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Die Kunst der Beobachtung

1 Die Kunst der Beobachtung

Es ist ein ewiger Kreislauf: Die Sonne geht auf; die Sonne geht unter. Der Mond nimmt ab; der Mond nimmt zu. Aus Winter wird Frühjahr, aus Frühjahr Sommer, aus Sommer Herbst, und auf den Herbst folgt der Winter. Immer wieder. Und irgendwie, das haben wir Menschen schon in grauer Vorzeit begriffen, hängt dieser stetige Wandel mit Sonne und Mond zusammen. Sie sind die Herrscher der Himmel: die Sonne am Tag, der Mond in der Nacht.

Was interessieren uns die Gestirne?

In einer Zeit, in der wir Brot bei der Backstation und Gemüse im Supermarkt kaufen, können wir uns nicht mehr vorstellen, dass es vor 5000 Jahren von existentieller Bedeutung war, über Sonne, Mond und ihre Verbindung zum Kalender Bescheid zu wissen. Damals war der Mensch den Jahreszeiten ausgeliefert. Für den Ackerbauern war es lebenswichtig nicht nur zu ahnen, sondern zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt für die Aussaat gekommen war und wann der Winter vor der Tür stand. Deshalb suchten diejenigen, die eine Gemeinschaft leiteten, schon früh nach Zeichen, die den Wechsel der Jahreszeiten untrüglich vorhersagten. Sie fanden sie am Himmelszelt. Die Ägypter zum Beispiel verehrten schon um das Jahr 3000 v. Chr. den Hundsstern

Stonehenge am Tag der Wintersonnwende: Der Bau dieses vorgeschichtlichen Himmelsobservatorium wurde Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. begonnen. Foto: Chuta Kooanantkul / Shutterstock.

Der Sonnenwagen von Trondholm gibt uns einen Einblick in die Vorstellungswelt des Nordens Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Foto: UK.

Sirius, der durch sein Erscheinen die jährliche Nilschwemme ankündigte.

Sonne und Mond spielten in allen vorgeschichtlichen Religionen eine zentrale Rolle. Die einen stellten sich vor, dass der Sonnenwagen von Pferden über den Himmel gezogen wird. Andere behaupteten, der Sonnengott fahre in der Nacht auf einer Barke den unterirdischen Nil hinab und durchquere so den Leib der Göttin Nut, um am Morgen verjüngt am Himmel wiedergeboren zu werden. Wieder andere opferten ihr Blut, um so die Sonne für ihre tägliche Reise zu nähren.

Bestandteil der astronomischen Uhr von Antikythera aus dem 1. Jh. v. Chr. Foto: KW.

Möglichkeiten und Grenzen der Beobachtung

Jeder kann die Phänomene am Himmelszelt beobachten, wenn er sich dafür genug Zeit nimmt. Um die eigenen Beobachtungen zu objektivieren und für eine Gemeinschaft nutzbar zu machen, entwickelten Astronomen schon sehr früh Messinstrumente wie Stonehenge mit seinen feststehenden geraden und waagrechten Linien. Jede gerade Mauer kann als künstlicher Horizont dienen, an dem ein Punkt Aufgang und Untergang eines Gestirns fixiert. Ein anderes Instrument ist der Winkelmesser. Er hilft, den höchsten Punkt eines Gestirns festzulegen.

Je mehr Wissen über die Gestirne existierte, umso komplexer wurden die Instrumente. Um das Jahr 250 v. Chr. soll der griechische Astronom Eratosthenes bereits die erste Armillarsphäre konstruiert haben. Sie bildete den sich wandelnden Himmel ab und machte es möglich, zukünftige Sternpositionen vorauszusagen. Wie kompliziert solche Apparate beschaffen waren, erfahren wir aus den Funden, die aus dem um 70 v. Chr. vor Antikythera gesunkenen Wrack geborgen wurden. Einige von ihnen lassen sich zu einer astronomischen Uhr zusammensetzen, die den Stand der Sonne, des Mondes und der Sterne nachvollzog.

Nun ist es eine Sache, den Himmel zu beobachten und aus wiederkehrenden Erscheinungen allgemeingültige Regeln abzuleiten. Eine ganz andere ist es, aus den eigenen Beobachtungen Hypothesen über die Beschaffenheit des Himmelsgewölbes abzuleiten, mit denen sich alle bekannten Phänomene erklären lassen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Bevor der erste Mensch in einer Raumkapsel die Weiten des Weltraums erkundete, war jedes Modell des Kosmos’ nur eine Hypothese, eine Hypothese, die Mathematiker mit Hilfe von komplizierten Rechnungen zu begründen versuchten.

Ägyptischer Obelisk vor der römischen Kirche Trinità dei Monti. Foto: UK.

Fassen wir an dieser Stelle zusammen, dass die klassische Astronomie vor dem Beginn der Raumfahrt nur über zwei Methoden verfügte: ƒ die Beobachtung ƒ die Mathematik Beide zusammen summierte jeder Astronom zu seiner eigenen Hypothese, wie das Weltall beschaffen sein könnte. Diese Hypothese diente ihm vor allem dazu, zukünftiges Himmelsgeschehen genau vorherzusagen.

