chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 10/23 13. JAHRGANG

LEINWAND

WARUM DIE KINOS DER STADT HOFFEN KÖNNEN

KULTUR

20. WEIHNACHTSINTERVIEW MIT ULRICH VON KIRCHBACH

MUSIK

FREIBURGS ZWÖLF TRACKS DES JAHRES


KULTUR

„Das wäre fatal“

FREIBURGS ERSTER BÜRGERMEISTER ULRICH VON KIRCHBACH IM CHILLI-INTERVIEW

chilli: Herr von Kirchbach, welche Note geben Sie als Sozialdemokrat der SPD-geführten Ampelkoalition? von Kirchbach: Eine Drei plus. Die Koalition wird viel schlechter geredet und gemacht als sie ist. Auch wenn die Kommunikation zuweilen desaströs ist. Bevor man ein Urteil fällt, sollte man auch bedenken, was alles in der bisherigen Regierungszeit vorgefallen ist: die Corona-Pandemie, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukra­ ine, die Gas-Krise, die Klimakrise, der Nahost-Krieg. Diesen Herausforderungen hat sich die Regierung gestellt, vieles angepackt und es insgesamt gut gemacht. Vielleicht werden wir uns in 20 Jahren noch daran erinnern, dass das die letzte vernünftige Bundesregierung war. chilli: So vernünftig war die Umschichtung der Corona-Hilfen nicht, hat das Bundesverfassungsgericht unlängst geurteilt. Berlin steht seither vor einem 60-Milliarden-Euro-Loch. von Kirchbach: Das kann man nicht der Regierung allein in die Schuhe schieben. Da muss auch die Opposition mehr Staatsräson zeigen. Ich fand die

Foto: © bar

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in Lichtlein brennt im Büro von Ulrich von Kirchbach. Freiburgs Erster Bürgermeister hat keine offene Akte auf dem Tisch, an dem er im 20. Weihnachtsinterview mit chilli-Chefredakteur Lars Bargmann über die Ampel und Kriegsvertriebene, über Bands und Kulturhäuser spricht. Der 67-Jährige ist der dienstälteste Dezernent im Rathaus. Seine letzte Amtsperiode endet nach 24 Jahren 2026. Es ist ihm wichtig, dass ein kulturpolitisches Großprojekt dann noch seinen Abschluss findet.

Klage der CDU schon falsch und ebenso ihre knallharte Linie, dass sie in diesen außergewöhnlichen Zeiten eine Änderung des Grundgesetzes nicht mitträgt. Wir sind die einzige Regierung in Europa, die meines Erachtens den Fehler gemacht hat, die Schuldenbremse in die Verfassung zu schreiben. Wenn man vergleicht, was andere Länder für Schulden haben, sind wir Musterknaben. chilli: Die Schuldenbremse muss weg? von Kirchbach: Man muss sie neu justieren. Zu investieren, auch mit neuen Schulden, ist besser, als eine Abwärtsspirale der Wirtschaft in Kauf zu nehmen und gegenüber anderen europäischen Ländern so in einen Wettbewerbs­ nachteil zu kommen. Deutschland muss Impulse setzen. Wir haben einen großen Nachholbedarf an Investitionen im Bereich Klima, Wohnungsbau, und Bildung. Wer nicht investiert, fördert die radikalen Kräfte, die eine stabile Demokratie gefährden. Ich verstehe nicht, wie man nach dem Urteil aus Karlsruhe noch Freudentänze aufführen kann.

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chilli: Wie groß ist Ihre Sorge, dass durch die Haushaltskrise des Bundes auch die Kommunen in Mitleidenschaft gezogen werden? von Kirchbach: Ich habe keine Sorgen. Die Verwaltungseinheiten innerhalb eines Staates müssen funktionieren. Wenn wir Förderbescheide oder auch nur positive Aktenvermerke haben, sei es fürs Außenbecken im Westbad oder für die Sanierung vom Theater, dann steht das für mich als Zusage. Man darf das Vertrauen in den Staat nicht erschüttern. Das wäre fatal. chilli: Das Jahr hatte für Sie als Sozialbürgermeister schon mit einer Enttäuschung über den sogenannten Flüchtlingsgipfel im Februar begonnen. Hat sich die mittlerweile gelegt? von Kirchbach: Vom ersten Flüchtlingsgipfel war ich maßlos enttäuscht, weil da überhaupt keine konkreten Ergebnisse kamen. Beim zweiten Gipfel, am 6. November, war der Bundeskanzler mit dabei, da gab es immerhin für die Kommunen, über die Länder, eine Milliarde Euro


