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HEFT NR. 1/24 13. JAHRGANG

LINOLEUM AB 15. FEBRUAR IM KINO KULTUR

NEUES KONZEPT FÜR KULTURBÖRSE IKF

LITERATUR

AKTUELLE COMICS „OUTSIDE THE BOX“

MUSIK

„LAUT UND FREUNDLICH“: DIE WELTBILDHAUER:INNEN


KULTUR

Viel vorgenommen: Karola Mohr leitet die Internationale Kulturbörse Freiburg (IKF). In diesem Jahr ist Pause – um 2025 frisch zu starten.

„Kein Klassentreffen“ SO SOLL DIE KULTURBÖRSE IKF NACH DEM UPDATE AUSSEHEN

chilli: Nach mehr als 30 Jahren bekommt die IKF ein Update. Wie geht man da ran? Mohr: Wir haben im ersten Schritt ganz klassisch geprüft: Brauchen wir die IKF noch? Machen wir die IKF zu etwas ganz anderem? Oder lassen wir sie in den Grundzügen bestehen und gehen inhaltlich ran? Wir sind dafür in Verbindung getreten mit den Besucher·innen, Aussteller·innen und Künstler·innengruppen. Das ist eine chaotisch wirkende Szene. Es gibt eben nicht diesen einen Verband, der alles abdeckt. Dabei kam schnell raus: Die IKF brauchen wir noch. Und in diesen schwierigen Zeiten mehr denn je. 38 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2024

chilli: Corona, Inflation, leere Kassen … Mohr: Ja. Je schwieriger die Lage ist, umso wichtiger ist es, dass man so einen Branchentreff macht, dass man sich einfach auch ein bisschen groß macht. Corona hat uns einen Tiefschlag verpasst. Wir haben einen Fachkräftemangel. Wir haben aber auch wahnsinnig viele Menschen, die mit extrem viel Leidenschaft viele Meter extra gehen. Als es grad wieder losging kamen Kriege und es kommt ein Rechtsruck, der vielen Kulturschaffenden Angst macht. Ich bin der Meinung, dass wir als Fachmesse politischer werden müssen. chilli: Welche Problemzonen hat das Team beim bisherigen IKF-Format ausgemacht? Mohr: Wir räumen bei den Strukturen auf. Ich denke, das ist ganz normal. Außerdem haben wir uns für einen neuen Claim entschieden. „Culture Connects People“. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Botschaft. Wir wollen verbinden, vernetzen. Aber Kultur vernetzt auch selbst. Das sind die beiden Botschaften. Für den Claim haben wir ganz tolles Feedback gekriegt. chilli: Wo ist noch Nachholbedarf? Mohr: Ein großes Problem ist, dass die Besucherschaft alt geworden ist.

Tatsächlich gehen viele in Rente. Und die Jungen kommen nicht nach. Wir fragen uns, warum das so ist? Vielleicht weil sie nicht finden, was sie suchen? Also versuchen wir, an den Inhalten zu arbeiten. Wir wollen mehr Szenen abbilden. chilli: Street Art, Urban Arts und Podcasts sollen neu dazukommen. Welches Vorgehen ist geplant? Mohr: Im ersten Schritt haben wir Kontakt aufgenommen zu den verschiedenen Szenen. Es gibt ja immer so Knotenpunkte oder auch Schlüsselfiguren, die man anspricht. Ich habe nach über 20 Jahren in diesem Job auch ein Netzwerk. Wir werden aber sicherlich 2025 noch nicht alles erreichen, was wir gerne machen würden. Ich verstehe das als dynamisches und wachsendes System. Es ist total spannend, was auf Anfragen zurückkommt: Viele kennen die IKF nicht. chilli: Wirklich? Mohr: Ja. Und es ist wirklich schön zu sehen, dass gerade zurückkommt: „Ja, wir können uns vorstellen mitzumachen.“ Aber natürlich sind da ganz andere Bedürfnisse als bei den klassischen IKF-Ausstellern. Man muss flexibler werden mit seinen Formaten und mit den Bühnen, die man hat. Deswegen gibt es auch nicht die eine große Änderung. Wir

Fotos: © FWTM/Wilhem, Ellen Schmauss

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oderner, nahbarer, vernetzter. So stellt sich Karola Mohr die neu aufgelegte Internationale Kul­turbörse Freiburg (IKF) vor. Für das Update nimmt sich das Team der veranstaltenden Freiburg Wirtschaft Tourismus und Messe GmbH ein Jahr Zeit. In diesem Jahr ist Pause, weiter geht’s Anfang 2025. Wie ein Generationenwechsel gelingen soll und was der Branche Angst macht, darüber spricht die 46-jährige IKF-Chefin im Interview mit chilli-­ Redakteur Till Neumann.


chilli: Das Puzzle soll auch übersichtlicher werden. Wie kann das klappen? Mohr: Indem wir anders bündeln. Es passiert zu viel Gleiches parallel. Die Aufteilung in die klassischen Sparten Musik, darstellende Kunst und Straßentheater findet in der Realität gar nicht mehr statt. Logischer ist eine Aufteilung nach technischer Machbarkeit einer Produktion. Also die Frage der Veranstalter·innen: Kann ich diese Produktionen überhaupt in meinem Haus zeigen? Wenn es nur eine Bühne mit drei Metern Höhe hat, dann brauche ich mir die 7-Meter-Produktionen nicht anzuschauen. chilli: Das leuchtet ein.

„Gehetzsein war ein großer Kritikpunkt“ Mohr: Logischer zu bündeln führt auch dazu, dass ein Musiker, der kleinkunstbühnentauglich ist wie ein Singer-Songwriter, auch in einem Kleinkunstbühnen-Showblock zu finden ist. Für eine große Band macht das wiederum keinen Sinn. Außerdem möchten wir dadurch verhindern, dass Besucher·innen viel hin und her rennen müssen. Das Gehetztsein war ein großer Kritikpunkt. Hoffentlich schaffen wir so auch mehr Raum und Zeit für Netzwerkarbeit.

wegen entwickeln wir solch niederschwelligere Formate. Ich bin gespannt, wie viel Rücklauf wir aus diesem Bereich bekommen. chilli: Inwiefern spielt Lokalkolorit eine Rolle? Mohr: Es ist ein Anliegen, die Freiburger Szene zu aktivieren. Wir sind zwar eine internationale Veranstaltung. Aber wir können als Freiburger zeigen, was wir haben: eine unglaublich vielseitige Kulturlandschaft. chilli: Kritiker nennen die IKF auch mal Ufo. Soll auch deswegen das Format mehr in die Stadt getragen werden? Mohr: Das ist der Wunsch. Wir können das natürlich nur leisten, wenn Freiburg mitspielt. Für die IKF kommen viele Künstler·innen in die Stadt und dennoch gab es nur wenige Veranstaltungen, wie zum Beispiel ein Abend mit IKF-Bands, den das Jazzhaus organisiert hat. Über solche Eigeninitiativen freuen wir uns und wollen mehr davon. chilli: Das wusste ich gar nicht. Mohr: Ich glaube, das wissen viele nicht. Ich kriege erste Rückmeldungen, dass da Interesse da ist und freue mich darauf, die IKF abends mehr in die Stadt zu tragen.

