concerti - Das Hamburger Musikleben Juni 2010

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blind gehört

gleitet er mir wieder. Jeder spielt Chopin, aber ich finde, es gibt nicht viele gute Chopin-In­ terpreten. Und von den Deutschen hat kaum einer Chopin aufgenommen. Das würde mich reizen. Ich kann verstehen, dass Brendel ir­ gendwann aufgehört hat, Chopin zu spielen. Gerade Brahms und Chopin lassen sich nur schwer miteinander vereinbaren.

Brahms: Sonate Nr. 2 fis-Moll op. 2 Hardy Rittner auf einem StreicherFlügel von 1851, 2007. MDG

Ich ahne, welche Aufnahme das ist. Das Stück geht erstaunlich gut auf diesem Flü­ gel. Eine schöne Transparenz. Diese Repe­ titionen im pianissimo sind schwierig auf einem Steinway. Es gefällt mir gut, sehr in­ telligent gespielt. Die Sehnsucht, das Verlan­ gen im Seitenthema kommt etwas zu kurz, das ist ein bisschen trocken, aber das liegt in der Natur des Instruments. Andererseits muss man in den Oktavexplosionen nie Sor­ ge haben, dass sie das Maß überschreiten, das finde ich ganz schwierig. Die fis-MollSonate ist ja das Wildeste, was Brahms ge­ schrieben hat, ein geniales Meisterwerk. Ist das Hardy Rittner? Respekt. Sehr ehrlich und intelligent gespielt. Und ein fabelhafter Klang. Ich finde es viel interessanter, einen 30- oder 40-Jährigen zu hören als ein 20-jäh­ riges Talent. Großes Talent und Fleiß und Glück gehören zur Karriere – aber auch Cha­ rakter. Gut spielen können viele, das pianis­ tische Niveau ist heute enorm hoch. Wenn jemand mit 20 fabelhaft Liszt spielen kann, ist das eindrucksvoll, klar, aber es hat auch was Zirzensisches. Nichts gegen Zirkus, aber Musik ist mehr als Zirkus. Und gerade bei existenzialistischen Meisterwerken hat man mehr zu sagen, wenn man schon vom Leben gezeichnet ist, wenn man schon Krisen und Erfolge erlebt hat. Schon mit 30 Jahren spielt man anders als mit 20.

Reger: Klavierkonzert f-Moll op. 114 Gerhard Oppitz (Klavier), Bamberger Symphoniker, Horst Stein (Leitung) 1988. Koch Schwann

(3. Satz, beginnt mit Klavier solo, dann setzt das Orchester ein) Was ist das denn? Das ist ja Ragtime am Anfang, herrlich. Ich dachte anfangs an Saint-Saëns, aber es ist sehr opu­ lent, die Orchesterbehandlung ist Brahm­ sisch, das ist deutsch. Ist es das Reger-Kon­ zert? Das ist aber ein tolles Stück, das kenne ich gar nicht! Es ist garantiert ein deutscher Pianist. Ich tippe auf Gerhard Oppitz. Phan­ tastisch gespielt. Man merkt die deutsche Ernsthaftigkeit. Horst Stein am Pult? Das passt ja ideal. Ich sehe mich nicht als Rari­ täten-Pianist, die Ersteinspielungen und Ur­ aufführungen, die ich gemacht habe, haben sich so ergeben. Und dass ich die Ahnung von Schumann als erster einspielen durfte, war ein Glücksfall. Wir sollten nicht nur, wie Brendel gesagt hat, Museumsbeamte sein, das sind wir sowieso. Manchmal möchte ich auch Archäologe sein. Es gibt noch so viel zu entdecken. Ich habe gerade Klavierkonzerte von Julius Röntgen eingespielt, verrückte Musik, eklektizistisch, höchst vital. Rönt­ gen hat sein F-Dur-Konzert ein paar Mal ge­ spielt, dann hat die Partitur hundert Jahre geschlummert. Da können Sie keine CD an­ hören – Sie sind der erste, der im frischen Schnee Spuren hinterlässt, und das ist toll! Das macht Spaß. konzert- & CD-Tipp Do. 3.6.2010, 19:30 Uhr Pfahlhaus, Wartenau 20 Matthias Kirschnereit (Klavier) Werke von Chopin & Schumann Robert Schumann – Scenen Matthias Kirschnereit (Klavier) Schumann: u.a. Waldszenen, Kinderszenen, Ahnung (Weltersteinspielung). Berlin Classics / Edel

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