KNORKE

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen, liebe Leser.

Es war ein gewöhnlicher Montagmorgen kurz vor Weihnachten: Wir Studenten waren gedanklich schon lange in den Ferien. Uns erwartete ein neues Modul mit unserem Journalismus-Professor John A. Kantara und nach doch sehr theoretischen Modulen freuten wir uns wieder auf das Schreiben mit John. Denn John ist unser „Showman“. Immer gut gelaunt und voller Tatendrang. Ein Dozent, der stets versucht, uns zu fordern und uns dabei auch gerne mal ins kalte Wasser wirft. So auch an jenem Montagmorgen – was uns alle schnell aufmerksam werden ließ. Voller Euphorie eröffnete er uns eine neue Projektidee: Wir gestalten und veröffentlichen ein eigenes Magazin, von der Konzeption bis zur Drucklegung – und das innerhalb von nur knapp drei Monaten. Definitiv eine Herausforderung und definitiv eine verrückte Idee – die an sich gar nicht so verrückt ist. Denn wir, die DEKRA Hochschule Berlin, sind eine Medienhochschule - und sollte nicht jede Hochschule mit Fachbereich Journalismus eine eigene Zeitschrift haben? Ja, sollte sie! 18 Journalismus-Studenten, 18 verschiedene Charaktere, 18 verschiedene Meinungen und Interessen und ein zu gestaltendes Magazin. Es gibt wohl einfachere Unterfangen. In demokratischen Diskussionsrunden kamen wir allerdings schnell auf einen Nenner. Unsere Dozenten Kathrin Wüst und Christian Rothenhagen standen uns dabei beim Texten und letzterer beim Designen des Magazins zur Seite. Mit viel Fleiß und Arbeit – aber auch mit einer Menge Spaß – haben wir es schließlich geschafft: Eine eigene Publikation. „KNORKE“ – veröffentlicht in unserem Namen, mit unseren Artikeln und Ideen. Natürlich forderte das Magazin seinen Tribut, doch am Ende konnten wir alle stolz auf uns sein. Nicht, weil uns die Möglichkeit einer Publikation gegeben worden ist, sondern vor allen Dingen, weil wir sie auch richtig zu nutzen gewusst haben. Doch warum unser Magazin lesen? Von muslimischen Homosexuellen über Gewalt in U-Bahnen bis hin zu König Ödipus: durch unsere unterschiedlichen Interessen und unter den wachsamen Dozentenaugen Rothenhagens entstanden in einer gestalterisch klaren Linie sechs verschiedene Ressorts, die die Themenvielfalt unseres Magazins deutlich machen. Zum Schluss will ich Ihnen noch eines mitteilen: Letztendlich machen gerade wir – dieser bunte Haufen voller Individuen mit den verschiedensten Ansichten und Persönlichkeiten – dieses Magazin besonders, vielfältig und lesenswert. Unser Magazin ist knorke und wir sind es erst recht! Ihre Chefredakteurin,

Samantha J. Walther

*Es ist darauf hinzuweisen, dass Artikelfotos keine Bildunterschrift aufweisen. Hierfür findet sich ein eigens angelegter Bildindex auf Seite 91 wieder.

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Leben und menschen

Politik und wirtschaft

Kultur

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Sehen Blinde immer schwarz?

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Dem Deutschen Volke?

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Jonas Art – Ein Portrait

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Sternenkinder – Ein Leben so kurz wie das Leuchten einer Stern- schnuppe

32

Wer billig kauft, zahlt doppelt. Wer teuer kauft, erst recht!

46

Hinter den Kulissen

50

Ödipus der „Motherfucker“

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Das Internet – Freiheitstechnologie und Manipulationsinstrument

52

Freude durch Melancholie

36

Die Flucht der Akademiker – Wer darf in Deutschland arbeiten?

54

Fraktus – Die Urväter des Techno

37

Stechen, Schlagen, Treten – Gewalt gehört schon fast zum Großstadt-Alltag

56

Ein Andermal – Musikalische Tiefenwirkung

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Stadt, Land, Waffe

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Schläger an den Gleisen

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Zwischen Ausbildung und Schwangerschaft

16

Das Spiel mit der käuflichen Liebe – wie hoch ist der Preis wirklich?

20

Alles, was mal war im Leben, ist jetzt weg

22

Vergib mir meine Sünden Allah, denn ich bin schwul!

24

Zwei Leben mit dem Holocaust

26

Sind Hirntote wirklich tot?

S. 08

S. 30

S. 50


wissenschaft

lifestyle

60

70

BiOriental in Neukölln

74

Lebende Leinwände

76

Diagnose: Liebeskummer

78

Einmal im Monat

80

Glitzer. Glamour. Fashion Week

64

66

S. 64

Lillys Lebenstraum: 40 werden

Zukunftsvision – Maschinen durch Gedanken steuern

Eine Katastrophe – der Wegbereiter einer neuen Zukunft?

S. 70

sport

84

Das Bruderduell Willkommen beim Derby, willkommen in Berlin!

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Und die Bengalos brennen weiter

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Ich bin schwul und das ist auch gut so?

90

Impressum

91

Bildindex

S. 86

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Leben und Menschen

Sehen Blinde immer schwarz? Die farbige Welt. Laura Graichen

SternenkinderEin Leben so kurz wie das Leuchten einer Sternschnuppe

Wie schlimm es sein muss, ein Kind zu verlieren, können wohl nur die betroffenen Eltern selbst wissen. Anna Sophie Triebe

Zwischen Ausbildung und Schwangerschaft Der Schock für fast jeden Teenager. Ein positiver Schwangerschaftstest. Die wichtigste Entscheidung: Bekommen oder nicht bekommen? Zwei Mädchen erzählen ihre Geschichten. Selin Kahya

Das Spiel mit der käuflichen Liebe Wie hoch ist der Preis wirklich? Kimberley Bernard

Alles, was mal war im Leben, ist jetzt weg Die Gehirnfunktionen lassen nach. Ein Angriff auf alle unsere geistigen Fähigkeiten. Sprechen, denken und lernen fallen schwer. Orientierungsprobleme sind Alltag. Schon jetzt leben in Deutschland 1,3 Millionen Menschen mit der Erkrankung Demenz, 42.000 in Berlin. Selma Türhan

Vergib mir meine Sünden Allah, denn ich bin schwul! Homosexualität ist in unserer westlichen Gesellschaft zur Normalität geworden. Doch wie denkt die muslimische Welt darüber? Aynur Özkan

Zwei Leben mit dem Holocaust

Gert Schramm und Sally Perel erzählen, wie sie den Krieg überlebten. Jessica Küppers und Daniel Jahn

Sind Hirntote wirklich tot? Spenderorgane können nur entnommen werden, wenn ein Mensch für hirntot erklärt worden ist. Doch wie tot ist ein Hirntoter wirklich? Max -MarianUnger

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leben und menschen

Sehen blinde immer schwarz? Laura Graichen

Die U-Bahn beschleunigt, durch die stehende Menschenmasse fährt ein Ruck. Die Reibung des Zuges auf den Schienen erzeugt ein unangenehmes Quietschen, das durch den Spalt des geöffneten Fensters dringt. Begleitet wird dieser ohrenbetäubende Lärm nur von diversen Bässen, die durch die zahlreichen Kopfhörer der Passanten nach außen dröhnen. Zig verschiedene Parfums, der starke Geruch einer Deo-Schweiß-Mischung und der beißende Gestank ungepflegter Mundhöhlen vermengen sich zu einer unangenehm stinkenden Wolke, die wie ein Teppich über den Fahrgästen schwebt und beinahe alle Sinne zu vernebeln droht. Ich muss meine Nase rümpfen und vergrabe mein Gesicht in meinem Schal, um dem penetranten Gestank zu entfliehen. Mein Blick bleibt auf dem jungen Mann mir gegenüber haften. Seine neonfarbenen Sneakers haben gleich meine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Ich mustere ihn so unauffällig wie möglich. Sein pechschwarzes Haar fällt in unzähligen Locken in sein Gesicht. Seine Haut ist ebenmäßig und karamellfarben, die Wangen leicht rosig. Wahrscheinlich durch die Eiseskälte, die diesen Morgen schon winterlich erscheinen lässt. Sein makelloses Gesicht wird durch einen dunklen Dreitagebart gerahmt. Unter seinem linken Auge versteckt sich ein kleiner Leberfleck. Er sieht mir direkt ins Gesicht. Ich bin wie gebannt und merke, dass mir die Röte in die Wangen steigt. Hellblaue Augen starren mich an und scheinen mich zu durchdringen. Dieses helle Blau habe ich sonst nur an Sommerta-

gen am Himmel entdecken können, wenn keine einzige Wolke es wagt, ihren weißen Schleier über den Horizont zu ziehen. Er entblößt eine Reihe strahlendweißer Zähne und schenkt mir ein Lächeln, bevor er die Bahn verlässt und seinen Platz für eine ältere Frau freigibt. Sie lässt sich erschöpft auf die Sitzbank fallen und atmet schwer aus. Sie richtet ihren beigen, knöchellangen Rock und streicht ihr ebenfalls beiges Jackett glatt. Tiefe, furchenartige Falten ziehen sich über ihre Stirn. Ihre grauen Augen wirken trüb und ausdruckslos, ebenso wie ihre welligen, kurzen, grauen Haare. Ein kräftiger Schlag gegen meine Wade lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Genervt stöhne ich auf. Ich drehe mich zur Seite und will gerade meinen Frust zum Ausdruck bringen, als ich noch rechtzeitig den weißen, langen Stock mit der Kugel am Ende auf dem Fußboden bemerke. Ein Blindenstock. Ich kann mich gerade noch bremsen, bevor ich den Blinden für sein Versehen anraunze. Er setzt sich in einer flüssigen Bewegung neben mich und platziert den Stock zwischen seinen Beinen. Den Widerstand durch meine Wade und mein Stöhnen muss er bemerkt haben, denn er dreht sich vorsichtig in meine Richtung und entschuldigt sich höflich. „Das macht nichts.“ Ich fühle mich schlecht. Ohne den Blindenstock und die Sonnenbrille, die seine leblosen Augen vor den Blicken Neugieriger schützen soll, würde man ihm nicht ansehen, dass er blind ist. Er ist älter, vielleicht Mitte 60. Er trägt

schlichte, dunkle Jeans, ein hellblaues Hemd, das bis oben zugeknöpft ist, und einen schwarzen Wintermantel. Er hat kurz geschorene, hellgraue Haare und leichte Stoppeln, die sein Kinn umspielen. Auf seinen rosigen Lippen liegt ein leichtes Schmunzeln. Er sieht zufrieden und ausgesprochen freundlich aus. Ich fühle mich nicht wohl dabei, ihn zu beobachten und wende den Blick ab. Wie man sich als Blinder wohl fühlen muss? Der Mensch nimmt über seine fünf Sinne alle Eindrücke der Umwelt wahr. Das Auge erfasst dabei 50% aller Sinneseindrücke. Ein menschliches Auge kann 150 Spektralfarben bewusst unterscheiden und 16,7 Milliarden Farben wahrnehmen. Ein blinder Mensch kann also nur die Hälfte aller Eindrücke wahrnehmen und wird nie eine einzige Farbe sehen können. Bei diesem Gedanken läuft mir ein Schauer über den Rücken. Oft haben wir uns als Kinder die Frage gestellt, welche Behinderung man am ehesten in Kauf nehmen würde: blind sein oder taubstumm. Ich habe mich immer für taubstumm entschieden. Als Taub-Stummer hat man viele andere Möglichkeiten, sich zu verständigen. Ein Blinder hat nie die Möglichkeit zu sehen. Er kann sich nur das, was andere sehen, beschreiben lassen. Ob man diese ganze Vielfalt an Farben überhaupt mit Worten beschreiben kann? Wenn er mich jetzt bitten würde, all die Farben, die auf mich wirken, zu beschreiben, wüsste ich keine Erklärung. „Das helle Blau Ihres Hemdes ist ähnlich, wie das der Augen des jungen

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Mannes vorhin. Oder aber wie das des Himmels an sonnigen Sommertagen.“ Woher aber soll ein Blinder wissen, wie die Farbe des Himmels aussieht? Er konnte ihn nie sehen, Vergleiche bringen also nichts. Ich schaue an mir und ihm herunter und überlege, welche Farbe ich beschreiben könnte. Blinde können nichts sehen, sehen sie also schwarz, so, als würde man nachts in einem stockfinsteren Raum die Augen ganz fest zukneifen? Ich gebe mich ganz meiner Fantasie hin und stelle mir ein Gespräch mit dem blinden Mann über Farben vor. Ich würde wohl antworten: „Sie tragen eine Hose und eine Winterjacke, beide sind schwarz. Schwarz ist aber keine Farbe, sondern eine Farbempfindung. Mein Kunstlehrer sagte immer: „Schwarz gehört zu den unbunten Farben. Schwarz ist keine eigene Farbe, sondern die Abwesenheit von Farben.“ Sie wissen sogar wie schwarz aussieht, da Sie es jeden Tag sehen. Morgens, wenn Sie aufwachen und abends, wenn Sie ins Bett gehen. Schwarz wird vor allem mit Trauer und Tod in Verbindung gebracht, deswegen sollten Sie sich farbenfroher kleiden.“ „Ich danke Ihnen. Aber sagen Sie - was bedeutet farbenfroh?“


Leben und menschen

Sternenkinder – Ein Leben so kurz wie das Leuchten einer Sternschnuppe Es sind die ganz Kleinen, die sich schon verabschieden, bevor das Leben begonnen hat. Sie werden von ihren Eltern oft „Sternenkinder“ genannt. Wie schlimm es sein muss, ein Kind zu verlieren, können wohl nur die betroffenen Eltern selbst wissen. Anna Sophie Triebe Der Wind pfeift und die kleinen Windräder fangen an, sich schnell zu drehen. Glockenspiel. Dieses bunte Plätzchen auf dem alten St.-MatthäusKirchhof in Berlin ist der Garten der Sternenkinder, Bernd Bossmanns Herzensprojekt. Der Krankenpfleger, Akrobat, Schauspieler, Gastronom und Bestatter hat es sich zur Aufgabe gemacht, die ganz Kleinen nach ihrem Tod zu begleiten. Vor drei Jahren hat Bernd Bossmann ein Bestattergewerbe angemeldet, um Sternenkinder zu begraben. Soll das einen Spielplatz darstellen? - „Nein, eher einen Kindergarten.“, verneint Bossmann und führt fort, „Harmonie. Bunt. Spielzeug. Es sind Kinder!“

Ein junges Paar steht vor einem Grab im Garten der Sternenkinder. Zum ersten Mal standen Katrin und Walther schon während der Schwangerschaft hier. „Da war ich am Ende des vierten Monats, da hat Lilly auch schon gestrampelt. Das war ganz absurd, den Ort ihres Todes zu suchen, während sie gerade wächst und gedeiht“, erzählt Katrin. Bei ihrer Tochter Lilly wurde im vierten Monat der Schwangerschaft ein genetischer Schaden festgestellt. Die Prognose der Ärzte: Das Kind wird im Mutterleib sterben. Die Eltern standen vor der Frage: Abtreiben oder den Dingen ihren Lauf lassen? Sie war ja schon im vierten Monat, das hätte bedeutet Calium-Chlorid Spritze direkt ins Herz durch die Bauchdecke. „Diese

Vorstellung habe ich mir tatsächlich oft gemacht. Ich konnte nicht den Henker für meine Tochter spielen“, sagt Katrin. Laut ihrem Gynäkologen hätte Lilly nur noch 2 Wochen zu leben gehabt. Deswegen hatte sich Katrin gegen eine Abtreibung entschieden. Entgegen aller Prognosen ist Lilly dann doch noch geblieben und hat sich gut entwickelt. „Als ich sie auf dem Arm hatte, da hatte ich das Gefühl, dass man alles schafft!“, erzählt Walther stolz. „Es ging weder um mich, noch um Walther. Es ging nur darum, dass ihr Abschied positiv ist!“, betont Katrin. Neun Monate im Mutterleib, fünf Stunden auf der Erde. Lillys Leben erlosch, noch ehe es begann. „Ich werde immer Vater sein und Katrin

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immer Mutter. Es hat sich jetzt schlafen gelegt dieses Gefühl, aber es ist leicht erweckbar“, sagt Walther mit einem Lächeln in der Stimme. Babys und Kleinkinder, die als Tot- oder Fehlgeburt zur Welt kommen oder nur wenige Tage nach ihrer Geburt sterben, werden von den Hinterbliebenen Eltern oftmals als Sternenkinder bezeichnet. Diese Namensgebung beruht wahrscheinlich darauf, dass man mit einem Stern etwas besonders schönes verbindet. „Viele finden diese Bezeichnung kitschig“, sagt Bossmann, „Aber ich finde Totgeburt oder Abort ist kein schöner Ausdruck!“ Die Charité ist mit ihren Standorten Klinikum-Mitte, Virchow-Krankenhaus und der Vivantes-Klinik in Neukölln das einzige Klinikum, das Frühchen mit einem Gewicht von unter 1250 Gramm behandeln darf. Hintergrund ist ein Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses, der Qualitätsstandards von medizinischen Behandlungen festlegt. Beispielsweise müssen die Krankenhäuser mindestens 30 Frühchen pro Jahr behandeln. So sollen Routine und Erfahrung in der Versorgung dieser sehr gefährdeten Patienten sichergestellt werden. Diese Vorgabe erfüllen bisher nur die drei genannten Krankenhäuser. Laut dem Krankenhausbericht werden in der Charité jährlich 150 Frühchen geboren. Bisher haben die Kliniken das Recht auf deren Behandlung vehement verteidigt, denn es geht dabei um viel Geld. Die Behandlung dieser extrem Frühgeborenen ist nämlich sehr gewinnbringend. Frühchen, die zwischen der 22. Schwangerschaftswoche (SSW) und der 24. SSW geboren werden, kommen in einer medizinischen und juristischen Grauzone zur Welt. Sie gelten als Frühgeborene an der Grenze zur Lebensfähigkeit. Nach den ärztlichen Richtlinien heißt das: Sie können,

müssen aber nicht behandelt werden. Eine Kölner Klinik hat ein Frühchen der 22. SSW gar nicht erst behandelt. Es gab „keine leitlinienkonforme Aufklärung“, so Dr. Lars Garten, Facharzt für Kindermedizin und Oberarzt für Neonatologie der Charité. Nach den Richtlinien hätten die Eltern vor der Geburt darüber aufgeklärt werden müssen, welche Folgen eine Lebenserhaltung für das Kind haben kann. „Die Motivation für einen Therapieverzicht oder Therapieabbruch ist, dem Frühgeborenen unverhältnismäßig großes Leid zu ersparen“, erklärt Dr. Lars Garten. Kommen Frühchen in der 23. SSW zur Welt liegt die Überlebenschance unter 50%. In der 22. SSW liegt sie sogar unter 20%. Je unreifer ein Kind geboren wird, desto größer ist das Risiko, dass es blind oder taub wird. „Wenn ein Kind lebend zur Welt kommt, muss es versorgt werden. Alles andere ist versuchter Totschlag durch Unterlassen[…]“, so Ruth Rissing-van Saan, bis vor kurzem Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof. „Das stimmt so nicht!“, entgegnet Dr. Lars Garten. „Man einigt sich ja vorher mit den Eltern. In Köln gab es einfach keine leitlinienkonforme Aufklärung. Aber als Totschlag würde ich das nicht bezeichnen!“. Nach dieser leitlinienkonformen Aufklärung können sich die Eltern für oder gegen lebenserhaltende Maßnahmen entscheiden. Fällt der Entschluss dagegen, so sterben die Kinder innerhalb von drei Stunden im Kreissaal - meist im Beisein der Eltern. Währenddessen und danach werden sie ärztlich begleitet. Bei Totgeburten gibt es in Deutschland unterschiedliche Handhabungen mit dem Leichnam des Kindes. Dieses ist vor allem dadurch begründet, dass sowohl medizinisch, als auch juristisch Unterschiede gemacht wurden. Während für Kinder mit mindestens 500 Gramm in Deutschland generell eine

Bestattungspflicht existiert, galten Totgeburten unterhalb dieser Gewichtsgrenze gemäß des Personenstandsgesetzes nicht als Personen. Rechtlich betrachtet haben diese Kinder nicht existiert. Neuerdings können aber auch diese Babys bestattet werden. Außerdem dürfen sie künftig sogar einen Namen bekommen und beim Standesamt erfasst werden. „Noch vor 15 bis 20 Jahren wurden diese Kinder wie Sondermüll entsorgt“, erklärt Bossmann. Für die Eltern hatte dieses oft zur Folge, dass diese Kinder nicht beerdigt werden konnten. Die deutsche Friedhofsverordnung verbot solche Bestattungen. Dieses Verbot war für die Eltern oft einen weiterer Schock, da ihnen somit auch die Möglichkeit des Abschiednehmens genommen wird. Bei Bernd Bossmann gab es erstmals die Möglichkeit, auch diese Kinder zu beerdigen. „Auch die ganz kleinen Babys sind für mich Menschen“, betont Bossmann. Er möchte es den Eltern in dieser schwierigen Zeit so leicht, wie möglich machen. Er übernimmt, soweit es geht, alle bürokratischen Aufgaben und holt die Kleinen aus dem Krankenhaus ab. „Die kennen mich schon. Wenn der bekloppte Bunte vorbeikommt, wissen sie, das ist der vom Garten der Sternenkinder. Ich sag auch immer, ich möchte ein Sternenkind holen und die wissen jetzt auch alle, was das ist. Das finde ich sehr schön!“, erzählt Bossmann begeistert. „Ich bette sie dann in ein Behältnis, was die Eltern kreiert haben. Meistens ein oder zwei Tage vor der Beisetzung.“ Der Abschied findet meistens in einer Kapelle statt. Oft im ganz kleinen Rahmen. „Also ich stelle mir das so vor: Das Kind kommt auf die Welt und sagt: ‚Hallo, hier bin ich! Das reicht mir, ich geh wieder! Tschüss!‘“, erzählt Bernd Bossmann.


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Zwischen Ausbildung und Schwangerschaftstest Der Schock für fast jeden Teenager. Ein positiver Schwangerschaftstest. Die wichtigste Entscheidung: Bekommen oder nicht bekommen? Zwei Mädchen erzählen ihre Geschichten. Selin Kahya In Deutschland werden circa 10.000 Mädchen jung schwanger. Etwa die Hälfte der Teenager entscheidet sich für das Kind, wie Ulrich Fegeler, Sprecher des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendärzte im Januar 2012 für FOCUS Online erläutert. Diese Entscheidung hängt nicht nur davon ab, wie groß der Kinderwunsch ist. Es spielen auch andere Faktoren eine wichtige Rolle. Gibt es einen Partner, der einem zur Seite steht? Unterstützung von den Eltern? Wie sieht es mit den finanziellen Mitteln aus? Nina, 20, gehört zu der Hälfte Mädchen, die sich gegen ein Kind entscheiden. Sie ließ im Februar 2008 einen Abbruch vornehmen Damals war sie 16 Jahre alt. Ihre Mutter ahnte sofort, dass sie schwanger war. Die ständige Übelkeit hatte sie wohl verraten und so erfuhr es ihre ganze Familie. Ihre Mutter überließ ihr die Entscheidung. Sie hätte auf jeden Fall hinter ihrer Tochter gestanden. Ihr Vater reagierte schockiert. „Aber welcher Vater würde das nicht, wenn er erfährt, dass seine 16- jährige Tochter schwanger ist“, sagt Nina lächelnd. Nina wusste schon bevor sie den positiven Schwangerschaftstest in der Hand hielt, dass sie das Kind nicht bekommen wollte. Sie hatte gerade ihre Ausbildung begonnen und auch so waren die Voraussetzungen damals nicht optimal, um ein Kind in die Welt zu setzen. Sie war zwar mit dem Vater des Kindes zusammen, aber das auch erst seit circa einem Monat. Außerdem sprachen noch ganz andere Dinge dagegen. Zu dem Zeitpunkt, als sie schwanger geworden ist, befand sie sich nicht gerade in der schönsten Zeit

ihrer Jugend. Sie hatte ziemlich viel Bier konsumiert, wie sie erzählt. Zudem hätte sie kaum die finanziellen Mittel gehabt, ein Kind zu versorgen. Als sie ihrem Freund von der Schwangerschaft erzählte, war er alles andere als begeistert. Er hatte vor kurzem mit dem Abitur begonnen und fühlte sich nicht bereit für ein Kind. Einen Tag nachdem sie den Schwangerschaftstest gemacht hatte, ging sie mit ihrer Mutter zum Frauenarzt. „Ich musste fast an jeder S-Bahn Station aussteigen, weil mir so schlecht war und ich mich übergeben musste“, erinnert sich Nina zurück. Als sie dem Gynäkologen von dem übermäßigen Bierkonsum erzählte und er sie über die gesundheitlichen Risiken aufklärte, entschied sie sich gegen das Kind - und für eine Abtreibung. Da war sie in der sechsten Woche schwanger. Sie bereut ihre Entscheidung nicht. Auch wenn sie sich manchmal fragt, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn sie das Kind bekommen hätte. Nina hat ihre Ausbildung erfolgreich beendet und arbeitet heute als Büroleiterin. Sie wohnt in einer Wohngemeinschaft und hat seit neun Monaten einen festen Freund. Ob sie sich heute wieder für einen Abbruch entscheiden würde? In den nächsten acht Jahren will sie es zumindest nicht dazu kommen lassen, überhaupt nochmal über eine Abtreibung nachdenken zu müssen, antwortet sie. Außerdem weiß sie, wie hoch das

Risiko ist, dann gar nicht mehr schwanger zu werden. „Wenn ich mal Kinder habe, dann nur, wenn ich dazu finanziell und psychisch in der Lage bin“, erklärt Nina. Ganz anders ist die Geschichte von Greta und Max. 2012 machte Greta Max ein ganz besonderes Valentinstagsgeschenk, das es sich bereits sechs Wochen lang in ihrem Bauch gemütlich gemacht hat. Die 18-jährige Greta hatte es gerade erst erfahren, als sie ihrem drei Jahre älteren Freund von der Schwangerschaft erzählte. Die beiden waren seit sieben Monaten ein Paar und glücklich. „Ich hatte nie Grund zur Sorge, dass Max mich und das Kind im Stich lassen würde.“, sagt Greta. Trotzdem, so früh ein Kind zu bekommen, bedarf gründlicher Überlegungen. Gretas Mutter setzte sich mit den beiden zusammen, um ihnen bei der Entscheidung zu helfen. Letztendlich hatte sie Greta und Max dazu ermutigt, wenn nicht sogar ein wenig dazu „überredet“, das Kind zu bekommen. Als die Entscheidung feststand, wurde mit Sekt, für Greta mit Saft, angestoßen. Max‘ Mutter machte sich schon mehr Sorgen. Wie geht es nun weiter? Greta befand sich mitten im Abitur, Max in seiner Ausbildung. Das Paar entschied sich dafür, die Schwangerschaft erst mal für sich zu behalten. Natürlich erfuhren die Familien von dem Baby. Aber in der Schule erzählte Greta nicht vielen davon. Zudem war sie mit den Prüfungen schon fertig, so dass sie nicht mehr jeden Tag in der Schule war. Sie hatten zum Glück auch nicht mit blöden Fragen zu kämpfen und mussten sich vor anderen auch nicht rechtfertigen.


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„Die Schwangerschaft verlief recht unkompliziert. Nur die Hitze im Sommer machte Greta ein wenig zu schaffen“, erzählt Max. Aber die Freude auf das gemeinsame Kind ließ all diese kleinen Unannehmlichkeiten in den Schatten rücken. Letztendlich sehen die beiden sogar einen Vorteil darin, so früh Eltern geworden zu sein. So müssen sie nicht aus ihrem Beruf aussteigen und können studieren, während der Kleine im Kindergarten ist. Falls es mal hart auf hart kommt, gibt es ja auch noch die Großeltern, die für die kleine Familie da sind. Greta hat ihr Abitur gemacht und plant, bis ihr Sohn in die Kita geht, erst einmal zu Hause zu bleiben. Danach möchte sie Wirtschaftsingenieurwesen studieren. Max macht neben seiner Ausbildung zum Assistenten für technische Redaktion gleichzeitig auch sein Abitur. Anschließend möchte er Bauingenieurwesen studieren. Die beiden haben geschafft, woran die meisten Leute zweifeln: Kind und Ausbildung unter einen Hut zu bringen. Sie haben sich den Vorurteilen widersetzt und sind glücklich mit ihrem „ungeplanten Wunschkind“.