chilli: Darum geht es ja im Kern auch. Mohr: Genau. Ich möchte davon weg, dass die IKF als Klassentreffen bezeichnet wird. Ein Klassentreffen schaut in die Vergangenheit. Das ist ein geschlossener Kreis, da kann niemand dazukommen. Bei einem Branchentreffen geht es aber ums Jetzt und um die Zukunft. Wir müssen den Generationenwechsel schaffen.

chilli: Es sind elf Monate bis zum Event. Was ist bis dahin die größte Hürde? Mohr: Es sind viele kleine Hürden. Die größte ist aber schon, dass überall die finanzielle Lage wahnsinnig angespannt ist. Die Kulturhaushalte sind gerade sehr beschränkt. Viele Besucher·innen der IKF kommen ja aus Kulturämtern, aus Gemeinden. Da müssen Reiseetats gekürzt werden. Da herrscht große Unsicherheit und Angst in der Branche. Auch für diese Themen wird auf der IKF Raum sein.

chilli: Mehr Fokus auf Newcomer? Mohr: Ja, wir haben dafür Talent Hours geplant. Hintergedanke ist, dass viele Newcomer noch keine Agentur haben, die sie vertreten. Und sich kein Showcase leisten können. Wir wollen aber auch diesen Teilnehmern etwas anbieten. Des-

chilli: Was wäre Ihr ganz persönlicher Wunsch für die nächste IKF? Mohr: Ein krachendes, vor allen Dingen vielfältiges Spektakel, das alle abholt. Und das hoffentlich auch aufmerksam macht auf die Notwendigkeit einer diversitätssensiblen Programmarbeit.

KULTURNOTIZEN Felix Rothenhäusler wird Intendant Der Freiburger Gemeinderat hat Felix Rothenhäusler zum neuen Intendanten des Theaters Freiburg gewählt. Der Theater- und Opernregisseur wird zur Spielzeit 2025/2026 die Nachfolge von Peter Carp antreten. Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach: „Mit Felix Rothenhäusler kommt ein erfahrener Theatermacher an unser Mehrspartenhaus, der sowohl Erfahrungen im Schauspiel als auch in der Oper mitbringt. Mit seinem Spielplan möchte er alle Teile der Stadtgesellschaft ansprechen und steht damit für eine Form des modernen Volkstheaters.“

Foto: © privat

haben jeden Baustein angefasst und puzzeln es jetzt neu zusammen.

Felix Rothenhäusler: gegen 70 Mitbewerber durchgesetzt

Freiburg kauft Kunsthalle Das Freiburger Rathaus kann dank der großzügigen Unterstützung der Mäzenin Gertraud Hurrle das Gebäude Lörracher Straße 31 kaufen. Die drei großen Hallen mit einer Ausstellungsfläche von rund 2000 Quadratmetern sind Sitz des Morat-Instituts für Kunst und Kunstwissenschaft. Die Stadtverwaltung will das Haus sanieren und darin auch Ersatzflächen fürs wegfallende Kunsthaus L6 schaffen. Oberbürgermeister Martin Horn: „Dass wir dieses wunderbare und weitläufige Gebäude als Raum für Kunst und Kultur in Freiburg erhalten können, ist ein echter Gemeinschaftserfolg. Ich bin dankbar für das jahrzehntelange Engagement und das klare Bekenntnis der gesamten Familie Morat zu unserer Stadt Freiburg. Ebenso geht mein großer Dank an Frau Hurrle für die außergewöhnlich großzügige Unterstützung, mit deren Hilfe wir den Ankauf finanzieren können.“ Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach sagt: „Wir schaffen einen Ort für die Freiburger Kunstszene, an dem sich die unterschiedlichsten Initiativen und Vereine entfalten dürfen. Genau das brauchen wir, um unsere Stadt als lebendige Kulturstadt voranzubringen.“ bar


KULTUR

Die Theater-Jazzer

FREIBURGER SCHAUSPIELGRUPPE FREISTIL FEIERT 20-JÄHRIGES

o bei anderen der Angstschweiß ausbricht, beginnt für Christian M. Schulz der Spaß. Der Freiburger Schauspieler liebt es, ohne Text und ohne Anweisungen auf die Bühne zu gehen. Mit der Gruppe Freistil hat er sich neben Dinner-Krimis dem Impro-Theater verschrieben. Bis heute ist Schulz’ Leidenschaft für die Kunst der Spontaneität ungebrochen.

Foto: © Freistil

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von Pascal Lienhard

Improvisieren ist ihre Leidenschaft: Christoph Hüllstrung, Nicole Djandji-Stahl, Karsten Kramer, Achim Freund und Christian M. Schulz (v. l. n. r.) sind Freistil.

Mitte Januar nimmt Christian M. Schulz in einem Freiburger Café Platz. Für seine Theatergruppe Freistil ist 2024 ein besonderes Jahr. Zwei Dekaden ist es her, seit sich der Vorhang für die Formation öffnete. Jetzt schlägt der 60-Jährige einen Leitz-Ordner auf und inspiziert eine Seite voller Zahlen. „1113“, liest er vor. „So viele Shows haben wir in den vergangenen 20 Jahren gespielt.“ Als der ausgebildete Schauspieler Mitte der 90er zum ersten Mal eine ImproTheater-Show besucht, ist er begeistert – und will eine eigene Gruppe gründen. „Impro vereint alles, was ich gerne mache“, erklärt er. Schauspiel, Gesang, Bewe-