INTERVIEW vom Bund. Das ist natürlich auch zu wenig, aber besser als nichts. chilli: Wie viele Menschen aus der Ukra­ ine leben aktuell in Freiburg? von Kirchbach: Ungefähr 2900. Und es kommen jede Woche 17 bis 18 dazu. Wenn es so weitergeht, sind unsere Kapazitäten Ende Juli ausgeschöpft. Wir haben schon das Evangelische Stift angemietet, überlegen eine Erweiterung an der Merzhauser Straße, und ab Februar haben wir auch noch das Hotel Schiller für Wohnungslose. Aber auch das wird nicht reichen. chilli: Enttäuscht war in Freiburg vor allem die Musikszene über das wenig beherzte Zupacken der Verwaltung bei Proberäumen für Bands. Als Zwischenlösung sollen nun Module an der Edith-Stein-Schule aufgebaut werden. Wann? von Kirchbach: Ich hoffe, im Laufe des nächsten Jahres. chilli: Sie hoffen? von Kirchbach: Baurechtliche Prozesse dauern. chilli: Die Edith-Stein-Schule ist auch nur eine Übergangslösung. Letztlich soll der einstige Gewerbehof an der Schönauer Straße 3 für die Bands genutzt werden. von Kirchbach: Das ist erst dann möglich, wenn das neue Rettungszentrum fertiggestellt ist, weil der Gewerbehof noch für städtische Einsatzfahrzeuge vom DRK und Malteser Hilfsdienst genutzt wird. chilli: Das Grundstück gehört der Stadt? von Kirchbach: Ja, wir werden das so herrichten, dass wir es dann neu vermieten können und mit den Mieten die Investitionen finanzieren. chilli: An Multicore? von Kirchbach: Multicore ist sicher ein möglicher Partner. Wir können nicht an zig Bands vermieten. chilli: Vor einem Jahr haben Sie unserer Redaktion gesagt, Sie seien in guten Gesprächen für eine Ersatzlösung fürs Ende Juni/Juli wegfallende Kunsthaus L6. Was war das Ergebnis?

von Kirchbach: Es zeichnet sich eine überaus passende neue Unterbringung ab. Ich bin zuversichtlich, dass wir da im Februar, März eine Beschlussvorlage für den Gemeinderat machen können. Ich kann wegen der laufenden Verhandlungen nicht mehr sagen. chilli: Wird die Stadt eine Immobilie erwerben? von Kirchbach: Die Tendenz geht in diese Richtung. chilli: Das Morat-Institut will seine Ausstellungsräume an der Lörracher Straße 31 Ende des Jahres schließen … von Kirchbach: Es ist wichtig, dass die hochkarätige Morat-Sammlung in der Stadt Freiburg erhalten bleibt. chilli: Es könnte einen Zusammenhang zwischen dem L6, der Sammlung und dem Gebäude geben … von Kirchbach: Wenn Sie meinen.

„Das ist etwas vollkommen Neues“ chilli: Wenn die Stadt ein Gebäude kaufen will: Woher kommt das Geld? In der mittelfristigen Finanzplanung stehen gerade mal 250.000 Euro für „Ersatz für Kunsthaus L6“ – im Jahr 2027 … von Kirchbach: Wir sind eine kreative Verwaltung. In einem Haushalt gibt es immer auch außerplanmäßige Ausgaben. chilli: Sicher in einer eigenen Immobilie, im Rotteckhaus, wird das NS-Dokuzentrum eröffnen. Klappt das nach dem spektakulären Fund eines Wandgemäldes noch im kommenden Jahr? von Kirchbach: Wir haben durch den Gemäldefund des Freiburger Künstlers Theodor Kammerer ein paar Wochen verloren … chilli: … weil das Denkmalamt gesagt hat, es müsse genau dort stehen bleiben, wo es in einer Trockenbauwand gefunden wurde … von Kirchbach: … es hätte keinen Sinn gehabt, darüber jetzt monatelang zu streiten. Also haben wir umgeplant. Ich bin zuversichtlich, dass wir Ende 2024 eröffnen können.