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Das Spiel mit der käuflichen Liebe – wie hoch ist der Preis wirklich? „Ja ich habe AIDS, aber das kann ich gerne eine halbe Stunde vergessen, sofern die Kohle stimmt. Ich verkaufe mich halt und meine Krankheit dazu.“ Kimberley Bernard Nach einer Online-Grafik von „Die Welt“ sind ungefähr 34 Millionen Menschen auf der ganzen Welt mit dem HIV-Virus infiziert. In Deutschland leben laut Angaben des Robert-Koch-Institutes Ende 2011 ca. 73.000 HIV positive Menschen. Davon leben mindestens 11.000 in Berlin. Einige von ihnen sind Sexworker. Sex sells. Das ist auch in der Hauptstadt so. Es ist 6 Uhr morgens. Vor einer kleinen Bar warten einige Menschen in freudiger Erregung auf den Einlass. Dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Bar handelt, wird einem schon an der Tür bewusst. Ein kleiner Grabscher zwischen die Beine des Gastes, ein lockerer Spruch und schon öffnet sich die Tür in die Welt der käuflichen Liebe. Es ist laut, voll und stickig. Die Stimmung ist feuchtfröhlich. Auf einem Sofa im hinteren Teil der Bar sitzt Sandy. Sie ist Mitte 30, hübsch, stark geschminkt und elegant gekleidet. Eine Frau wie alle anderen, würden die Meisten denken. Wäre da nicht dieses „kleine“ Argument zwischen ihren Beinen. Sandy ist eine Transsexuelle und eine Prostituierte. „Ich bin jetzt schon 15 Jahre dabei. Langsam werde ich alt, dann wollen einen die Männer nicht mehr. Ich muss einiges bieten und mitmachen, damit die Kunden zufrieden sind“, stellt Sandy fest und lächelt. Dieses Lächeln ist Schein – wie vieles im Sexgewerbe. Die Konkurrenz ist riesig: In Deutschland gibt es dem „Tagesspiegel“ zufolge rund 400.000 Prostituierte. Täglich machen 1,2 bis 1,5 Millionen Männer von den Dienstleistungen der Prostituierten Gebrauch. Dies erzielt eine Sum-

me von schätzungsweise 15 Milliarden Euro pro Jahr. Jeder, der mit Sex seinen Umsatz macht, muss sehen, dass er nicht auf der Strecke bleibt. Um sich von der Masse abheben zu können, greifen viele zu anderen Methoden – oft mit fatalen Folgen. „AIDS? Ja hab ich. Schon etwas länger. Ich weiß nicht genau, wo ich mich angesteckt habe. Ich dachte auch immer, jeder kann sich anstecken, aber ich nicht. Ich arbeite trotzdem weiter, ich muss ja Geld verdienen“, flüstert Sandy in ihr Glas Wodka. Ob sie dabei immer verhütet? Nein! Nur bei den Reichen macht sie manchmal eine Ausnahme. „Mal sag ich ihnen, dass ich positiv bin, mal nicht. Es ist nicht mein Problem, wenn die Kunden Sex ohne Gummi wollen. Die Kohle muss stimmen. Ich verkaufe mich halt und meine Krankheit dazu.“ Laut Informationen des „Tagesspiegel“ erzielt eine Prostituierte einen Umsatz von etwa 250 Euro täglich. Im Monat ergibt das aber nur selten mehr als 2000 Euro. Davon geht das meiste an die Zuhälter: Rund 100.000 Euro jährlich bekommen diese von den Prostituierten. Um sich etwas dazu zu verdienen, machen es viele Prostituierte so wie Sandy. Bei riskanten Sexualpraktiken, zum Beispiel Analverkehr oder dem Ausleben besonderer sexueller Vorlieben, verzichten die Prostituierten am häufigsten auf ein Kondom. Hierbei steht für die Kunden vor allem die reine sexuelle Befriedigung im Vordergrund. Es gibt jedoch auch Freier, die aus sozialen Motiven Prostituierte aufsuchen. Sie wollen mit einer Frau über Alltägli-

ches reden oder behandeln sie wie eine feste Freundin. Bei diesen Freiern praktizieren die Prostituierten meist Safer Sex. Offensichtlich können Prostituierte also bei denjenigen, die auch soziale Kontakte zu ihnen suchen, Kondome besser durchsetzen. Sandy ist kein Einzelfall. Immer mehr Migranten aus Osteuropa oder Asien kommen unaufgeklärt nach Deutschland. Viele von ihnen wissen gar nicht, was AIDS ist. Daher verbreitet sich der Virus bei den Migrantinnen besonders schnell. Doch für die Kunden zählt der Spaß und die schnelle Befriedigung. An die Schattenseiten denken die Wenigsten. Auch in der Pornobranche zählt das schnelle Geld und weniger die Gesundheit. Besonders in Deutschland bringen Pornos hohe Geldbeträge ein: Die Bundesrepublik ist direkt nach den USA der zweitgrößte Pornomarkt der Welt. Jeden Monat werden über 1000 Filme produziert. Damit setzt die Erotikindustrie bis zu 800 Millionen Euro jährlich um. Am beliebtesten sind dabei die Pornos, die Tabus brechen. Dazu gehören der Geschlechtsverkehr mit mehreren Partnern, aber auch außergewöhnliche Sexpraktiken oder das Ausleben ausgefallener Fantasien. Vor allem aber nahezu immer ungeschützt. Auf AIDS achten hier die Wenigsten. Besonders gefährdet sind vor allem auch männliche Darsteller in schwulen Pornos. Denn feststeht, dass ungeschützter Analsex das HIV-Ansteckungsrisiko enorm wachsen lässt: Von 10.000 Kontakten führen 80 zur Infektion. Es gibt jedoch schon einige Organisa-

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tionen, die nicht die Augen verschließen. Eine davon ist die „Adult Industry Medical Health Care Foundation“ (AIM). Die US-amerikanische Organisation untersucht circa 1200 Pornodarsteller regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten. Pornodarsteller in den USA dürfen ohne das Zertifikat eines negativen HIV-Tests, das die Foundation ausstellt, nicht arbeiten. Trotzdem gibt es natürlich auch hier schwarze Schafe, die ihre Filme auch ohne dieses Zertifikat drehen. In Deutschland gibt es diese Regelung nicht. Hier hat nur der Öffentliche Gesundheitsdienst die Pflicht, über Geschlechtskrankheiten aufzuklären. Darüber hinaus ist er durch das Infektionsschutzgesetz beauftragt, HIV positive Menschen verstärkt mit Beratungs- und Untersuchungsangeboten zu betreuen. Neben kostenlosem Informationsmaterial, Beratungsangeboten und HIVTests bieten diese auch gegen geringe Entgelte Untersuchungen zu allen anderen Geschlechtskrankheiten an. Doch die Praxis sieht natürlich anders

aus. Billigproduktionen müssen an einem einzigen Drehtag fertig sein. Kaum einer der Beteiligten denkt dabei über die Kontaktaufnahme mit Gesundheitsämtern nach. Und noch eins gilt in der Pornobranche: In ist, wer drin ist – ohne Kondom. Die Beate Uhse AG berichtet, dass sie zu der Erkenntnis gekommen sei, dass „Safer-Sex-Filme“ nicht nachgefragt würden und schon deshalb nicht angeboten werden könnten, weil sie keiner produzieren wolle. Entsprechend bleibt den meisten Darstellern keine andere Wahl, als dem Sex ohne Kondom zuzustimmen. Das vorwiegend männliche Publikum will kein Kondom sehen. Eine Straßenumfrage in Berlin ergab, dass fast jeder der 25 befragten Männer einen Porno mit Kondom nicht so erregend findet, wie ohne. Die 25- bis 40-jährigen Männer gaben zu, ungern Sex mit Kondom zu haben. Kondome sind allerdings kleine Lebensretter, die nicht zu verachten sind. Das Kondom ist das weltweit einzige

Verhütungsmittel, das vor Geschlechtskrankheiten schützt. Heute sterben die Menschen nicht mehr so schnell an AIDS. Durch neue Medikamente hat sich die Lebenserwartung und Lebensqualität von Menschen mit HIV und AIDS erheblich verbessert. Aber: Ein Heilmittel gegen HIV gibt es nicht! Es ist jedem selbst überlassen, was er aus seinem Leben macht. Aber lohnt es sich, wegen ein paar Minuten Spaß (falls es überhaupt ein paar Minuten werden), wirklich die restlichen Jahre seines Lebens mit einer unheilbaren Krankheit wie AIDS zu arrangieren?



Leben und Menschen

Alles, was mal war im Leben, ist jetzt weg Die Gehirnfunktionen lassen nach. Ein Angriff auf alle unsere geistigen Fähigkeiten. Sprechen, denken und lernen fallen schwer. Orientierungsprobleme sind Alltag. In Deutschland leben rund 1,3Millionen Menschen mit der Demenz-Erkrankung – 42.000 allein in Berlin. Selma Türhan Alles wird fremd: Die eigene Wohnung. Die Familie. Das ganze Umfeld. Eigenständig spazieren gehen oder sich anziehen– fast schon unmöglich. Einfache alltägliche Aufgaben wie waschen, aufräumen oder Essen kochen sind nicht mehr machbar. Derzeit leiden sieben Prozent der über 65-jährigen in Deutschland an Demenz. Zu den bekanntesten Arten der Demenzkrankheit zählen Alzheimer, vaskuläre Demenz, Lewy- Körperchen- Demenz und Morbus Pick. Mit rund zwei Dritteln aller Fälle ist die AlzheimerKrankheit die häufigste Form der Demenz. Die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, steigt nach dem 65. Lebensjahr an. Aber wie erinnern wir uns eigentlich? Ein Gebiet der Großhirnrinde wird besonders beansprucht - der Temporallappen, unser Arbeitsspeicher. Dieser verarbeitet einzelne Informationen wie Gerüche, Klänge und Bilder zu einer Gesamtinformation. Es entsteht eine Erinnerung. Beim Erinnern ist nicht nur ein Bereich aktiv. Über Synapsen kommunizieren Nervenzellen miteinander. Die Alzheimer-Erkrankung blockiert die Nervenzellen und infolgedessen sterben Synapsen ab. Die Gehirnmasse schrumpft. Das Orientierungsvermögen und das Sprachverständnis lassen nach. Resultat: Depressives und aggressives Verhalten des Erkrankten. Der Alzheimer-Kranke lebt immer mehr in seiner eigenen Welt und kann Sinneseindrücke oft nicht mehr verarbeiten. Die zweithäufigste Form der Demenz ist die vaskuläre, eine gefäßbedingte

Demenz. Sie basiert auf Durchblutungsstörungen im Gehirn. Meistens sind Leidtragende unkonzentriert, lustlos und grenzen sich nach und nach aus. Das Risiko an einer vaskulären Demenz zu erkranken, steigt durch körperliche Krankheiten, wie Bluthochdruck oder Blutzucker an.

rer eines deutschen Unternehmens. Seine Frau bemerkte vor einem Jahr einen Leistungsabfall. Er schien, überfordert zu sein und begann, alles zu vergessen. Sein Verhalten hatte Konsequenzen. Wilfried B. wurde gekündigt. Er hört seiner Frau zwar zu, nimmt aber nichts mehr auf, was sie sagt.

Die Lewy-Körperchen-Demenz istebenfalls eine Gehirnerkrankung. Sie ähnelt der Alzheimer-Krankheit und geht einher mit der Parkinson-Krankheit. Betroffene dieser Krankheit wirken meist erst hellwach und unternehmungslustig, dann wieder in sich gekehrt, verwirrt und orientierungslos.

Der sogenannte Mini-Mental-StatusTest (MMST), einem Demenz-Screening-Test, überprüfte seine kognitiven Funktionen und stellte die Diagnose Demenz fest.

Die Pick-Krankheit oder Morbus Pick ist eine der seltensten Demenz-Erkrankungen. Viele Betroffene verhalten sich auffällig und unsozial. Morbus Pick kann auch sprachliche Fähigkeiten im Verlaufe der Krankheit beeinträchtigen – Vergesslichkeit tritt ein. Kognitive Defizite kommen hinzu. Verwandte und Freunde beobachten häufig, dass Leidtragende sich entweder antriebslos oder extrem motiviert benehmen. Einige ziehen sich stark zurück, werden stumpf und gleichgültig und andere wiederum werden unruhig und schnell reizbar. Die Krankheit kam schnell und überraschend. Wilfried B. leidet seit einem Jahr an Morbus Pick. Er ist abhängig von seiner Frau, mit der er schon seit 35 Jahren verheiratet ist. Sie versorgt und pflegt ihn – solange sie es noch kann. Diese Krankheit lässt ihn aggressiv und böse werden. Der 68-jährige war jahrelang Geschäftsfüh-

Wilfried B. schimpft und schreit. Wegen der ärztlichen Untersuchung hat sich der übliche Zeitpunkt des Mittagessens verschoben. Er wird seiner Frau gegenüber fordernd und laut. Sie bleibt ganz ruhig und sagt mit kühler Stimme: „Es ist mir so lieber, als dass er gar keine Reaktion zeigt. Sozial angemessen mit der Umwelt zu agieren und soziale Normen ernst nehmen, fällt ihm schwer. Er begeht kleine Delikte, wie Ladendiebstahl und Fahrerflucht bewusst. Ihm wurde wegen eines selbst verschuldeten Unfalls mit Fahrerflucht sogar der Führerschein entzogen. Das kann er bis heute nicht verkraften.“ Jeden Tag verhält er sich gleich. Eine Art Ritual, das er für sich entdeckt hat. Er muss immer zur gleichen Zeit das Gleiche tun. Zu Mittag und Abend isst er immer Ziegenkäse und Wurst. Wenn seine Frau ihm etwas anderes anbietet, weigert er sich, es zu essen. Sobald es 16 Uhr ist, verlässt er das Haus und geht in den benachbarten Kindergarten.


Leben und Menschen

Obwohl er Hausverbot hat, geht er in das Privatzimmer, nimmt den Kindern das Spielzeug weg und randaliert. Vor einigen Wochen hat er angefangen, fleißig Bilder von alten Filmdarstellern zu sammeln. Ständig versucht er irgendwelche Menschen auf der Straße anzusprechen und zu fragen, ob sie ihm nicht helfen können, seinen Führerschein wieder zu bekommen. Wilfried sieht seine Krankheit nicht ein. Er schätzt somit sich und seine Leistungsfähigkeit falsch ein. Doch so geht es vielen Demenzkranken - die Einsich fehlt. Kein Hilfsmittel. Kein Medikament Demenz bleibt eine Herausforderung für unsere Gesellschaft. Es gibt nur wenige Therapiemöglichkeiten, unter anderem Gedächtnistraining und logopädische Übungen. Demenzkranke sollten mit Hobbys und sportlichen Tätigkeiten gut unterhalten werden, um Geist und Fitness zu stärken. Medikamentöse Behandlungen können inZusammenhang mit Hirnleistungstraining erfolgreich sein, für die Mehrzahl der Demenzkranken ist derzeit allerdings keine Heilung möglich.

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LEBEN und MENSCHEN

Vergib mir meine Sünden Allah, ich bin schwul! Homosexualität ist in unserer westlichen Gesellschaft zur Normalität geworden. Doch wie denkt die muslimische Welt darüber? Aynur Özkan Eine Familie sitzt friedlich im Wohnzimmer. Die Mutter hat ihren schwarzen Tee in der Hand, der Vater hat seine Brille auf der Spitze seiner großen Nase und liest Zeitung. Der kleine Bruder Arman spielt PlayStation und murmelt vor sich hin. Plötzlich bricht ein Hurrikan in das Wohnzimmer. Die Mutter lässt vor Schreck ihr Teeglas fallen, dem Vater wird die Brille weggewirbelt. Seine Zeitung fliegt durch die Luft und wird in Fetzen gerissen. Der kleine Bruder lässt den Controller fallen und rennt um sein Leben. So hat sich Sam Pairavis „Outen“ angefühlt. „Ich hatte eher erwartet, dass mein Vater austickt. Doch es war meine Mama, die geschockt ihr Teeglas fallen ließ und anfing zu weinen.“ Sein Vater denkt bis heute, einen Monat nach dem Outen, dass sein Sohn verwirrt sei, was seine sexuellen

Neigungen angeht. Eigentlich dachte Sam, dass es jeder insgeheim wüsste. Jedoch war er selbst erstaunt darüber, wie geschockt seine Familie war. „Meine Eltern kommen aus dem Iran. Sie sind zwar nicht streng religiös, aber sehr traditionell.“ Umso schwieriger war seine Vorbereitung auf das Gespräch. Schließlich stellt das iranische Recht Homosexualität unter Todesstrafe. Wie sollten da seine Eltern Verständnis zeigen? Er hatte Angst, große Angst, etwas zu zerstören. „Wie sagt man denn so etwas richtig? Mama, Papa und Arman - ich stehe auf Männer?“ Sam schaut in seinen Kaffeebecher. Warum muss sich ein Homosexueller überhaupt outen. Ist Homosexualität nicht zur Normalität geworden? Lange habe er dagegen gekämpft und gehofft, dass sich etwas an seinen Gefühlen ändert. Wie hätte er sonst seiner Familie im Iran in die Augen sehen können, wenn er einen Mann heiratet? Gott habe ja nicht umsonst Adam und Eva geschaffen. Es sei ja auch aus evolutionärer Sicht nicht natürlich. „Dann hab ich realisiert, dass es natürlich ist. Es kam ja von allein und ich habe nichts künstlich hervorgeholt.“ Inzwischen vermutet auch die Wissenschaft, dass die Gesellschaft keinen Einfluss auf die sexuelle Orientierung hat. Sie soll schon im Mutterleib durch Umwelteinflüsse mitbestimmt werden. Im Gehirn seien die Präferenzen bereits bestimmt. 1993 wurde das sogenannte Schwulen-Gen auf dem Geschlechtschromosom X gefunden. 1996 dann widerlegt. Die Wissenschaft ist sich also nicht einig. Sicher ist, dass Homosexuelle nicht umzupolen sind. „Meine Eltern wünschen sich immer noch, dass ich mich umentscheide. Wobei es ja keine Entscheidung ist. Aber es sei haram - eine Sünde.“ Ist die gleichgeschlechtliche Liebe im Islam eine Sünde? „Das Gefühl von Liebe ist nicht


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verwerflich, weil man Liebe nicht kontrollieren kann“, erklärt Hana Gluvic, Vorstandsvorsitzende der Islamischen Akademie zur Förderung der interkulturellen Harmonie e.V. „Es wäre auch unlogisch, das als Sünde zu erklären, weil früher im islamischen Raum ebenfalls gleichgeschlechtliche Liebe vorhanden war.“ Tatsächlich hatte der Sultan der osmanischen Türkei seine Liebesjünglinge. Hübsche Jungen trieben die Steuer ein. Auch war homoerotische Dichtung, beispielsweise im persischen Raum, vom 9. bis 20. Jahrhundert stark verbreitet. „Homosexualität ist nach dem Islam etwas Angeborenes, das man mit in die Wiege bekommt. Wer daran zweifelt, zweifelt auch an Gott.“ Wenn das Problem nicht in der Religion liegt, worin liegt es dann? „Das Problem liegt darin, dass Menschen Religion als stumpfen Stein auffassen. Viele sehen die Regeln als so hart an, dass sie sich das Leben erschweren. Was nicht das Ziel von Religion ist“, erklärt Gluvic. Viel mehr ginge es um das Zwischenmenschliche. Der Koran lässt viel Interpretationsraum. Das führt dazu, dass viele den Koran unterschiedlich auffassen. Ein anderer Punkt ist, dass der Großteil Religion und Tradition verwechselt. „Viele verstehen den Islam als Religion, die einem das Alkohol trinken, Schweinefleisch essen und Sex vor der Ehe verbietet. Das sind diejenigen, die sich nicht näher mit der Materie beschäftigen“, so Gluvic weiter. Also müsste sich etwas an der Denkweise der muslimischen Gesellschaft ändern, denn Homosexuelle sind in der Moschee gern gesehene Gäste. Jeder habe seinen eigenen Test im irdischen Leben. Es gilt, den richtigen Weg zu wählen. „Die einen haben beispielsweise die Homosexualität als Test, weil das Ausleben ja eine Sünde ist“, sagt sie. Dies scheint ein wenig widersprüchlich: Es würde nämlich bedeuten, dass es

nicht möglich ist, seine Homosexualität auszuleben. „Das Problem sind eher die Menschen, die zu schnell urteilen. Wenn jemand seine Homosexualität auslebt und eine Sünde begeht, wer sagt, dass Gott einem nicht vergibt?“, kontert Gluvic. Dadurch, dass die gleichgeschlechtliche Liebe in der Gesellschaft nicht akzeptiert sei, versuche die Religion einen vor den gesellschaftlichen Problemen zu schützen, ist sich Gluvic sicher. Das Thema ist voller Widersprüche. So auch die Aussagen der Wissenschaftler oder verschiedener Imams. Homosexualität ist keine Krankheit. Niemand sucht sich aus, homosexuell zu sein. Das Leben vieler Homosexueller, vor allem muslimischer, wird dadurch erschwert. Manche flüchten aus ihren Familien oder müssen den Kontakt abbrechen, weil sie ihre wahre Identität nicht ausleben können. Damit ihre Kinder normal werden, sehen viele Familien den einzigen Weg in der Zwangsheirat mit dem anderen Geschlecht. Selbst Exorzismus wird durchgeführt, damit die bösen Geister vertrieben werden. „Ich möchte einfach akzeptiert werden und später meine eigene Familie gründen“, sagt Sam.

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Zwei Leben mit dem Holocaust Lebensretter: Kameradschaft Text: Daniel Jahn

Als am 11. April 1945 die US-Streitkräfte das Konzentrationslager Buchenwald befreiten, begriffen die Häftlinge erst allmählich, was geschah. Zu lange dauerte ihre Gefangenschaft an, jegliches Zeitgefühl ging verloren. Jeder dachte nur an den nächsten Tag, aber nicht weiter. Unter den Befreiten war auch Gert Schramm. Der damals 17-Jährige beschreibt die vollkommen ungewohnten Durchsagen eines Kameraden über die Lagerlautsprecher, die sonst nur von der Waffen-SS verwendet wurden, wie folgt: „Es war nicht die Stimme, die mich fast umwarf. Und auch nicht, was gesagt wurde. Das konnte man im ersten Moment sowieso nicht begreifen. Es war das Wort ‚Kameraden!‘ Alle hatten es gehört und wir schauten uns fassungslos an. Dann brach ein unglaublicher Jubel los. Es war vorbei. Wir hatten es geschafft. Wir waren am Leben geblieben!“ Der Tatsache, dass Schramm das Konzentrationslager Buchenwald überlebte, lässt sich noch ein weiterer Fakt hinzufügen: Schramm ist der einzige afrodeutsche Überlebende des Lagers.

Seine Lebensgeschichte beginnt am 25. November 1928 in Erfurt. Schramms Vater, ein amerikanischer Stahlhochbauer mit kubanischen Wurzeln, verließ die Familie früh, da er als Vertragsarbeiter nach Amerika zurückkehren musste. Ein uneheliches Kind war in der damaligen Zeit ein Fauxpas. Schramm wuchs bei seinen Großeltern in Witterda auf und erlebte dort die ersten Auswirkungen, die seine Hautfarbe mit sich brachte – denn auch in der kleinen Gemeinde zeigte sich der Nationalsozialismus. Als er 11 Jahre alt war, machte ihm der neu eingesetzte ‚Hauptlehrer‘ Kramer das Leben schwer. „In der Schule ging es zu wie auf einem Kasernenhof. Ich bezog jeden Tag Dresche, er brauchte keinen Vorwand um mich vor den anderen zu triezen, meine Anwesenheit reichte vollkommen aus. Warum er mich als Saustück oder Dreckschwein beschimpfte, konnte ich mir nicht erklären. Rassenideologie war ein Fremdwort für mich.“ OHNE ERKLÄRUNG DEPORTIERT Aus diesem Grund schwänzte Schramm oft die Schule. Das zog ein Aufsichtsverfahren nach sich. Um ihn vor einer Abschiebung ins Heim zu bewahren, holte ihn seine Mutter zu sich nach Langensalza. Dort beendete er sein letztes Schuljahr unbehelligt. Die anschließende Lehrstellensuche gestaltete sich für ihn jedoch schwierig, da „mir, einem Nichtarier, keine ordentliche Lehre zust[and].“ Im Januar 1943 fand er, dank der Beziehungen seiner Großmutter, Arbeit als Jungarbeiter in einem Kfz-Betrieb. Gegen die Hitlerjungen, die ebenfalls in der Werkstatt arbeiteten, wusste er sich

durchzusetzen. Doch sein gewohnter Alltag hatte am 6. Mai 1943 ein Ende: Die Gestapo deportierte und inhaftierte den 14-Jährigen. „Ohne irgendeine Erklärung wurde ich mitgenommen, als wäre ich ein Verbrecher“, schildert Schramm heute. Nach vielen schrecklichen Aufenthalten in verschiedenen Gefängnissen verlegten ihn die Nazis in das Konzentrationslager Buchenwald. In dem Lager nahmen sich inhaftierte Kommunisten seiner an. Einige der politischen Gefangenen hatten als sogenannte „Kapos“ administrative Aufgaben im Lager. Wie jeder Neuankömmling landete Schramm zuerst bei der Steinbruchkompanie. Schwerstarbeit, bei der täglich viele Menschen starben. Nachdem er sich dort halb tot geschuftet hatte, teilten ihn seine Kameraden durch geschicktes Umdisponieren einem anderen Bereich zu. Wahre Kameradschaft sowie unermüdliches Durchhaltevermögen und ein Quäntchen Glück halfen ihm, dieses Martyrium zu überleben. Heute lebt Gert Schramm in Eberswalde bei Berlin. Regelmäßig besucht er Treffen von ehemaligen KZ-Häftlingen und gibt oft Interviews. Ihm ist wichtig, den heranwachsenden Generationen bewusst zu machen, was damals wirklich passiert ist und er leistet so einen wichtigen Beitrag als Zeitzeuge.


Leben und Menschen

Undercover überlebt Text: Jessica Küppers Schwarze Hose, braunes Hemd und Hakenkreuzmanschette – in der Uniform der Hitlerjugend überlebte der Jude Salomon „Sally“ Perel den Holocaust. Seine wahre Identität versteckte er hinter einer erfundenen – der des Hitlerjungen Jupp Peters. Als solcher war er einer von 8,7 Millionen Mitgliedern, die dem ideologischen Jugendverband angehörten. Wie alle anderen Hitlerjungen lernte auch er im Schulunterricht die verschiedenen Rassen zu unterscheiden und woran typische Juden zu erkennen waren. „Juden haben abstehende Ohren und einen rundlichen Körperbau“, so lautete die ideologische Lehrmeinung seines damaligen Lehrers im Schulfach „Rassenkunde“. Den Darstellungen im Lehrbuch zur Folge sei Perel hingegen ein klassisches Beispiel für die baltischarische Rasse. Entscheidend für diese Zuordnung waren optische Körpermerkmale wie Hautfarbe, Schädelform und Behaarung. Heute beschreibt der 87-jährige Mann die Schulstunden so: „Was wir gelernt haben, klang alles wissenschaftlich begründet, logisch und plausibel. Ich habe mich damals nicht nur als Hitlerjunge verkleidet – ich wurde es.“ Während dieser Zeit stellte seine Beschneidung die größte Gefahr für ihn dar: Dieses auffällige Körpermerkmal identifizierte ihn, trotz falscher Identität, eindeutig als Jude und hätte die Lüge jederzeit auffliegen lassen können. In seiner Brust schlugen immer zwei Herzen: Zum einen war er fasziniert von den Interessen der Hitlerjugend. Anderseits fühlte er mit seiner Familie und den übrigen Glaubensbrüdern. Besonders schmerzlich äußerte sich dieser Konflikt bei einem Aufenthalt in

Lodz. Dort fuhr er in seiner HJ-Uniform mit der Straßenbahn durch das jüdische Ghetto. Auf der Fahrt sah er zahlreiche Leichen und abgemagerte Juden. Um dieses Gefühlschaos zu bewältigen und keinen leichtsinnigen Fehler zu machen, führte er sich selbst immer wieder vor Augen: „Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet. Das Schicksal hat mir diesen Überlebensweg aufgezwungen.“ Vier Jahre lang funktionierte „Jupp Peters“ Versteckspiel. ERFÜLLUNG DES LETZTEN WUNSCHES Zuvor hatten ihn die Kriegsumstände mit gerade einmal 16 Jahren in die weißrussische Stadt Grodno verschlagen. Dort fand er Unterschlupf in einem Kinderheim. Kurze Zeit später überfielen die Deutschen Weißrussland und die Kinder versuchten, nach Minsk zu fliehen. Sally Perel verlor allerdings den Anschluss an seine Gruppe aus dem Kinderheim und die Wehrmacht beendete die Flucht in einem kleinen Dorf. Während die Soldaten die Bevölkerung kontrollierten, vernichtete er heimlich seinen Ausweis und gab sich erstmalig als Volksdeutscher Jupp aus. Er sprach fließend Deutsch und überzeugte mit seiner Geschichte. Diese Lüge rettete ihm das Leben, denn die Soldaten richteten die übrigen Juden auf der Stelle im nahe gelegenen Wald hin. So erfüllte er den letzten Wunsch seiner Mutter: „Du sollst leben!“ Und er hat überlebt. Heute, 67 Jahre nach Kriegsende, ist Sally Perel wieder gerne in Deutschland. Denn hier erlebte er viele glückliche Stunden seiner Kindheit. Sein Zuhause ist die Bundesrepublik aller-

dings nicht mehr. Seit 40 Jahren lebt er nun zusammen mit seiner Frau, den Kindern und Enkelkindern in Israel. Bescheiden blickt er auf sein Leben zurück und hat damit begonnen, das Erlebte zu verarbeiten. Besonders wichtig sei es, darüber zu sprechen, berichtet der 87-Jährige. Als Zeitzeuge besucht er vor allem Schulen, um über sein Leben als Hitlerjunge zu berichten und die Kinder aufzuklären.

Während des gesamten Krieges kamen schätzungsweise 80 Millionen Menschen ums Leben. Der Historiker Raul Hilberg fand heraus, dass die Nationalsozialisten ungefähr fünf Millionen europäische Juden umgebacht haben. Der Zusammenschluss jüdischer Organisationen (JCC) stellte bei seiner Tagung 2010 fest, dass es derzeit noch 516.700 Holocaustüberlebende gibt.