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gung, Komik, Pantomime, Texte erfinden, hier kann er sich austoben. „Hätte es das Impro-Theater nicht gegeben, hätte ich es erfinden müssen“, sagt Schulz mit einem Grinsen. Nach ersten Erfolgen mit Theater L.U.S.T. schart Schulz 2004 ausgebildete und ehrgeizige Kolleg·innen um sich. „Ich habe Leute gesucht, die Schauspiel als ihren Beruf sehen und gute Qualität liefern wollen“, blickt Schulz zurück. Dieser Anspruch führt auch mal zur harten Entscheidung, einen Kollegen setzte er nach einem schlechten Auftritt vor die Tür. Als Schauspieler könne man nicht automatisch Impro machen. „Ein klassisch ausgebildeter Pianist kann auch in seinem Metier super sein, aber beim Jazz versagen.“ Den harten Kern der Theater-Jazzer bilden heute vier Darsteller·innen, die von Beginn an dabei sind. Mit einem Begleitmusiker kreiert das Quartett bei jeder Impro-Show etwas völlig Neues. Dafür hat die Gruppe in den ersten Jahren trainiert und regelmäßig Aufnahmen vergangener Shows analysiert. Inzwischen wird nur noch der musikalische Teil geübt. „Die Auftritte sind unsere Proben“, verkündet Schulz selbstsicher. Überregionale Bekanntheit hat sich Freistil seit 2008 mit Dinner-Krimis erspielt. In Restaurants führt die Crew von Schulz verfasste Krimis auf. Acht Stücke hat Freistil im Backkatalog, alle zwei Jahre gibt’s ein neues. „Das Besondere ist, dass wir zwischen den Tischen spielen“, sagt Schulz. „Dadurch werden die Gäste Teil des Bühnenbilds.“ 2010 gelang Freistil der Schritt ins Nachbarland. „In der Schweiz waren die Dinner-Krimis noch nicht so bekannt und wir waren Vorreiter“, sagt Schulz. Bis heute gehört etwa das Zürcher Hotel Spirgarten zu den festen Spielorten. Ob Impro oder mit Drehbuch: Freistil kann Klassik und Jazz.


KULTUR

Arbeit und Ästhetik im Dialog: Durchaus überraschende Zwiegespräche eröffnet der Jeff-Wall-Bildkosmos.

Cinematografische Aufnahmen Fotos © Jeff Wall: Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona, 1999 Grossbilddia in Leuchtkasten, 187 x 351 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Erworben 2000 mit Unterstützung des Ernst von Siemens-Kunstfonds; A Donkey in Blackpool, 1999 Grossbilddia in Leuchtkasten, 195 x 244 cm, Kunstmuseum Basel, aus dem staatlichen Ankaufskredit und mit einem Beitrag der Max Geldner-Stiftung erworben 2001

FONDATION BEYELER PRÄSENTIERT WERKE DES KANADISCHEN FOTOGRAFIEKÜNSTLERS JEFF WALL

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wei großformatige Leucht­kästen mit Bilddias lenken im Foyer der Fondation Beyeler die Aufmerksamkeit der Besucher auf die Ausstellung, die dort bis zum 21. April zu sehen ist. Zwei von insgesamt 55 Arbeiten des 1946 geborenen kanadischen Künstlers Jeff Wall, der in der zeitgenössischen Kunst eine Sonderstellung einnimmt: Seit den 1970er-Jahren hat er maßgeblich zur Etablierung der Fotografie als eigenständiges Kunstmedium beigetragen und gilt als Begründer der „inszenierten Fotografie“. Von einer Inszenierung, also der sorgfältig bis ins kleinste Detail vorbereiteten und oft aus verschiedenen Einzelaufnahmen komponierten Darstellung realer Alltags- und Lebenswirklichkeiten, ist bei beiden Fotografien erst einmal nichts zu spüren. Sowohl „Donkey in Blackpool“ als auch „Morning Cleaning“ wirken wie unmittelbare Abbildungen einer ge-

von Erika Weisser sehenen Realität. Dem etwa vier Wall wirkte an der Konzeption der Quadratmeter großen Bild des Esels, Werkschau mit und legte großen der demütig in einem mit Stroh aus- Wert darauf, dass scheinbar gegengespreuten Stall zwischen Fut- sätzliche Welten miteinander in eiterkrippen steht, sieht man nicht an, nen Dialog treten und gemeinsame dass es keine zufällige Dokumentar- Themen offenbaren. Denn auch beim „Donkey“ geht es um Ästhetik, Pflege fotografie ist. Auch die Darstellung der knapp und Arbeit: „Der zur Unterhaltung zwei Meter hohen und mehr als drei urlaubender Kinder frisch gestriegelMeter breiten Morgenreinigung der te Esel steht für eine lange Geschichraumhohen Fensterfront des Pavil- te tierischer Schwerstarbeit“, zitiert lons der Fondació Mies van der Rohe Ausstellungskurator Martin Schwanin Barcelona lässt nicht gleich an „Ci- der den Künstler. nematografie“ denken, wie Jeff Wall seine Technik nennt. Erschütternde Bilder und Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass es sich da- überraschende Paarungen bei nicht um einen SchnappAuch in den weiteren zehn Räuschuss von einem Fensterputzer bei der Arbeit handelt: Die festgefügte men der Ausstellung gibt es überraKomposition aus klaren architekto- schende Bild-„Paarungen“. Außernischen Linien wird durch diesen dem aber auch einige Arbeiten, die alltäglichen menschlichen Faktor Ungleichheit oder Gewalt thematidurchbrochen, der daran erinnert, sieren. Darunter eine Zwangsräudass von der Ästhetik des 1929 er- mung in einer bürgerlichen Vorortrichteten Hauses ohne Pflege nicht siedlung. Oder das erschütternde „Dead Troops Talk“, das deutliche viel übrig wäre. Dass die beiden Leuchtkästen ne- Bezüge zur Tradition berühmter Anbeneinander hängen, ist kein Zufall. tikriegsbilder aufweist.

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KINO

Rätselhafte Splitter

EINE SKURRILE EMOTIONALE REISE ZWISCHEN ERLEBTEN UND ERTRÄUMTEN ERINNERUNGEN

Linoleum

Das All und all das USA 2023 Regie: Colin West Mit: Jim Gaffigan, Rhea Seehorn, Katelyn Nacon, Gabriel Rush, Tony Shalhoub u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 101 Minuten Start: 15. Februar 2024

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ameron ist Astronom. Seit Jahren erforscht er mit ­n aturwissenschaftlichen Mitteln akribisch die Positionen, Bewegungen und Eigenschaften der Objekte im Universum. Mit großer Leidenschaft beschäftigt er sich mit der Sonne, den Planeten, Monden, Sternen, Asteroiden, Galaxien und anderen Himmelskörpern, aber auch mit der interstellaren Materie und der im ­ Weltall auftretenden Strahlung. Viel Erfolg hat er dabei nicht, mangels großartiger Entdeckungen plätschert sein berufliches Leben ebenso dahin wie sein privates.

