viele syrische Bürger. Familien flohen vor dem Krieg nach Deutschland, darunter zahlreiche junge Frauen, die mit Mitte 20 bereits zwei bis drei Kleinkinder hatten – oder sie anschließend in Deutschland bekamen. Diese Frauen verfügten in vielen Fällen über einen Hochschulabschluss oder hatten nach der Schule zumindest einige Semester studiert. Um geflüchteten Frauen den Start in der neuen Wahlheimat zu erleichtern, habe ich während des ersten Lockdowns in der Coronakrise meine Facebook-Gruppe ­„ Lernen mit Bijin“ gegründet. Ich wollte Frauen in

ähnlichen Situationen, wie die meine damals, unterstützen. Durch die Pandemie war es vielen nicht möglich, Sprachkurse zu besuchen. Nun vermittle ich ihnen online auf Kurdisch und Arabisch die deutsche Grammatik. Die Resonanz hat mich überwältigt: Viele Frauen suchten eine Möglichkeit, Deutsch zu lernen, eine Ausbildung zu beginnen oder ihr Studium fortzusetzen. In Deutschland gibt es zwar viele Integrationsangebote, aber nur wenige finden den Zugang. Ich wünsche mir, dass Frauen aus dem Nahen Osten so akzeptiert werden, wie sie sind. Eine deutsche Frau wird auch nicht verwundert gefragt: „Du wohnst allein. Darfst du das denn?!“ Und Frauen wie ich möchten das genau so wenig. Wir wollen als Deutsche

Bjeen Alhassan wurde 1992 in Qamishli, einer kurdischen Stadt in Nordostsyrien, geboren. Von 2010 bis 2013 absolvierte sie an der Universität Damaskus ihren Bachelor in Wirtschaft. 2014 flüchtete sie mit 21 Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland. Hier hat sie Deutsch gelernt und ihren Master in Business Management auf Deutsch absolviert.


Die unermüdliche Insel-Lehrerin

wahrgenommen werden, ein Teil dieser Gesellschaft sein und uns hier zuhause fühlen. Nur so verhindern wir Parallelgesellschaften. Ich bin Deutsche, trotz meiner Hautfarbe, meiner Religion und meiner Herkunft. Integration bedeutet nämlich nicht, die eigene Kultur aufzugeben – eine der Haupt­ sorgen von Familien aus dem Nahen Osten. Integration bedeutet, das Land, in dem man

In Griechenland sind nur 113 der über 3.000 Inseln bewohnt, darunter das winzige Eiland Arki in der Ägäis. Dort traf unser DW-Reporter auf eine engagierte Pädagogin. Text Gunnar Köhne, DW-Reporter

lebt, zu akzeptieren, zu respektieren und sich konstruktiv einzubringen. Seit 2014 fliehen Menschen vor dem Krieg in Syrien. Viele Geflüchtete in Deutschland haben Deutsch gelernt, eine Ausbildung oder ein Studium absolviert und erste Arbeitserfahrung gesammelt. Sie tun sich leichter mit bürokratischen Hürden und Klischees und können so ein Vorbild für andere geflüchtete Menschen in Deutschland sein. Die Entscheidung eines Jobcenter-Mitarbeiters oder der Agentur für Arbeit, die Finanzierung einer Weiterbildung abzulehnen, kann Geflüchteten die Zukunft verbauen. Und Betroffene wissen oft nicht, dass sie gegen diese Entscheidung Widerspruch einlegen können. Wir brauchen mehr Solidarität. Unter Frauen und Männern. Das kann überall sein, auf der Straße, in der Universität oder in einer Behörde. Wir können in der Gesellschaft mehr Vertrauen aufbauen – und uns zu Hause fühlen. „Das ist nicht mein Problem“ ist der ignoranteste Satz. Dieses Land ist unser (neues) Zuhause; Wenn wir zusammenhalten, können wir es zu einem besseren Ort machen. Mit Solidarität und Verständnis schaffen wir das. Viele geflüchtete Frauen wünschen sich, nicht in Schubladen gesteckt zu werden. Eine selbstbewusste Frau kann viel zurückgeben und trägt dazu bei, eine starke Zukunft für unser Land mit aufzubauen.