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Leben und Menschen

Sind Hirntote wirklich tot? Durch die Zustimmung des Bundesrates hat das neue Transplantationsgesetz im vergangenen Jahr die letzte Hürde genommen. Aktuell wird jeder Bürger ab 16 Jahren per Brief von seiner Krankenkasse dazu aufgefordert, zu dem Thema Organspende Stellung zu beziehen. Eine Diskussion, in der die meisten Deutschen eine klare Meinung äußern, ohne sich tatsächlich damit auseinandergesetzt zu haben. Spenderorgane können nur entnommen werden, wenn ein Mensch für hirntot erklärt worden ist. Doch wie tot ist ein Hirntoter wirklich? Max-Marian Unger Die Intensivstation in der medizinischen Hochschule Hannover: Der diensthabende Arzt führt dem 15-jährigen Christian Greinert eine Sonde in die Luftröhre ein. Purer Sauerstoff dringt in den Körper des Jungen. Der Mediziner gibt der Schwester ein Zeichen. Die künstliche Beatmung wird für sieben Minuten unterbrochen. Der Kohlenstoffdioxidgehalt im Blut steigt, bis er sich verdoppelt hat. Eine spontane Schnappatmung bleibt aus. Christians Augen bleiben geschlossen. „Der Körper und die Organe sind einwandfrei funktionstüchtig“, sagt der Arzt zur Krankenschwester. Sie nickt und geht. Er folgt ihr auf den Flur. Im Wartezimmer wartet die Familie von Christian unruhig auf das Ergebnis. Der Arzt betritt den Raum: „Ihr Sohn ist tot.“ Christian Greinert ist mit dem Fahrrad von der Schule auf dem Weg nach Hause. Er wird von einem Auto erfasst, über die Motorhaube geschleudert und bleibt auf dem Gehweg liegen. Äußerlich sind kaum Verletzungen zu erkennen. Der Wiederbelegungsversuch von den Sanitätern vor Ort ist erfolgreich. Mit einem Hubschrauber wird Christian in die medizinische Hochschule nach Hannover geflogen. Das war vor 28 Jahren. „Diese Aussage, er sei tot, habe ich überhaupt nicht begreifen können. Denn ich habe ihn angefasst: Er war warm und ich habe gesehen, dass er beatmet wurde. Alle meine Vorstellungen von Leben waren in Bewegung. Er wurde behandelt wie jeder Intensivpa-

tient. Da gab es keinen Stillstand, keinen Tod“, erzählt Christians Mutter heute. Renate Greinert lebt mit ihrem Mann in Wolfsburg. Verschiedene Accessoires anderer Kulturen im Wohnzimmer zeugen von Reisen durch die ganze Welt. Lächelnd sitzt sie am Esstisch und umschließt mit beiden Händen ihre Teetasse. Damals verschweigen ihr die Ärzte, dass ihr Sohn hirntot sei. „Unter Hirntod versteht man den endgültigen und nicht wiederbringbaren Ausfall des Großhirns, des Zwischenhirns, des Kleinhirns bis hinein in den Hirnstamm. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten“, erklärt Professor Ulrich Frei, ärztlicher Direktor der Charité in Berlin. Er kennt Renate Greinert und die Geschichte ihres Sohnes. In der eingangs beschrieben Szene hatte der Arzt den sogenannten Apnoe-Test durchgeführt. Der letzte Test, um den Hirntod eines Menschen eindeutig festzustellen. „Das ist eine relativ komplizierte Untersuchung, da man den Patienten nicht schädigen darf“, erläutert Frei. Der Spezialist für Nierentransplantation erläutert, dass für eine vollständige Diagnose des Hirntodes mehrere Schritte notwendig sind. Zuerst wird durch verschiedene Tests der Reflex der Augen getestet. Mit einer Lampe wird auf die Pupille geleuchtet, der Kopf des Patienten geschüttelt oder der Augapfel vorsichtig mit einem Wattebausch berührt. „Ist der Patient hirntot, reagiert dieser

auf keine der erfolgten Tests, da die Reflexe, die normalerweise durch den Hirnstamm geregelt werden, nicht mehr funktionieren“, erklärt Frei. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird eiskaltes Wasser in den Gehörgang gespült, um das Gleichgewichtsorgan zu prüfen. „Normalerweise führt dies, hervorgerufen durch die Irritation des Vestibularapparates, zu einem Nystagmus, dem Flattern des Augapfels zu einer Seite hin. Auch das fällt aus.“ Des Weiteren würde das Schmerzempfinden im Gesicht durch das Zusammenkneifen der Nasenscheidewand mit Hilfe einer Klemme geprüft. Indem eine Sonde in den Hals hinabgelassen wird, werden Schluck- und Würgereflexe getestet. Aus medizinischer Sicht ist also alles getan, um Zweifel an der Diagnose vorzubeugen. Doch die Debatte rund um die Diagnose Hirntod ist kontrovers. Der Mensch als solcher ist durch die Einheit aller Organe bestimmt. Das Gehirn ist nicht als allein verantwortliche Steuereinheit zu verstehen, sagen die Kritiker. Sie verstehen den Tod als Prozess. Einen wichtigen Prozess im Leben. Daher ist ein Hirntoter allenfalls ein Sterbender und kein Toter. Nein, das Gehirn sei mit einem zentralen Steuerwerk für den Organismus gleichzusetzen. Ohne Gehirn ist keine Atmung, sind keine Reflexe möglich. Der Mensch ist zwar physisch vorhanden, kann sich aber in keiner Form mehr ausdrücken, sagen die HirntodBefürworter. Für Renate Greinert steht fest: „Der


Leben und menschen

Hirntod ist die größte Lüge in der Medizin.“ Der Tod ihres Sohnes ist Anlass für sie, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Sie gründet die KAO „Kritische Aufklärung über Organspende e.V.“. Es ist eine Anlaufstelle für Eltern, Verwandte oder Bekannte, die nicht verstehen können, warum ein Mensch für tot erklärt wird, dessen Brustkorb sich deutlich hebt und senkt. „Wir hören uns alles an, fragen mal nach und ermuntern sie, loszulassen und einfach mal auszusprechen, was Furchtbares für sie passiert ist.“ Renate Greinert kämpft für Gerechtigkeit. Sie möchte nicht als eine traumatisierte Mutter dargestellt werden, die den Draht zur Realität verloren hat. Für Professor Ulrich Frei ist dieser Zweifel an der Hirntod-Diagnose unbegreiflich. Er ist davon überzeugt, dass sie eindeutig und sicher ist, da die Untersuchung von zwei verschiedenen Ärzten durchgeführt wird. „Es sind Fachärzte. Sie müssen in erster Linie unabhängig vom Transplantationsteam sein. In der Regel sind das

Neurologen. Die kommen entweder in vielen Fällen aus einer anderen Klinik oder zumindest aus einem anderen Teil des Krankenhauses.“ Trotzdem bleibt bei vielen Menschen die Angst vor einer vorschnellen Hirntod-Diagnose. Wer kann ihnen mit Sicherheit sagen, dass die Untersuchung einwandfrei durchgeführt wird? Gerade vor dem Hintergrund, dass es in Deutschland zu wenig Spenderorgane gibt und laut Bundesärztekammer täglich drei Menschen auf der Warteliste sterben? Der Professor aus Berlin kann diese Zweifel nicht nachvollziehen. „Ich bin jetzt fast 40 Jahre im Krankenhausbetrieb. Ich kann ihnen sagen, die Ärzte wollen primär Leben retten. Für diejenigen, die primär behandeln, ist es eine Niederlage, wenn sie es nicht schaffen.“ Die Diskussion erscheint wie ein Rennen im Hamsterrad. Aussage steht gegen Aussage. Eines ist jedoch klar: Ohne die Diagnose Hirntod gäbe es keine Organtransplantation und damit auch keine Transplantationsmedizin.

Letzten Endes stimmt Familie Greinert einer Organentnahme ihres Sohnes im Februar 1985 zu. Sie wollten „helfen“. „Es war der größte Fehler meines Lebens“, sagt Renate Greinert, streicht sich durch ihr graues Haar und schaut zum Fenster hinaus. „Mein Kind konnte nicht sicher in den Tod hinübergleiten, sein Lebensschiff ist übergangslos abgestürzt.“

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Politik und wirtschaft

Dem Deutschen Volke? Täglich fallen in Berlin Entscheidungen, die das Volk nicht nachvollziehen kann. Wenn Abgeordnete nicht wissen, was die Regierung tut. Melanie Weinert

Wer billig kauft, zahlt doppelt. Wer teuer kauft, erst recht!

2011 hat Fukushima verdeutlicht, was in Deutschland niemand haben will – eine Atomkatastrophe. Seitdem ist der Atomausstieg beschlossene Sache und es wird immer mehr auf erneuerbare Energien gesetzt. Die schonen zwar die Umwelt, aber keinesfalls den Geldbeutel. Timm Granzow Das Internet –

Freiheitstechnologie und Manipulationsinstrument

Ben Scott über die Bedeutung des Internets für die Kriege der Zukunft, die sich verschiebenden politischen Machtverhältnisse durch das Internet und das Wettrüsten der Software-Entwickler. Johann-Caspar Bertheau Die Flucht der Akademiker –

Wer darf in Deutschland Arbeiten?

Deutschland – nach Überwindung aller Wirtschafts- und Finanzkrisen der vergangenen Jahre weist es als einziges Land in Europa eine geringere Arbeitslosigkeit als zuvor auf. In Punkto Integrationspolitik und Abbau von Vorurteilen scheint es allerdings versagt zu haben. Enis Igde Stechen, Schlagen, Treten –

Gewalt gehört schon fast zum Großstadt-Alltag

Egal ob Messerstechereien, Tritte gegen den Kopf eines am Boden liegenden Opfers, Prügelattacken mit Fäusten oder mithilfe von Gegenständen: Die urbane Gewalt ist trauriger Bestandteil des Alltags deutscher Großstädte. Timm Granzow

Stadt, Land, Waffe

„Mr. President, we are praying for your action!“

Schläger an den Gleisen

Samantha J. Walther

Öffentliche Verkehrsmittel werden in Berlin immer öfter zum Schauplatz brutaler Übergriffe und Schlägereien Jessica Küppers

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Politik und Wirtschaft

Dem deutschen volke? Täglich fallen in Berlin Entscheidungen, die das Volk nicht nachvollziehen kann. Wenn Abgeordnete nicht wissen, was die Regierung tut.

Berlin, im Regierungsviertel. Graue Wolken ziehen über das Reichstagsgebäude, an dem schaulustige Touristen vorbeigehen. Neugierige Blicke fallen auf das Gebäude von 1894, an das Kaiser Wilhelm II. 1916 in großen Lettern „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ schreiben ließ. Doch wer einen Blick in das Parlament werfen will, muss sich erst einer Sicherheitskontrolle unterziehen, die strenger erscheint als auf dem Flughafen Frankfurt am Main. Was hinter diesen Mauern entschieden wird, ist oft geheim. Eine Teilnahme an den Debatten im Plenum ist erlaubt – als Zuschauer, von einer Tribüne aus. Jacken sind an der Garderobe abzugeben. Wer sein Handy mitnimmt und beim Tippen erwischt wird, den ermahnen freundliche, aber aufmerksame Bundestagsmitarbeiter „Ausschalten bitte!“ Länger als eine Stunde bleibt keine Besuchergruppe. Nie lang genug, um eine ganze Debatte mitverfolgen zu können. „Warum sitzen da nur so wenige Abgeordnete? Das Plenum müsste doch voll sein, arbeiten die denn nie?“, fragt Gaby G. aus Berlin, die sich eine Debatte zum Thema Patentierung konventionell gezüchteter landwirtschaftlicher Nutztiere und -pflanzen angeschaut hat. TOP 9 an

diesem Tag. Was das Volk meist nicht weiß: Die Entscheidungen fallen nicht im Plenum, sondern bereits in den Ministerien. In Arbeitsgruppen, Kommissionen, Ausschüssen, Kabinetten. Eines davon ist das Sicherheitskabinett der Bundesregierung: Der Bundessicherheitsrat. Ein Gremium, das aus sieben Ministern undder Bundeskanzlerin besteht.Zu Fragen der inneren Sicherheit entscheiden hier die Minister des Auswärtigen, der Finanzen, des Inneren, der Justiz, der Verteidigung, der Wirtschaft und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Eine dieser Entscheidungen fiel irgendwann im Laufe des Jahres 2010. Die Lieferung von 270 Panzern des Typs Leopard 2 an das totalitär geführte Königreich Saudi-Arabien; ein Land, an das Waffenlieferungen bis dahin als Tabu galten. So fragte der saudische König Chalid schon im Jahre 1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt nach dem heißbegehrten Flaggschiff der deutschen Firma KraussMaffei Wegmann. Schmidt konnte dem Superdeal nicht widerstehen und versprach dem König die Lieferung. Das Geschäft kam nicht zustande, die Widerstände innerhalb der Bundesregierung waren zu groß. Und dabei blieb es auch. Die folgenden Bundesregierungen hielten sich alle strikt an die restriktiven

Melanie Weinert

Rüstungsexportrichtlinien Deutschlands. Helmut Schmidts Versprechen an die Saudis von 1982 scheint nun ausgerechnet die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland einzulösen: Angela Merkel. Grund: Sicherheitspolitische Interessen in der Krisenregion. „Was kann es für sicherheitspoltische Interessen geben, die arabische Habinsel aufzurüsten?“, fragt Katja Keul, Bundestagsabgeordnete der Grünen-Fraktion und verweist auf die Rüstungsexportrichtlinie der Bundesregierung: „In Spannungsgebiete darf nicht geliefert werden!“ Tatsächlich besagen die Richtlinien, denen seit Januar 2000 jede Bundesregierung verpflichtet ist, dass die Menschenrechtslage im Empfängerland eine besondere Rolle für etwaige Ausfuhren spielt. Keuls Hauptkritikpunkt an der deutschen Rüstungspolitik ist die Intransparenz gefallener Exportgenehmigungen. Denn nicht über alle Exportanträge wird vom Bundessicherheitsrat entschieden. Erscheint ein Export als unbedenklich, wird er unverzüglich vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) genehmigt. Dieses erhält jährlich rund 16.000 Anfragen. Sind sich die BAFA-Beamten nicht sicher, geht die Anfrage weiter an das Bundeswirtschaftsministerium,


Politik und Wirtschaft

das eigentlich für Exportentscheidungen zuständig ist. Erst wenn das Wirtschaftsministerium nicht in Übereinstimmung mit dem Auswärtigen Amt kommt, geht der Antrag in den Bundessicherheitsrat. Was im Bundessicherheitsrat entschieden wird, ist geheim. Seine Mitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Die Abgeordneten, unsere Volksvertreter, die bei allen anderen Themen ein Informationsrecht von der Bundesregierung haben, tappen beim Thema Rüstungsexporte regelmäßig im Dunkeln. Nur selten gelangen Informationen an die Öffentlichkeit. Aktuellen Medienberichten zufolge soll Saudi-Arabien erst kürzlich wieder mehrere Hundert Panzer des Typs Boxer sowie Patrouillenboote im Wert von 1,5 Milliarden Euro angefragt haben. „Wenn sie einen solchen Deal genehmigt, muss sich die Bundesregierung die Frage stellen lassen, was sie dann jemals nicht genehmigen würde“, empört sich Keul. Einzig der Rüstungsexportbericht gibt dem Parlament Auskunft über die genehmigten Exporte. Doch dieser trifft immer extrem spät ein. Der Bericht für 2011 kam Ende 2012 – verhindern lassen sich die Geschäfte dann in der Regel nicht mehr. „Bei allen anderen Themen ist das selbstverständlich, das Parlament kontrolliert die Regierung“, empört sich die Grünen-Abgeordnete, die zusammen mit Christian Ströbele und Claudia Roth beim Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht hat. Es geht um das Auskunftsrecht des einzelnen Abgeordneten, sagt sie. „Die Bundesregierung muss beantworten,

ob sie einen Waffenexport genehmigt hat und sie muss auch begründen, warum“, fordert Keul. Bis heute hat die Bundesregierung keine Stellungnahme zu dem Milliardendeal mit den Leopard 2 Panzern abgegeben. 152,5 Milliarden Euro setzt die Firma Krauss-Maffei Wegmann bei dem Panzerdeal mit den Saudis aus dem Jahr 2011 um. Eine nicht unbeachtliche Summe – und das in Zeiten, in denen die Umstrukturierung der Bundeswehr die schwarzen Zahlen der deutschen Rüstungsfirmen schrumpfen lässt. „Die haben ja auch nicht gejubelt, als sie diese Entscheidung getroffen haben“, sagt FDP-Bundestagsabgeordneter Christoph Schnurr, der Mitglied im Verteidigungsausschuss und Ausschuss für Abrüstungspolitik ist. Schnurr verweist auf die seit jeher vorsichtige Außenpolitik Deutschlands und die Tatsache, dass solche Deals niemals ohne Rücksprache mit den USA und Israel ablaufen könnten. Fakt ist, dass sich die israelische Regierung zu dem Deal nicht öffentlich geäußert hat. Frei nach dem Motto der Feind meines Feindes ist mein Freund, könnte Israel die Aufrüstung Saudi-Arabiens als stabilisierenden Faktor für die Region tolerieren. Denn nicht nur Frau Merkel befürchtet eine atomare Rüstung des saudischen Nachbarn Iran, sondern auch Israel. Fakt ist aber auch, dass Deutschland im Jahr 2010 ein Rekordhoch an Rüstungsexporten verzeichnen konnte: 780 Millionen Euro mehr als ein Jahr zuvor. Der Wert der erteilten Rüstungs-

ausfuhren ist hingegen gesunken, um 289 Millionen Euro. Ein wichtiger Aspekt bei diesen Exporten ist, an wen geliefert wird. „Wenn an einen NATO-Partner geliefert wird, habe ich da weniger Bauchschmerzen, als wenn die Waffen an ein Land gehen, das in einem Spannungsverhältnis lebt“, betont der FDP-Politiker Schnurr. 71 Prozent der Rüstungsexporte der Deutschen gingen 2010 an EU, NATO und NATO-gleichgestellte Länder. 29 Prozent entfielen auf Drittländer. Und davon wiederum 7 Prozent auf Entwicklungsländer. „Wenn Milliarden von Rüstungsgütern in die Schweiz exportiert würden, wäre das völlig anders zu bewerten, als wenn nur ein Teil der Summe an Pakistan oder Angola geschickt wird“, erklärt Tim Kuschnerus, evangelischer Geschäftsführer der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE). Der ökumenisch organisierte Arbeiterverbund äußert sich grundsätzlich zu Fragen der Entwicklungspolitik und legt jährlich einen eigenen Rüstungsexportbericht vor. Über eins sind sich alle einig: Wenn ein Wirtschaftszweig wegbrechen würde, der wie die Rüstungsindustrie nur 0,25 Prozent des gesamtdeutschen Exportvolumens abdeckt – bräche nicht gleich die gesamte Volkswirtschaft zusammen.

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Politik und Wirtschaft

Wer billig kauft, zahlt doppelt. Wer teuer kauft, erst recht! Fukushima hat 2011 verdeutlicht, was niemand in Deutschland haben will – eine Atomkatastrophe. Seitdem ist der Atomausstieg beschlossene Sache und es wird immer mehr auf erneuerbare Energien gesetzt. Die schonen zwar die Umwelt, aber keinesfalls den Geldbeutel. Timm Granzow Ein jeder in der Öko Szene weiß schon lange, gesund ist teuer. Und das obwohl wahrscheinlich niemand den genauen Grund dafür kennt - außer, dass es halt gesund ist. Arm, aber sexy. Der Slogan, den Klaus Wowereit prägte und unter dem Berlin bundesweit bekannt ist. Doch langsam trifft dieser für die gesamte Republik zu. Doch dass der Slogan eigentlich mehr als nur drei Worte umfasst, wissen die Wenigsten. Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass „Arm, aber sexy“ schon immer eine Ellipse war. Denn vollständig lautet der Satz eigentlich, arm werden nur die Bürger. Wir erhöhen die Mietpreise, wir erhöhen die Benzinpreise und jetzt erhöhen wir auch die Strompreise und niemand wehrt sich – das ist sexy. An sich ist eine Energiewende gar nichts Schlimmes. Sie ist sogar gut und wünschenswert. Warum also die Aufregung wegen ein paar Euro mehr, wenn man dafür sicher gehen kann, nicht eines Morgens atomar verseucht Jahr

Erzeugung, Vertrieb

(Anteil Netzentgelt)

2008 2009 2010

13,00 (5,92)

14,11 (5,80)

13,89 (5,81)

2011

13,80

2012

14,17

(5,75) (6,04)

aufzuwachen? Nehmen die Deutschen jetzt schon den Schotten nachgesagten Geiz an und riskieren lieber ihre Gesundheit? Nein, machen sie nicht. Zumindest nicht in diesem Fall. Was die Allgemeinheit aufregt, ist der Fakt, dass die Kosten wie so oft auf die Steuerzahler abgewälzt werden. Der Staat verlangt von Eon, RWE und Co immer höhere Steuern und Abgaben, welche ganz im Geiste des Kapitalismus die Strompreise ansteigen lassen, da kein großes Unternehmen durch solche Bedingungen Verluste erleiden will. Ein Grund, wenn nicht sogar der Hauptgrund, ist der Umstieg auf andere Energien durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), welches das erste Mal 2000 in Kraft trat. Ziele sind zum einen die volkswirtschaftlichen Kosten zu senken, fossile Energieressourcen zu schonen, aber auch die erneuerbare Energiegewinnung zu fördern. Diese sind zwar ökonomischer und gesünder, aber auch deutlich teurer. Allein bei Vattenfall war zwischen 1998 und 2010 ein Anstieg der Steuern und

Abgaben um fast 20% zu vermerken. Und das liegt inzwischen drei Jahre zurück. Zum 1. Januar 2013 stiegen allein in Hamburg die Preise durchschnittlich um 12,9 Prozent. Inzwischen kommen die „Ottonormal Bürger“ nicht nur für die zahlreichen Steuern, wie die Ökosteuer auf, sondern entlasten auch die Großkunden von den Netzkosten. Auch für Pannen beim Netzanschluss der Offshore Anlagen auf hoher See wird mittlerweile Geld vom Steuerzahler verlangt. Kosten, die vermieden werden könnten und vom Verbraucherschutz stark kritisiert werden. Zu Recht, wie auch der Grünen-Energieexperte Oliver Krischer findet. Er forderte die Bundesregierung auf, dass sie anstelle der Verbraucher selbst für die Kosten aufkommen soll. Doch ob dies Anklang in der Politik findet, bleibt fraglich. Der Geist des Kapitalismus ist stark. Der Wille, ihn gut einzusetzen, schwach.

Konzessionsabgabe

Stromsteuer = Ökosteuer

KWK Umlage

§19 Umlage

EEG Umlage

USt.

Strompreis Brutto ct/kWh

Anteil Steuern, Abgaben, Umlagen

1,79

2,05

0,19

0,00

1,16

3,46

21,65

39,9 %

1,79

2,05

0,24

0,00

1,31

3,71

23,21

39,2 %

1,79

2,05

0,13

0,00

2,05

3,78

23,69

41,3 %

1,79

2,05

0,03

0,00

3,53

4,03

25,23

45,3 %

1,79

2,05

0,002

0,15

3,59

4,13

25,89

45,3 %

Durchschnittlicher Strompreis in Cent/kWh für einen Drei-Personen-Haushalt mit einem Stromverbrauch von 3.500 kWh pro Jahr. Quelle: BDEW, * BDEW Stand: Oktober 2012, Quelle Netzentgelt: Statista


politik und wirtschaft

DAS iNTERNET – FREIHEITSTECHNOLOGIE UND MANIPULATIONSINSTRUMENT Johann-Caspar Bertheau führte mit Ben Scott ein ausführliches Interview – über die Bedeutung des Internets für die Kriege der Zukunft, die sich verschiebenden politischen Machtverhältnisse durch das Internet und das Wettrüsten der Software-Entwickler. Johann-Caspar Bertheau Wir befinden uns im Gebäude der Stiftung „neue Verantwortung“ in Berlin am Potsdamer Platz. Ben Scott sitzt entspannt in einem Drehstuhl. Seine auf den ersten Blick unscheinbare Erscheinung täuscht. Scotts Karriere begann bei der gemeinnützigen Organisation „Free Press“. Sie fungiert in Debatten zu Medienkommunikation, Medienpolitik und Technologie als unabhängiges Sprachrohr für die Öffentlichkeit. Später arbeitete er für das US-amerikanische Außenministerium als Berater von Hillary Clinton. Aktuell ist er für die Stiftung „neue Verantwortung“ aktiv, die in einer Partnerschaft mit dem Open Technology Institute in Washington, D.C. arbeitet. Hier erörtert er neue Werte, Möglichkeiten, aber auch Risiken, die das Internet in der heutigen politischen Landschaft mit sich bringt. Knorke: Welche Rolle spielte das Internet während des „Arabischen Frühlings“? Ben Scott: Nachdem der „Arabische Frühling“ begonnen hatte, gab es viele Artikel über die „Facebook“- und „Twitter“-Revolution. Soziale Netzwerke starten keine Revolution, sondern hohe Essenspreise, 20 Jahre soziale Unruhen und wirtschaftliche Ungerechtigkeit. Soziale Netzwerke und das Internet erleichtern nur die Organisation von politischen Bewegungen. Sie sorgen dafür, dass die Menschen merken „Hey, meine Nachbarn haben die gleichen Sorgen und Probleme mit den aktuellen Machthabern in meinem Land wie ich“. Wie glauben Sie denn, war es möglich, dass so viele unterschiedliche Menschen zur selben Zeit im Zentrum Kairos zusammenkommen konnten? Digitale Netzwerke. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der Durchschnittsbürger über soziale Netzwerke endlich ein Mitspracherecht erhalten hat. Es gab diese ikonischen Bilder von riesigen Men-

schenansammlungen in Kairo, Tunesien und Syrien. Oft standen mitten in der Menge Typen, die Poster mit ihren Twitter-Adressen in die Luft hielten. Ihr Ziel waren die Kameras auf den Dächern gegenüber. Journalisten, die dann das Material sichteten, sahen diese Bilder und dachten sich „Hey der Typ ist ein Augenzeuge und hält seinen Twitter Feed in die Höhe lass uns den mal angucken“. So bekamen junge Ägypter mit ihrer Geschichte auf Twitter ein dreistelliges Millionenpublikum beim arabischen Nachrichtensender Al Jazeera. Knorke: Könnten sich Ihrer Meinung nach die Machtverhältnisse im Nahen Osten durch das Internet komplett verändern? Ben Scott: Ich denke, wir sollten den Einfluss von Internetzugriff nicht unterschätzen. Beispielsweise sind nur 25 Prozent der Ägypter online. Das ist keine beeindruckende Zahl. Insbesondere, da eine ähnliche Prozentzahl der Ägypter Analphabeten sind. Von diesen 25 Prozent, die online sind, nutzen vielleicht 10 bis 15 Prozent soziale Netzwerke. Der durchschnittliche Benutzer sozialer Netzwerke ist der Mittelschicht zugehörig, unter 40 und gebildet. Diese Menschen verfügen aufgrund ihres sozialen Status auch über offline Netzwerke. Das sind keine Bauern, die in einer 20-Personen-Gemeinde leben. Trotz ihrer geringen Zahl haben sie durchs Internet also plötzlich einen enormen Einfluss. Interessant ist auch, inwieweit die ersten Geschehnisse des „Arabischen Frühlings“ in Tunesien die Nachbarländer inspiriert haben. Al Jazeera spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle: Sie hoben die Revolution hervor und machten die Wichtigkeit der jungen Bevölkerung deutlich. Ich denke, das wird einen dauerhaften Einfluss auf die nächste

Generation Machthaber im Nahen Osten haben. Der Idealist in mir glaubt, dass das zu größerem Pluralismus und einer sympathischeren Gesellschaft führt. Dies könnte aber auch zu größeren Investitionen in Überwachungstechnologie führen und Machthaber dazu verleiten, das Internet als Verfolgungsinstrument zu nutzen. Knorke: Wie ist es möglich, Internetzensur zu umgehen? Ben Scott: Nutzer in Ländern mit Internetzensur sollten auch auf geblockte Inhalte zugreifen können. Hillary Clinton hat sich stark dafür eingesetzt. Es gibt verschiedene Arten von Umgehungstechnologien– komplizierte und simple. Die Grundidee bleibt dieselbe. Es handelt sich meist nur um ein Stück Software, das es dir möglich macht, die Blockade zu umgehen. Eine kompliziertere Variante erlaubt es dir, deine Kommunikation und den Standort deines PCs zu verschlüsseln. Die Firewall, die den gewünschten Inhalt blockiert, zu umgehen und Überwachung durch Verschlüsselung zu vermeiden, sind also die beiden meistgenutzten Wege gegen Internetzensur. Knorke: Ist das Software-Wettrüsten der Kalte Krieg des 21. Jahrhunderts? Ben Scott: Das ist ein naheliegender Vergleich. Aber die Waffen sind zunächst einmal virtuell. Hauptdarsteller des Konflikts sind nicht nur ganze Nationen, sondern auch einzelne Individuen. Jedes Mal, wenn jemand eine neue Umgehungstechnologie entwickelt, lässt die Überwachungstechnologie-Industrie nicht lange mit einer neuen Technologie auf sich warten. Benutzer der Umgehungstechnologie besitzen meist kaum Geld. Ohne Geld – keine Industrie für Umgehungstechnologie. Die meisten sind Aktivisten und politisch Ver-

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Politik und wirtschaft

folgte. Haben sie endlich eine gute Software, wird diese innerhalb von sechs Monaten von der Überwachungsindustrie gekontert. Dann musst du eine neue Software entwickeln. Es ist ein ständiges Katz-undMaus-Spiel. Der Großteil dieser Umgehungstechnologie wird von Hackern, gemeinnützigen und Menschenrechtsorganisationen entwickelt. Nicht, weil ein Markt dafür existiert, sondern weil es notwendig ist.

anzurichten. Sie können Informationen stehlen, elektrische oder Transportnetze unterbrechen, aber keine Bombe werfen. Ich glaube, dass CyberWaffen in allen zukünftigen Konflikten auf dieser Erde zumindest eine Rolle spielen werden. Es wird nie wieder einen militärischen Befehlshaber geben, der seine Männer in feindliches Gebiet schickt, ohne vorher die Informationsressourcen des Feindes angegriffen zu haben.

Knorke: Wird das Internet die Kriege der Zukunft entscheiden?

Knorke: Ist das Internet ihrer Meinung nach eher eine Freiheitstechnologie oder ein Mittel, um ganze Nationen zu kontrollieren und manipulieren?