Bis ein neuer Nachbar, der wie eine bessere, weil vitale Version von ihm selbst wirkt, Camerons ruhiges Vorstadt-Mittelstandsleben aus der Bahn wirft und ihn in eine veritable Midlife-­ Crisis stürzt. Seine wenig ruhmreiche Karriere implodiert, und auch seine Ehe steht vor dem Zusammenbruch, die Kinder entgleiten ihm zusehends. Von Selbstzweifeln geplagt, hält er nicht einmal die Überreste einer abgestürzten Raumkapsel, die er eines Morgens in seinem Garten findet, für echt. Doch dann lassen die kaputten Teile des mysteriösen Flugobjekts aus dem All seinen Kindheitstraum wiedererstehen – von einer Astronautenkarriere, die er einst gegen eine sicherere Laufbahn in der Forschung eintauschte. Nach kurzem Zögern sammelt er den Weltraummüll ein, räumt seine Garage leer und beginnt darin mit dem Bau einer eigenen Mondrakete. Das ist der Ausgangspunkt einer skurrilen und emotionalen Reise, die ihn zwar von seinen Angehörigen entfernt, doch ihn sich selbst wieder näher bringt. In einer anderen Welt. Und 42 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2024

von Erika Weisser

Fotos: © Camino Filmverleih

in einem umwerfenden Finale, das wohl niemanden unberührt lässt. Colin West, der zu den jungen, ambitionierten US-Filmregisseuren gehört, beglückt in seinem zweiten Film mit einer mitreißend versponnenen Story, die er mit Thriller-, Mystery- und Science-­ Fiction-Motiven anreichert und zu einem völlig unerwarteten Plot verbindet. Mehrere Jahre hat er an der fantastischen, dem in einer Doppelrolle brillierenden Comedy-Star Jim Gaffigan wie auf den Leib geschriebenen Geschichte getüftelt. Ausgangspunkt, sagt er, seien Besuche bei seinem Großvater gewesen, den er beim langsamen Abgleiten in die Demenz beobachten konnte. Dabei sei er „Zeuge geworden, wie seine subjektive Geschichte begann sich zu vermischen, zu überlagern und zu einer Art Ansammlung von Erinnerungen zu werden, die er einmal gelebt oder im Fernsehen gesehen oder geträumt hatte. In seinem Kopf schien die Realität anderen Regeln zu folgen – eher einem Prozess der Entdeckung und Erkundung, bei dem die emotionale Relevanz im Vordergrund steht“. Und diese Erfahrung hat er nun zu Camerons Geschichte verwoben – voller magischem Realismus, situativem Humor und herzlichem Familiendrama.


KINO BOB MARLEY: ONE LOVE

SPUK UNTERM RIESENRAD

THE ZONE OF INTEREST

Fotos: © Paramount

Fotos: © Farbfilm

Fotos: © Leonine Distribution

USA 2024 Regie: Reinaldo Marcus Green Mit: Kingsley Ben-Adir, Lashana Lynch u.a. Verleih: Paramount Laufzeit: 107 Minuten Start: 15. Februar 2024

Deutschland 2023 Regie: Thomas Stuber Mit: Elisabeth Bellé, Noèl Gabriel Kipp u.a. Verleih: Farbfilm Laufzeit: 90 Minuten Start: 22. Februar 2024

GB 2023 Regie: Jonathan Glazer Mit: Sandra Hüller, Christian Friedel u.a. Verleih: Leonine Laufzeit: 105 Minuten Start: 29. Februar 2024

Aktuelle Botschaft

Gespenstisches Vergnügen

Im Garten des Massenmörders

(ewei). Am 6. Februar wäre Bob Marley 79 Jahre alt geworden. Er wurde aber nur 36: Im Mai 1981 starb er an den Folgen einer schweren Krebskrankheit. Seine Songs und seine revolutionäre Musik gehören aber bis heute zu den am meisten gespielten Liedern der Welt. Der jamaikanische Reggae-Musiker begeistert bis heute – und seine Botschaft, dass alle Menschen friedlich und ohne rassistische Diskriminierung miteinander leben sollen und können, ist heute genauso aktuell wie vor über 40 Jahren. Nun feiert ein bewegendes Biopic sein kurzes Leben und erzählt seine Geschichte, die im Schatten von Armut und staatlicher Gewalt begann und sich auf den Bühnen der Welt fortsetzte, wo er zum Idol eben dieser „One Love“ für alle wurde. Eine Geschichte, die ihn trotz vieler Rückschläge und auch eines lebensbedrohlichen Attentats auf sich und seine Frau Rita nie den Glauben an das Gute im Menschen verlieren ließ. Sie und zwei seiner Kinder waren an der Produktion des Films beteiligt.

(ewei). Tammi ist sauer. Statt in den Balearen-Urlaub muss sie mit ihrer Mutter zur Beerdigung ihres fast unbekannten Opas aufs Land fahren. In dem völlig uncoolen Freizeitpark, den er betrieben hatte, lernt sie zwar ihre Cousins Umbo und Keks kennen, doch mit denen kann sie so gar nichts anfangen. Da es nicht einmal Handy-Empfang gibt, langweilt sie sich schier zu Tode. Bis durch einen Blitzeinschlag an der Geisterbahn drei abgehalfterte Holzfiguren zum Leben erweckt werden. Von da an sorgen Hexe, Riese und Rumpelstilzchen mit ihren magischen Fähigkeiten, ihren nicht eben freundlichen Absichten und mit extremem Eigensinn für heil- und endloses ­Chaos. Tammi ist begeistert: Endlich ist Schluss mit der Langeweile in der Einöde! Bald aber hat sie zusammen mit Keks und Umbo alle Hände voll zu tun, um den Freizeitpark zu retten und ihre verkrachten Verwandten wieder zusammenzubringen. Ein gespenstisches Familien-Vergnügen – nach der gleichnamigen DDR-Kultserie.

(ewei). Ein Garten mit Vogelgezwitscher, Blumen und Gemüsebeeten. Hier hat sich eine Familie mit Bediensteten in spießbürgerlicher Idylle mit Planschbecken und Kaffeekränzchen eingerichtet. Was auf der anderen Seite der Mauer geschieht, bleibt verborgen. Aufsteigende Rauchsäulen und umherfliegende Aschepartikel deuten jedoch an, was angstvolle Schreie und befehlsgewohntes Gebrüll zur Gewissheit werden lassen: Dort befindet sich ein Konzentrationslager. Nicht irgendeins: Es handelt sich um das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – und die Bewohner des schönen Hauses mit dem großzügigen Garten sind Rudolf Höß, seine Frau Hedwig und seine fünf Kinder. Er ist Kommandant des Lagers, hat täglich nur wenige Schritte vom Paradies zur Hölle. Von seinem Alltagsgeschäft – der Organisation eines millionenfachen Massenmordes – dringt nichts über die Mauer; der offensichtliche Dauerbetrieb der Krematorien wird aus dem Alltag verbannt. Nominiert für den Oscar 2024.