Wie man die Tageszeit misst

Viele dieser Vorhersagen wurden in praktische Anwendungen des Alltags umgesetzt. Das einfachste und gleichzeitig beste Beispiel dafür ist die Sonnenuhr, die bereits von den Ägyptern des 4. Jahrtausends vor Christus genutzt wurde. Es ist ja auch so leicht zu beobachten, dass ein Stab einen Schatten wirft. Jeder, der diesen Schatten mehrere Tage hintereinander beobachtet, wird feststellen, dass er mit dem Lauf der Sonne fest verbunden ist. Ein nächster Schritt ist es, den Weg, den der Schatten tagsüber zurücklegt, mit Hilfe von permanenten Markierungen in gleiche Teile aufzuteilen. Unsere Stunden beruhen auf diesem Prinzip. Dass eine primitive Sonnenuhr im Winter kürzere Stunden zeigt als im Sommer, störte in der Antike niemanden. Die Zeit und ihr

Titelblatt des Standardwerks von Johann Friedrich Penther über die Konstruktion einer Sonnenuhr, nachgedruckt 1768 in Augsburg.

Erleben ist nämlich relativ. Seine Zeit minutengenau einzuteilen, wird erst dann zum Bedürfnis, sobald es eine Möglichkeit gibt, das Verstreichen der Zeit minutengenau anzuzeigen, und es war erst die weite Verbreitung der Taschenuhr, die dies möglich machte. Sie veränderte das Zeitempfinden ihrer Nutzer und hatte damit gleichzeitig Rückwirkungen auf die Konstruktion der Sonnenuhren.

Die verschwanden nämlich nicht mit dem Erscheinen der Taschenuhr. Im Gegenteil, sie erlebten in der frühen Neuzeit ihre grösste Blüte und blieben bis weit ins 18. Jahrhundert die dominierende Form der Zeitmessung. So konnte das MoneyMuseum jüngst im Antiquariat Rezek einen Bestseller aus dem Jahr 1768 kaufen, der sich mit der Konstruktion von Sonnenuhren beschäftigt.

Nun mag man sich fragen, warum trotz der Erfindung der Taschenuhr die Konstruktion von Sonnenuhren immer noch von solch grosser Bedeutung war. Die Antwort ist einfach: Nur die wenigsten Uhrmacher waren so geschickt, dass ihre Erzeugnisse Tag für Tag exakt liefen. Die meisten Uhren gingen jeden Tag mehrere Minuten vor oder nach. Um sie zu justieren, brauchte es die Sonnenuhr, die unbestechlich die Mittagsstunde anzeigte.

Dass sich das Zeitverständnis der Menschen durch die mechanischen Uhren mit ihren Minutenzeigern gewandelt hatte, zeigt die Tatsache, dass die Sonnenuhren des 18. Jahrhunderts wesentlich genauer gehen mussten als ihre rö-

mischen Vorbilder. Ein einfacher Stab reichte schon lange nicht mehr aus. Im 18. Jahrhundert waren Sonnenuhren hochkomplexe Messgerät, die Stunden und Minuten messen konnten, wenn man sie passend zum geographischen Längengrad einstellte und die zur Jahreszeit passende Skala besass.

Die Konstruktion einer Sonnenuhr gemäss dem grundlegenden und weit verbreiteten Werk von Johann Friedrich Penther war alles andere als einfach, wie Tafel XI zeigt.

In der Vorrede stellt Autor Johann Friedrich Penther fest, dass es sich bei seinem Werk um ein «Mathematisches Tractat» handelt. Der Autor unseres Buchs über die Sonnenuhren verstand sich nicht als Astronom, sondern als Mathematiker. Johann Friedrich Penther (1693–1749) war das, was wir heute einen Ingenieur nennen würden. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt, indem er verschiedene Aufgaben mit Hilfe angewandter Mathematik löste. Er vermass für seinen Auftraggeber Grundstücke, berechnete die Flugbahn von Kanonen und legte die Stelle fest, wo der feindliche Festungswall am leichtesten zu durchbrechen sein würde. Ausserdem konstruierte er eine damals höchst innovative Sonnenuhr, die heute noch vor der Wolfenbütteler Bibliothek zu sehen ist. Sie wurde berühmt und ihr Urheber Penther hielt in seinem grundlegenden Buch fest, was es brauchte, um so eine Sonnenuhr zu konstruieren – und das war eben keine Astronomie, sondern reine Mathematik.

Der kleine Unterschied zwischen Anwendung, Hypothese und Beweis

Halten wir an dieser Stelle fest, dass die Raumfahrt Johann Friedrich Penther bei der Konstruktion seiner Sonnenuhr nicht weitergebracht hätte. Für seine Berechnungen spielte das Weltall nämlich keine Rolle. Um die Gestirne im praktischen Leben zu nutzen, brauchte und braucht es nämlich keinerlei Wissen um den Aufbau des Weltalls, sondern lediglich ein grosses Mass an Beobachtungsgabe und Erfahrung.

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