Ben Scott: Alle Debatten zu CyberWaffen und Cyber-Kriegen sind rein spekulativ. Es gibt noch zu wenige Erfahrungen mit tatsächlichen Geschehnissen dieser Art und Weise. Wie werden Cyber-Waffen der Zukunft aussehen? Wie kraftvoll werden sie sein? Es ist eher unwahrscheinlich, dass sie zu einem eigenen Kriegsgebiet werden. Sie neigen dazu, keinen äußerlichen Schaden

Ben Scott: Es ist beides. Technologie ist politisch unparteiisch. Es ist ihr egal, was der Nutzer tut. Das Internet hilft dir dabei, soziale Bewegungen und Demokratie zu unterstützen. Es hilft dir aber auch dabei, Kreditkarteninformationen zu klauen und ein kriminelles Netzwerk aufzubauen. Das Internet ist also eine Reflektion der Ge-

sellschaft, ihrer Werte und Interessen. Letztendlich muss jeder für sich entscheiden, ob er an die Menschen glaubt oder nicht. Wenn du glaubst, dass Menschen, die die Möglichkeit des Internets erhalten, es automatisch missbrauchen, bist du wahrscheinlich kein Unterstützer von Internetfreiheit. Knorke: Hillary Clinton hat die Freiheit, sich in Online-Netzwerken zu verbinden, mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit verglichen. Die Vereinigten Staaten produzieren dennoch Technologien, die eben das verhindern. Wie ist das möglich? Ben Scott: Zurzeit gibt es einen Konflikt zwischen der Unterstützung der Meinungsfreiheit im Internet und den nicht vorhandenen Ausfuhrbeschränkungen für Technologien, die ebendiese limitieren. Es sollte schnell ein Gesetz geschaffen werden, das uns die Verbreitung von Überwachungstechnologien -in Ländern, die diese nutzen, um Menschenrechtsverletzungen


politik und wirtschaft

zu begehen - stoppen lässt. Knorke: Können Sie uns einen Ausblick auf die größten Chancen und Risiken, die das Internet in Zukunft mit sich bringen wird, geben? Ben Scott: Es ist eine Chance für mehr politischen Pluralismus, wirtschaftliches Wachstum und bessere soziale Verhältnisse auf der Welt. Das Internet ist – im Gegensatz zu anderen Ressourcen, wie Öl und Gas – nicht umkämpft. Alle profitieren davon. Je mehr Menschen online sind, desto mehr potenzielle Kunden und Verkäufer gibt es. Deswegen sollte mehr dafür getan werden, das Internet weltweit zu machen. Dies würde mehr Gleichheit bedeuten. Das Internet wird nicht alle Ungerechtigkeiten auf der Welt bereinigen. Es leitet die Entwicklung aber in die richtige Richtung. Was die Gefahren des Internets betrifft, hängt viel vom Willen der Leute, ihren Regierungen und sozialen Einrichtungen ab. Die größte Kritik an der Internetfreiheit ist, dass sie es Men-

schen erlaubt, unsere Gesetze zu abstoßenden Dingen wie Kinderpornografie, Terrorismus und Hassverbrechen, zu verletzen. Es liegt letztendlich an uns, die Entwicklung des Internets so zu formen, dass sich die guten Dinge maximieren und die schlechten minimieren.

Name: Ben Scott Geboren: 14. Mai, 1977 Canyon, Texas, USA Bildung: Northwestern University of Illinois Tätigkeit: Politikberater Arbeitgeber: New America Foundation

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Politik UND Wirtschaft

Die Flucht der Akademiker – Wer darf in Deutschland arbeiten? Deutschland – nach Überwindung aller Wirtschafts- und Finanzkrisen der vergangenen Jahre weist es als einziges Land in Europa eine geringere Arbeitslosigkeit als zuvor auf. In Punkto Integrationspolitik und Abbau von Vorurteilen scheint es allerdings versagt zu haben. Enis Igde

Jeder fünfte Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Ein zunehmender Anteil von ihnen ist gut ausgebildet und hat einen Hochschulabschluss. Die Jobsuche in Deutschland ist für sie oft erfolglos. Das Ausland lockt mit lukrativen Jobangeboten, viele junge Absolventen treten ihr Arbeitsleben außerhalb der Bundesrepublik an. Dennoch versuchen sich die meisten auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren - häufig in niedrig qualifizierten Beschäftigungszweigen. Schätzungen des Bildungsministeriums belegen, dass mindestens 300.000 Migranten unter ihrer Qualifikation beschäftigt sind. Währenddessen ächzen deutsche Politiker über den Fachkräftemangel der deutschen Wirtschaft. Nach Aussagen von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, so fehlt es bereits jetzt an 36.000 Ingenieuren und gar 66.000 IT-Fachkräften. Die zunehmende Globalisierung und die Stabilität der deutschen Wirtschaft machen Deutschland zwar zu einem attraktiven Ziel für ausländische Fachkräfte, doch häufig stehen Bürokratie und veraltete Strukturen dem entgegen. Die Anerkennung von ausländi-

schen Studien und Berufsausbildungen beispielsweise stellt weiterhin ein Problem dar. Dies hat auch das Bildungsministerium erkannt und stellte kürzlich einen Gesetzesentwurf vor, der eine Vielzahl von bürokratischen Reglements aus dem Weg räumen soll. Ausländische Abschlüsse sollen so schneller bewertet und zertifiziert werden können. Betroffen sind aber nicht nur arbeitswillige Zuwanderer. Arbeitgeber benachteiligen vor allem Migrantenkinder der dritten Generation gegenüber Deutschen ohne Migrationshintergrund. Deutsche mit ausländischen Herkunftsländern werden oft als nicht ‚richtig Deutsch‘ angesehen. Aufgrund ihrer Herkunft heißt es dann oftmals: „Was bist du eigentlich?“ Oder sie stellen verblüfft fest: „Dein Deutsch ist aber gut.“ Sie sind hier geboren und aufgewachsen. Von der Kita bis zum Hochschulabschluss durchleben sie die gleichen Prozesse wie ‚richtige Deutsche‘. Auch der Staat erkennt sie mit deutschem Pass als vollwertige Deutsche an. Aus einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung geht allerdings hervor, dass deutsche Absolventen mit ausländischer Herkunft

20 Prozent niedrigere Chancen bei Betrieben haben. Ein ausländischer Name reicht oft aus, um bei gleicher Qualifikation aussortiert zu werden. Die Gewerkschaften bezeichnen dies als Verschwendung und sprechen von struktureller Diskriminierung. Die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan fasst das Selbstbild vieler Migranten der dritten Generation in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung wie folgt zusammen: „Wir sind nicht mehr die Türken, die Araber, die Afrikaner, die unsere Eltern vielleicht waren. Wir sind die neuen Deutschen.“ Deutschland hat sich längst zu einem multikulturellen Land gewandelt. Es ist Zeit für ein Umdenken, ein neuer Anstoß von Akzeptanz ist notwendig. Der ‚Neue Deutsche‘ sollte fest in die Wirtschaft integriert werden. Es sollten Chancengleichheit und Akzeptanz auf dem Arbeitsmarkt, auch für Bewerber mit vermeintlich ausländlichem Hintergrund, herrschen. Ansonsten droht eine große Auswanderungswelle von Fachkräften - denn das Ausland lockt wie nie zuvor!


POLITIK UND WIRTSCHAFT

Stechen, Schlagen, Treten – Gewalt gehört schon fast zum GroSSstadtAlltag Egal, ob Messerstechereien, Tritte gegen den Kopf eines am Boden liegenden Opfers, Prügelattacken mit Fäusten oder mit Gegenständen. Die urbane Gewalt ist trauriger Bestandteil des Alltags. Timm Granzow Das belegen auch wieder Vorfälle aus Berlin. Eine der Taten hatte sich zwar schon im März letzten Jahres abgespielt, doch ist genau diese das beste Beispiel für sinnlose Gewalt im urbanen Leben. Der seit dem 18.03.2012 fast dauerhaft in Untersuchungshaft sitzende 22 -jährige Patrick W. sieht sich gleich drei Klägern gegenüber. Und das wegen „dem Versuch, Menschen zu töten ohne Mörder zu sein“, so die Anklage. Patrick W. wirkt abgeklärt und gleichgültig. Ihm wird vorgeworfen, in der Nacht vom 11. zum 12.03.2012 mit Beihilfe anderer an zwei verschiedenen Orten in Berlin Streit heraufbeschworen und anschließend seine Kontrahenten mit einem Messer attackiert zu haben. Ein Stich in den Bauch, einer am Hals, ein anderer am Arm und zwei in den Rücken - so lautet die traurige Bilanz des Abends. Ohne das schnelle Einschreiten der Rettungskräfte, wären die drei Opfer vielleicht nicht mehr am Leben.

STADT

Auf Nachfragen bei den Kioskbesitzern am S-Bahnhof Warschauer Straße, wo das erste Opfer angegriffen wurde, ist neben Skepsis auch deutlich Angst zu spüren. „Da musst du meinen Chef fragen, der hat die Nachtschicht. Abends ist es mir hier zu gefährlich“. Doch sind unsere Großstädte wirklich so gefährlich wie es den Anschein hat? Laut der im Mai von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik (2011) ist die Zahl der Straftaten um ein Prozent gestiegen. Und das zum ersten Mal seit sieben Jahren. Jedoch stehen dabei Diebstahldelikte im Vordergrund, während die Zahl der Gewalttaten zurückgegangen ist. Parallel dazu ist die Aufklärungsquote um 1,3 Prozent auf insgesamt 54,7 Prozent, gesunken.

während München eine der sichersten ist? Was unterscheidet diese Städte grundlegend voneinander? Die Antwort, scheint der Lebensstandard. Während im Bundesdurchschnitt in den meisten Städten fast jeder fünfte finanziell schlecht da steht, ist es in München nur knapp jeder zehnte. „Armut ist ein vielschichtiges Problem, das viele Ursachen haben kann und zahlreiche Folgen. Manchmal hat Armut nur eine einzelne Ursache – beispielsweise die Arbeitslosigkeit, oder eine abgebrochene Schulbildung – aber zahlreiche Konsequenzen.“, so Armut.de. Gewalt, wie sie sich im März entladen hat und fast drei Menschen das Leben kostete, ist eine dieser Konsequenzen.

Doch warum bilden Städte wie Frankfurt am Main und Berlin die Spitze der am stärksten von Kriminalität belasteten Metropolen Deutschlands,

2005

2006

2007

2008

Berlin

19,7

17,0

17,5

18,7

Hannover

21,0

19,8

20,5

22,2

Frankfurt a. M.

13,7

13,6

12,7

13,7

Leipzig

23,9

23,6

25,3

27,0

Stuttgart

13,0

13,6

13,2

14,2

Bremen

21,4

18,3

18,1

22,0

München

10,9

9,8

10,8

9,8

* Angaben in Prozent / Orte an denen Menschen am häufigsten von Armut betroffen sind / Quelle: Statistisches Bundesamt (gekürzt)

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Politik und Wirtschaft

Stadt, Land, Waffe „Mr. President, we are praying for your action!“

Waffenbesitz - weltweit ein emotionales und stark umstrittenes Thema, auch in Deutschland. Nach dem grausamen Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School im USBundesstaat Connecticut ist die Diskussion um das lockere US-Waffengesetz erneut entfacht. Präsident Obama steht unter dem hohen Druck der Waffen-Lobby. Es gilt, Republikaner und einflussreiche Demokraten zu überzeugen. Ein beinahe unmögliches Unterfangen. Die US-Bevölkerung besteht ebenfalls auf ihr Recht der Selbstverteidigung und somit auch auf das Recht des Waffenbesitzes. Und das, obwohl die USA in ihrer Geschichte durch den Gebrauch von teils vollautomatischen Schusswaffen bei Amokläufen eine hohe Zahl von Todesopfern zu verzeichnen haben. Der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School ist nach dem Schulmassaker von Bath 1927 und der Schießerei an der Virginia Tech University 2007 der drittschwerste Amoklauf an einer Schule in der Geschichte der USA: 28 Menschen kamen am 14. Dezember 2012 dabei ums Leben. Darunter die Mutter des Täters, sechs Angestellte der Grundschule, sowie 20 Kinder. Mit drei Schusswaffen, die seine Mutter legal erworben hatte, erschoss Adam Lanza seine Opfer. Anschließend richtete sich der 20-jährige Schütze selbst. Hinweise auf ein Motiv des Täters gibt es bislang nicht. Doch nicht nur die Frage nach dem Warum bleibt offen. Abermals übten sämtliche ausländische Medien Kritik an dem USamerikanischen Waffengesetz.. Denn wenn ein 20-jähriger so leicht mit

einem halbautomatischen Gewehr der Marke Bushmaster und zwei Pistolen der Marken SIG-Sauer und Glock 27 unschuldige Menschen hinrichtet, muss nach einer Lösung gesucht werden, wie eine solche Tat in Zukunft verhindert werden kann. Was für andere Länder das Recht auf Meinungsfreiheit ist, ist für die USAmerikaner ihr Recht auf Waffenbesitz. „Ich bestehe auf meine Waffe!“, erklärt die 51-jährige Mutter zweier Kinder und ehemalige Schulbusfahrerin Jeanne Jones Williams aus Mays Landing, New Jersey. Wie viele Waffen sie zu Hause hat? „Eine Menge! Vor allem Gewehre und Pistolen.“ Dass es in den USA vermehrt Waffengewalt gibt, verneint sie nicht. Williams stellt aber klar, dass Gewalt auch durch Alkoholkonsum oder Messer und Fäuste beeinflusst wird. Daher ist sie strikt gegen die Verschärfung der Waffengesetze: „Kriminelle werden immer in der Lage sein, sich Waffen zu beschaffen. Uns Bürgern Waffen wegzunehmen, wird Probleme nicht lösen. Und diejenigen, die sich anständig an unsere Gesetze halten, hätten dann keine Möglichkeit mehr, sich zu verteidigen!“, ist sich Williams sicher. Auch ihre Kinder, die 21-jährige Megan und ihr 16-jähriger Sohn Jake, übten sich schon früh im Umgang mit Waffen. Bereits mit sechs Jahren hielt Megan ihre erste Waffe in den Händen. Regelmäßig gehen sie und ihr Bruder ihrem Hobby auf einem Schießstand nach. „Kinder sollten schon in der Schule lernen, Waffen zu respektieren und zu gebrauchen“, erzählt Megan. „Nur so können sie sich auch später verteidigen! Es sollte auch Waffen in den Schulen geben, dann hätten sich

Samantha J. Walther

die Opfer von Newtown schützen können.“ To Keep and Bear Arms. Waffen besitzen und tragen – ein in den USA tief verankertes Recht, auf das kaum ein US-Bürger freiwillig verzichten würde. 1791 verabschiedet, verbietet der 2. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten der Regierung sogar das Recht auf Besitz und Tragen einer Waffe einzuschränken. Und genau bei diesem Recht stößt Obama an seine Grenzen. Der Gesetzestext lässt nämlich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu. Und nach Aussage des fwr (Forum Waffenrecht) können 41Prozent aller US-amerikanischen Haushalte auf dieses Recht nicht verzichten. Das sind 47 bis 53 Millionen US-Haushalte, die im Besitz einer Waffe sind. Und das wiederum sind 70 bis 80 Millionen erwachsene US-Bürger, für die Waffen jederzeit zugänglich sind – auch für 20-jährige Amokläufer wie Adam Lanza. Nach einer Statistik des Onlineportals Statista wurden allein in den USA 241 Menschen bei insgesamt 16 Amokläufen in den Jahren 1966 bis 2012 getötet. Selbstmordattentäter nicht mitgezählt. 241 Opfer in den USA. Im Vergleich zu Deutschland eine große Differenz: In der Bundesrepublik mussten bei den Amokläufen 2002 in Erfurt und 2009 in Winnenden 31 Menschen ihr Leben lassen. Aber warum hat Deutschland eine niedrigere Zahl an Amokläufen mit Todesopfern als die USA? Sicher ist, dass das deutsche Waffengesetz international als eines der strengsten gilt. Sicher ist auch, dass die Politik in Deutschland besonders seit dem Amoklauf in Erfurt versucht, die Verbreitung und den Missbrauch von


Politik und Wirtschaft

Waffen noch stärker einzuschränken. Beispielsweise die Anhebung der Altersgrenze zum Waffenerwerb für Privatpersonen von 18 auf 21 Jahren. Ein Erwerb ab 18 Jahren ist erst dann rechtens, wenn ein Bedürfnis – wie die Jagd, Mitgliedschaft im Sportschießclub oder zum Selbstschutz – vorliegt. Unter 21-jährige müssen für den Antrag einer Waffenbesitzkarte ausnahmslos ein medizinischpsychologisches Gutachten vorlegen. Und zur Kontrolle über deutsche Waffenbesitzer führte das Bundesinnenministerium am 1. Januar 2013 das neue Nationale Waffenregister ein. Dieses verzeichnet sämtliche Informationen über genehmigungspflichtige Waffen und soll die Überprüfung der legalen Waffenbesitzer erleichtern. Insgesamt sind nach Angaben von SpiegelOnline 5,5 Millionen im Privatbesitz befindliche Waffen in dem neuen nationalen Register verzeichnet. Auch wenn es in Deutschland bisher lediglich zwei Schul-Amokläufe mit Todesfällen gab, so ist die Summe von insgesamt zehn Amokläufen in den Jahren 1871 bis 2009 – mit allein 19 Schwerverletzten in den letzten elf Jahren – nicht zu ignorieren. Wie Stern.de im Dezember 2012 in einer Grafik zum Waffenbesitz zeigt, gibt es sogar über 25 Millionen Waffen in Deutschland. Insbesondere illegal erworbene Waffen. In den USA hingegen sollen sich sogar 270 Millionen Schusswaffen in Privatbesitz befinden. Gibt es durch viele Waffen auch zwangsläufig viele Tote? Nach Berechnung von

GunPolicy.org besteht in den meisten Ländern ein Zusammenhang: In der Türkei, die circa neun Millionen Schusswaffen in Privatbesitz verzeichnet, gibt es beispielsweise 6,0 Tötungsdelikte pro Millionen Einwohner. Bei den USAmerikanern sind das 29,8 Tötungen pro Millionen Einwohner. Mexiko hat bei circa 15,5 Millionen Waffen eine Rate von 100 Tötungen. Je mehr Waffen im Umlauf sind, desto mehr Menschen können also auch erschossen werden. Ausnahme Deutschland: Bei einer vergleichsweise hohen Anzahl an Schusswaffen im Land ist die Zahl der Tötungsdelikte im Jahr mit zwei Menschen pro Millionen Einwohnern gering. Wie dieser niedrige Wert möglich ist? Die Antwort: Deutschlands strenges Waffengesetz. Dadurch, dass ein großer Teil der hiesigen Waffen in Schützenvereinen aufbewahrt wird, werden spontane Zugriffe verwehrt. „Mehr Waffen bedeuten mehr Missbrauch von Waffen“, so der politische Kommentator Prof. John Lott der University of Illinois. „Völliger Humbug!“, meint hingegen Jeanne Williams. „Ich lebe in einem ländlichen Gebiet und fühle mich dort auch sehr sicher, aber sollte jemand in mein Haus einbrechen und das Waffengesetz verbietet mir, ein Gewehr in meinem eigenen Heim aufzubewahren – soll ich ihn dann mit einer Gabel töten?!“ Ob Jeanne Williams jemals ihr Recht auf Waffenbesitz aufgeben würde? „Auf gar keinen Fall!“ So wie Jeanne Williams denken viele

Amerikaner. Doch es gibt auch einige, die sich für eine Verschärfung des Waffengesetzes aussprechen: „Mr. President, we are praying for your action!“, stand in großen Lettern auf dutzenden Plakaten derer Menschen, die sich nur Stunden nach dem Amoklauf in Newtown vor dem Weißen Haus in Washington versammelten und eine Verschärfung des Waffengesetzes von Obama forderten. Sie hoffen auf das Verbot des Erwerbs vollautomatischer Schusswaffen. Und dafür plädiert auch Präsident Obama. Dem Druck seitens der größten Waffen-Lobby NRA (National Rifle Association) - die den Zorn des Präsidenten auf sich zog, als sie seine Töchter in einem Werbespot gegen schärfere Waffengesetze in den Mittelpunkt stellte gibt Obama nun Konter: Mitte Januar 2013 sprach er sich für ein Verbot von Sturmgewehren aus. Unterdessen trat im Bundesstaat New York das schärfste Waffengesetz aller 50 Staaten in Kraft: Sturmgewehre, sowie Magazine mit mehr als sieben Schuss sind von nun an nicht mehr für den Privatbesitz erlaubt. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Ein Bundesstaat wird jedoch nicht ausreichen. Die Welt schaut gebannt auf die USA und wartet auf eine Reaktion der restlichen 49 Staaten. Und vielleicht werden die Gebete der Anti-Waffen-Lobbyisten erhört. Yes, we can, Mr. President. Wir beten, dass Sie handeln!

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Politik und Wirtschaft

Schläger an den Gleisen Öffentliche Verkehrsmittel werden in Berlin immer öfter zum Schauplatz brutaler Übergriffe und Schlägereien. Jessica Küppers Es ist Donnerstagabend, 23.24 Uhr, die Bahn der Linie U5 vom Alexanderplatz nach Hönow fährt langsam in den Bahnhof Lichtenberg ein. Wie jeden Abend um diese Zeit. Es ist eine der letzten Fahrten dieses Tages und der Waggon hinter dem Fahrer ist wie immer ziemlich voll. Der Zug stoppt. An diesem Abend steigen nur wenige Fahrgäste zu und die meisten von ihnen sehen müde und gelangweilt aus. Doch kaum sind die Türen geöffnet, dringt aggressives Geschrei aus dem ersten Abteil. Zwei Männer, die sich einen Vierer-Sitz teilen, streiten lautstark. Beide sind circa 25 Jahre alt und scheinen sich zu kennen. Worum es bei der Auseinandersetzung geht, ist nicht zu verstehen. Einer der beiden, mit einem blonden Irokesenschnitt und Berliner Dialekt, stürzt sich plötzlich auf seinen Bekannten. Nur kurze

Zeit später hat er ihn mit einem gekonnten Griff im Schwitzkasten. Er scheint darin geübt zu sein. Sein Gegenüber wehrt sich und schlägt ihm ins Gesicht. Blut tropft auf den Boden. Eine Frau kreischt hysterisch: „Kann hier mal jemand eingreifen? Hier sind so viele Männer und keiner tut was!“ Damit zieht sie die Aufmerksamkeit des Angreifers auf sich. Er brüllt sie zornig an. Davon lässt sie sich nicht beeindrucken und holt ihr Handy aus der Tasche, um die Polizei zu rufen. Die übrigen Fahrgäste schauen sich hilflos an. Einige verlassen das Abteil und wechseln in einen hinteren Waggon. Mittlerweile ist überall Blut: Auf den Sitzen, am Fenster und auf der Kleidung der Schläger. Die U-Bahn bleibt weiterhin im Bahnhof stehen. Der Fahrer scheint darüber informiert zu sein, was sich in seiner Bahn abspielt. Nach endlosen Minuten des Wartens,

schubsen sich die Männer gegenseitig aus dem Zug und die Rangelei geht auf dem Bahnsteig weiter. Die Türen schließen sich und die U-Bahn fährt mit fünf Minuten Verspätung weiter. In Berlin sind solche gewalttätigen Übergriffe im öffentlichen Personennahverkehr keine Seltenheit. Aus der polizeilichen Kriminalstatistik geht hervor, dass es im Jahr 2011 insgesamt 25.182 Gewalttaten gab. Das sind knapp 10 Prozent mehr als im Vorjahr. Die aktuellen Zahlen für das Jahr 2012 werden vermutlich in der ersten Jahreshälfte 2013 veröffentlicht. Die häufigsten Delikte fallen in den Bereich der Sachbeschädigung. Körperverletzungen, wie zum Beispiel Schlägereien, machen den zweitgrößten Teil der Gewalttaten aus. Im letzten Jahr gab es circa 5000 Körper-


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verletzungen und die Zahl steigt jährlich weiter an. Diese Entwicklung bestätigt auch BVGSprecher Klaus Wazlak: „Die Gewaltbereitschaft ist sehr hoch, auch den Fahrern gegenüber.“ Mittlerweile melden sich viele Fahrer gar nicht mehr, wenn sie im Dienst beschimpft oder angespuckt wurden, so Wazlak weiter. Der Schutz der Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln ist allerdings nicht Aufgabe der BVG, sondern muss durch die Polizei gewährleistet werden.

fest, sodass er fast erstickt wäre. Solche Verhaltensmuster hat Kriminologe Hans-Jürgen Kerner schon mehrmals beobachtet. Im Interview mit dem Spiegel sagt er: „Einige Täter reagieren nur aggressiv, weil ihre Clique dabei ist. Sie wollen sich vor dem Vorwurf schützen, ein Feigling zu sein.“ Auslöser für solche Taten funktionieren unter Alkoholeinfluss oft spontan. So könnten zum Beispiel durch gezielte Äußerungen oder Gesten beim Täter alte Erfahrungen hochkochen, so Kerner weiter.

Polizeipräsenz hätte vermutlich auch einen Fall im September 2012 verhindern können. Nach einem Heimspiel wurde ein Hertha-Fan mit Down-Syndrom am S-Bhf. Olympiastadion angegriffen. Die unbekannten Täter versuchten, den Mann zu erdrosseln. Sie hatten ihm seinen FanSchal eng um den Hals geschnürt und banden ihn damit an einem Geländer

Opfern hilft in solchen Situationen oft nur die Zivilcourage anderer Fahrgäste, wie zum Beispiel von Dominik*. Der 21-jährige Berliner hat schon einmal beherzt eingegriffen: „Ich habe mitbekommen, wie ein Mann ein Mädchen im Zug angegriffen hat. Damals bin ich dazwischen gegangen und habe den Mann verjagt.“ Bei einer Schlägerei zwischen starken Männern

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wäre er allerdings vorsichtiger und würde die Polizei rufen, gibt Dominik zu. Das rät auch der Berliner Polizeisprecher Thomas Neuendorf: „Grundsätzlich gilt: Wenn möglich, greifen Sie selbst in die Situation ein, aber gefährden Sie sich dabei nicht selbst! Sonst sollten Sie besser die Polizei zu Hilfe rufen!“ * Name von der Redaktion geändert



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Jonas Art - Ein Portrait Die Geschichte eines modernen Kreuzberger Künstlers Klaas Geller

Hinter den Kulissen

Es ist Anfang Dezember. Endlich ist es wieder soweit. Das Krasnapolsky Grand Hotel öffnet seine Tore für das jährlich stattfindende Salsafestival. Von Victoria Lukowenkowa

Ödipus der „Motherfucker“ Kabarettist Bodo Wartke als Ödipus im Theater des Westens Johann-Caspar Bertheau

Freude durch Melancholie Er ist Multiinstrumentalist und besticht durch seine melancholische Stimme. Über vier Jahre war der junge Amerkaner in Europa unterwegs, um „durch das Leben etwas über die Musik zu lernen“, wie er sagt. Er gründete die Band „Beirut“ und ist jetzt nach vier Jahren endlich wieder mit ihr auf Tour Max-Marian Unger

Fraktus - Die Urväter des Techno „Ohne Fraktus wäre ich nie auf die Idee gekommen, selbst Musik zu machen“, so H.P. Baxxter. Die Electronic-Szene ist sich einig: Fraktus sind die Erfinder des Techno! Die beste Band aller Zeiten! (Die es nie gab...) Anna Sophie Triebe

Ein Andermal Musikalische Tiefenwirkung à la „Alcest“ Daniel Jahn

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Jonas Art – Ein Portrait Klaas Geller

Auf einem Parkplatz in Berlin Kreuzberg läuft mir Jonas mit energischem Gang entgegen. Nur seine langen Haare deuten an, dass er Künstler ist und kein Boxer. Nach einem kurzen Besuch beim Spätkauf begeben wir uns in seine Wohnung, die zu einem Atelier umfunktioniert ist. Weitläufige Räume ohne Türen, Skulpturen aus Draht auf Regalen und Tischen und farbbefleckter Dielenschutz . Eine fast schon klassische Werkstätte eines modernen Künstlers . Als Kleinkind ist er hier durch die Farben gekrabbelt, bis er mit zwei Jahren nach Charlottenburg zog. Denn Jonas entstammt einer Künstlerfamilie. Beste Vorraussetzungen also, um selbst einer zu werden. „Ich wollte das eigentlich nie “, erzählt er. „Zwar habe ich es immer geliebt, aber das Gleiche machen wie mein Vater kam für mich nicht infrage “. Als Sohn eines bedeutenden neoexpressionistischen Malers stellten Lehrer und Mitschüler schon im Kunstunterricht hohe Erwartungen an ihn. Ein Grund, weshalb er sich heute als Künstler auch nicht mit Nachnamen nennt. Nicht aus Scham. Denn Menschen stecken einen schnell in Schubladen. Sie sehen nicht mehr seine Werke, sondern achten nur auf den großen Namen. „Die Leute sollen nicht auf Grund meines Vaters mit mir sympathisieren“ ,erzählt Jonas weiter. „Meine Skulpturen und Bilder sollen gemocht werden. Ob jemand mich mag, ist mir eigentlich scheißegal “. Der junge Berliner ist kein feinsinniger Mensch. In der Schulzeit war das Verprügeln von Mitschülern sein Hauptzeitvertreib. „Sobald Jonas und seine Truppe auf einer Party auftauchten, war sie vorbei “, erinnert sich ein alter Freund. Nicht selten gab es Konflikte

mit den Gesetzeshütern. Ohne Abitur erfolgte der Abgang von der Schule und nach einem halbjährigen Intermezzo am OSZ für Bauingenieurstechnik ging es nach Irland, um auf Baustellen zu arbeiten. Auch dort hielt es ihn nicht lange. Mit Autoritäten konnte er nie umgehen. Selbst bei der Vorstellung, Befehle entgegenzunehmen, weiten sich seine Nasenlöcher und eine aggressive Spannung erfüllt sein Gesicht. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als Künstler zu werden. Erste Werke waren Holzskulpturen im MayaStil, einige Zeit später schlug er kleine Teufel in Stein. Den ersten Kontakt mit Stahldraht gab es dann in Irland. Beim Ausmisten verbrannte Jonas alte Regale, Stühle und einen Lampion. Als das Feuer erloschen war, blieb neben einem Häufchen Asche das Gestell des Lampions übrig. Dem schenkte er zunächst keine Beachtung. Selbst nach Tagen im Regen war der Draht weder verrostet noch porös. Irgendwie landete das Metallkabel auf der Straße und verfing sich in Jonas‘ Auto. Der Draht verfolgte ihn regelrecht. Selbst als er ihn wütend zu einem Knäuel presste, schien das seelenlose Stahlgewirr ihn immer noch anzustarren. Er entledigte sich des Ärgers über „den verdammten Draht“ mit Gewalt. Erst bog er eine Spirale, dann formte er Zylinder daraus. Diese füllte er mit Silikon oder schmückte Sie mit Krabbenscheren. Die Gebilde bekamen den Namen „Viren“. Zum Schluss fügte er figurative Elemente hinzu. Mit der Zeit kamen noch „Chaos Chips “ dazu. Platten, die übersät sind mit Patronenhülsen und Nägeln, die durch ein feines Kupfer-Netz verbunden sind. Auch heute kehrt Jonas oft nach Irland

zurück und schottet sich von der Außenwelt ab, um neue Inspiration zu finden. Seine Figuren hängen dann an Seilen, statt auf Sockeln zu stehen oder eine Leinwand wird über sie gespannt. Doch ein Wesenszug ist immer wieder zu finden. Der Kampf. Ob martialisch anmutende Schlachten oder eine mit Nägeln aufgespießte Person. Die Auseinandersetzung mit seinen inneren Dämonen manifestiert sich in seinen Arbeiten. Sie wirken faszinierend, leidenschaftlich, zugleich aber auch unzugänglich und kalt. So wie Jonas selbst. Was einst als Fehde mit einem Lampiongestell begann, können Kunstliebhaber ab dem 19. Februar bei einer Vernissage der Düsseldorfer Kunst Akademie bestaunen. Dort entwickelt Jonas seine Werke weiter. Er möchte seinen Skulpturen ein edleres Design geben, indem er sie mit Bronze auffüllen lässt. „So wird die Form beibehalten, allerdings wirkt alles hochwertiger“, erklärt er. „Menschen sind einfach gestrickt. Sobald etwas glänzt und einen bekannten Namen trägt, schenken sie ihm Beachtung “.