MUSIK

Tanzbare Gesellschaftskritik DIE BAND WELTBILDHAUER:INNEN WILL WAS ANSTOSSEN

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von Till Neumann

Streiten höchstens über Spezi: Jona Fichtmüller (von links), Miriam Hinze, Dominik Faitsch und Linus Samson. Ihr Debütalbum „Laut und Freundlich“ erscheint im März (Cover siehe Mitte). Fotos: © Weltbildhauer:innen

ie sind wohl Freiburgs erste Band mit Genderdoppelpunkt in Namen. Und das hat nicht nur mit ihrer Besetzung zu tun. Die Weltbildhauer:innen stehen vor dem Release ihres Debütalbums – und wollen mit einem „leckeren Funky-Indie-Genremix-Smoothie“ die Welt ein bisschen besser machen.

was er schon immer feierte, und sieht darin eine große Stärke der Gruppe: „Wir singen über Themen, die was anstoßen sollen oder Mut machen in gewisse Richtungen.“ Die Wiege der Kombo ist die Pädagogische Hochschule Freiburg. Dort kamen die vier Mitstreiter·innen 2021 während des Musikstudiums zusammen – angetrieben vom damaligen Singer-Songwriter Faitsch mit seiner Vision, aus seinem Soloprojekt eine Band zu formen. „Ein cooles Sammel-

„Ich denke also spinn ich“ singt Bandleader Dominik Faitsch. Er möchte damit in Worte fassen, was so manch einen quälen dürfte: Das Gefühl, nicht hinterherzukommen, im Alltagstrubel „Das ist so geil, unterzugehen. „Nie Genug“ heißt der Song mit dieser Zeile. da geht doch was“ Und er zeigt, für was die vierköpfige Band steht: Songs zu gesellschaftli- becken für engagierte Musiker·innen“, chen Themen, mal entspannt melancholisch, nennt der Student das Musikinstitut der PH. „Ich wollte mehr Dynamik, mehr mumal nach vorne gehend und tanzbar. Die Weltbildhauer:innen machen keinen sikalische Farben – und dann kam eins zum Hehl draus: „Das sind Weltverbesse- anderen.“ Zu ihm gesellten sich Miriam rer-Texte“, sagt Faitsch. Mal geht es um Hinze (Posaune), Linus Samson (SchlagVielfalt, mal um Gendergerechtigkeit, mal zeug) und Jona Fichtmüller am Bass. um die Psyche wie in „Nie Genug“. Der Erst setzten sie seine Songs gemeinsam 27-jährige Bandgründer setzt damit um, um. Dann kamen neue Kompositionen dazu.

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MUSIK

Das Projekt nahm schnell Drive auf, berichtet Faitsch beim Interview in seiner WG am „Bermuda-Dreieck“ der Stadt. „Wir hatten immer das Glück, dass gerade unsere Liveauftritte gut angekommen sind“, erzählt er auf der Küchencouch. Das Feedback sei gewesen: „Das ist so geil, da geht doch was.“ Das habe ihnen gezeigt, dass ihre Musik Menschen berührt. Und daher wollen sie es jetzt wissen: Wie viele erreichen wir denn wirklich? Um das herauszufinden, setzt die Band auf ein Album. Es erscheint in Eigenregie am 1. März und heißt „Laut und freundlich“. Es genretechnisch einzusortieren, wird schwierig. Daher haben sich die vier auf die unverblümte Beschreibung „leckerer Funky-Indie-Genremix-Smoothie“ geeinigt. Tanzbare Gesellschaftskritik nennt Faitsch das Ganze. Und ergänzt: „Auf einem positiven Level“. Nett zu bleiben ist den Musiker·innen so wichtig, dass es „freundlich“ in den Albumtitel geschafft hat. Die Musik der Band sieht Faitsch als herzliche Einladung, sich selbst zu reflektieren. „Komm doch mit und hör’s dir an, vielleicht magst du ja drüber nachdenken.“ Posaunistin Miriam „Mimi“ Hinze traut ihrer Band jedenfalls so einiges zu: „Wenn wir uns da alle richtig reinhängen, könnten wir auch richtig steil gehen.“ Die Resonanz sei krass. So langsam fange sie an, den vielen Stimmen zu glauben, die meinen, sie könnten groß rauskommen. Für die 26-jährige Studentin hat die Gruppe so einige Dinge, die sie besonders machen. „Die Liste ist lang“, sagt Hinze und zählt auf: eine Posaune als einziges Melodieinstrument, drei- oder vierstimmiger Gesang, clevere Messages zum Lachen, Weinen oder Wütendsein ... „Last but not least feier ich es, dass wir uns gegenseitig so feiern.“ Das komme beim Publikum an und das finde sie besonders schön. Dass es bei der Gruppe harmonisch zugeht, ist offenbar: Auf die Frage, über was die vier so streiten, antwortet Dominik Faitsch: „Wer die letzte Spezi vom Catering bekommt.“ Etwa 15 Shows hat die Gruppe im vergangenen Jahr gespielt. Als vollen Erfolg verbuchen sie das. Und organisieren derzeit die nächste Tournee. Das Releasekonzert zum Album steigt am 3. März im Kuca, dem Kulturcafé der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Und für den Sommer hoffen sie auf einen Slot beim ZMF. Der Traum wäre dann, im nächsten Schritt deutschlandweit Fuß zu fassen. Die Bereitschaft, bei einer größeren Anfrage das Studium zu pausieren, wäre auch da, sagt Faitsch. Aber dazu muss zuallererst das Album einschlagen. Der Bandleader nennt es so: „All Eyes on mehr Reichweite.“ Das mit der Spezi beim Catering wäre in größeren Locations dann wohl auch das am einfachsten zu lösende Problem.

„Total bunter Haufen“

DAS PREISGEKRÖNTE ORCHESTER CON ANIMA Hier treffen Laien auf Lehrerinnen, Geflohene auf Freiburger. Das Orchester Con Anima baut seit sechs Jahren Brücken mit Musik. Dafür gab’s jetzt den Integrationspreis der Stadt Freiburg. Leiterin Carola Christ hat die Idee aus Schweden mitgebracht. Was kann ich tun, um zu helfen? Das fragte sich Carola Christ, nachdem 2015 unzählige Geflohene nach Freiburg gekommen waren. Bei einem Erasmusaufenthalt in Schweden entdeckte die damalige Studentin der Freiburger Musikhochschule 2016 ein Konzept, das ihr gefiel: ein Orchester in Göteborg für unbegleitete Minderjährige. Ein niederschwelliges Angebot, offen für alle, mit einem integrativen Ansatz. „Ich habe da mitgearbeitet und fand das total inspirierend“, berichtet Christ. Jugendliche lernten ein Instrument, das sie vorher gar nicht kannten. Einem syrischen Bekannten aus Freiburg erzählte sie davon. Er antwortete: Komm, das machen wir hier auch. So startete die 31-Jährige mit dem Verein zeug und quer das Orchester Con Anima. Christ wollte es integrativ: „Uns war wichtig, nicht ein Orchester nur für die Geflüchteten zu machen.“ Es sollte von Anfang an gemischt sein und das klappte: Geflohene brachten deutsche Freunde mit, die selbst wenig Gelegenheiten für Musikunterricht hatten. Gestartet ist das Orchester mit vier Leuten. Jetzt sind es 35. Zehn Lehrer·innen unterrichten die Gruppe. Jeder zahlt dafür so viel er kann, ab zwölf Euro im Monat. Gespielt wird querbeet von Beethoven über ukrainische Volkslieder bis zu iranischer Popmusik. Christ arrangiert die Stücke für den „total bunten Haufen“ und erlebt viel Motivation: „Die sind wahnsinnig interessiert.“ So geht es auch Hasina Mohsini. Die 17-Jährige ist 2022 aus Afghanistan nach Freiburg gekommen und seit rund eineinhalb Jahren im Orchester. Dort lernt sie Geige und ist happy: „Die Leute sind super nett und ich fühle mich dort wohl.“ Für sie ist das Orchester mehr als nur Musik. „Ich habe dort nicht nur Geige spielen gelernt. Sondern auch Kultur entdeckt, das Leben ist schöner jetzt.“ Till Neumann Offen für alle: Das Integrations-Orchester Con Anima aus Freiburg mit Leiterin und Gründerin Carola Christ (unten Mitte) Foto: © privat