©©DW/G. Köhne

©©DW

Arki ist sieben Quadratkilometer groß und hat 40 Einwohner. Straßen gibt es nicht, Autos deshalb auch nicht. Aber es gibt eine Schule. Noch. Maria Tsialera ist die einzige Lehrerin und der zwölfjährige ­Christos ihr einziger Schüler. Er wird in allen Fächern unterrichtet: Erdkunde, Musik und Mathematik. Dass Christos auch die Pausen allein auf dem Schulhof vor dem schmucklosen, weiß getünchten Flachbau verbringen muss, tut der 56-Jährigen leid. „Aber wir sind beide in einer ähnlichen Situation“, sagt sie lächelnd. „Ich hätte auch gern Kolleginnen und Kollegen. Die besondere Situation hat uns zusammengeschweißt. Ich konnte Christos immer etwas Abwechselung bieten. Wir haben andere Schulen besucht und uns auf anderen Inseln Kino- und Theatervorstellungen angeschaut.“ Christos wird im Sommer seine sechste Grundschulklasse in Arki beenden. Für die weiterführende Schule muss er auf die größere Insel Patmos wechseln. Ihren Arbeitsplatz wechseln müsste dann auch Maria Tsialera. Es sei denn, ihr gelingt es, bis dahin neue Kinder für ihre kleine Schule zu finden. Dafür müssten aber erst einmal junge Familien auf die Insel ziehen.

DW-Autor Gunnar Köhne mit Lehrerin Maria Tsialera und Christos, dem einzigen Schüler der Schule auf Arki.

Jeden Abend sitzt die Lehrerin am Computer und schreibt Mails – auf der Suche nach diesen umzugswilligen Familien. Ihre Idee: Sponsoren aus der Wirtschaft. „Ich habe eine griechische Familie in Wuppertal gefunden, sie war auch schon hier. Nun versuche ich, auch mit Hilfe von Aufrufen in den Medien, ein griechisches Unternehmen zu finden, das den Umzug und einen Arbeitsplatz finanziert.“ Bislang sind ihre Versuche gescheitert. Dafür bekam sie nach Ausstrahlung eines DW-Beitrags über Arki ermutigende Zuschriften und Geschenke aus Deutschland. Ein griechisches Nachrichten-Portal veröffentlichte einen Beitrag über die engagierte Lehrerin. Die meisten Bewohner von Arki sind älter als 60 Jahre, die Insel droht langsam „auszusterben“. Maria Tselera: „Wenn es mir gelingt, die Schule zu retten, dann rette ich die ganze Insel.“ dw.com/av-55751716

Deutsche Welle

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W E LT A N S C H AU E N

©©DW/M. Müller

Mariel Müller bei den UN-Friedenstruppen in Beni im Osten der Demokratischen Republik Kongo, Februar 2021. In der Region kommt es regelmäßig zu Angriffen von bewaffneten Milizen auf die Bevölkerung.

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Berichte vom Horn von Afrika Seit Sommer 2020 berichtet Mariel Müller aus Nairobi, Kenia. In der Weltzeit spricht die ­Ostafrika-Korrespondentin der DW über ermutigende Begegnungen, ihre Neugier und ­vermeintliche Hoffnungsträger. Text Ivana Drmić, DW-Redakteurin

Soziale Ungerechtigkeit kennt Mariel Müller von Verwandtenbesuchen in Peru in Kindheitstagen. Die Ungleichheit im Land weckte in ihr den Wunsch, beruflich etwas zu machen, „das weniger privilegierte Menschen stärkt“. Sie entschied sich für ein Studium der Ethnologie, Sprache, Kultur und Literatur in München. 2013 drehte sie in Istanbul mit zwei Kommilitonen einen Dokumentarfilm, zufällig kurz vor den Gezi-Park-Protesten. „Diese ersten Gehversuche mit Kamera, Editing und Storytelling machten mir viel Spaß und regelrecht