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Hinter den Kulissen Es ist Anfang Dezember. Endlich ist es wieder soweit. Das Krasnapolsky Grand Hotel öffnet seine Tore für das jährlich stattfindende Salsafestival. Von Victoria Lukowenkowa Draußen vor dem Grand Hotel stehen viele gut gekleidete Menschen. Die Damen ziehen an ihrer Zigarettenspitze, richten ihre Federboa und unterhalten sich mit ihren elegant aussehenden Begleitern. Zeitversetzt in die zwanziger Jahre. Das Motto des Abends. Schon beim Betreten der Hotellobby werden viele bekannte Persönlichkeiten gesichtet: Showtänzer, Tanzschulinhaber, Profi- und Semiprofessionelle Tänzer, Kongress-Organisatoren, aber auch Laien, die kein Salsafestival verpassen. Alle warten ungeduldig auf den Einlass in den Saal und den Beginn des Abendprogramms. Der Saal ist gigantisch. Ein prunkvoller Kronleuchter sorgt für Licht. Circa 400 Stühle stehen aufgereiht vor der Bühne. Links und rechts befindet sich jeweils eine Bar. Bezahlt wird mit Casinochips, die vorher gegen Geld eingetauscht wurden. Melissa Fernandez und Luis Vazquez betreten die Bühne. Sie sind die Moderatoren und geleiten während der Shows durch den Abend. Sie heißen das Publikum willkommen. Billy Garcia und seine Tanzpartnerin „Rapunzel“ eröffnen den Showblock. Für das Berliner Tanzpaar ist es eine besondere Ehre, da sie das erste Mal vor internationalem Publikum tanzen. Während Melissa sich eine Perücke aus Svetlanas Haaren zaubert, will Luis wissen, was das für ein Gefühl für Billy war: „Es ist einfach unglaublich vor so vielen Leuten zu performen. Sich einen Backstageraum mit Künstlern wie Frank Santos, Julie Camous oder Leon Rose zu teilen. Wir haben hart trainiert, aber mit standing ovations hätten wir nicht gerechnet“. Auf der Showbühne gibt es fast keine

Tabus. Zu den Stilbrechern gehört vor allem Leon Rose aus London, der seine Salsashow mit Contemporary Dance und klassischen Einflüssen darbietet. Aber auch halbnackte Burlesque-Tänzerinnen, die dem Motto „Zwanziger Jahre“ noch mehr Charakter verleihen, geben ihr bestes Können preis. Es gibt viele verschiedene Stile beim Salsa. Jedoch werden nur zwei davon auf internationalen Kongressen getanzt. Der L.A.-Style und der N.Y.- Style. Sie gelten als Königsklassen des Salsas. Im Allgemeinen unterscheiden sich die Tanzrichtungen nur im Takt der Musik, nicht aber in den Bewegungen, oder in der Führung des Mannes. Als die Salsa in den 1970er-Jahren in New York City zunehmend populär wurde, bildete sich passend zur neuen Musik auch ein eigener Tanzstil: der New York Style. Eine Variante dieses Styles präsentierte 1987 Eddie Torres, ein Tanzlehrer und Choreograph aus New York, puerto-ricanischer Abstammung und selbsternannter Mambo King. Er verwies darauf, dass die Salsa eigentlich vom Mambo abstamme. Der mittlerweile 70 jährige Eddie Torres unterrichtet immer noch, bezieht eine Wochenendgage von mehreren Tausend Euro und fliegt außerdem nur First-Class. Als Erfinder des L.A. Stils gelten die Brüder Luis, Francisco und Johnny Vazquez. Noch mehr als der New York Style enthält er choreographische Elemente und Showfiguren, was ihn insbesondere bei Kinoproduktionen, Wettbewerben und Tanzturnieren beliebt macht. Nach den Shows werden die Stühle vom Hotelpersonal weggeräumt. Es

wird Platz zum Tanzen gemacht. Die besten Salsa Deejays Europas sorgen für gute Musik. Zum Bedauern vieler jedoch ohne Dj Mauri. Er ist einer der bestbezahlten und meist gebuchten DJ’s in der Szene. Allerdings auch Ex-Geschäftspartner von Ivan Poschi, dem Organisator des Amsterdam Salsafestivals. Bis vor einem Jahr haben beide noch dasselbe Ziel verfolgt. Den International Salsacongress Amsterdam, zu dem Event des Jahres zu machen. Viele Jahre der Zusammenarbeit und der Freundschaft verbindet die beiden. Doch aus banalen Gründen sind sie nun die größten Konkurrenten. Mauri lässt sich seine Vision nicht nehmen und macht auf eigene Faust weiter. Viele Tänzer freuen sich, dass Amsterdam um einen Salsakongress bereichert wurde. Aber viele bekommen gar nicht mit, wie viel hinter diesem Streit steckt und was er für Auswirkungen mit sich bringt. Es ist nahezu zu vergleichen mit einem typischen Westcoast-Eastcoast Fight in einem amerikanischen Gangsterstreifen. Wer von den Künstlern bei Mauri’s Kongress im Februar tanzt, wird nicht bei Ivan’s Kongress gebucht. Anders herum genauso. Es wird auf Social Networks gelästert und gehetzt. Allerdings nur von Außenstehenden. Nicht etwa von Mauri oder Ivan selbst. Franco Sparfeld, Organisator des Berlin Salsakongresses, bietet sogar einen Kombipass Berlin-Amsterdam an. Verbilligten Eintritt für beide Festivals. Allerdings nur mit dem „Original“ von Mauri. Aus Loyalität gegenüber Mauri oder Ivan verzichten einige Künstler sogar auf


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ihre Jobangebote. „Halb Holland scheint sich zu spalten“, sagt Adric Walter aus Rotterdam. Die Ironie des Ganzen ist, dass sowohl Mauri als auch Ivan anscheinend immer noch tiefe Zuneigung für einander empfinden. Obwohl dieser Salsakrieg zwischen beiden existiert, haben sie wohl nicht vergessen, was sie einmal einander bedeutet haben. „Ivan war mein bester Freund, mein Bruder, meine Familie. Auch wenn er sich dazu entschieden hat, ohne mich weiter zu machen, werde ich ihn immer lieben“, sagt Mauri lallend und spielt mit den Limetten in seinem Cuba Libre. Ivan scheint zu Anfang etwas kühl zu sein. „Ich habe an mehreren Projekten mit Mauri gearbeitet, nicht nur an der Organisation des Salsakongresses.

Meiner Meinung nach ist ihm sein Ego über den Kopf gewachsen. Ich hatte keine Lust mehr, all seine Fehler auszubaden. Außerdem war ich der einzige, der sich um die Bezahlung der Rechnungen gekümmert hat. Jetzt hat er seinen eigenen Kongress. Mich wundert es, dass er sein Festival noch nicht in Mauri’s Salsafestival umgeändert hat“, sagt Ivan ironisch. Doch auch Ivan scheint sich hinter einer Maske zu verstecken. „Er schien oft überfordert mit der Planung zu sein“, so seine Freundin Suzanne. Ob nicht in beiden ein bisschen Latinomacho mit großem Ego steckt? Jedenfalls ist Ivan Poschi’s erster Alleinversuch auf jeden Fall gelungen. Ein voller Erfolg. Ivan ist zufrieden und die Tänzer auch. Über Social Networks wie Facebook wird noch Wochen später

über das grandiose Salsafestival gesprochen. Ivan hat die Messlatte hoch gelegt. Mit großer Spannung und Neugier warten die Festival-Liebenden nun auf Mauris Salsakongress im Februar.

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Ödipus der „Motherfucker“ Kabarettist Bodo Wartke als Ödipus im Theater des Westens

Bodo Wartke macht jetzt mit Aischylos, Seneca und Euripides rum. Wie kann es ein Berliner Kabarettist schaffen, mit diesen Größen der Antike in Verbindung gebracht zu werden? Ganz einfach: Weil er es kann! Sonst bekannt für seine Auftritte am Flügel, wo er virtuose Wortspiele mit originellen Rhythmen untermalt, hat Bodo Wartke nun die Texte des alten Sophokles auf seine Weise interpretiert. Du kennst die Story von „König Ödipus“ nicht im Detail? Hierum geht es: Der kleine Ödipus wird als Säugling von seinen Eltern ausgesetzt. Grund ist eine Prophezeiung, die Ödipus‘ Vater den Tod durch seinen eigenen Sohn voraussagt. Doch das Kind überlebt, wird von Leiheltern aufgezogen und erhält seinerseits eine Prophezeiung. Er soll seinen leiblichen Vater töten und seine leibliche Mutter ehelichen. Daraufhin flüchtet Ödipus vor seinen vermeintlichen Eltern. Auf der Reise bringt er unwissentlich seinen „echten“ Vater um und bezwingt vor den Toren Thebens die Sphinx. Als Belohnung erhält er die Königin Thebens zur Frau – ohne sie als seine eigene

Mutter zu identifizieren. Die Tragödie endet mit dem Selbstmord der Königin und der freiwilligen Blendung und Verbannung von Ödipus. Im ausverkauften Theater des Westens sehen 1600 Menschen, wie Bodo Wartke alle 14 Rollen des Stücks in sich vereint. Mit Hemd, Weste und Krawatte bekleidet, rennt, springt und turnt Wartke 105 Minuten lang über die Bühne. Allein seine Kopfbedeckung wirft zunächst Rätsel auf: Ein beiges Basecap. Doch was zunächst wie ein platter Modernisierungsversuch des Stücks wirkt, ist in Wirklichkeit ein dramaturgisches Element. Je nach Position des Caps verkörpert Wartke einen anderen Charakter. Dreht er es beispielsweise um 180 Grad, so wird er zum König. Setzt er es komplett ab, wird er zur Frau. Ein netter Einfall, der es leichter macht, dem schnell vorgetragenen Stück zu folgen. Um auch dem geneigten Liebhaber des Originals einen angenehmen Abend zu bereiten, zitiert Bodo Wartke auch aus Sophokles‘ Bearbeitung des Ödipus-Mythos. Hierfür findet ein ReclamHeft Verwendung. Jedes Mal, wenn

Johann-Caspar Bertheau

Wartke aus dem Original-Text von Sophokles zitiert, kommt das kleine, gelbe Büchlein zum Vorschein. Ein Gag mit hohem Unterhaltungswert, da die umständliche Ausdrucksweise von Sophokles oft im Kontrast zu den schnellen und frechen Reimen eines Bodo Wartke stehen. Natürlich interpretiert Wartke das Stück, wie es ihm passt. Den bedeutenden Hintergrund des Werkes lässt er aber nie in Vergessenheit geraten. Ob als schwuler Hirte, predigender Priester oder schielendes Orakel: In „König Ödipus“ macht Wartke in jeder seiner Rollen eine gute Figur. Immer wieder erweist sich der 35-Jährige als ein Meister der deutschen Sprache. So bezeichnet er die Aussetzung des jungen Ödipus als „postnatale Abtreibung“. Der Berliner vermag es – wie kein anderer – charmanten Wortwitz und kleine Gesten wirkungsvoll zu kombinieren. So streckt das Orakel von Delphi beim Meditieren beide Mittelfinger von sich; die Charaktere des „Blinden Sehers“, der mit „Ray Ban“-Sonnenbrille und seiner Performance am Klavier stark an Ray Charles erinnert und des Ödipus‘, der als unbeugsamer, jugendlich-


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naiver Hip-Hopper auftritt, zeichnet er dabei besonders scharf. Musikalisch überzeugt Wartke mit wohldosierten und -temperierten Klavierpassagen. Das lockert den – im Original etwas zähen – Tragödien-Stoff zusätzlich auf. Zwei Mal wechselt Wartke sogar das Instrument. Mit einer Cajón ausgestattet wird das berühmte Streitgespräch zwischen Ödipus und Kreon, in dem es um die Zukunft Thebens geht, zum Rap-Battle. Mit der Mundharmonika lässt er den Klassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“ erklingen. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Zusätzlich weiß Bodo Wartke mit unglaublicher Bühnenpräsenz und großer Souveränität im Umgang mit dem Publikum zu überzeugen. Den Zwischenruf eines Zuschauers, der einen Satz von Ödipus vervollständigt, kommentiert Wartke reaktionsschnell: „Sie sind wohl auch ein Orakel?!“ Die Idee, „König Ödipus“ in ein unterhaltsames Theaterstück umzuschreiben, hatte Wartke bereits in der 12. Klasse. Wie viele seiner damaligen Mitschüler befand er das Drama als zu zäh, „aber eigentlich geil“, wie er sagt.

Die Chorpassagen waren ihm zu lang und vor allem zu unverständlich. Er formulierte den Stoff kurzerhand um und machte ihn wieder massentauglich. Damals hätte er es sich wohl nie träumen lassen, dass er sein Werk später einmal vollkommen alleine und in ausverkauften Theatersälen aufführen würde. Seine Tournee erstreckt sich über die gesamte Bundesrepublik. Den Wandel vom Kabarettisten zum Tragödien-Dichter hat der gebürtige Hamburger also mit Bravour vollzogen. Doch was würde Sophokles eigentlich von seinem Nachahmer halten? Viel vom Originaltext lässt Wartke schließlich nicht übrig. In der Antike sollte das Stück vor allem eines vermitteln: Es ist unmöglich, sich seinem Schicksal zu entziehen. Egal, wie sehr man sich auch dagegen wehrt. Ein veralteter Glaube, der in der heutigen Gesellschaft kaum noch auf offene Ohren stößt. So gesehen kann sich Sophokles glücklich schätzen, dass sich einer seinem – ein wenig eingestaubten – Werk angenommen hat und es nun wieder annähernd zu alter Popularität führt. Die ursprüngliche Nachricht des Werkes schrumpft bei Wartkes Gag-

Feuerwerk zwar in seiner Bedeutung, doch das Interesse und der Spaß an der antiken Dichtung wachsen.

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Freude durch Melancholie Er ist Multiinstrumentalist und besticht durch seine melancholische Stimme. Über vier Jahre war der junge Amerikaner in Europa unterwegs, um „durch das Leben etwas über die Musik zu lernen“, wie er sagt. Er gründete die Band „Beirut“ und ist jetzt nach vier Jahren endlich wieder mit ihr auf Tour. Max-Marian Unger Zach Condon kommt auf die Bühne geschlendert. Das Hemd sitzt locker und die Haare sind zerzaust. In der Hand hält er eine Posaune, die das rötlich-gelbe Bühnenlicht reflektiert. Er grinst in die seit Wochen ausverkaufte Columbia Halle. Auf sein Zeichen hin nehmen die zehn weiteren Bandmitglieder ihre Instrumente in die Hand. Das Konzert beginnt ohne große Gesten mit dem Stück „Vagabond“. Es ist ein Lied von dem aktuellen Album und Tour-Namensgeber „The Rip Tide“. Ein grooviges, melodisches, bläseruntersetztes „Gute-Laune-Lied“ mit melancholischer Schwere durch Condons Gesang. Dieser hält sich an seinem Mikro fest und wippt im Takt von einem Bein auf das andere. Der Saal tanzt sich warm. Die Zuschauer verschmelzen zu einer selig grinsenden Masse. Einige haben die Augen geschlossen. Beirut schafft es bereits nach dem ersten Lied, die ehemalige Sporthalle amerikanischer Soldaten in einen Festsaal voller glücklicher Menschen zu verwandeln. Zarte Ukulelenklänge leiten „Postcards from Italy“ – vom Überraschungsalbum „Gulag Orkesta“ aus dem Jahr 2006 – ein. Ein Album, das Zach Condon bereits mit 21 Jahren zu großen Teilen in Eigenproduktion einspielte. Er ist zuvor vier Jahre durch Europa gereist und hatte sich von Balkan-Brass, Folk und Polka inspirieren lassen. Die Kritiker liebten ihn und die Indie-Szene lag ihm zu Füßen. Seine traurige Stimme bahnt sich einen Weg durch den Raum. Die Rhythmusgruppe treibt den Song nach vorn.

Im Refrain versammeln sich noch einmal alle Bläsergruppen zu einem musikalischen Höhepunkt. Die Einflüsse der tschechischen Polka und der traditionellen Folk-Musik sind zu spüren. Die Begeisterung der Fans reicht bis in die letzte Reihe. Bei aller Glückseligkeit muss man durch die Moll durchsetzte Kompositionsweise im Zusammenhang mit Condons melancholischer Stimme jedoch unweigerlich an einen Trauerzug denken. Es ist ein Trauerzug, der durch die Magie der Band zu tanzen begonn hat. Beirut weiß zu begeistern. Im Mittelteil des Konzertes wirken sie allerdings etwas energielos und es entsteht der Eindruck, dass sie sich mitunter etwas mühsam durch die Lieder kämpfen. Zach entschuldigt sich mit einem Lächeln für seine Müdigkeit. Ein Blick in die Gesichter der ersten Reihe genügt, um festzustellen, dass ihm das keiner übel nimmt. Seit einer Dreiviertelstunde steht die elfköpfige Band jetzt auf der Bühne. „That‘s my last song. I‘m sorry, that‘s all I‘ve got”, sagt Condon und muss selber lachen. Hat er doch schließlich in den Jahren von 2006 bis 2011 vier Alben mit gut 50 Songs aufgenommen und noch ausreichend Liedmaterial, um mindestens noch eine Dreiviertelstunde draufzulegen. „If I was young, I’d flee this town. I’d bury my dreams underground. As did I, we drink to die, we drink tonight.” Von seiner Ukulele begleitet schreit Condon diese Zeilen förmlich in die Konzerthalle. Pause. Es folgt ein lauter Aufschrei aus dem Publikum. Condon singt weiter, die restlichen Instrumen-

te steigen mit ein und verleihen dem Lied ein fast orchestrales, gewaltiges Klangspektrum. „Elephant Gun“ ist in einer feuchtfröhlichen Nacht auf einer von Condons Reisen durch Sibirien entstanden. Durch die Bewegungen und die plötzlich entstandene Freiheit des Publikums fällt es leicht, sich in diese Nacht hinein zu versetzen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie es dieser junge Amerikaner oben auf der Bühne schafft, bei den Menschen eine solche Art von Gefühlsausbrüchen hervorzurufen. Zach Condon wird in Albuquerque geboren. In seiner Kindheit verbringt er viel Zeit damit, bei seinen Großeltern Polkaplatten und melancholische Blasmusik zu hören. Sein erstes elektronisches Album nimmt er bereits mit 15 Jahren auf. Beeinflusst wird er dabei von der Band „The Magnetic Fields“. Als er mit 16 Jahren durch Europa reist, eignet er sich diverse Musikstile an. So etwa Balkan Blasmusik und die Folklore der Sinti und Roma. Beirut verabschiedet sich vorerst mit „The Rip Tide“, dem Titelsong des aktuellen Albums, von der Bühne. Recht melancholisch heißt es darin: „And this is the house where I feel alone, feel alone now.” Der Schlagzeugrhythmus ist schleppend. Er wird von einer in Moll arrangierten Klaviermelodie, sowie getragenen Bläserpatterns umspielt. Das Publikum lässt die Band aber nicht so einfach gehen und fordert lautstark eine Zugabe. Mit „Nantes“ von ihrem zweiten Album „The Flying Club Cup“ betritt Beirut erneut die Bühne. Eine charakteristische Orgelmelodie zieht sich durch das Stück, das Condon viel Raum für


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ausschweifende Gesangsmelodien gibt. Mit „A Sunday Smile“ wird das Publikum noch einmal zum Walzertanz aufgefordert. Zu mehrstimmigem Gesang und langgezogenen Posaunenmelodien tanzt das Publikum im Dreivierteltakt durch die Konzerthalle. Mit „Santa Fe“ vom neuen Album sagt Zach Condon das letzte Lied des Abends an. Ein letztes Mal gut vier Minuten Genuss. Augenschließen. Gänsehaut. Freude durch Melancholie.

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Fraktus – Die Urväter des Techno „Ohne Fraktus wäre ich nie auf die Idee gekommen, selbst Musik zu machen“, so H. P. Baxxter von der Band Scooter. Die Electronic-Szene ist sich einig: Fraktus sind die Erfinder des Techno! Die beste Band aller Zeiten! Die es nie gab. Anna Sophie Triebe Melt!-Festival 2007. Wir befinden uns vor der Hauptbühne. Jan Delay ergreift das Mikro und verkündet, dass Studio Braun, also Rocko Schamoni, Heinz Strunk und Jacques Palminger, einen Film drehen. Über die Wiederzusammenführung einer Fake-Band, so heißt es. Sie – Fraktus – kämen nun auf die Bühne. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Das Publikum bewirft sie sogar mit Bechern. Sinn des Ganzen war die Aufnahme von Zwischenschnitten für ihren geplanten Film. Danach hörten selbst interessierte Fans nicht mehr viel von dem Projekt. Geplatzt? Auf keinen Fall. Ende 2012 leben Fraktus wieder auf. Als Hamburger Humorfürsten-Trio „Studio Braun“, wie die Band in gut informierten

Kreisen bekannt ist, lassen sie den Film „Fraktus - Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“ mit einer zusätzlichen „Comeback“-Platte und einer Tour tatsächlich zum Leben erwecken. Am 14. Februar 2013 fand eines der Konzerte im Astra Kulturhaus in Berlin statt. Die Halle ist brechend voll, obwohl die Veranstalter das Konzert aus Platzmangel schon vom Festsaal Kreuzberg hierher verlegten. Der Veranstalter kündigt die Bandmitglieder unter anderem mit folgenden Worten an: „Ein weißer Massai mit weichen Hüften. Bart und Mann dünn wie Wolframdraht. Die Frisur zur Peitsche

gekämmt. Ein stuhlhartes Genie auf geschmolzenen Lenden. Meine Damen und Herren: BERND WAND!“ Das Spektakel beginnt mit dem Song „All die armen Menschen“. Bässe und farbenfrohe Lichteffekte erschüttern den Raum. Es herrscht eine super Stimmung im bunt gemischten Publikum. Vom 40-jährigen „Studio Braun“-FanUrgestein bis hin zu den neuen jungen Fraktus-Anhängern ist alles dabei. Das gesamte Konzert ist eine Mischung aus Ende-80er-JahreTechno und dem gewohnt unverkennbaren „Studio Braun“–Humor. Zwischenrufe aus dem Publikum kommentiert Jacques Palminger trocken: „Ach halt doch mal bitte die Schnauze, ehrlich!“


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Auch auf einen klassischen Studio Braun Telefonstreich muss das Publikum nicht verzichten. In einem imaginären Telefongespräch fordert Jacques Palminger den Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, nach einer neuen, einfachen Geheimzahl für sein Bankkonto. „Ey, Herr Ackermann jetzt werd mal nicht pampig da in Frankfurt! Sie nehmen jetzt Ihren Kuli raus und ich sag Ihnen jetzt meine neue Geheimzahl: EINS, ZWEI, DREI, VIER!“ Und das nächste Lied beginnt. Auch weiterhin wird auf typischen „Studio Braun“-Humor gesetzt. Heinz Strunks exzessives Querflötenspiel zu einem elektronischen „Scooter-Song“ ist bei Fans bereits durch das YouTubeVideo „Durch die Nacht mit Heinz Strunk und H. P. Baxxter“ bekannt. Nun fängt er auch hier während der Lieder an, wild mit der Querflöte zu spielen.

Streitigkeiten, die im Film durch die forcierte Wiedervereinigung der Band entstanden sind, werden nicht nur in Talk Shows wie TV-Total wiedergegeben, sondern auch hier auf der Bühne. Gegen Ende des Konzerts gibt es noch einen Special Guest: Yasmin K., auch bekannt unter dem Namen „Y-Ass!“. Nach ihrem Ausscheiden bei der Casting Show Popstars 2001 nahm sie der Musikproduzent Alex Christensen unter Vertrag. Er produzierte mit ihr beispielsweise den Hit „Du hast den schönsten Arsch der Welt“. Zusammen mit Fraktus gibt sie den Song „Affe sucht Liebe“ wieder. Im Stil der heutzutage schlecht produzierten modernen Popremixe.

schen Zwischeneinlagen von „Studio Braun“ ist so ein Konzert genau das Richtige! Für schlappe Zwanzig Euro pro Ticket ist dieses amüsante und unterhaltsame Spektakel für quasi jedermann erschwinglich und vollkommen lohnenswert! Zum Schluss verabschiedet sich Fraktus von seinem Publikum: „Es war schön mit dir Berlin, Hannover des Nordens!“

Für Liebhaber von eigensinniger elektronischer Tanzmusik und selbstironi-

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Ein Andermal Musikalische Tiefenwirkung

„Alcest“ packen dich dort, wo du am verletzbarsten bist. Sie sind vieles, aber nicht eindimensional. Bei einer Beschreibung von „Les Voyages de l‘Âme“ (fr.: „Die Reisen der Seele“) gilt es zuerst, das musikalische Schubladendenken abzuschalten und sich ohne jegliche Erwartungen auf die Kompositionen einzulassen. Denn in jeder noch so simpel erscheinenden Passage verbirgt sich so viel mehr, als es zu Beginn den Anschein hat. „Les Voyages de l‘Âme“ erschließt sich nicht nach einmaligem Hören. Es ist ein Kunstwerk, das durch mehrmaliges Antreten der Reise erschlossen werden muss. Schon bei den ersten Tönen von „Autre Temps“ wird dem Hörer bewusst, dass vor ihm ein ganz anderes musikalisches Königreich seine Pforten öffnet. Nur allzu leicht versinkt der Hörer in einer Traumwelt. Von Lied zu Lied scheint sich diese immer weiter auszudehnen, bis schließlich die Grenzen des menschlichen Bewusstseins auf-

Daniel Jahn

gelöst scheinen und sich die eigentliche Bedeutung vollends erschließt. Der geradezu spirituelle Charakter der Melodien trifft den Hörer auf ungeahnte Weise hart, ähnlich des Levels, auf dem sich auch vergleichbare musikalische Vertreter wie „Dead Can Dance“ oder „Le Discrets“ befinden. Die Klänge scheinen sich dabei aber dem Hörer anzupassen und offenbaren immer neue Facetten. ALLES, WAS ALCEST AUSMACHT Gelegentlich von einem kraftvollen Instrumentalsolo aufgelockert, wirkt die sehr filigrane Melodieführung umso stärker auf das Befinden des jeweiligen Konsumenten ein. Das Album schafft eine Plattform, von der aus jeder seine ganz persönliche Seelenreise beginnen kann. Durchweg in französischer Sprache bringt Sänger Stéphane Paut alias „Neige“ (Bild 1) seine tiefen Einsichten in Einklang mit der Musik. Authentischer

können Emotionen nicht vertont werden. Es fällt schwer, ein einzelnes Lied herauszu-filtern, um dies zu demonstrieren. So ist beispielsweise „Les Voyages de l‘Âme“, der Namensgeber des Albums, ein sechsminütiges, psychedelisch-aufwühlendes Klangspektrum. Es verkörpert alles, was Alcest ausmacht: Die Angst, etwas verloren zu haben ohne sich dessen bewusst zu sein, gepaart mit der umso größeren Hoffnung, es eines Tages wiederzuerlangen, ist zu jeder Zeit spürbar. Sie mündet in einem unglaublichen Gänsehautrefrain, der „Les Voyages de l‘Âme“ zu einem der hervorstechendsten Lieder des Albums heranwachsen lässt. Zu jeder Sekunde steht die Präsenz der leidenschaftlichen Hingabe im Raum, mit deren Hilfe Neige all seinen Liedern Leben einzuhauchen vermag. Neige IST „Alcest“. Der Glaube an eine „Anderswelt“ manifestierte sich bei ihm bereits im Alter von 14 Jahren so stark, dass er seinen Höhepunkt in der


Kultur

Gründung von „Alcest“ fand. In seiner Musik treffen sich die verschiedensten Musikgenres. Querverweise zum Black Metal sind nicht zu überhören, auch Post-, Avantgarde- und Jazzelemente sind gut erkennbar. Allein sein gelegentlich fremdartig anmutender Gesang verleiht jedem Lied eine unglaubliche Präsenz seiner Person. Die so kreierte Musik lässt sich einfach nicht mit gängigen Musikstilen vergleichen. Wenn es um Schöpfung geht, gibt es für Neige keine Regeln. Er sagt, dass ihm das Verfassen von Liedtexten keinen Spaß mache – er hasse es regelrecht. Dies erklärt die eingegliederte Stimmführung nur zu gut. JEDES STÜCK IST IN SICH STIMMIG Das zweite Mitglied von „Alcest“ ist Jean Deflandre alias „Winterhalter“ (Bild 3). Auf reziproke Weise sind beide zugleich Meister und Schüler. Innerhalb dieser Symbiose räumen sich die

Künstler gegenseitig genug Freiraum ein, um sich vollends entfalten zu können. „Les Voyages de l‘Âme“ ist visionär, aber auf eine melancholische Art. Der Hörer möchte in dem einen Moment verweilen, der alles zu erklären scheint. Am besten allein oder zu zweit genossen ist das Album ein perfekter Begleiter für ruhige Tage. Das Cover lässt viele Interpretationsmöglichkeiten zu. Die Seele, symbolisiert durch einen Pfau in schwarzem Federkleid, schreitet aus dem Dunkel des menschlichen Bewusstseins durch eine erleuchtete Pforte in eine andere Welt, um sich dort zu entfalten. Es herrscht eine Verbundenheit zur Natur, da seelische Prozesse mit Werten und Schlüsselelementen aus selbiger dargestellt werden. Ohne tiefe Interpretation wird deutlich, dass hier der Übergang in ein anderes Bewusstsein (die Anderswelt) stattfindet. Neige im Interview mit Metalnews.de: „Das Schwierigere ist für mich nicht,

die Riffe und Arrangements zu finden, sondern sie zu organisieren, um ein gutes Stück zu machen, eine gute und originelle Struktur. Ich verbringe den größten Teil meiner Komponierzeit mit genau diesem Aspekt.“ Fast alle Lieder auf „Les Voyages de l‘Âme“ sind länger als sechs Minuten. Jedes Stück ist in sich stimmig und von keinem der anderen abhängig. Zusammen ergeben die acht Lieder ein Gesamtwerk, das 50 Minuten umfasst. Anfang 2012 erschienen bekam das Album durchgehend die höchste Punktzahl in den gängigen Musikmagazinen (RockHard, Metal Hammer, Legacy). Abschließend gilt zu sagen, dass „Les Voyages de l‘Âme“ definitiv keine leichte Kost ist. Erdacht und gemacht nur für diejenigen, die bereit sind, über den Tellerrand der gängigen Musik hinauszublicken. Wer diesen Schritt bereit ist zu gehen, für den ist das dritte Studioalbum von Alcest genau das richtige. Ein Meisterwerk!