MUSIK Indie

Alternative

Hang zum Groove

Abendliche Melancholie

(tln). Der Tod des Freiburger Bassisten Emanuel Teschke alias EEEE im Jahr 2021 hat viele noch immer nicht losgelassen. Zu seinem Geburtstag hat das Kollektiv Mama Magnet um Drummer Frederik Heisler mit einem Release an ihn erinnert: Das Album EEEE bietet acht Songs, die Emanuel geschrieben hat. Im Opener „Be nice to me“ wird schnell klar: Hier geht’s um handgemachte Musik mit Hang zum ­Groove. Gitarren, Drums, Bass und Bläser bilden das Gerüst für den Gesang von Maximilian Bischofberger. Rockig, funkig, nerdig, verspielt kommt die Platte daher. Bei „Come Home“ könnte Wehmut aufkommen, wenn sich die Band im Finale hochschaukelt – und mit dem Track den Musiker und Weggefährten zurückwünscht. Sanftere Töne stimmt „Poor Girl“ an. Stimme und Gitarre bereiten den Weg für eine smooth treibende Ballade mit einer flüsternd-traurigen Gitarre. Kein Zweifel, dass hier Virtuosen am Werk sind – genau wie EEEE einer war. Frederik Heisler bezeichnete ihn im chilli mal als „beängstigend gut“. Funky nach vorne geht’s in „What We Need“. Der Bass macht genauso Druck wie die Horns. Da wünscht man sich, das live zu sehen. Vielleicht bei einem der Minifestivals in Erinnerung an EEEE? Die Platte wäre es wert, auf die Bühne gebracht zu werden.

(pl). Mit „Mess in Heaven“ haben die Alternative-Rocker von Raw Sienna vergangenen Mai eine musikalisch breit gefächerte EP veröffentlicht. Jetzt legt das Freiburger Quintett mit der Single „Paradise“ nach. Die gelungene Ballade zeigt die Band von ihrer zurückgenommeneren Seite. Entstanden ist der Song nach dem Videodreh zur Single „Come a little closer“. Als sich Sänger Fabian Sommerhalter nach dem Shoot alleine in der Wohnung wiederfand, fühlte er sich einsam – und nahm die Gitarre zur Hand. Der Entstehungsprozess spiegelt sich in den Lyrics zu „­Paradise“ wider: „I'm alone, all my friends are gone“, singt der Frontmann im eingängigen Refrain. Wer den Abend nach einem vollen Tag schon einmal alleine verbracht hat, dürfte die melancholische Stimmung gut kennen, die Raw Sienna mit „Paradise“ kreieren. Neben Sommerhalter setzen vor allem die Gitarristen Luca Fierravanti und Paul Wilker auf „Paradise“ gekonnte Akzente. Der Text lässt derweil – bei Raw Sienna keine Seltenheit – mehrere Interpretationen offen. Mal macht sich das lyrische Ich selbst klein („Yes, I'm a loser, honey“), im nächsten Moment geht es das Gegenüber hart an („Could you shut up?“). Aktuell machen Raw Sienna musikalisch alles richtig. Der weitere Weg der Band wird spannend.

MAMA MAGNET & EEEE (EP)

PARADISE (SINGLE)

Plat

RAW SIENNA

Foto: © Felix Gawlik

3 FRAGEN AN JOEL STARK Open Stages sind Mangelware in Freiburg. Mit der Snack’n Jam gibt es seit Kurzem ein neues Format. Mitorganisator Joel Stark (26) berichtet im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann von bunten Abenden, einer Lücke und veganem Essen. Joel, was ist die Idee hinter Snack'n Jam? In unserem Freundeskreis wurde immer wieder davon gesprochen, dass in Freiburg eine regelmäßige Open Stage und Jam-Session für freie Stile von Kunst und Musik fehlt. RIP White Rabbit. Die Snack‘n Jam darf diese Lücke füllen, indem sie eine niederschwellige Bühne bietet und einen Ort für Vernetzung und Sichtbarkeit öffnet. Grundsätzlich darf jede·r auf die Bühne, egal ob vorbereitete Werke oder dann zur Jam mit Improvisation. Die Opening Acts werden gelost! Was hat es mit den Snacks auf sich? Die Idee entsprang einer Soli-Veranstaltung für Syrien und der Falafel-Jam, die wir im Sommer 23 im Café Pow gestartet haben. Die wechselnden veganen Gerichte ergänzen die Jam einfach gut. Wir alle lieben food & music – niemand soll heim müssen, weil er/sie Hunger hat! Wie ist die Jam angelaufen? Wir sind jedes Mal überrascht, wie viele Leute Bock haben. Intern feilen wir an Details, doch im Großen und Ganzen wird das Konzept super angenommen. Die Stimmung würde ich als bunt beschreiben: Mal sind da orientalische Instrumente, Wohnzimmerkonzert und gemütlich, zehn Minuten später tanzt die Crowd zu Psychedelic Rock. Alle sind gespannt, was als Nächstes passiert. Das macht den Reiz aus. Snack’n Jam: 22. Februar, 19 Uhr, KulturAggregat 46 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2024

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KOLUMNE BVCK

ISABELLE GAULTIÉR

Experimental / Electronica

Techno

NORTH OF THE FUTURE (EP)

LOST IN MAY (SINGLE)

… zu den Bauern Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksver­ brechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Für offene Ohren

Aus der Finsternis

(pl). Der Freiburger Musiker Silas Benz ist kein unbeschriebenes Blatt. Als Schlagzeuger bringt er unter anderem mit der Michael Oertel Band Folk und Blues auf die Bühnen, im Verbund mit Kid-O hat er sich dem Neo-Grunge verschrieben. Mit „North of the Future“ ist gerade die erste Solo-EP seines Projekts BVCK auf Vinyl erschienen. Wer die Platte hören will, sollte offene Ohren für ungewöhnliche Musik haben. Der Künstler mischt experimentelle Musik, Dark Pop und wummernde Electronica. Auf den Songs verlieren sich die Hörer·innen im besten Sinne in einer ganz eigenen Soundwelt. Songtitel wie „Dive“ oder „She always goes to War before she falls ­asleep“ tun da ihr Übriges. Auf dem Rausschmeißer „Chasing Storm“ sorgen die Parts von Casu für etwas Orientierung. Inzwischen tritt BVCK auch im Verbund mit der Freiburger Sängerin Lola von Lola Funkt auf, vergangenes Jahr etwa zweimal auf dem ZMF. Den Großteil der Sounds auf „North of the Future“ kommen dagegen von BVCK: Sowohl Synthies, Piano, Schlagzeug, Percussion, Stabspiel, Stimme als auch Field-Recordings hat er gespielt, programmiert und aufgenommen. „Weird in a wonderful way“: Das hat früh ein User auf Instagram unter ein Snippet aus der EP kommentiert. Auf wunderbare Weise seltsam: das trifft es ziemlich gut.

