KNORKE

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Leben und Menschen

Sind Hirntote wirklich tot? Durch die Zustimmung des Bundesrates hat das neue Transplantationsgesetz im vergangenen Jahr die letzte Hürde genommen. Aktuell wird jeder Bürger ab 16 Jahren per Brief von seiner Krankenkasse dazu aufgefordert, zu dem Thema Organspende Stellung zu beziehen. Eine Diskussion, in der die meisten Deutschen eine klare Meinung äußern, ohne sich tatsächlich damit auseinandergesetzt zu haben. Spenderorgane können nur entnommen werden, wenn ein Mensch für hirntot erklärt worden ist. Doch wie tot ist ein Hirntoter wirklich? Max-Marian Unger Die Intensivstation in der medizinischen Hochschule Hannover: Der diensthabende Arzt führt dem 15-jährigen Christian Greinert eine Sonde in die Luftröhre ein. Purer Sauerstoff dringt in den Körper des Jungen. Der Mediziner gibt der Schwester ein Zeichen. Die künstliche Beatmung wird für sieben Minuten unterbrochen. Der Kohlenstoffdioxidgehalt im Blut steigt, bis er sich verdoppelt hat. Eine spontane Schnappatmung bleibt aus. Christians Augen bleiben geschlossen. „Der Körper und die Organe sind einwandfrei funktionstüchtig“, sagt der Arzt zur Krankenschwester. Sie nickt und geht. Er folgt ihr auf den Flur. Im Wartezimmer wartet die Familie von Christian unruhig auf das Ergebnis. Der Arzt betritt den Raum: „Ihr Sohn ist tot.“ Christian Greinert ist mit dem Fahrrad von der Schule auf dem Weg nach Hause. Er wird von einem Auto erfasst, über die Motorhaube geschleudert und bleibt auf dem Gehweg liegen. Äußerlich sind kaum Verletzungen zu erkennen. Der Wiederbelegungsversuch von den Sanitätern vor Ort ist erfolgreich. Mit einem Hubschrauber wird Christian in die medizinische Hochschule nach Hannover geflogen. Das war vor 28 Jahren. „Diese Aussage, er sei tot, habe ich überhaupt nicht begreifen können. Denn ich habe ihn angefasst: Er war warm und ich habe gesehen, dass er beatmet wurde. Alle meine Vorstellungen von Leben waren in Bewegung. Er wurde behandelt wie jeder Intensivpa-

tient. Da gab es keinen Stillstand, keinen Tod“, erzählt Christians Mutter heute. Renate Greinert lebt mit ihrem Mann in Wolfsburg. Verschiedene Accessoires anderer Kulturen im Wohnzimmer zeugen von Reisen durch die ganze Welt. Lächelnd sitzt sie am Esstisch und umschließt mit beiden Händen ihre Teetasse. Damals verschweigen ihr die Ärzte, dass ihr Sohn hirntot sei. „Unter Hirntod versteht man den endgültigen und nicht wiederbringbaren Ausfall des Großhirns, des Zwischenhirns, des Kleinhirns bis hinein in den Hirnstamm. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten“, erklärt Professor Ulrich Frei, ärztlicher Direktor der Charité in Berlin. Er kennt Renate Greinert und die Geschichte ihres Sohnes. In der eingangs beschrieben Szene hatte der Arzt den sogenannten Apnoe-Test durchgeführt. Der letzte Test, um den Hirntod eines Menschen eindeutig festzustellen. „Das ist eine relativ komplizierte Untersuchung, da man den Patienten nicht schädigen darf“, erläutert Frei. Der Spezialist für Nierentransplantation erläutert, dass für eine vollständige Diagnose des Hirntodes mehrere Schritte notwendig sind. Zuerst wird durch verschiedene Tests der Reflex der Augen getestet. Mit einer Lampe wird auf die Pupille geleuchtet, der Kopf des Patienten geschüttelt oder der Augapfel vorsichtig mit einem Wattebausch berührt. „Ist der Patient hirntot, reagiert dieser

auf keine der erfolgten Tests, da die Reflexe, die normalerweise durch den Hirnstamm geregelt werden, nicht mehr funktionieren“, erklärt Frei. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird eiskaltes Wasser in den Gehörgang gespült, um das Gleichgewichtsorgan zu prüfen. „Normalerweise führt dies, hervorgerufen durch die Irritation des Vestibularapparates, zu einem Nystagmus, dem Flattern des Augapfels zu einer Seite hin. Auch das fällt aus.“ Des Weiteren würde das Schmerzempfinden im Gesicht durch das Zusammenkneifen der Nasenscheidewand mit Hilfe einer Klemme geprüft. Indem eine Sonde in den Hals hinabgelassen wird, werden Schluck- und Würgereflexe getestet. Aus medizinischer Sicht ist also alles getan, um Zweifel an der Diagnose vorzubeugen. Doch die Debatte rund um die Diagnose Hirntod ist kontrovers. Der Mensch als solcher ist durch die Einheit aller Organe bestimmt. Das Gehirn ist nicht als allein verantwortliche Steuereinheit zu verstehen, sagen die Kritiker. Sie verstehen den Tod als Prozess. Einen wichtigen Prozess im Leben. Daher ist ein Hirntoter allenfalls ein Sterbender und kein Toter. Nein, das Gehirn sei mit einem zentralen Steuerwerk für den Organismus gleichzusetzen. Ohne Gehirn ist keine Atmung, sind keine Reflexe möglich. Der Mensch ist zwar physisch vorhanden, kann sich aber in keiner Form mehr ausdrücken, sagen die HirntodBefürworter. Für Renate Greinert steht fest: „Der


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