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Wissenschaft

Lillys Lebenstraum: 40 werden Mukoviszidose ist eine genetisch bedingte Krankheit, die bisher nicht heilbar ist. Nun können Erkrankte, wie die Vierjährige Lilly, neue Hoffnungen schöpfen. Laura Graichen und Aynur Özkan

Zukunftsvision – Maschinen durch Gedanken steuern Die Technische Universität Berlin zeigte am 22.Mai 2012, dass es möglich ist, ein Spiel am Computer allein über die Kraft der Gedanken zu steuern. Kimberley Bernard und Klaas Geller

Eine Katastrophe – der Wegbereiter einer neuen Zukunft? 11.03.2011 – ein einprägsames Datum. Oder doch nicht? Für die Welt und insbesondere für Deutschland war es ein bedeutsamer und zukunftsweisender Tag – vor allem in Bezug auf die daraus resultierenden Entwicklungen. Aber was passierte im März 2011? Christina Mühlparzer

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Wissenschaft


Wissenschaft

Lillys Lebenstraum: 40 werden Mukoviszidose ist eine genetisch bedingte Krankheit, die bisher nicht heilbar ist. 5% der Erkrankten können nun Hofffnung schöpfen. Gehört die kleine Lilly dazu? Laura Graichen und Aynur Özkan Tief durchatmen, Sport treiben und eine Familie gründen. Das sind die normalsten Dinge der Welt. Jedoch nicht für die rund 8.000 Menschen in Deutschland, die an der Krankheit Mukoviszidose leiden. Bei dieser Erkrankung, die auch zystische Fibrose (ZF) genannt wird, verklebt ein zähflüssiger Schleim die Atemwege durch einen Stoffwechselfehler. Heißt für einen Erkrankten: Stundenlange Inhalation im Krankenhaus und Physiotherapie, die den Schleimabbau fördert. Der Alltag eines Erkrankten sei sehr eingeschränkt, erzählt uns Claudia, die Mutter der Vierjährigen Lilly. „Lilly war zwei, als Mukoviszidose festgestellt wurde“, erzählt Claudia. Zur Feststellung wird eine spezielle Prozedur durchgeführt: Auf die Innenseite der Unterarme werden Minuspol- und Pluspolläppchen, die in Pilocarpin getränkt sind, gelegt. In Verbindung mit diesem Mittel und Gleichstrom wird die Schweißproduktion gefördert. Der Schweiß wird mit einem Magneten aufgenommen. Anhand des Schweißes kann dann die Erkrankung festgestellt werden. Täglich muss Lilly bis zu dreimal inhalieren und zusätzlich eine Reihe von Tabletten zu sich nehmen. Hauptsächlich dient die Inhalation dazu, den zähen Schleim in den Atemwegen zu lösen, damit ihn die Betroffenen leichter abhusten können. Außerdem können so lungenwirksame Medikamente auf direktem Weg an den Ort des Geschehens gelangen. Diese Inhalationen werden meist in spezialisierten Kliniken durchgeführt. Das Sana Klinikum Lichtenberg ist eine dieser Kliniken. Es betreut Kinder und

Jugendliche mit akuten und chronischen Atemwegserkrankungen. Auch Lilly wird dort seit zwei Jahren behandelt. Prof. Dr.med. Stephan ist ärztlicher Leiter des sozialpädiatrischen Zentrums. Er arbeitet seit zehn Jahren am Sana Klinikum für Kinder- und Jugendmedizin mit Mukoviszidose Betroffenen. „Die Krankheit wird durch einen Gendefekt verursacht. Dabei produziert die Lunge vermehrt ein zähflüssiges Sekret, welches die Atemwege verstopft“, erklärt er. „Natürlich ist die Physiotherapie bei einem Mukoviszidose-Patienten ein wichtiger Bestandteil der Behandlung.“ Innovationen wie das portable Inhalationsmedikament Mannitol ermöglichen den Patienten mehr Flexibilität. Dadurch sind sie nicht auf das große Inhalationsgerät im Klinikum angewiesen. Den wohl größten Wandel in der Geschichte der Mukoviszidose erzielt die Tablette Ivokaffo. Sie erspart den Betroffenen nicht nur die aufwendigen Sportübungen und die stundenlagen Atembehandlungen. Mehr noch: Sie führt zu einer Genesung von bis zu 90 Prozent. Dieses Medikament kann allerdings nur an bestimmten Patienten mit einer speziellen Genmutation angewendet werden. Nur 5 Prozent aller Erkrankten haben die Möglichkeit „Ivokaffo“ zu nehmen. Bei den anderen 95 Prozent wirkt die Tablette nicht. „Lilly gehört leider nicht zu den glücklichen fünf Prozent der Betroffenen, die für Ivokaffo geeignet sind“, erzählt Claudia bedrückt. Selbst wenn - die Behandlung mit Ivokaffo kostet 100.000 Euro im Jahr. „Das könnte ich mir niemals leisten.“ So wie Lillys Mutter geht es vielen anderen Patienten auch. Das

nötige Geld und die finanzielle Unterstützung durch die Krankenkassen für Sonderbehandlungen, wie beispielsweise mit Ivokaffo, fehlen. Dadurch ist noch nicht einmal den geeigneten fünf Prozent der Betroffenen die Aussicht auf ein verlängertes Leben durch die „Wundertablette“ garantiert. Die Mittel sind da – zumindest für fünf Prozent der Erkrankten. Eine fast vollständige Heilung ist also möglich. Es scheitert einzig und allein am Geld.

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Zukunftsvision – Maschinen durch Gedanken steuern Kimberley Bernard und Klaas Geller

Die Technische Universität Berlin zeigte am 22.Mai 2012, dass es möglich ist, ein Spiel am Computer allein über die Kraft der Gedanken zu steuern. Ein Schachspieler setzte seine Züge in Echtzeit am Computer, ohne dabei seine Hand zu benutzen. Indem er den nächsten Zug denkt, ermöglichen die Hirnströme dem Probanden das Schachspielen. Dieses Zusammenspiel zwischen Gehirn und Computer heißt „Brain Computer Interface“ (BCI). Doch bis zum Gelingen dieses Experiments war es ein langer Weg. Genau mit diesen Experimenten beschäftigt sich Prof. Dr. Klaus-Robert Müller. Der promovierte Informatiker leitet zusammen mit Dr. Michael Tangermann die BCI-Forschung und die Experimente der TU Berlin. „Wir entwickelten die Technik im Rahmen des TOBI-Projekts“, erklärt Müller. Das „Tools for Brain Computer Interaction“, kurz TOBI, ist ein großes Projekt, das die EU mit 12 Millionen Euro finanziert. Es wird als sogenanntes „Integrated Project“ bezeichnet, d.h. mehrere Forschungsgruppen innerhalb der EU arbeiten am gleichen Ziel. „Unser Ziel ist es zu sehen, ob wir mit dem BCI nicht nur auf dem Papier oder in unserer Hoffnung, sondern auch in der Realität behinderten Menschen helfen können“, führt Prof. Dr. Müller fort. Um diesen Beitrag zur Rehabilitation körperlich Behinderter leisten zu können, arbeiten viele Klinken zusammen. Es gebe den Grund, begrenzt optimistisch zu sein, freut sich Müller. „Wir haben ein paar Schritte gemacht, aber es müssen noch viele folgen.“ Doch was genau ist BCI eigentlich und wie funktioniert es? Das Brain Computer Interface ist eine

Schnittstelle zwischen dem Gehirn und einem Computer. Dabei wird versucht, Gedanken – also Hirnsignale – in Steuersignale zu übersetzen. Das Schwierige dabei ist, dass diese Hirnsignale erst gemessen werden müssen. Und diese Messung funktioniert entweder, indem Elektroden in das Hirn hineingesteckt werden oder mit Hilfe der Elektrokortikographie. Dabei bekommt der Proband ein Loch in den Kopf gebohrt. Anschließend wird dem Gehirn eine Platte mit Elektroden aufgelegt. Beide Varianten erfordern Hirnoperationen, die enorm riskant sind. Die TU Berlin verwendet für ihre Forschungszwecke daher eine nichtinvasive Methode zur Messung der Hirnsignale. Bei dieser Methode bringen die Forscher den Probanden Elektroden an der Kopfhaut an. Sie werden von einer Elektrodenkappe gehalten. „Das Hirn ist eine interessante Mischung aus chemischer und elektrischer Maschine“, so Müller. Neuronen kommunizieren durch elektrische Impulse, die miteinander vernetzt sind. Brain Computer Interfaces basieren auf der Beobachtung, dass schon die Vorstellung eines Verhaltens messbare Veränderungen der elektrischen Hirnaktivität auslöst. Beispielsweise führt die Vorstellung, eine Hand zu bewegen, zur Aktivierung des motorischen Cortex. Hunderttausende Neuronen widmen sich dann dem gleichen Gedanken („Hand bewegen“) und sind aktiv. Die daraus entstehenden Ströme sind makroskopisch messbar. Im Grunde sind auch schon 10.000 Neuronen, die gleichzeitig aktiv sind, messbar. Die Forscher messen einen Wert zwischen 10 bis 50 millionstel Volt. Dieses Signal ist mithilfe des Elektro-Enzephalo-

gramms (EEG) zu messen. Eine Standard EEG-Messung kann mithilfe von 64 Elektroden – die am Kopf angeschlossen sind – herausfinden, welche elektrische Aktivität im Gehirn gerade vorgeht. Bestimmte Muster von Gedanken reflektieren sich dann in diesen Hirnaktivitäten. Prof. Dr. Müller beschreibt die Messung 64 verschiedener Kanäle als ein riesiges Durcheinander. Die Schwierigkeit besteht darin, nur die eine wichtige Information abzulesen. Zum Beispiel redet, sieht und hört ein Mensch gleichzeitig. Also versucht der Cortex, sich mit der Reflexion dessen, was der Mensch sagen will, zu beschäftigen. Gleichzeitig sind aber auch der visuelle und der auditorische Cortex aktiv. Da die Forscher aber die Bewegung der Hand dekodieren wollen, ist das Signal der Handbewegung von den anderen Aktivitäten überlagert. „Ich spreche da oft von einer „zerebralen Cocktailparty“, scherzt Müller. Die Aufgabe liegt nun darin, die interessanten Signale aus all den anderen Signalen herauszufiltern. Häufig sind die Signale, die für die Forscher interessant sind, viel kleiner als solche, die normalerweise gemessen werden. Dafür kommen dann moderne Methoden der Datenanalyse zum Einsatz. „Das ist sozusagen mein Teil in diesem Projekt. Ich versuche in Echtzeit im „Single-Trial“, diese Signale aus den Daten zu extrahieren“, erklärt Prof. Dr. Müller. Ein Beispiel: Die Forscher schwenken vor den Augen des Probanden einen Stift von links nach rechts. Sie wollen messen, was im Gehirn des Probanden bei dieser Bewegung geschieht. Der Gegensatz von „Single-Trial“, also der Echtzeit, ist „Average“. „Average“


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ermittelt ein Hirnsignal nur durch einen sich wiederholenden Vorgang: 1000 Mal einen hochgehaltenen Stift ansehen. Beim Single-Trial finden die Forscher heraus, was bei nur einer Bewegung passiert, da man sonst nicht kommunizieren kann. Denn ein Patient kann unmöglich 1000 Mal das Gleiche denken. Diese modernen Signalverarbeitungsmethoden lösen also schnell das „zerebrale Cocktailparty-Problem“. Letztlich ist es möglich, im Single-Trial Informationen zu extrahieren, die interessant sind. „Damit können dann Dinge wie Roboter-Arme oder Rollstühle kontrolliert werden“, erklärt Müller. „Oder das BCI generell dafür einsetzen, etwas über das Gehirn zu lernen.“ Bevor Müller seine Forschung vor zwölf Jahren begann, war das Feld der BCI-Forschung noch sehr klein. Nur ungefähr ein Dutzend Gruppen weltweit arbeiteten daran, schwer kranken Patienten die Möglichkeit zur Kommunikation wiederzugeben. Patienten

und Probanden mussten 50 bis 300 Stunden lernen, ihre Hirnsignale so zu verändern, dass sie dekodiert werden konnten. Dementsprechend unpraktikabel war es ebenso für den alltäglichen Gebrauch, als auch auf experimenteller Ebene. So stellte sich die Frage: Warum sollen eigentlich die Menschen von den Maschinen lernen und nicht umgekehrt? Nach etwas mehr als zwei Jahren Forschung brauchten Probanden nur noch eine halbe Stunde Training, um kommunizieren zu können. Durch diesen Erfolg in der Forschung arbeiten inzwischen mehr als 300 Gruppen auf der ganzen Welt auf diese Weise. Im momentanen Entwicklungsstatus wird ein koadaptives System angewandt – ein Mittelweg, bei dem weder Proband noch Maschine alleine lernen. Seit dem „Schachspiel-Experiment“ wird an diversen Baustellen des Systems gearbeitet. Beispielsweise an einer Immunisierung gegen Aufmerksamkeits-

schwankungen oder daran, ob Nutzer durch einen universellen Decoder auch ohne Training auskommen können. Um das erklärte Ziel der Verbesserung der Lebensqualität gehandicapter Menschen zu erreichen, ist eine Umsetzung in die klinische Praxis von Nöten. „Die Nutzung im klinischen Alltag wird noch so um die zehn Jahre dauern“, vermutet Müller. „Im Moment ist dies noch illusorisch, da die Krankenkassen vom klinischen Nutzen überzeugt werden müssten.“ Ob die BCI Technologie auch für militärische Zwecke eingesetzt werden kann, ist vor allem eine ethische Frage. Denn menschliches Ermessen oder das Bauchgefühl in Krisensituationen kann keine Maschine erlernen. Die TU Berlin hat in ihren Statuten jedenfalls festgelegt, dass keinerlei militärische Forschung betrieben werden darf.

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Eine Katastrophe – der Wegbereiter einer neuen Zukunft? 11.03.2011 – ein einprägsames Datum. Oder doch nicht? Für die Welt und insbesondere für Deutschland war es ein bedeutsamer und zukunftsweisender Tag – vor allem in Bezug auf die daraus resultierenden Entwicklungen. Aber was passierte im März 2011? Christina Mühlparzer Am 11.03.2011 lösten ein Erdbeben und ein Tsunami den Super-GAU im japanischen Atommeiler Fukushima Daiichi aus. In drei Reaktoren kam es zur Kernschmelze. Radioaktive Stoffe wurden freigesetzt und kontaminierten die gesamte Umgebung – Luft, Nahrungsmittel und nicht zuletzt das Meer. Diese Katastrophe, die weltweit kurz Fukushima genannt wird, entfachte eine Debatte um Atomkraft. Die Diskussion ist aber keinesfalls neu, sondern wurde nur erneut belebt. Denn bereits nach früheren nuklearen Unfällen, wie 1986 in Tschernobyl, war die Kernenergie in Verruf geraten. Doch schon wenige Jahre später schien das verheerende Unglück wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Viele Länder investierten abermals in Atomkraft. Auch in Deutschland ist die Diskussion um die Energieversorgung der Zukunft nun wieder groß. Heute, fast zwei Jahre nach Beschluss der Energiewende durch Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist sich EU-Energiekommissar Günther

Oettinger (CDU) immer noch sicher: Neue Atomkraftwerke für Deutschland sind weiterhin möglich. Der Politiker argumentiert damit, dass Kernenergie noch viele Jahre aus Nachbarländern in das deutsche Netz eingespeist wird. Dieter Hundt, deutscher Unternehmer und Träger des großen Bundesverdienstkreuzes, hat die Problematik erkannt. „Ich habe große Sorgen, weil die Energiewende nicht entschlossen genug umgesetzt wird. Wir brauchen bezahlbare Energie zu international wettbewerbsfähigen Preisen und umweltverträglichen Bedingungen“, so Hundt. Er ist viel mehr dafür, „den Zeitplan für den Ausstieg aus der Kernenergie zu überprüfen“. Laut Dieter Hundt kann erst an eine Abschaltung der Atomkraftwerke gedacht werden, „wenn in ausreichendem Umfang andere Energie zur Verfügung steht“. Sofern die Bundesregierung nicht an Reformen arbeitet, um die Energiewende schnell und sozial ausgewogen voranzutreiben, gibt es für die Abschaffung der Atomkraft bis 2022 nur eine Lösung: Die verstärkte Nutzung fossiler Energiequellen wie Kohle, Erdöl und Erdgas. Damit käme Deutsch-

land dem Ziel, CO2-Ausstoß und Treibhauseffekt zu minimieren, aber auch nicht näher. Bruno Comby, ein französischer Umweltschützer, der sich trotzdem für die Kernenergie einsetzt, bekräftigt das ebenfalls. Gegenüber dem Schweizer Wissenschaftsjournalisten Reto U. Schneider sagt er, dass die Gefahr bestehe, dass jedes nicht gebaute oder abgestellte AKW durch ein Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerk ersetzt würde. Dies führe die Welt einen Schritt näher an die Klimakatastrophe. Am Beispiel Österreich wird deutlich, dass auf Kernenergie verzichtet werden kann. Die Österreicher haben schon früh die „Atomkraft-Zügel“ in die Hand genommen. 1978 wurde die Inbetriebnahme des beinahe vollständig erbauten AKW Zwentendorf per Volksabstimmung gerade noch verhindert. Im gleichen Jahr wurde der Nutzung von Kernenergie mit dem Atomsperrgesetz ein Riegel vorgeschoben. In der Folge wurde in erneuerbare Energien investiert. So produziert beispielsweise das österreichische Bundesland Vorarlberg Strom hauptsächlich aus Wasserkraft. Der


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Export von Strom aus regenerativen Energiequellen entwickelte sich außerdem zu einem wichtigen Wirtschaftsaspekt für das am westlichsten gelegene Bundesland. Österreich macht außerdem vor, wie ein Land ohne betriebenes Atomkraftwerk dennoch eine große Rolle in Sachen Nuklearforschung spielen kann. Am Atominstitut ATI der Technischen Universität Wien befindet sich ein weltweit angesehener Forschungsreaktor. Hier werden unter anderem Untersuchungen für den medizinischen Bereich durchgeführt. Bei der Arbeit mit dem Forschungsreaktor geht es außerdem darum, die Sicherheit in Atomkraftwerken zu verbessern. Der so genannte TRIGA Mark II Reaktor unterscheidet sich von einem herkömmlichen in mehreren Aspekten. Er hat eine viel geringere thermische Leistung als ein Kernreaktor, der zur Stromerzeugung genutzt wird. Der TRIGA Mark II hat eine Leistung von 250 Kilowatt. Im Vergleich dazu hatten die vier stark beschädigten Reaktoren von Fukushima jeweils zwischen etwa 1.380 und 2.380 Megawatt thermische Leistung. Außerdem ist der Forschungsreaktor laut Angaben des Reaktorbetriebsleiters des ATI Wien, Diplomingenieur Dr. Mario Villa, maximal acht Stunden an fünf Tagen pro Woche in Betrieb. Die Reaktoren von Atomkraftwerken werden hingegen

von der Ein- bis zur Abschaltung durchgehend betrieben. Ausnahmen bilden Störungen oder Unfälle. Gemäß eines internen Berichts des ATI Wien „bildet der TRIGA Mark II Reaktor seit mehr als 40 Jahren das Rückgrat des Atominstituts in Sachen Lehre“. In diesem Zusammenhang spielt die Kooperation zwischen dem Atominstitut und der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA eine wichtige Rolle. Die IAEA hat über 150 Mitgliedsstaaten. Deutschland ist seit der Gründung der Atomenergiebehörde 1956 Mitglied. Das Ziel der Atomenergiebehörde ist die sichere Nutzung von Kernkraft. Dazu zählt auch die Überprüfung der Sicherheit in den Atommeilern der IAEA-Mitgliedsländer. Die sogenannten Safeguards werden von der Internationalen Atomenergiebehörde in diese Staaten entsandt und übernehmen die Kontrolle. Die Ausbildung der „Kontrolleure“ findet am Forschungsreaktor des Atominstituts in Wien statt. Außerdem werden am ATI Geräte für die Atomenergiebehörde getestet. Diese Tests werden im Rahmen von Diplom- oder Doktorarbeiten von Studenten durchgeführt. In diesem Sinne versucht die Behörde, Reaktorunfällen vorzubeugen. Greg Webb, dem Pressesprecher der IAEA zufolge, sei die Internationale Atomenergiebehörde aber relativ machtlos, wenn es zu einem solchen kommt.

Am 11.03.2011 kam es zur Nuklearkatastrophe in Japan. Heute, zwei Jahre nach diesem Unglück, diskutieren Politik und Wirtschaft immer noch über Atomkraft und die Energiewende in Deutschland. Die Zeit wird zeigen, wie es weitergeht. Zumindest einer ist sich der Sache sicher: Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) sagte der Leipziger Volkszeitung Anfang Januar: „Ich sehe unter keiner denkbaren politischen Konstellation die Chance auf eine Renaissance der Kernkraft in Deutschland.“ Als ersten Schritt in eine atomkraftfreie Zukunft nimmt er sich das Endlagersuchgesetz vor.

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LIFESTYLE

BiOriental in Neukölln Nicht weit von der U-Bahnstation Kottbusser Tor befindet sich am Maybachufer ein beliebter Wochenmarkt. Mit einer Fläche von etwa 7.500m² ist er der zweitgrößte Markt in Berlin. Seit 2006 trägt er den Namen „BiOriental“.

Christina Mühlparzer

Lebende Leinwände Stich für Stich entsteht ein Gesamtkunstwerk. Als Leinwand dient die nackte Haut. Ein Tätowierer aus Berlin und sein Kunde Marcus lassen sich einen Tag begleiten. Selin Kahya

Diagnose: Liebeskummer Jeder von uns hat es mindestens einmal erlebt: Liebeskummer. Heute berichte ich von meinen eigenen Erfahrungen. Außerdem gehe ich der Frage nach, ob es tatsächlich ein Mittel gegen den Liebeskummer gibt. Kimberley Bernard

Einmal im Monat Krampfartige Kontraktionen? Unterleib- und Rückenschmerzen? Übelkeit und schlechte Laune? Gizem Eza

Glitzer. Glamour. Fashion Week Zweimal jährlich erhellen die Scheinwerfer Berlin. Denn zweimal jährlich wird die deutsche Hauptstadt zur internationalen Bühne für Mode und Lifestyle. Gizem Eza

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lifestyle

bioriental in neukölln Nicht weit von der U-Bahnstation Kottbusser Tor befindet sich am Maybachufer ein beliebter Wochenmarkt. Mit einer Fläche von etwa 7.500m² ist er der zweitgrößte Markt in Berlin. Seit 2006 trägt er den Namen „BiOriental“. Christina Mühlparzer Den Griff des Einkaufstrolleys fest in der Hand eilt eine Dame mit bodenlangem Mantel und Kopftuch den Kottbusser Damm in Richtung Landwehrkanal. Im Takt der hastigen Schritte klappert die Schnalle des Transportgefährts. Der dunkelblau-grün karierte Wagen scheint noch ziemlich leer zu sein. Genug Platz also für die Wochenendeinkäufe. Obst, Gemüse und Brot stehen auf der Einkaufsliste der Frau. Der gefaltete Zettel blitzt aus der Manteltasche hervor. Mit einem Ruck den Einkaufswagen auf die erhöhte Bordsteinkante gehievt, überquert sie die Brücke, bevor sie nach links auf das Marktgelände einbiegt – und in der Menschenmasse verschwindet. Die große Beliebtheit des Marktes kommt nicht von ungefähr: Sein Standort am Landwehrkanal in Neukölln ist seit etwa 100 Jahren ein traditioneller Marktplatz. Zu Kriegszeiten kurz von der Bildfläche verschwunden, formierte sich kurz darauf wieder ein Markt an derselben Stelle. In seiner heutigen Form gibt es den „türkischen Markt“, wie ihn viele Besucher nennen, seit etwa 50 Jahren. Diese Bezeichnung entstand, weil dort fast ausschließlich türkisch-arabischstämmige Händler und Kunden miteinander feilschten. Seit dem 1. Januar 2005 ist Rainer Perske als Marktverwalter am Maybachufer tätig. Er sieht sich selbst in der Funktion der „Markt-Polizei“. Dazu muss Perske unter anderem für die Einhaltung der gesetzlichen Auflagen sorgen, wie beispielsweise die Vorgaben zum Feuerschutz. Für seine Tätigkeit ist aber auch das Wissen über die Geschichte des Einzelhandels im Zusammenhang mit dem Wochenmarkt

wichtig. So garantierten früher Märkte und Tante-Emma-Läden die Lebensmittelversorgung. Heute übernehmen dies vor allem Supermärkte, Discounter und Verbrauchermärkte. Früher sei der Preis entscheidend gewesen, heute siege eher die Bequemlichkeit der Kunden, so der Marktverwalter. Ganz nach dem Motto: „Einmal hin, alles drin“. Um als einzelner Händler am Wochenmarkt sowie im Wettbewerb gegenüber den Supermärkten bestehen zu können, muss der Stand aus der Masse herausstechen. Perske zufolge ist die Spezialisierung der Händler wichtig. Damit ist eine Änderung des gängigen Konzeptes verbunden. „Statt 20 bis 30, zwei bis drei Produkte“, bringt er es auf den Punkt. Während die Dame ihren Blick über den meterlangen Brot-Tisch wandern lässt, steht der Einkaufswagen an ihrer rechten Seite. Der Griff wieder fest mit einer Hand umschlossen. Kranzförmiges Brot, Fladenbrot – dünn oder etwas flaumiger gebacken, mit oder ohne Körnern ... Sie hat nun die Qual der Wahl. Rainer Perske machte 2006 mit der neuen Namensgebung „BiOriental“ den ersten Schritt in Richtung einer Konzeptänderung. Nicht zuletzt aus Gründen der Umsatzsteigerung: Die wirtschaftlichen Zahlen des Marktes hätten zu diesem Zeitpunkt nicht so gut ausgesehen, erklärt der Marktverwalter. Außerdem wollte Perske „weg von der fragwürdigen Bezeichnung“ Türkenmarkt, weil der Name negativ besetzt sei. So sollte der Markt also mithilfe

einer Namensänderung ein besseres Image bekommen. Es galt, den Wochenmarkt „kulinarisch interessant, lecker, vielfältig und offen“ zu gestalten, wie Rainer Perske selbst sagt. Der neue Name „BiOriental“ hat sich aber noch nicht wirklich etabliert. Eine Verkäuferin der Firma „Eier-Oeser“, die seit 45 Jahren ihren Stand am Landwehrkanal hat, sagt dazu ganz klar: „BiOriental – noch nicht davon gehört“. Die Qualität der Produkte sollte laut Perske ebenfalls steigen. Wie die neue Bezeichnung erahnen lässt, geht es auch darum, mehr Bio-Produkte anzubieten. Eine Anrainerin erklärt aber, dass es am Markt nicht so viele biologische Produkte gebe. Allgemein sei die Qualität der Produkte nicht immer gut. Seit 14 Jahren erledigt sie auf dem Nachhauseweg immer wieder Besorgungen auf dem Wochenmarkt. Um den Markt wirtschaftlich zu stabilisieren, versucht Rainer Perske seit seiner Marktübernahme 2005, die Angebotspalette insgesamt zu vergrößern. Damit sollen auch mehr Kunden zum Maybachufer gelockt werden. Anwohner hätten laut dem Marktverwalter früher nicht wirklich etwas für sich gefunden. Aus diesem Grund zählte es zu Perskes Plan, auch Schwarzbrot als typisch deutsches Produkt am Markt anzubieten. Darüber hinaus spielen auch Touristen eine große Rolle. Nicht zuletzt, weil der Wochenmarkt als Touristenmagnet gilt. Der Markt am Landwehrkanal hat bereits in vielen Touristenführern seinen fixen Platz. Im Internet muss ebenfalls nicht lange gesucht werden.


lifestyle

Auf „top10berlin“, einem Informationsportal für Touristen und BerlinInteressierte, zum Beispiel rangiert er auf Platz Eins in der Katergorie Wochenmärkte. Meist ist von der kulinarischen Vielfalt und den günstigen Preisen die Rede. Die Möglichkeit, Gemüse und Obst preiswert einzukaufen, schätzt auch ein junges Paar aus Berlin: „Weil’s besser aussieht als im Supermarkt und meistens günstiger ist. Und man kann ein bisschen handeln.“ Der eine oder andere Kommentar im Internet kritisiert aber auch den wenigen Platz zwischen den Ständen. Dies ist jedoch besonders von der Tageszeit abhängig. Es lohnt sich, bereits zu Marktbeginn gegen 11 Uhr zu kommen. Da kann der Besucher noch gemütlich zwischen den Ständen hindurch schlendern. Mit zunehmender

Tageszeit füllt sich der Markt immer mehr. Auch auf der Suche nach Tipps wird der Leser im Internet fündig: So mancher Händler verhökert gegen Ende des Markttages um 17 Uhr schon mal eine Kiste Tomaten für fünf Euro. Wirtschaftlich gesehen, ist laut Rainer Perske ein Anstieg der Besucherzahlen zu erkennen. Während es zu früheren Zeiten 7.000 bis 10.000 Besucher pro Tag gab, sind es heute 10.000 und mehr. Das hängt meist auch vom Wetter und dem geweiligen Markttag ab. Bei Schönwetter sind natürlich mehr Kunden am Markt. Zum Wochenende hin, also zwischen Donnerstag und Samstag, ist im Einzelhandel grundsätzlich mehr Umsatz zu verzeichnen. So eben auch am Freitag am Maybachufer.