chilli: Die israelitische Gemeinde fordert seit Jahren einen Zaun, um die „neue“ Synagoge an der Engelstraße besser zu schützen. Bislang traf sie auf wenig Gegenliebe. Hat sich das durch die antisemitischen Vorfälle in jüngster Zeit geändert? von Kirchbach: Das Stadtplanungsamt ist dabei, verschiedene vertretbare Varianten zu erarbeiten. Vielleicht finden wir da doch eine Lösung, die zudem den Platz zwischen Synagoge und Stadtbibliothek insgesamt aufwertet. chilli: Das Freiburger Kulturkonzept wird derzeit unter dem Titel Kulturkodex fortgeschrieben. Kurz vor Redaktionsschluss gab es eine Sondersitzung des Kulturausschusses. Was genau ist das Ziel? von Kirchbach: Es geht um die Grundsätze und Perspektiven einer zukunftswirksamen Kunst und Kulturförderung. chilli: Konkret? von Kirchbach: Das ist keine einfache Fortschreibung unseres viel beachteten Kulturkonzepts mit dem Entwicklungsplan Museen oder den Theater-Leitlinien, sondern etwas vollkommen Neues. Wir werden die Themen Partizipation, Inklusion und Nachhaltigkeit in Bezug zum Kulturschaffen ins Zentrum stellen. Diese Themen, spartenübergreifend und interdisziplinär gedacht, und nicht mehr das künstlerische Vorhaben allein, werden bei der Entscheidung über künftige Förderungen maßgeblich sein. Ich denke, das kann bundesweit durchaus eine Vorreiterrolle einnehmen. chilli: Wenn das Augustinermuseum 2025 endlich mal fertig ist: Steht dann ein neuer Ort fürs Museum für Neue Kunst auf der Tagesordnung? von Kirchbach: Das werde ich meiner Nachfolge überlassen. Noch hat Freiburg leider kein Museum, das als Museum gebaut wurde. Für mich ist es wichtig, dass ich das Ende der „Drei-Oberbürgermeister-Baustelle“ Augustinermuseum noch während meiner letzten Amtszeit erlebe. Chilli: Herr von Kirchbach, vielen Dank für dieses Gespräch.

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KULTUR

„Das Augustinermuseum sind wir alle“

SEIT 100 JAHREN IST DAS EINSTIGE EREMITENKLOSTER EIN BEDEUTENDES KULTURHAUS

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regionale Kunst- und Kulturschätze aus acht Jahrhunderten beherbergt und zu den bedeutendsten Museen am Oberrhein gehört. Im November feierte es sein 100-jähriges Bestehen. Sechs Tage dauerte die Festwoche, die die neue Museumsdirektorin und Leitende Direktorin der Städtischen Museen Freiburg, Jutta Götzmann, mit der Feststellung eröffnete, dass „wir alle“ das Augustinermuseum seien. Und damit meinte sie nicht nur die Geldgeber und Sponsoren, denen man „sehr dankbar“ sei. Auch nicht nur den sehr aktiven Freundeskreis des Museums, nicht nur die Historiker, Kunsthistoriker

Foto: © Patrick Seeger

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eit knapp 20 Jahren macht das Haus oft als Dauerbaustelle von sich reden, die immer mehr Mittel aus dem städtischen Haushalt verschlingt. Kein Wunder: Das von Augustiner-Eremiten an seinem heutigen Standort errichtete Klostergebäude ist gut 700 Jahre alt und weist aus heutiger Sicht und Nutzung viele, auch durch Verschleiß bedingte Mängel auf, die heutigen Anforderungen nicht mehr entsprechen. Zumal es sich um ein wichtiges öffentliches Gebäude handelt: Das Augustinermuseum, das

von Erika Weisser


Foto: © Patrick Seeger

Unter Heiligen: Der ausge­ stopfte Alpensteinbock (l.) ziert als Geburtstagsgast und Leihgabe des Museums Natur und Mensch noch bis zum 4. Februar die Skulptu­ renhalle (r.) des Augustiner­ museums.

und Restauratoren, die das Museum am Leben erhielten. Sondern ebenso alle Besucher·innen aus Freiburg und Umgebung, für die es in dem am 12. November 1923 eröffneten „Bürgermuseum“ „viel zu entdecken“ gebe. Entsprechend einladend war das Festprogramm mit Angeboten für alle gestaltet; da gab es Yoga in der Skulpturenhalle, Krimi-Soundtracks oder meditative Musik auf der wunderbar restaurierten Welte-Orgel, Baustellenführungen, Blicke über die Schultern von Restaurator·innen, Speed-Dates mit Lieblingskunstwerken oder abendliche Taschenlampenführungen mit Kindern.