(tln). Isabelle Gaultiér ist Dj und Produzentin. Die Freiburgerin steht für hypnotischen Techno und legt den weit über Freiburg hinaus auf. Mit „Lost in May“ hat sie mit Hubert Johnson im Januar eine 1-Track-EP releast. Düster stampfen da die Drums – bahnen sich ihren Weg aus der Finsternis. Percussive Elemente flirren durch den Raum als kleine Lichtstrahlen. Wabernde Synthesizer-Flächen verpassen dem Ganzen feine Farbkleckse. Der Track lässt sich Zeit. Gaultiér beweist ein gutes Händchen. Das Lied zieht meditativ in andere Sphären. Prädikat techno-dancefloor-tauglich, wenn der Mond schon eine Weile scheint. Gaultiér hat als Kind eine klassische Ausbildung am Klavier genossen. Inspiriert von ihrem Bruder, ebenfalls Dj, hat sie sich früh mit elektronischen Sounds ausprobiert. Seit dem ersten Release 2014 produziert die Französin Tracks – auch als French Navigator. Sie legte unter anderem in Ravensburg, Lindau, Berlin, Budapest und Graz auf. 2023 war sie als Dj beim Fusion Festival. Mit „Lost in May“ bahnt sie sich weiter ihren Weg durch ekstatische Klanguniversen. Wer düster-frickeligen Techno mag, kann hier fündig werden. Nicht nur mit „Waking Life – Original Mix“ gibt’s weitere spannende Kreationen auf ihrem Spotify-Kanal zu entdecken.

Was würden wir ohne Bauern tun? Verhungern? Man weiß es nicht, aber zumindest wäre es auf den Straßen aktuell etwas ruhiger, die Traktorendichte etwas geringer und man sähe weniger Ampeln, die an Galgen baumeln. Ein Bauernaufstand also. Das fällt eigentlich nicht in unseren Aufgabenbereich, aber wir schauen uns und den bäuerlichen Kontext gerne mal unter geschmackspolizeilichen Gesichtspunkten an. Wir haben ja auch schon mal einen Traktor beschlagnahmen müssen, den von Wolfgang Fierek nämlich, als er sang „Doch bei mir ham glei bei dir alle Glock’n gleit. Hörst mi net kumma? Hörst mi net brumma? Maderl, host für mi Zeit? Resi, i hol’ di mit mei’m Traktor ab, Resi, mit dem, da mach ich niemals net schlapp …“ Einigen Traktoren-Marken wurden tatsächlich eigens Songs gewidmet. Es gibt den Fendt-Song von Jessica Seitz („es ist wirklich keine Fantasie, in meinem Fendt bin ich die Königin, er macht mich glücklich wie noch nie“) und auch dem John Deere wurde von den Draufgängern & Lorenz Büffel versucht, ein musikalisches Denkmal zu setzen (Deere, Deere, Deere, Johnny Deere, Deere, Deere ...). Bauernschläue? Fehlanzeige, Anzeige! Auf Bauerntricks sollte man grundsätzlich nicht hereinfallen, wir warnen deshalb an dieser Stelle nochmals ausdrücklich vor Bauer sucht Frau und wünschen uns für die Zukunft ein Comeback der Fernsehsendung Nepper, Schlepper, Bauernfänger. In diesem Sinne grüßen die Bauernfänger der Geschmackspolizei


LITERATUR

Keine Wasserglaslesungen DAS FREIBURGER LITERATURHAUS PRÄSENTIERT OUTSIDE THE BOX

C

von Erika Weisser

Spektakel: Großes Vergnügen bei den Leinwand-Lesungen der Freiburger „Storytelling Engines“

Hort von Marijpol Verlag: Edition Moderne, 2022 328 Seiten, Softcover Preis: 28 Euro

Rude Girl von Birgit Weyhe Verlag: Avant, 2022 312 Seiten, Softcover Preis: 26 Euro

omic ist so viel mehr als Marvel“, sagt ­Hanna Hovtvian, im Literaturhaus Freiburg zuständig für kulturelle Teilhabe und besondere Projekte. Die knapp 30-jährige Kulturwissenschaftlerin liest sehr gerne Graphic Novels und findet, dass diese Comics im Buchformat „viel zu lange eine viel zu sehr unterschätzte Sparte“ in der Gegenwartsliteratur waren. Und sie hat „schon lange von diesem Projekt geträumt“, das sie nun kuratiert: die Reihe „Outside the Box“, die mit mehreren Festivals und Lesungen dazu einlädt, die vielfältigen, zwischen Wort und Bild angesiedelten aktuellen grafischen Erzählungen zu entdecken. Dass dies bei „klassischen Wasserglas­ lesungen“ nicht möglich ist, liege in der Natur des Sujets, sagt Hovtvian: Eine ­ Comic-­Lesung kann nur szenisch oder per­formativ sein, und die Bilder, die üblicherweise im Kopf der Zuhörenden entstehen, müssen auf eine Fläche projiziert werden, um das gesprochene Wort zu ver­ voll­ ständigen. So habe denn auch das Freiburger Künstler·innen-Kollektiv „Storytelling Engines“ im Januar den Auftakt zu der Reihe gestaltet. Die Performance der Schauspielerinnen Lucy Wirth, Isabella Bartdorff und Tjadke Biallowons sei ein „großartiges Spektakel“ gewesen, in dem sie anhand von Liv Strömquists Comic „Im Spiegelsaal“ das Dauerthema Schönheit mit viel Witz anschaulich gemacht hätten. Wer den Auftritt verpasst hat, kann die drei „Storytelling Engines“ im April im Literaturhaus erleben: Am 17., 18. & 19. April bringen sie mit „Ich fühl’s nicht“ einen weiteren Comic der schwedischen feministischen Comic-­ Künstlerin auf die Bühne. Doch bevor es so weit ist, füllen noch andere illustre Gäste das Comic-Projekt mit Leben. Da ist zunächst Barbara Yelin, die zu den bekanntesten deutschen grafischen Erzählerinnen zählt. Über ihr Porträt einer Holo­ caust-Überlebenden namens „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ kommt sie am 21. Februar mit der