Mittlerweile ist der Wochenendeinkauf fast abgeschlossen: Brot und Obst hat die Dame bereits von ihrer Liste gestrichen. Nun fehlt nur noch Gemüse. Eine bunte Vielfalt an knackig roten Paprikaschoten, frischem Porree, Tomaten und vielem mehr ist am Stand zu begutachten. Die Frau hat aber schon etwas ins Auge gefasst – einen Bund Petersilie kauft sie dem Verkäufer ab, der ihr ein Stück Ananas vom Nebentisch anbietet. Auch was potenzielle Händler am „BiOriental“ betrifft, erfreut sich der Wochenmarkt großer Beliebtheit. Die Auswahl der Händler trifft Rainer Perske persönlich. Die Hälfte von ihnen sind Vertragshändler, über die anderen 50 Prozent entscheidet er jeden Markttag aufs Neue. Hierbei geht der Verwalter

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nach gewissen Regeln vor. An erster Stelle stehen Lebensmittelhändler. Dabei setzen sich vor allem diejenigen durch, die etwas Besonders, Neues anbieten können – zum Beispiel der Händler „Pasta Pantalone“, der selbst gemachte Pasta und Antipasti verkauft. Danach kommt an die Reihe, wer noch Platz findet. Und am Ende des Auswahlverfahrens muss Herr Perske dann jedes Mal noch etwa 30 bis 50 Händler nach Hause schicken. So ergibt sich ein Schnitt von etwa 60 bis 70 Prozent türkisch-arabischstämmigen Händlern und Kunden. Vor der Übernahme des Marktes durch Rainer Perske lag dieser Schnitt bei etwa 80 bis 90 Prozent. Die Besucherzahlen lassen aber darauf schließen, dass diese Strukturverschiebung der Beliebtheit des Wochenmarktes keinen Abbruch tut. Eine Frau Anfang zwanzig aus Berlin – Prenzlauer Berg zum Beispiel, kommt am liebsten morgens auf den Markt. Zu dieser Zeit gebe es die größte Auswahl an Ständen. Ein Fladenbrot in der Hand, fasst sie ihr Urteil: „Lecker!“

Auch die Dame mit dem karierten Einkaufswagen ist zufrieden. Der Wagen ist bis oben hin gefüllt. Etwas geschafft tritt sie den Heimweg in Richtung UBahnstation Kottbusser Tor an – nun in langsamerem Tempo.

gleich verarbeiten, zum länger Aufbewahren ist das dann eher nichts. Günther*, aus Hermsdorf Er kennt den Markt seit 10 Jahren. SAGT DIR DER NAME „BIORIENTAL“ ETWAS? BiOriental? Na doppelt oriental.

> BESUCHERUMFRAGE Nicole, 27, aus Berlin-Köpenick WIE HEISST DER MARKT FÜR DICH? Türkenmarkt am Maybachufer. WAS KAUFST DU BEVORZUGT UND WARUM GERADE HIER? Stoffe. Weil sie günstiger sind als in Stoffläden. Und für einfache Sachen reichen die vollkommen aus. WIE IST DIE QUALITÄT DER WAREN? Sie sind halt ganz normale, dünne Baumwollstoffe. Wenn man qualitativere Stoffe will, dann bekommt man die eher in einem richtigen Stoffladen als hier. Die Frischwaren muss man

WAS KAUFST DU BEVORZUGT UND WARUM GERADE HIER? Ingwer zum Beispiel, Granatäpfel – Obst, Gemüse. Die Atmosphäre gefällt mir, und ist auch ein paar Pfennige billiger als gewöhnlich. Die orientalische Freundlichkeit gefällt mir. Gehe auch immer hier etwas essen, Gözleme, einen Tee trinken… WAS MACHT DEN MARKT IM GEGENSATZ ZU ANDEREN MÄRKTEN SO BESONDERS? Kann ich nicht sagen, ich gehe eigentlich nur auf diesen Markt. Beate*, aus Reinickendorf WIE OFT KOMMST DU HIERHER?


Lifestyle

Immer wenn ich Zeit habe, also so alle 14 Tage auf jeden Fall. WAS MACHT DEN MARKT DEINER MEINUNG NACH SO BESONDERS? Hier ist Leben. Das ist ein Stück Urlaub. Ich bin einfach gerne hier, die Atmosphäre gefällt mir. Die Menschen kommen in Kontakt. Nikolas, 24, aus Schöneberg WIE HEISST DER MARKT? Türkenmarkt. WAS KAUFST DU BEVORZUGT UND WARUM GERADE HIER? Stoffe und Lebensmittel. Obst und Gemüse. Weils günstig ist und weil die Qualität stimmt. WAS FEHLT DEM MARKT? Günstigerer Kaffee.

KANNST DU DICH MIT DEM NEUEN NAMEN „BIORIENTAL“ IDENTIFIZIEREN? WENN JA, WARUM? Ja. Früher waren fast nur türkische Händler hier. Jetzt kommen auch italienische Händler, und auch welche aus Afrika. Fast alles, was es gibt, gibt es hier. Jetzt ist er orientalisch, früher war er der Türkenmarkt. HAT SICH DEIN KUNDESTAMM SEIT DER ÜBERNAHME DURCH DEN AKTUELLEN MARKTVERWALTER VERÄNDERT? Ja, ich habe erst empfunden, dass viele Studenten und Touristen hier nichts gefunden haben. Jetzt finden sie alles. Also, jetzt ist die Kundschaft ganz unterschiedlich.

preiswert Obst kaufen wollen. Dadurch hat man schon eine Menge Bewegung hier auf dem Markt, die man auf anderen Märkten nicht hat. Und hier kommen auch wirklich Leute hin, die kaufen wollen – was, ist ja erst mal zweitrangig. WARUM BAUST DU DEINEN STAND SO SCHLICHT AUF? Hier wird einfach ein bisschen Masse präsentiert und das kommt bei den Kunden hier besser an, als wenn man auf schick und hochwertig trimmt. * Namen von der Redaktion geändert

Heiko, 47 (rechts im Bild) Seit 2 Jahren Blumenhändler am „BiOriental“.

> ZWEI HÄNDLER IM GESPRÄCH Ibrahim, 42 (links im Bild) Seit 1998 Händler mit türkischen Spezialitäten am „BiOriental“.

WAS MACHT DEN MARKT FÜR DICH BESONDERS? Der Markt ist besonders durch seine hohe Anziehungskraft für Kunden, die

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Lebende Leinwände Stich für Stich entsteht ein Gesamtkunstwerk. Als Leinwand dient die nackte Haut. Ein Tätowierer aus Berlin und sein Kunde Marcus lassen sich einen Tag begleiten. Selin Kahya Der Eingang des Berliner TattooStudios „Classic Tattoo“ in der Torstraße ist prunkvoll. Edel-Chic trifft es ganz gut. Es ist eines von vier „ClassicTattoo“Studios in Berlin. Ein kalter und ungemütlicher Montagmittag. Der schönste Aufenthaltsort wäre jetzt wahrscheinlich im Bett mit einer dicken Decke, doch der Laden ist wie immer gut gefüllt. An Steinwänden hängen Bilder mit verschiedensten Motiven und Vitrinen mit Hunderten von Piercings. In einem Regal hinter dem Empfangstisch sind die Terminkalender der Artists zu sehen, die regelrecht überfüllt sind. Zwischen Leuten, die ungeduldig auf einer der schwarzen Ledercouchen sitzen, Tattoo-Zeitschriften durchblättern und auf ihren Termin warten, gibt es auch solche, die sich mit Vorfreude einen Termin klar machen. Charaktere aller Art treffen hier aufeinander. Das Klischee, dass nur Rocker und Gefängnisinsassen tätowiert sind, ist schon lange veraltet. Neben einer zierlichen Blondine, deren Körper mit mehr Tinte übersät ist als das Deutschheft eines Viertklässlers, sitzt ein schüchterner,

Englisch sprechender junger Mann. Natürlich tummeln sich dort auch „alte Hasen“, die das Tätowieren als Entspannung nutzen, wie andere Yogakurse. Es ist kurz nach zwei und der Tätowierer, der unter seinem Künstlernamen Marshall seit sechs Jahren bei „Classic“ zusticht, ist bereits mitten bei der Arbeit. Er ist konzentriert, wirkt jedoch locker. Kein Wunder. Heute tätowiert er einen seiner Kumpels. Seit einer Stunde beschäftigt sich der Tätowierer mit dem neusten Tattoo von Marcus. Er möchte sich heute ein Abbild seines eigenen Auges stechen lassen. Marshall scheint zufrieden. Er quatscht mit seiner Kollegin Sonja, mit der er sich ein Zimmer teilt. Die beiden fachsimpeln über Tattoos, die nur im Neon-Licht sichtbar sind und albern herum. Marshall ist 25, nicht sehr groß und seine Gesichtszüge sind weich, er hat eine freundliche Ausstrahlung. Also alles andere als ein gefährlicher Typ, der sich Tag für Tag durch sein hartes Leben schlagen muss. Und trotzdem

ist Marshalls Körper bedeckt mit Tattoos. Bei den Körperstellen, die das T-Shirt freigibt, ist fast keine Stelle untätowiert. Im Raum sind noch zwei weitere Mädchen, um die sich Sonja gerade kümmert. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre im Raum. Jeder hat genug Platz für seine Arbeit. Das war allerdings nicht immer so. Das Zimmer, das sich die beiden Tattookünstler davor geteilt haben, war nicht einmal halb so groß. Viele Schaulustige und Begleitpersonen, die zur mentalen Unterstützung mitkommen wollten, fanden in dem kleinen Raum keinen Platz. Nun hat jeder seinen Bereich mit eigener Liege. In der linken Ecke steht ein großer Eckschreibtisch, der übersät ist mit Skizzen und Mustern. Rechts steht ein Regal mit Büchern. Daneben hängt ein großer Spiegel. Drum herum viele Muster bereits gestochener Tattoos. Die beiden Fenster erhellen den Raum und lassen ihn noch größer erscheinen. Marcus liegt entspannt auf dem Bauch


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und tippt in sein Handy. Schmerzen scheint er keine zu haben. Marshall ist inzwischen schon so weit, dass vom sogenannten Stencil fast gar nichts mehr zu sehen ist. Das Stencil ist die Blaupause, die als Vorlage auf den Körper gebracht wird. So kann der Kunde schauen, ob ihm das Tattoo an dieser Stelle gefällt. Ansonsten kann der Tätowierer das Motiv nochmal verschieben. Marcus war sich sicher und hat sich für die richtige Stelle entschieden. So wurden die blauen Linien zu dünnen, präzisen, immerwährenden schwarzen. Es ist das fünfte Tattoo, das sich der 27-jährige Marcus von Marshall stechen lässt. Er vertraut ihm und ist wahrscheinlich deshalb so gelassen. Die beiden haben erst vor fünf Monaten angefangen, miteinander zu arbeiten. Da hat Marshall ein altes Tattoo überstochen. Nach und nach sind die anderen entstanden. Die Umrisse der Turtles, ein Baum, der Name seiner Tochter Mila mit einem Abbild ihrer ersten Herztöne, der Name seiner Freundin und die Initialen seiner

Urgroßeltern und Großeltern. Sie sind alle auf dem rechten Bein. Nun soll es das eigene Auge werden. Auf Marcus Gesicht macht sich inzwischen doch ein wenig Anspannung breit. „Hatte ich gesagt, dass es nicht wehtut?“, versucht er zu scherzen. Aber er muss nicht lange leiden, denn Marshall befindet sich in den letzten Zügen. Das Tattoo ähnelt nahezu perfekt dem Originalfoto, das Marshall neben dem Stencil als Muster genutzt hat. „So, fertig!“, erklärt Marshall. Marcus steht auf, betrachtet sich kurz im Spiegel. „Ja, geil“, lautet sein Fazit. „Dann können wir ja gleich weitermachen.“ Denn Marshall ist mit Marcus für heute noch nicht fertig. Es stehen noch einige Verbesserungen an bereits gestochenen Tattoos an. Dann machen sie sich auch schon an die Arbeit, sie haben noch einiges vor! Nächstes Tattoo, nächste Leinwand.

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Diagnose: Liebeskummer Jeder von uns hat es mindestens einmal erlebt: Liebeskummer. Heute berichte ich von meinen eigenen Erfahrungen. Außerdem gehe ich der Frage nach, ob es tatsächlich ein Mittel gegen den Liebeskummer gibt. Kimberley Bernard Ich sitze auf meinem Sofa. Vor mir wächst der Taschentuch-Turm im Minutentakt. Ich heule, schreie und weiß nicht mehr weiter. Wieso hat er Schluss gemacht? Es war doch alles perfekt, oder? Schon wieder wähle ich seine Nummer in der Hoffnung, seine Stimme zu hören, nur um dann ganz schnell wieder aufzulegen. Mein Herz klopft wie verrückt, meine Hände zittern. Wahlwiederholung. Jedes „Tuuut“ kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. „Was willst du?“, höre ich die schönste aller Stimmen murren. „Gib mir doch noch eine Chance. Bitte, bitte, bitte. Ich liebe dich so sehr“, flehe ich schluchzend in den nassen Telefonhörer. Aber nein, er gibt mir keine Chance. Dabei würde ich im Moment alles tun, was er von mir verlangt. Ich bin bereit, meine komplette Persönlichkeit für ihn aufzugeben. Meinetwegen ziehe ich mir ein Jackett an und bediene ihn von morgens bis abends. Hauptsache ich darf in seiner Nähe sein. Dass Schluss ist, kann ich nicht realisieren. Ich will es nicht begreifen. Er hat mich doch auch so geliebt. Wie kann er mir das antun, mich so zu ignorieren? Das ist wahrscheinlich nur eine Phase und irgendwann wird er schwach. Ich muss ihn nur jeden Tag mit SMS und Anrufen bombardieren. Ihm sagen, wie toll er ist und dass mein Leben ohne ihn keinen Sinn macht. Ganz toller Plan, damit bringe ich ihn wahrscheinlich völlig auf die Palme. Auf meine Freunde habe ich keine Lust. Und auf Standardsätze kann ich ebenfalls sehr gut verzichten – so etwas wie: „Die Zeit heilt alle Wunden“ oder „Andere Mütter haben auch schöne Söhne“. Außerdem tun sie mir

auch leid, da sie sich mindestens 100 Mal am Tag seinen Namen und die gleichen Fragen anhören müssen. Lieber verdunkle ich meine Wohnung und bemitleide mich selbst. Ich habe das doch gar nicht verdient. Mein treuer Begleiter: Essen. Egal was, entkommen kann mir nichts. Ich stopfe alles in mich hinein, nur um bei dem Blick in den Spiegel zu denken: „Is‘ ja wohl klar, dass er so eine wie dich nicht mehr will.“ Den Frust ertränke ich dann auf irgendwelchen Partys. Ich wohne ja jetzt in Berlin und denke, hier muss ich richtig übertreiben. Also hänge ich quasi jedes Wochenende betrunken in der Ecke. Sehr attraktiv, Frau Bernard. Aber mir egal. Ich lasse mich völlig gehen und klemme mich an die merkwürdigsten Bekanntschaften. Nichts ist mir zu gefährlich, nichts überlege ich zweimal. Wenn er sieht, wie ich abstürze, muss er doch aufwachen. Dass ihn das relativ kalt lässt, muss ich nicht extra betonen. Ich suche Bestätigung bei anderen Exemplaren der Gattung Mann. Leider muss ich schnell einsehen, dass mich auch dieses erbärmliche Verhalten nicht weiterbringt. Denn im Endeffekt sind sie doch alle gleich. Mittlerweile sehe ich aus wie ein begossener, fetter Pudel. Mein Hobby ist nicht mehr die Fotografie, sondern alte Bilder und Briefe von Mr.Perfect anzuschmachten und zu lesen. Dadurch werde ich wütend, sauer und traurig. Ein ewiger Teufelskreislauf, den so oder so ähnlich schon jeder einmal erlebt hat. Das einzig versöhnlich stimmende an Liebeskummer ist: Niemand ist gegen ihn gewappnet. Alter, Geschlecht, Aussehen und der gesellschaftliche

Stand sind dem Liebeskummer total egal. Ich als „Liebeskummerexpertin“ gehe so weit zu behaupten, dass Liebeskummer eine Krankheit ist. Nicht immer und auch nicht bei jedem. Aber viele Liebeskranke verfallen in schwere Depressionen oder wollen sich sogar das Leben nehmen. Liebeskummer ist mit einem Drogenentzug vergleichbar. Der Betroffene leidet unendlich stark und fällt immer wieder zurück. Mein Liebeskummer lässt sich in drei Phasen unterteilen. Bei jedem fallen sie unterschiedlich lang und intensiv aus. Ich habe sie in vollster Intensität durchlebt: Phase 1 nenne ich noch die Hoffnungs-Phase. Nach dem großen Schock, kommt die Verwahrlosung und die Verdrängung. Ich rede mir ein, dass er schon morgen vor meiner Tür steht und sich für alles entschuldigt. Während ich darauf warte, bemitleide ich mich selbst, gucke Liebesfilme und esse viel. Mein Handy liegt stets griffbereit neben mir. Nur für den Fall, er könnte es sein. Phase 2 nenne ich die ZerstörungsPhase. So langsam realisiere ich, dass von seiner Seite aus nichts mehr kommen wird. Ich bin sauer, wütend und unendlich traurig. Schreibe ihm 100 HassSMS, um gleich danach eine Liebesbotschaft hinterher zu schicken. Meine Rachephantasien kommen ans Tageslicht. In der Hoffnung, er möge sich darüber ärgern, poste ich tolle Dinge meines Berliner Lebens bei Facebook oder treffe mich mit irgendwelchen Typen. Eine Party jagt die nächste und ich rede mir ein, ihn nicht zu brauchen.


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Einige Tage später schlage ich ihm dann vor, dass wir doch ganz normal reden und Freunde sein können. Ich habe die Kontrolle über mein Handeln verloren. Es geht so weit, dass ich seine Freunde ausquetsche oder mir vorstelle einfach zu ihm nach Hause zu fahren. Die negativen Seiten unserer Beziehung habe ich völlig ausgeblendet, für mich war alles perfekt. Das Wichtigste an dieser Phase sind meine Freunde und meine Familie. Sie geben mich nicht auf und waschen mir, wenn nötig, auch mal den Kopf. Nach einem halben Jahr Gefühlschaos, rutschte ich in Phase 3. Diese nenne ich Heilungs-Phase. Irgendwann habe ich akzeptiert, dass aus uns nichts mehr wird. Dass Mr. Perfect gar nicht so perfekt ist. Und vor allem, dass unsere Beziehung alles andere als toll und problemlos war. Ich begreife, dass wir einfach nicht zusammen gepasst haben. Mein Leben macht mir allmählich wieder Spaß. Ich höre auf, darüber nachzudenken, was er gerade mit wem und wo macht. Seine Nummer habe ich

gelöscht. Meine Laune wird von Tag zu Tag besser. Ich treibe wieder Sport, gehe meinen Hobbys nach und mache das Berliner Nachtleben nun in angemessenem Rahmen unsicher. Ein bestimmtes Mittel gegen Liebeskummer gibt es also leider nicht. Auch die vielen Ratgeber helfen nur kurz. Es hört sich vielleicht blöd an, aber die Zeit heilt manchmal wirklich alle Wunden. Und es sind auch nicht alle Männer gleich! Ich habe einen neuen Mr.Perfect gefunden, den ich um einiges perfekter finde als den letzten. Trotzdem bin ich stets wachsam und vorsichtig, denn noch einmal will ich diese Phasen nicht durchleben. Für alle, die nicht so lange warten wollen, oder die tief und fest in Phase 2 stecken, gibt es aber auch Hilfe. Silvia Fauck hat es sich zum Beruf gemacht, Liebeskranken zu helfen. Sie betreibt Deutschlands erste Liebeskummerpraxis in Berlin. Ihre Klienten sind zwischen 20 und 60 Jahre alt. Dazu zählen Studenten, Manager,

Schauspieler oder auch Rentner. Eine Sitzung kostet zwar um die 120 Euro, aber trotzdem ist es oft hilfreich, mit einer neutralen Person über die Probleme zu sprechen. Silvia Fauck beschreibt ihre Hilfe so: „Ich sehe mich in der Rolle als Freundin, Mutter oder Pfarrerin.“ Es ist ihr besonders wichtig, dass ihre Klienten die Praxis mit einem gestärkten Selbstbewusstsein verlassen. Für viele mag es auch tröstlich sein, dass Silvia Fauck Ähnliches durchlebt hat. Nach einer fünfjährigen Beziehung trennte sich ihr Mann – per Fax. Für sie brach eine Welt zusammen. Nun hat sie die weinenden Männer in ihrer Praxis sitzen: „Männer lassen hier zum ersten Mal alles raus. Sie weinen sehr oft“, so Fauck. Na, liebe Damen, geht das nicht runter wie Öl?

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Einmal im Monat. Krampfartige Kontraktionen? Unterleib- und Rückenschmerzen? Übelkeit und schlechte Laune? Gizem Eza

Es passiert jeden Monat. Es passiert hier und überall auf der ganzen Welt. Keine Frau will, dass es passiert. Kein Mann will, dass es passiert. Aber das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch sie hat es heute getroffen. Natürlich war sie darauf vorbereitet. Mit 20 Jahren weiß man schließlich, wie der Hase läuft. Keine Überraschung also. Trotzdem immer wieder nervig, eklig, störend, fies, schleimig und behindernd. Und mindestens doppelt so schlimm für den Partner. KLARTEXT: Die Rede ist von der Menstruation! Periode, Zyklus, Menses, Tage oder Regel. All diese Synonyme bezeichnen die periodisch wiederkehrende Blutung aus der Gebärmutter. Aus der Gebärmutter! Das Wort Gebärmutter verursacht bei mir Gänsehaut. Die Kombination von gebären mit Mutter (wessen Mutter auch immer) in Verbindung mit Blutung ist grausam. Und das jeden Monat. Außer Frau wird schwanger. Mal überlegen... was ist mit 20 Jahren schlimmer: Blutung oder Kind? Blutung oder Kind? Also ich entscheide mich vorerst für die Blutung. Ein Regelkreis, durch Zentren im Gehirn geleitet, steuert den monatlichen Zyklus. Dadurch entsteht der Eisprung, bei dem einmal im Monat ein Ei in den Eierstöcken heranreift. Dieses wird dann an die Eileiter abgegeben, die die Eizellen zur Gebärmutter transportieren. Dafür, dass sich die Gebärmutterschleimhaut immer wieder auf- und abbaut, sorgen Hormone aus den Eierstöcken. Eine befruchtete Eizelle kann sich, sobald die Schleimhaut aufge-

baut ist, einnisten – und im Falle einer Schwangerschaft zu einem Kind heranwachsen. Das Schleimhautbett wird jedoch nicht mehr benötigt, wenn die Eizelle unbefruchtet ist. Durch die Blutung wird es dann ausgespült. Ganz schön schlau, so ein Frauenkörper! Auch sie lässt sich schon lange nicht mehr von ihrer Erdbeerwoche abhalten und meistert den Alltag, als gäbe es gar keine Blutung. Meistens jedenfalls. Der Freund ist eingeweiht. Heimlich macht er sich Kreuze in seinen Kalender, damit er weiß, wann es genau passiert. Bereits eine Woche vorher trifft er sich immer öfter mit seinen Kumpels zum Fußballgucken, Kickern, Joggen - oder was auch immer. Alles ist angenehmer, als die Zicke zu Hause. Und an das gemeinsame Liebesleben ist natürlich auch nicht zu denken. Er sollte lieber keine Annäherungen machen, sie reagiert meistens biestig und beschimpft ihn als pervers und „schwanzgesteuert“. Der Spruch: Ein echter Pirat sticht auch ins rote Meer, bewirkt oft das Gegenteil. Denn eine Frau kann kurz vor ihrer Periode ziemlich reizbar sein. Die Östrogene schwinden, Progesteron bekommt die Oberhand. Die Folge: Augenringe, Pickel, strähniges Haar und Fresssucht. Sie will sich alles Essbare in den Mund stopfen, um danach über ihre Figur zu meckern. Er und sein bester Kumpel können sich glücklich schätzen. Bei einem Bierchen im letzten Jahr kam heraus, dass auch seine Freundin zur selben Zeit ihre Menstruation kriegt. Seitdem teilen sie ihr Leid. Monat für Monat. Abends sit-

zen sie gemeinsam in einer Bar und flirten mit anderen Frauen. Monat für Monat. Irgendwie muss Mann sich ja ablenken. Verständlich. Sie sitzt im Gegensatz zu ihm zu Hause auf der Couch, telefoniert stundenlang mit der besten Freundin über ihren unzuverlässigen Freund, ihren stressigen Job, den zu fett gewordenen Hintern und die hängenden Brüste. Natürlich bricht sie dabei in Tränen aus und löffelt noch mehr Schokoladeneiscreme. „Das sind die Hormone“, denkt sie sich nach einer Weile und muss schon wieder weinen. Dieses Mal nicht wegen ihres Aussehens. Dieses Mal weint sie einfach nur so. Einfach nur so? Ja! Frauen können das! Heulen ohne bekannten Grund. Irgendwann beruhigt sie sich, schmeißt zwei Schmerztabletten in den Mund und geht schlafen. Es vergehen 28 Tage. Diesmal passiert nichts. 30 Tage, 32 Tage, 40 Tage: immer noch nichts! „Ich glaube, ich bin schwanger“, sagt sie eines Abends zu ihm. „Heißt das, du kriegst erst mal deine Tage nicht?“ „Ja Schatz, genau! Ich kriege meine Tage nicht mehr, dafür haben wir in 9 Monaten ein nerviges Baby, ich kann meinen Job aufgeben und werde noch fetter. Du wirst mir fremdgehen und ich ende als alleinerziehende Mutter!“ FAZIT: Liebe Frauen, vielleicht solltet ihr doch die Binden, Tampons, Baumwollschlüpfer und Schmerztabletten schätzen und lieben lernen. Manchmal will Frau nämlich doch, dass es passiert!


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Tipps, damit die TAGE so angenehm wie möglich vergehen : 1. 2. 3. 4. 5.

Verzichten Sie auf koffeinhaltige Getränke, wie Kaffee und Cola. Vermeiden Sie Stress und versuchen sie sich Zu entspannen. Lassen Sie sich von Ihrem Partner massieren und verwöhnen. Treiben Sie Sport, auch wenn Ihnen nicht danach ist. Sport bewirkt Wunder! Meiden Sie Kälte und nehmen Sie Heißgetränke zu sich.

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Glitzer. Glamour. Fashion Week. Zweimal jährlich erhellen die Scheinwerfer Berlin. Denn zweimal jährlich wird die deutsche Hauptstadt zur internationalen Bühne für Mode und Lifestyle. Gizem Eza Berlin, Fashion Week 2013. Vom 15. bis 20. Januar drehte sich in Berlin für kurze Zeit alles um Mode. Die 12. Berlin Fashion Week lockte sowohl Einkäufer, Fachbesucher, Medienvertreter als auch Modeinteressierte und Promis aus aller Welt an. Treffpunkte waren Fachmessen, Ausstellungen und zahlreiche Events, verteilt in der ganzen Stadt. Wie immer gab es drei räumliche Schwerpunkte: Das Mercedes Fashion Week Zelt am Brandenburger Tor, die Bread & Butter auf dem Gelände des Tempelhofer Feldes und die Premium am Gleisdreieck. Neu: Die Messe „Berlin Panorama“ in Schönefeld. Auf dem Gelände des Berlin ExpoCenter Airport präsentier-

ten sich weitere 350 Kollektionen: Designerlabels, junger Avantgarde, Sports- und Streetwear-Marken. Die Messe bildete neben der Bread & Butter und der Premium, die dieses Jahr ihr Jubiläum feierten, eine weitere, neue Anlaufstelle. Auf den Catwalks und Showrooms des Mercedes Fashion Week Zelts präsentierten sich mehr als 50 Kollektionen. Rund 150 national und international renommierte Modeschöpfer, sowie Nachwuchsdesigner zeigten ihre Meisterstücke und setzten Trends für die kommende Saison. Traditionslabels wie Rena Lange und Hugo blieben der Fashion Week treu und zeigten Kollektionen mit wenigen Ecken und Kanten. Mit

600 bis 700 geladenen Gästen waren die Showrooms immer voll besetzt. Zu den “Berliner Highlights“ gehörten unter anderem die Labels Lala Berlin, Frida Weyer, C‘est tout und Blame. Der Tourismusverband Berlin schätzt, dass die Modewelle mehr als 240.000 Gäste aus aller Welt angespült hat – und laut der Investitionsbank Berlin 119 Millionen Euro gleich mit. Nicht schlecht für eine Stadt, die bezogen auf ihre Modeszene lange nicht ernst genommen und belächelt war. Neben London, Paris, New York und Mailand galt Berlin viele Jahre als nicht konkurrenzfähig. Aber das Potenzial der Kreativmetropole zieht immer mehr


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Einkäufer und Hersteller an. Der raue Charme, die junge Modeszene und die Erkenntnis, dass in dieser Stadt noch viel Luft nach oben besteht, lockt an. Denn die Berliner Modewelt ist in einer ständigen Entwicklungsphase. Auch wenn ein großer Teil der Events zur Modewoche ausschließlich für geladene Gäste zugänglich ist, begeistert sie nicht nur das Fachpublikum. Rund um die Fashion Week und das Thema Mode haben sich einige abwechslungsreiche Veranstaltungen, Ausstellungen und Partys etabliert. Somit kann auch der Laie ohne Probleme in die Modewelt eintauchen. Die Schauen des Showfloor Berlin in Huxley’s Neuer Welt an der Hasenheide lockten zum Beispiel auch dieses Jahr wieder mit kostenlosem Eintritt.

zusammen: „Berlin – arm, aber sexy“. So versuchen sich Berliner Jungdesigner weiterhin über Wasser zu halten und sich immer wieder neu gegen die anderen Modestädte zu beweisen, um auch in der Zukunft mithalten zu können. Etwas mehr Unterstützung seitens der Medien während einer so wichtigen Modewoche wäre sicherlich hilfreich. Denn am Ende sollten die Designer glitzern – und nicht die „Promis“.