Seit September 2020 berichtet Mariel Müller für die DW aus Kenia und deckt die gesamte Region Ostafrika ab. So berichtete sie im Rahmen des Tigray-Konflikts in Äthio­ pien über die Zustände von Geflüchteten in überfüllten Flüchtlingscamps an der sudanesisch-äthiopischen Grenze. „Abstand halten ist dort unmöglich. Trotzdem war es wichtig, die Geschichten der Geflüchteten, den einzigen Augenzeugen des Konflikts, zu denen wir Zugang hatten, zu hören und hörbar zu machen. Aus Tigray ist nichts nach ­außen gedrungen. Die äthiopische Regie-

Es ist wichtig, die Geschichten von Geflüchteten, häufig die einzigen ­Augenzeugen eines Konflikts, zu hören und hörbar zu machen. ,­süchtig‘.“ Auf einem kleinen Filmfestival gab es dafür sogar eine Auszeichnung. „So falsch kann ich mit meinem Berufswunsch nicht liegen“, dachte sich Mariel Müller damals. Nach einer zweijährigen journalistischen Ausbildung bei einem Studierendenradio erhielt sie ein Stipendium im Bereich Video­journalismus. Danach folgten Praktika unter anderem bei der Süddeutschen Zeitung, im ZDF-Studio in Nairobi und bei der DW in Washington. Die damalige und jetzige ­Washington-Korrespondentin Ines Pohl ermunterte sie damals, sich auf das Volontariat zu bewerben.

rung hat Telefonverbindungen und das Internet gekappt, ausländischen Journalisten wurden Presseakkreditierungen verweigert“, so Müller. Die zunehmende Einschränkung der Pressefreiheit sowie die Gewalt an Journalistinnen und Journalisten sei die größte Herausforderung in der Region, so Müller. „Sehr restriktiver oder manchmal gar kein Zugang für Journalistinnen und Journalisten bei Ereignissen wie den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vergangenen Oktober in Tansania erschweren unsere Arbeit massiv.“ Dazu komme die Gewalt ­ gegen

Medienschaffende. Ein Beispiel: „In Uganda hatte ein Polizeichef vor der Präsidentschaftswahl in einem Interview offen zugegeben, dass Polizisten Journalisten verprügeln würden, angeblich, um sie davor zu bewahren, an gefährliche Orte zu gehen.“ Die größte politische Veränderung, die Mariel Müller in den vergangenen fünf Monaten erlebt hat, sei der Wandel des äthiopischen Premierminister Abiy Ahmed vom gefeierten Friedensnobelpreisträger zum Kriegsherrn gewesen. „Äthiopien hat sich vom Stabilitätsanker und Hoffnungsträger am Horn von Afrika zum Schauplatz eines Konflikts entwickelt, der Tausende Opfer gefordert und laut Hilfsorganisationen über zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat. Jetzt droht auch noch eine Hungersnot. Das sollte die internationale Gemeinschaft mit Blick auf die Hungerkatastrophe von 1984 nun mit allen Mitteln verhindern.“ Die vielen inspirierenden B ­ egegnungen erweitern immer wieder Mariel M ­ üllers Pers­pektive. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Begegnung in einem Flüchtlingscamp im Sudan: „Ich traf eine Lehrerin, die gemeinsam mit einem siebenjährigen Schüler geflohen war. Seine Mutter hatte die Pädagogin darum gebeten, das Leben des Jungen zu schützen. Die Mutter selbst blieb in Tigray zurück, weil sie ihre anderen Kinder suchen wollte. Die Lehrerin nahm den Jungen auf, als wäre er ihr eigener Sohn. „Begegnungen wie diese zeigen, wie wichtig Zusammenhalt und Menschlichkeit in solchen traumatischen Extremsituationen sind.“

Deutsche Welle 43


Disruption and Innovation S AV E T H E DAT E

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Berichte vom Horn von Afrika

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Die unermüdliche Insel-Lehrerin

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Vorbild für Geflüchtete

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InfoMigrants jetzt in sechs Sprachen

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Drei Streams, zwei Tage, ein Global Media Forum

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