Ein ganz besonderes, über die gut besuchte Festwoche hinaus wirkendes Geschenk hatten sich die Mitglieder des Freundeskreises ausgedacht: Anlässlich des Jubiläums erwarben sie eine bisher in Privatbesitz befindliche signierte Öl­ skizze des in Freiburg aufgewachsenen Malers Anselm Feuerbach – und schenkten sie dem Augustinermuseum. Gegenstand des um 1853 entstandenen Bildes ist ein heiteres dionysisches Gelage des Weingotts Bacchus, das nach den Worten der ersten Vorsitzenden Birgit Laschke-Hubert die bestehende Feuerbach-Sammlung „vortrefflich ergänzt“. Der Verein sorgte noch für eine weitere Überraschung: Eine Sonderausstel-

lung namens „Geburtstagsgäste“, die noch bis zum 4. Februar 2024 besucht werden kann, etwa bei den „Kunstpause“-Führungen unter dem Motto „Happy Birthday“. Es handelt sich dabei um Leihgaben aus 15 Institutionen, die dem Augustinermuseum partnerschaftlich verbunden sind. So ist in der Skulpturenhalle zwischen den klassischen Heiligenfiguren etwa ein Alpensteinbock anzutreffen: ein Tierpräparat aus dem Museum Mensch und Natur. Oder Pia Stadtbäumers Engel, der sonst im Museum für Neue Kunst beheimatet ist. Wenn das Augustinermuseum sein Dasein als Baustelle mal beendet, werden fast 100 Millionen Euro investiert sein. ANZEIGE

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KINO

Zurück in die Zukunft

FREIBURGER KINOS VERZEICHNEN STEIGENDE BESUCHERZAHLEN

W von Erika Weisser

arten auf das Publikum“ titelte das chilli im April 2021 – zu Fotos von Freiburger Kulturvermittlern in ihren leeren Sälen. Darunter war auch Ludwig Ammann, der Geschäftsführer der Kinos Friedrichsbau, Harmonie und Kandelhof. Inzwischen haben Freiburgs Kinobegeisterte den Weg in die Lichtspielhäuser wieder gefunden; die Besucherzahlen nähern sich allmählich an das VorCorona-­Niveau an.

Foto: © Kino Friedrichsbau

Leere Reihen waren einmal: Die Freiburger Kinos (hier der große Saal im Friedrichsbau vor dem Publikumseinlass) schauen auf ein gutes Jahr mit wieder steigenden Besucherzahlen zurück.

So blickt etwa Marie Wehmeier von der Pressestelle des CinemaxX auch für Freiburg „insgesamt auf ein tolles Kinojahr zurück“, das selbst im Sommer „das Kinofieber steigen ließ“ – durch die „großartigen Filmstarts von Barbie und Oppenheimer“. Über diesen „sensationellen Doppel-Erfolg“ für seine drei Kinos freut sich auch Ammann. Indessen sei es nicht nur diesen beiden Filmen zu verdanken, dass es „mächtig vorangeht“.

66 CHILLI CULTUR.ZEIT DEZEMBER 2023/JANUAR 2024

So war auch das Sommernachtskino trotz vieler Regentage „mit 11.683 Besuchern das dritterfolgreichste Sommernachtskino aller Zeiten“. Und die neue Doku „Fitness California“ mit den Ringer-Legenden Adolf Seger, Mario Sabatini und Bernd Fleig „kam fantastisch an beim Freiburger Publikum“: Rund 3000 Zuschauer in sechs Wochen, das sei „sehr, sehr viel für einen Dokumentarfilm“. Gemessen an den Zahlen von 2019 sei es gelungen, den auf die Corona-Lockdowns folgenden Besucherrückgang von 2022 auf 2023 zu halbieren; bis Jahresende werde man „voraussichtlich bei 80 Prozent der Vor-Corona-Zahlen landen“. Mit Blick auf die streikbedingten Verschiebungen wichtiger Herbststarts ins kommende Jahr sei das „ein gutes Ergebnis“. Ammann schaut zuversichtlich auf 2024 – zumal auch der Friedrichsbau als gerettet gelten kann: Vor wenigen Tagen seien die Zusagen der Filmfördergremien für die Finanzierung der notwendigen Sanierungen (wir berichteten) eingetroffen. Darüber hinaus haben er und sein Team „einiges vor“, um die Kinos „noch attraktiver zu machen“. Und wenn sich der durch die Pandemie verursachte Besucherrückgang 2024 nochmals halbiere, seien sie „schon fast am Ziel“. Auch das Kommunale Kino hat Anfang Dezember mit 20.155 Gästen fast 80 Prozent der Besucherzahl von 2019 erreicht. Dieser Erfolg, sagt Pressereferentin Rosaly Magg, sei „zahlreichen Festivals und Reihen in diesem Jahr geschuldet, auch dem Freiburger Filmforum, das nur alle zwei Jahre stattfindet“. Neben dem Cinelatino, den Freiburger Lesbenfilmtagen und dem Greenmotions Festival war es auch ein neues Festival, das sich zum Publikumsmagnet entwickelte: „Celebrating New Wave: Kunst in Almanya“ – mit über 700 Besucher·innen an fünf Tagen. Auch die für 2024 geplanten Kooperationen und Reihen ließen auf weitere Annäherung hoffen.