Neben dem Glitzer- und Glamour-Faktor blieb aber die Kritik wie jedes Jahr nicht aus. Das Augenmerk lag dieses Mal nicht wie sonst auf den Magermodels, sondern auf den Medienschaffenden. Scheinbar ist es interessanter, über Interviews mit C-Promis zu berichten, als über die gute Leistung der Designer. „Früher saßen Chefredakteure von Modemagazinen in den ersten Reihen. Die werden jetzt von Ex-DSDS und Topmodel Teilnehmern belagert“, schreibt die 27-jährige Diplom-Modedesignerin Neder enttäuscht in ihrem Blog. Es geht also nicht mehr um die Mode und die Wertschätzung der schweren Arbeit des Designers, sondern zum Teil nur darum, sich auf Veranstaltungen und Shows zu präsentieren. Über 2000 Modeschöpfer gibt es in Berlin, viel mehr als sonst irgendwo in Deutschland. Jedoch sanken die Umsätze der deutschen Modehändler letztes Jahr um zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr, berichtet das Magazin Textilwirtschaft. Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit fasste einst Berlins Situation treffend

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Das Bruderduell Willkommen beim Derby, willkommen in Berlin! Johann-Caspar Bertheau und Klaas Geller

Und die Bengalos brennen weiter Im Kampf gegen die zunehmende Gewalt in deutschen Stadien stößt die Deutsche Fußball Liga an ihre Grenzen – und zieht den Unmut der Fans auf sich. Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht. Samantha J. Walther

Ich bin schwul und das ist auch gut so? Ein homosexueller Fußballer sorgte im September 2012 mit seinem anonymen Outing für Schlagzeilen - Doch warum ist Homosexualität im Fußball immer noch ein Tabuthema? Samantha J. Walther

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Das Bruderduell Johann-Caspar Bertheau und Klaas Geller

Die eigene Stimme ist kaum zu verstehen. Der dick aufsteigende Rauch glitzert im Schein der Flutlichter. Trotz der beißenden Kälte ist es heiß. Während die Spieler langsam den Rasen betreten, erreicht das Spektakel auf den Rängen seinen Höhepunkt. Als die Anhänger von Hertha BSC in der „Ostkurve“ beginnen ein riesiges Banner aufzurollen, knallt es im Gästeblock der Unioner mehrmals laut. Der Nebel verdichtet sich. Willkommen beim Derby, willkommen in Berlin! Es ist ruhig. Nur das eine oder andere Gelächter stört die abendliche Idylle. Patrick (28), Marc (29), Chris (26) und Thorsten (50) stehen vor der „Abseitsfalle“ in Köpenick. Der bekanntesten Anlaufstelle für durstige Union-Fans, vor dem obligatorischen Stadiongang. Die vier Männer wirken entspannt. Heute geht es ja auch nur gegen den vermeintlichen Underdog „SV Sandhausen“. Der Eindruck des ruhigen Vorort-Clubs verfestigt sich beim Anblick der friedlich vor der Bar stehenden Fans. Keine Spur der laut Deutschen Fußball Bund (DFB) 430 gewaltbereiten Union-Anhänger, die den Club in der deutschlandweiten Gewaltstatistik auf Platz 8 aller Profiteams sehen. „Wir sind hier eine große Familie“ sagt Patrick. „Union ist eine Lebenseinstellung. Viele Vereine haben Fans, wir haben einen Verein.“ Auch eine kleine Spitze gegen den Nachbarverein aus Charlottenburg kann sich Patrick nicht verkneifen. „Die Herthaner sind Schönwetter-Fans. Läuft alles gut kommen 50 bis 60.000 ins Olympiastadion. In der 2. Bundesliga ist meist nur noch die „Ostkurve“ richtig voll.“ Um ein volles Stadion

muss sich der 1. FC Union Berlin meist nicht sorgen. Die beschauliche „alte Försterei“ ist das prozentual dritt bestgefüllte Stadion der 2. Liga. Rund 16.000 Fans kommen pro Spiel in die 21.000 Mann fassende Arena. Die neue Haupttribüne haben die Unionanhänger selbst gebaut. Aufgrund finanzieller Probleme konnte der Verein den Bau nicht selbst finanzieren und musste daher auf die Unterstützung der Fans zurückgreifen. Hertha BSC kennt solche Probleme nicht. Der Augapfel des Regierenden Berliner Bürgermeisters Klaus Wowereit bekommt die Stadionmiete für das knapp 75.000 Menschen fassende Olympiastadion von der Stadt Berlin vorgestreckt. Neidisch blicken die Unioner dennoch nicht auf den „Berliner-Krösus“. „Wir Unioner unterstützen uns selbst, Hertha wird unterstützt. Wir fühlen uns zwar schon ein wenig allein gelassen, aber wir wissen uns zu helfen. Auf einer Tribüne zu stehen, die man selbst gebaut hat, in die man sein eigenes Geld und seinen eigenen Schweiß investiert hat, ist einfach ein unbeschreiblich Gefühl. Gänsehaut pur. Kein Herthaner wird dieses Gefühl je nachvollziehen können“, meint Marc. Bahnhof Zoo. 500 Hertha-Fans haben sich wenige Stunden vor Anpfiff des Derby-Rückspiels am 11. Februar im Olympiastadion auf dem Hardenbergplatz versammelt. Keine 500 Meter entfernt, finden sich 1200 Union-Anhänger auf dem Breitscheidplatz ein. Eine gezielte Provokation. Der Breitscheidplatz wird, als Symbol des Westens, von den Ostberlinern des 1. FC Union besetzt. Schon während des letzten Heimspiels verhöhnten die

„Eisernen“ die Herthaner in Anspielung auf ihren Fantreff am Zoo . Auf einem Banner hieß es „Hertha-Treff am Knabenstrich, alte Liebe rostet nicht“. Die Reaktion der Polizei auf die aufgeheizte Stimmung: Ein Riesenaufgebot. Insgesamt circa 1000 Polizisten überwachten während des Derby-Tages die zahlreichen Fans. Auch am Bahnhof Zoo und am Breitscheidplatz fanden sich mehrere Hundertschaften ein. Die Strategie: Strikte Trennung der Fanlager. Zu den vielerorts befürchteten Schlägereien kam es deswegen nicht. Insgesamt vermeldete die Polizei zwar vier Festnahmen, meist blieb es aber bei harmlosen Schmähgesängen. Laut Andi, der schon seit er denken kann Hertha-Fan ist, war eine gewalttätige Auseinandersetzung kein Thema. „Wir haben erfahren, dass die Unioner eine Versammlung am Breitscheidplatz planen, da wollten wir uns nicht die Blöße geben und haben uns hier am Zoo getroffen. Eigentlich müsste hier alles in Blau- Weiß gefärbt sein.“ Einen Ost- West Konflikt gibt es trotz der gegenseitigen Anfeindungen nicht. „ Ob Ost oder West spielt eigentlich keine Rolle. Die Unioner haben mittlerweile viele Fans aus dem Westen, während wir auch einige Fans aus dem Osten der Stadt haben.“ Umso weniger kann Andi die Aussage des Unionspielers Christoph Quiring nach der Derbyhinspiel-Pleite der Eisernen verstehen. „Wenn die Wessis in unserem Stadion jubeln, kriege ich das Kotzen“ ließ Quiring damals verlauten. ,„Der Typ ist erst ein Jahr nach der Wende geboren und hat nichts vom geteilten Deutschland mitbekommen. Da sind solche Sprüche komplett überflüssig “, sagt Andi. Tatsächlich gab es


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vor der Wende noch gar keine Rivalität zwischen den beiden Berliner Vereinen. Kurz nach der Wende kam es am 27.Januar 1990 sogar noch zu einem „Wendespiel“, in dem die beiden Clubs ihrer Fanfreundschaft frönten. Doch dann änderte sich alles. Christian Peper kann ein Lied davon singen. Von 2007 bis 2011 war er Trainer der E-, Dund C-Jugend im Nachwuchsleistungszentrum der Eisernen. „Vor der Wende ist man sich noch auf Augenhöhe begegnet. Man spielte auf demselben Niveau und man war sich in vielerlei Hinsicht ähnlich. Nach der Wende gab es immer weniger Berührungspunkte. Union stieg immer weiter ab und Hertha sorgte sogar in der Champions League für Furore. Man hatte sich einfach nichts mehr zu sagen. “ Mit dem Abstieg der Hertha in der Saison 2008/09 trafen sich die Teams dann erstmals wieder. „Vor zwei Jahren, als es dann erstmals wieder zu einem Pflichtspielderby gekommen ist, war die Stimmung richtig aufgeheizt. Das hat sich mittlerweile aber wieder beruhigt“. Die Rivalität scheint trotzdem wieder ein wenig entfacht zu sein. Auch in den Jugendmannschaften der jeweiligen Vereine sind die Duelle gegen den Stadtnachbarn immer etwas Besonderes.

„Die Jungs in den Jugendmannschaften kennen den Status der beiden Clubs und wollen es sich gegenseitig beweisen. Es gibt zwar keine wirkliche Rivalität im Sinne von Hass, aber eine besondere Motivation gibt es schon“. Fairer Wettkampf anstelle von Hassparolen und Gewalt. „Ich gehe seit 2000 regelmäßig ins Stadion und ich habe nie Gewalt sehen müssen.“ Zwar wirkt das große Polizeiaufgebot bei den Union-Heimspielen immer sehr einschüchternd, aber das hängt vor allem mit der Infrastruktur des Vereins zusammen. „In Köpenick ist alles sehr eng und klein. Das Stadion ist von der Kapazität her nicht einmal annähernd mit dem Olympiastadion vergleichbar. Da wirkt das Polizeiaufgebot meist etwas übertrieben. Man sollte aber nicht 95 Prozent der Fans kriminalisieren, nur weil es ein paar Krawallmacher gibt. Die eigene Freiheit hört für die echten Fans da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Wenn dann Pyros in einer Gruppe von mehreren Tausend Menschen gezündet werden, ist das definitiv inakzeptabel“. Insgesamt wirkt die vermeintliche „Feindschaft “ vom 1.FC Union und Hertha BSC künstlich aufgebauscht. Das Spiel wird medienwirksam zu einer Art Klassenkampf hochstilisiert

und Dinge wie der vermeintliche OstWest Konflikt werden dankbar aufgegriffen. Letztendlich geht es aber auch hier wie in jedem anderen Fußballspiel nur um drei Punkte. Die inoffizielle „Stadtmeisterschaft “ besitzt für viele Fans keine Bedeutung mehr. So ging auch das für längere Zeit vielleicht letzte Aufeinandertreffen der beiden Teams am 11.Februar 2013 friedlich zu Ende. Ein Duell auf Augenhöhe, das mit einem 2:2 Unentschieden keinen Sieger fand. Eine Hoffnung verbindet jetzt alle Berliner Fußballfans. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen auf der ganz großen Bühne. Ein Wiedersehen in der 1.Fußball Bundesliga.

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Und die Bengalos brennen weiter Im Kampf gegen die zunehmende Gewalt in deutschen Stadien stößt die Deutsche Fußball Liga an ihre Grenzen – und zieht den Unmut der Fans auf sich. Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht. Samantha J. Walther Gelsenkirchen am 24. November 2012. Schalke 04 gegen Eintracht Frankfurt. – Ein Szenario, das keine Seltenheit mehr in Fußball-Deutschland ist: Bengalo-Dauerfeuer und Rauchbomben in den Stadien. Auch Statistiken scheinen die zunehmende Gewalt in den Stadien zu bestätigen. Nach Angaben der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS), gab es bei Spielen der ersten vier Ligen in Deutschland in der Saison 2011/2012 mehr Verletzte und mehr Straftaten als in den Vorjahren. Erst am 24. November 2012 zündeten Ultra-Fans des FC Schalke 04 in der Veltins Arena wieder mindestens ein Dutzend bengalische Feuer im Spiel gegen Frankfurt. „Bengalo Hölle auf Schalke“, titelte die Abendzeitung München. Ein Vorfall, der die Frage nach verstärkten Sicherheitsmaßnahmen in deutschen Fußballstadien wieder lauter werden ließ. Ein Vorfall, der das neue Sicherheitspapier Sicheres Stadionerlebnis der Deutschen Fußball Liga (DFL) in seinem Vorhaben – die zunehmende Gewalt durch schärfere Kontrollen zu minimieren – unterstützte. Selbst Schalke-Kapitän Benedikt Höwedes nahm auf seiner offiziellen FacebookSeite zu diesem Vorfall Stellung: „Um das mal klar zu stellen: Ich finde es großartig, dass wir immer auf euch zählen können. Ich finds einfach nicht in Ordnung, sich selbst und andere Fans in Gefahr zu bringen und das eigene Stadion zu beschädigen.“ „Kackwurst!“, antwortete Lukas Tripp, einer von ca. 96.000 Höwedes-Fans, auf dessen Kommentar. Alexander Müller hatte ebenfalls eine deutliche Meinung zu diesem Thema: „Schnau-

ze und unterstütz‘ uns mal lieber im Kampf gegen den DFB!“ Dass seine Stellungnahme hauptsächlich negative bis böswillige Reaktionen bei seinen Facebook-Anhängern auslösen würde, schien selbst Höwedes nicht erwartet zu haben. Wenig später ruderte er auf seiner offiziellen Seite zurück. Höwedes war sich zwar bewusst, dass er sich anders hätte ausdrücken sollen – trotzdem stand er zu seiner Meinung, dass Pyrotechnik in Fußballstadien nicht angebracht sei und es viele andere Wege gebe, den Verein zu unterstützen: „Eure Fangesänge haben auch einen großen Anteil daran, dass wir Spieler auf dem Platz noch mal alles geben können.“ Doch Fanvertreter und besonders die Ultraszenen nehmen jegliche Äußerungen gegen Fanaktionen übel und sind nur schwer zu beschwichtigen. Seit dem Chaos-Spiel Fortuna Düsseldorf gegen Hertha BSC, geprägt durch unaufhaltsame und gewalttätige Fanausschreitungen und BengaloDauerfeuer, ist die Fußballwelt gespalten. Die Diskussion um die Gewährleistung der Sicherheit in deutschen Stadien ist unlängst entfacht; DFB und DFL drohten Konsequenzen an. Schnell lagen erste Vorschläge für ein neues Sicherheitskonzept auf dem Tisch. So auch der Entwurf zum Projekt Sicheres Stadionerlebnis. Dieser beruhte auf Empfehlungen der im November 2011 gegründeten Task Force Sicherheit, der Vertreter von Polizei, Justiz, Verbänden, Clubs und Fans angehören. Obwohl 36 der 38 Erstund Zweitligisten – mit Ausnahme der Vereine 1.FC Union Berlin und

FC St. Pauli – das Papier am 12. Dezember in allen 16 Punkten längst verabschiedeten, sind die Fronten nicht geklärt. Der Protest der Fanvertreter gegen das Papier geht weiter und bestimmt auch nach Verabschiedung weiterhin die Sportwelt. Die Fans sehen sich zu Unrecht pauschal kriminalisiert und fühlen sich in ihrer Fankultur angegriffen. Auch von DFL, DFB und den Vereinsverantwortlichen – Befürworter von schärferen Sicherheitsmaßnahmen in den Stadien – fühlen sie sich im Stich gelassen. „Wir können allen Fans versichern, dass die heutigen Beschlüsse die Fußball-Kultur in Deutschland nicht gefährden, vielmehr würde sie dabei helfen, die Fankultur zu schützen“, versuchte Liga-Chef Reinhard Rauball zubeschwichtigen. Dabei kam die DFL sowohl Vereinen, als auch Fans schon am 27. September 2012 notgedrungen entgegen: Der erste Vorschlag des Sicherheitskonzepts wurde durch die vielen Verbesserungswünsche und Proteste seitens der Vereine und Fanszenen am 15. November abgeändert. Doch auch die geänderte Version vom12. Dezember stößt immer noch auf großen Widerstand. Mit den besonders großen Kritikpunkten, wie der Verschärfung der Einlasskontrollen und der Festlegung der Risikospiele und Ticketkontingente, können und wollen sich die Fans immer noch nicht anfreunden. Die DFL steht seither im Clinch mit den Anhängern sämtlicher Fußballvereine. Die Mehrheit der Fans, besonders die fanatischen UltraBewegungen sämtlicher Erst- und Zweitligisten, sind konsequent da-


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gegen. Seitdem protestieren sie gegen das Konzept. Doch nicht nur das Konzept ist ihnen ein Dorn im Auge. Auch der fehlende Dialog zwischen Fan-Vertretern und der DFL samt Vereinen zog die Wut der Fans auf sich. Bayern-Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge räumt ein: „Wir haben uns von den Fans nicht entfernt, es scheint nur in der Kommunikation etwas schiefgelaufen zu sein.“ Die Antwort der Fans war großes Schweigen: Sonst so lautstarke Fankurven mit ihren Ultra-Fans gaben keinen Laut von sich. Das Bild ist bei jedem Spiel das gleiche. Werbeplakate werden mit grauen Mülltüten verdeckt. Anstelle der unzähligen und großen Vereinsfahnen hängt ein einziges Banner in der Luft: Ohne Stimme 12:12 keine Stimmung. Es ist das Aushängeschild der Protestbewegung der Fans, die so ihren Unmut gegen das am 12.12. von der DFL verabschiedete Sicherheitspapier Sicheres Stadionerlebnis deutlich machten. Ein Protest zum Erhalt der

Fankultur. Ein Protest zum Erhalt der Stehplätze und Bengalo-Feuer und gegen die verstärkten Sicherheitskontrollen. Ganze 12 Minuten und 12 Sekunden schwiegen die Fans in jedem Spiel bis zum Ende der Hinrunde in den Stadien sämtlicher Bundesligavereine. Eine gespenstische Atmosphäre, die nur verdeutlicht, wie wichtig Fans für ihre jeweiligen Vereine sind. Ein Zeichen dafür, was passiert, wenn sie ihrer Stimme beraubt werden – keine Stimmung! Erst mit Ablauf der 12 Minuten konnten sich die Fußballspieler wieder vollends auf die lautstarke Unterstützung durch Anfeuerungen, Fangesänge und Schal-Paraden ihrer Fans verlassen. Doch gab es anfangs Solidarität unter den Fans, gibt es nun auch Proteste gegen den Protest. „Ultras raus! Es geht auch ohne euch!“, lautet die Devise einiger Fans, die sich gegen die Ultras stellen. Und die Ultras? Die weiteten ihren aus und verließen die Stadien. Wie das Fanverhalten in der

Rückrunde aussehen wird, bleibt abzuwarten. Fakt ist, dass Fans trotz Verwarnung immer noch Bengalo-Feuer zünden. Erst am 3. Dezember 2012 begleitete eine gewaltige Pyroshow aus dem Berliner Block das Spiel Energie Cottbus gegen Hertha BSC. Die Durchsage des Stadionsprechers, die gefährlichen Rauchbomben zu löschen, fand bei den Fans – wie so oft – kein Gehör. Sicher ist auch, dass Fans weiterhin gegen das Papier demonstrieren werden. Welche Protestform sie dann wählen, wird sich ebenfalls mit Beginn der Rückrunde zeigen. Fakt ist aber auch, dass das Sicherheitspapier eine beschlossene Initiative ist, mit der sich die Fans abfinden müssen. Indes segnete das DFB-Präsidium noch die DFB-betreffenden Richtlinien am 24. Januar 2013 ab, aber „das waren nur noch unwesentliche inhaltliche Anpassungen“, wie die DFL erklärt. Mit der neuen Saison 2013/2014 wird das Sichere Stadionerlebnis dann aktiv umgesetzt.

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Ich bin schwul und das ist auch gut so? Ein homosexueller Fußballer sorgte im September 2012 mit seinem anonymen Outing für Schlagzeilen - Doch warum ist Homosexualität im Fußball immer noch ein Tabuthema? Samantha J. Walther Es war die Schlagzeile der vergangenen Fußballsaison. Das Magazin fluter veröffentlichte am 11. September 2012 ein Interview, das für viel Aufmerksamkeit sorgen sollte. Ein Fußballspieler gab schockierende Einblicke in sein Leben als homosexueller Profisportler. Aus Sicherheitsgründen und Angst vor der Öffentlichkeit blieb er anonym. Warum ist Homosexualität im Fußball immer noch ein Tabuthema? Ein gefundenes Fressen für die Medien. Kaum outet sich eine Person des öffentlichen Lebens als homosexuell, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer durch ganz Deutschland. Je bekannter die Person, desto größer die Nachricht. Beste Beispiele hierfür sind die Politiker Guido Westerwelle und Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit. Letzterer machte 2001

Schlagzeilen mit den Worten: „Ich bin schwul und das ist auch gut so!“ War Homosexualität vor 20 Jaren noch verpönt und stand häufig in Verbindung mit HIV und AIDS, ist die Toleranz in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Jährlich erfreuen sich Städte wie Berlin oder Köln einer hohen Besuchezahl, wenn die Paraden am Christopher Street Day durch die Straßen ziehen. Allein in Köln feierten 2012 1,2 Millionen Menschen den Festtag der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Menschen. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass die Stadt am Rhein gerade einmal auf 1,02 Millionen Einwohner kommt. Ob Politiker oder Schauspieler, immer mehr Personen des öffentlichen Lebens machen aus ihrer sexuellen Neigung keinen Hehl mehr. Warum sollten sie auch? Mittlerweile schreiben wir das

21. Jahrhundert: die Frage nach der sexuellen Einstellung sollte jedem selbst überlassen sein. Aber wieso schafft es Fußball-Deutschland nicht, sich diesem Trend anzuschließen? Dem Klischee nach strotzt Fußball nur so vor Testosteron und ist ein reiner Männersport, in dem „Weicheier“ und Frauen nichts zu suchen haben. Wer einmal in der Ostkurve des Berliner Olympiastadions ein Spiel von Hertha BSC anschaut, wird unweigerlich Beschimpfungen mitanhören müssen. Spieler der gegnerischen Mannschaft oder mäßig bis schlecht spielende Profis des eigenen Teams werden mit Schwuchtel, Homo oder Fotze betitelt. Auch Fußballspieler fielen schon auf dieses Niveau. „Ich hoffe, dass keine Schwulen in der Mannschaft sind.“ Mit diesem Satz sorgte der italienische Nationalspieler Antonio


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Cassano während der Fußballeuropameisterschaft 2012 für Wirbel. Er entschuldigte sich noch am gleichen Abend. Doch diese Entschuldigung kam eher zwanghaft und einstudiert, als glaubwürdig rüber. Kein Wunder also, dass der Bundesligaprofi bei seinem Interview anonym bleiben wollte. Er selbst ist der Ansicht, dass Fußballer männliche Stereotypen seien. Aber ist das so? Ist nicht gerade das Fußballstadion der Ort, an dem Männer ihre größten Emotionen zeigen? Tränen der Freude oder der Traurigkeit kullern bei Auf- oder Abstieg ihres Vereins über die Gesichter hartgesottener Fußballanhänger und Spieler. Bei Sieg oder Niederlage liegen sie sich scharenweise in den Armen. Auch ein Klaps auf den Po kommt unter den Spielern nach einer gut gespielten Aktion häufig vor.

Andere Prominente wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Uli Hoeneß, Präsident des FC Bayern, ermutigten bei der Vorstellung des Integrationsspieltags am 13. September Betroffene. Mit dem anonymen Outing im fluter ist ein weiterer Schritt getan. Ein kollektives Outing wird dennoch auf sich warten lassen. Schade, denn eigentlich „sollte jeder wissen, dass er in einem Land lebt, wo er sich eigentlich vor einem Outing nicht fürchten sollte“, so die Bundeskanzlerin. Recht hat sie.

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IMPRESSUM

Herausgeber: DEKRA Hochschule Berlin Ehrenbergstr. 11-14 10245 Berlin Deutschland Tel. 030/290080200 Website: www.dekra-hochschule-berlin.de Verantwortliche Dozenten im Sinne des Pressegesetzes: Inhalt und Texte: John A. Kantara und Kathrin Wüst Design und Layout: Christian Rothenhagen, Dozent: „Visuelle Kommunikation“ Chefredaktion: Samantha J Walther Stellvertretender Chefredakteur: Johann-Caspar Bertheau Redaktionsleitung: Prof. John A. Kantara, Christian Rothenhagen, Samantha J. Walther, Kathrin Wüst Bildredaktion: Kimberley Bernard und Johann-Caspar Bertheau Gestaltung und Layout: Laura Graichen und Aynur Özkan (verantwortl.), Enis Igde, Christian Rothenhagen Illustrationen: Sophie Triebe (verantwortl.), Gizem Eza, Laura Graichen, Enis Igde, Daniel Jahn, Selin Kahya Marketingleitung: Jessica Küppers und Christina Mühlparzer (verantwortl.), Enis Igde, Sophie Triebe Online-Redaktion: Enis Igde, Daniel Jahn Recherche- und Redigaturleitung: Daniel Jahn und Samantha J. Walther (verantwortl.), Christina Mühlparzer, Max-Marian Unger, Melanie Weinert Ressortverantwortliche: Leben und Menschen: Aynur Özkan (verantwortl.), Kimberley Bernard

Politik und Wirtschaft: Melanie Weinert (verantwortl.), Klaas Geller Kultur: Klaas Geller (verantwortl.), Daniel Jahn Wissenschaft: Max-Marian Unger Lifestyle: Laura Graichen (verantwortl.), Gizem Eza Sport: Johann-Caspar Bertheau (verantwortl.), Samantha J. Walther Autoren: Kimberley Bernard, Johann-Caspar Bertheau, Gizem Eza, Laura Graichen, Timm Granzow, Klaas Geller, Enis Igde, Daniel Jahn, Selin Kahya, Jessica Küppers, Christina Mühlparzer, Aynur Özkan, Sophie Triebe, Selma Türhan, Max-Marian Unger, Samantha J. Walther, Melanie Weinert, Victoria Lukowenkowa Kontakt: knorke.magazin@aol.de Druck: Viaprinto CEWE COLOR AG & Co. OHG Otto-Hahn-Str. 21 48161 Münster E-Mail: service@viaprinto.de Website: www.viaprinto.de


BILDINDEX

BILDINDEX LEBEN UND MENSCHEN:

S. 08 – 10: Sehen Blinde immer Schwarz – 2 Bilder: Kimberley Bernard, Johann-Caspar Bertheau S. 11 – 13: Sternenkinder – 2 Bilder: Johann-Caspar Bertheau S. 14 – 15: Teenagerschwangerschaften- Illustration: Sophie Triebe S. 16 – 18: Aids – 2 Bilder: Johann-Caspar Bertheau S. 20 – 21: Demenz – Illustration: Sophie Triebe S. 22 – 23: Muslime – Bild: Johann-Caspar Bertheau S. 24 – 25: Gert Schramm: 2 Bilder: John Kantara, Anne Wellingerhof S. 26 – 27: Hirntod – Illustration: Sophie Triebe

S. 50 – 51: „König Ödipus“ – 6 Bilder Nele Martensen S. 52 – 53: Beirut – Illustration: Sophie Triebe S. 54 – 55: Fraktus – Illustration: Sophie Triebe S. 56 – 57: Alcest – 3 Bilder: Foto: Andy Julia, copyright: prophecy productions

WISSENSCHAFT:

S. 60 – 62: Mukoviszidose – Infografik: Aynur Özkan, Bild: Kimberley Bernard S. 64 – 65: Zukunftsvision – 2 Bilder: Kimberley Bernard S. 66 – 67: Atomkraft – Illustrationen: Enis Idge, Bilder: Christina Mühlparzer S.

POLITIK UND WIRTSCHAFT: LIFESTYLE: S. 30 – 31: Rüstungsexporte – 4 Bilder: Panzer1: Bundeswehr/Schneider, Panzer2: Bundeswehr/Michael Mandt, Panzer3: Bundeswehr/Kazda, Bundestag: Kimberley Bernard S. 32: Strom – Infografik: Timm Granzow S. 33 – 35: Ben Scott – Bild: Stiftung „neue Verantwortung“ S. 36: Akademiker – Bild: Enis Idge S. 37: Landgericht – Infografik: Timm Granzow S. 38 – 39: Waffengesetz – Illustrationen: Sophie Triebe S. 40 – 41: Gewalt / Ubahn – Illustration: Daniel Jahn KULTUR:

S. 44 – 45: Jonas Art – 4 Bilder: Kimberley Bernard S. 46 – 49: Hinter den Kulissen – 3 Bilder: Daniel Kyun Steines

S. 70 – 73: BiOriental – 4 Bilder: Johann-Caspar Bertheau, Kimberley Bernard S. 74 – 75: Tattoo – 4 Bilder: Selin Kaya S. S. 76 – 77: Liebeskummer – Illustration: Laura Graichen S. 78 – 79: Einmal im Monat – Illustration: Gizem Eza S. 80 – 81: Fashionweek – Illustration und Foto: Gizem Eza

SPORT:

S. 84 – 85: Bruderduell – 3 Bilder: Johann-Caspar Bertheau S. 86 – 87: DFL-Sicherheitskonzept – Bild: Samantha Walther S. 88 – 89: Homosexualität im Fußball – 2 Bilder: Kimberley Bernard, Johann-Caspar Bertheau

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