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Foto: © Marc Doradzillo

Freiburger Lehrerin Sandra Butsch ins Gespräch. Dabei soll es auch darum gehen, wie das Medium Comic gerade Jugendlichen niederschwellige Zugänge verschafft zu komplexen Themen, die nicht zu ihrer Lebenswelt gehören. Im März (13. bis 16.) gibt es dann einen viertägigen Comicsalon zu queer-feministischen Perspektiven mit Leinwandlesungen, Klanglandschaften und Late-Night-Kino. Bei diesem Festival ist auch Sonja Eismann mit von der Kuratorinnen-Partie. Sie ist Herausgeberin des Missy-Magazins und „gilt in dieser Bubble als absolute Expertin“, freut sich Hovtvian. Zu Gast sind renommierte Autorinnen, darunter Anke Feuchtenberger, die ihre „Genossin Kuckuck“ mitbringt, oder Marijpol, die in „Hort“ ungewöhnliche Körper und Freundschaften thematisiert. Comic-Werkstätten, Beats und Drinks runden das Geschehen ab, das eine ganz neue Szene ins Literaturhaus locken soll. Am Ende der Reihe, im Juni und Juli, wird das Literaturhaus für zwei Wochen schließlich selbst zu einem begehbaren ­Comic – in einer Mitmach-Ausstellung zu Birgit Weyhes Comic „Rude Girl“, der es 2023 immerhin auf die Sachbuch-Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse schaffte. Das ganze Programm: www.literaturhaus-freiburg.de


NICHT VON DIESER WELT

von Michael Ebert Verlag: Penguin, 2023 240 Seiten, Hardcover Preis: 24 Euro

FREZI

FREZI

DER GROSSE RAUSCH

LICHTUNGEN

von Helena Barop Verlag: Siedler, 2023 285 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro

von Iris Wolff Verlag: Klett Cotta, 2023 256 Seiten, gebunden Preis: 24 Euro

Grüße aus der Totenwelt

Spannend wie ein Mafiaroman

Neue Lebensentwürfe

(ewei). Michael Ebert, Chefredakteur des Süddeutsche Zeitung Magazins, wuchs in Schramberg auf. Und in diesem Schwarzwaldstädtchen spielt auch das literarische Debüt des in Freiburg geborenen Journalisten. Dort lebt Mischa, der Protagonist des Romans, der im Sommer 1991 dreizehn Jahre alt ist – und ein Träumer. Ein Außenseiter, in dessen Leben der Tod einen festen Platz hat. Nicht nur, weil sich sein Vater, der liebevolle, aber leider heillos glücksspielsüchtige und schließlich zutiefst ruinierte Mensch, sich irgendwann im Schwarzwaldtann das Leben nahm. Sondern auch, weil er seither an einem Ort wohnt, an dem das Sterben zum Alltag gehört: in einer Personalwohnung des Krankenhauses, auf dessen Intensivstation seine Mutter arbeitet. Dass Mischa einen besonderen Draht zu den Toten hat, wird er erst feststellen, als er mit der 17-jährigen französischen Austauschschülerin Sola in Mutters „geborgtem“ Auto ohne Führerschein unterwegs nach Halberstadt ist. Dort soll laut Sola, die anstelle ihres Bruders in Mischas Familie gekommen ist, ein Vermögen auf sie warten. Ein versponnenes Roadmovie, leicht und geschmeidig erzählt – im richtigen Maß emotional und auch mysteriös. Denn irgendwann erhält Mischa telefonische Grüße und Aufträge aus der Totenwelt.

(ewei). Wer Anfang des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt Drogen kaufen wollte, ging in die Apotheke. Und wer hier Anfang des 21. Jahrhunderts Drogen kaufen wollte, musste zu seinem Dealer. Und bewegte sich somit in einem kriminalisierten Milieu. Wie es dazu kam, dass M ­ edikamente zu Rauschmitteln, Rauschmittel zu Rauschgift und aus Rauschgift illegale Drogen wurden, untersucht die Freiburger Historikerin Helena Barop in dieser fesselnd geschriebenen Geschichte der Drogenpolitik. Barop, die 2021 ihre Dissertation „Mohnblumenkriege“ über die US-­ amerikanische globale Drogenpolitik von den 1950er- bis in die 1970er-­ Jahre veröffentlichte, spannt in ihrem zweiten Buch den Bogen weiter: von den Opiumkriegen im China des 19. Jahrhunderts bis zum Umgang mit Cannabis im heutigen Deutschland. Dabei zeigt sie, wie sich die Angst vor den vielerorts zu einem gesellschaftlichen Problem erklärten Sub­ stanzen zuverlässig in politisches Kapital umwandeln ließ – und lässt. Sie räumt mit Vorurteilen und Halbwahrheiten auf, entlarvt Horrorgeschichten und verdeutlicht an zahlreichen Beispielen, dass die Geschichte der Drogenpolitik voller ­ schillernder Ambivalenzen ist. „Der große Rausch“ liest sich spannend wie ein Mafiaroman. Und ist für die Wahl zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2024 nominiert.

(ewei). „Sas pe thai nas pe.“ Dieser Satz, der die erste Episode einleitet, ist die mündliche Einleitungsformel für die Märchen der Roma und bedeutet: Es war und es war nicht. Insgesamt neun Episoden sind es, in denen Iris Wolff die gemeinsame und oft getrennte Geschichte zweier Menschen erzählt, die seit Kindestagen eine besondere Freundschaft verbindet. Und jedes Kapitel wird mit einem Sprichwort, einem Reim, einer Redensart in einer jeweils anderen Sprache eingeleitet: polnisch, ungarisch, rumänisch, ru­ thenisch, siebenbürgisch. Sprachen und Dialekte, die im Vielvölkerstaat Rumänien gesprochen werden. Von dort stammt die Freiburger Autorin und dort beginnt die Geschichte von Lev und Kato, die sie aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückerzählt. In eine Zeit, als es so gut wie unmöglich war, das Land zu verlassen – ohne für immer daraus vertrieben zu bleiben. Diese fehlende Bewegungs- und Wohnortswahlfreiheit prägt auch die frühe Beziehung der beiden Heranwachsenden. Bis die Öffnung der Grenzen und die damit verbundene Möglichkeit neuer Lebensentwürfe ihr bisher sehr symbiotisches Verhältnis verändert. Iris Wolff gelingt es, jeden Moment dieser durch äußere Einflüsse bedingten inneren Veränderung in ebenso klare wie poetische Sprache umzuwandeln. FEBRUAR 2024 CHILLI CULTUR.ZEIT 49



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