KINO LOLA

15 JAHRE

STELLA. EIN LEBEN

Fotos: © Neue Visionen

Fotos: © Wild Bunch

Fotos: © Majestic

Irland/GB 2023 Regie: Andrew Legge Mit: Stefanie Martini, David Bowie u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 78 Minuten Start: 28. Dezember 2023

Deutschland 2023 Regie: Chris Kraus Mit: Hannah Herzsprung, Albrecht Schuch, Adele Neuhauser u.a. Verleih: Wild Bunch Laufzeit: 143 Minuten Start: 11. Januar 2024

Deutschland 2023 Regie: Kilian Riedhof Mit: Paula Beer, Jannis Niewöhner u.a. Verleih: Majestic Laufzeit: 116 Minuten Start: 25. Januar 2024

Stardust und Weltkrieg

Mehr als 15 Jahre Wut

Folgenschweres Doppelleben

(ewei). 1941 in London. Die Schwestern Thom und Mars haben die Maschine LOLA konstruiert, die Radiound Fernseh-Schnipsel aus der Zu­kunft empfangen kann. Sie hören Ziggy Stardust, bevor er erfunden wird, platzieren todsichere Wetten und leben ihren inneren Punk aus, bevor es diese Bewegung gibt. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, setzen sie LOLA ein, um militärische Informationen aus der Zukunft abzufangen. Ihre Zeit-Maschine ist ein großer Erfolg im britischen Kampf gegen die Nazis. Doch LOLA ist nicht unfehlbar. Zwar verändert sie den Verlauf des Krieges, doch die Zukunft, die sie zeigt, ist nicht notwendigerweise auch die Wahrheit. Sondern eine Fiktion, die sich nun ihrerseits in die Zeit einschreiben und eine ganz andere Welt begründen wird. Das Projekt droht, aus dem Ruder zu laufen. Neues, wildes und junges Kino aus Irland, das gegenwärtiger nicht sein könnte. Ein selbstironisches Spiel mit den Abgründen von Zeit und Wahrheit, das die Nerven kunstvoll kitzelt.

(ewei). Als Jenny nach 15 Jahren aus dem Knast kommt, trägt sie mehr als 15 Jahre angestaute Wut in sich: Die hochbegabte Pianistin musste für einen Mord büßen, den sie gar nicht begangen hatte. Und diese Strafe, die Karriere und wichtige Lebenszeit vernichtete, hatte sie ihrer damaligen großen Liebe zu „verdanken“: einem Punkrocker, der seinen Vater erstach und die Tat auf sie abwälzte. Die inzwischen 35-Jährige kommt in einer christlich-caritativen Einrichtung und einer Putzkolonne unter, die in verschiedenen Objekten für Sauberkeit sorgt. So auch in der Musikhochschule, an der Jenny einst studierte. Dort wird sie von einem früheren Kommilitonen und jetzigen Dozenten erkannt und eingeladen, zusammen mit einem syrischen Musiker bei einer Talentshow aufzutreten. Doch der Showmaster ist ausgerechnet ihr einstiger Freund, der inzwischen internationale Schlager-Karriere gemacht hat. Ein dramatisches Duell nimmt seinen Lauf. Mit einer herausragenden Hannah Herzsprung.

(ewei). Die schöne blonde Stella Goldschlag ist 18, lebt in Berlin und träumt von einer Karriere als Jazzoder Swing-Sängerin in New York. Doch im Jahr 1940 sind solche Träume aussichtlos für die Tochter jüdischer Eltern, die unter Berufsverbot leben und das Land nicht mehr verlassen können. Stella hadert mit ihrer Herkunft, verlässt sich auf ihr „arisches“ Aussehen und ist auch während der Ausgangssperre unterwegs, bandelt unbehelligt mit einem Nazi an. Sie will leben, lieben, sich erkunden – wie alle jungen Menschen um sich herum. Doch sie wird zur Zwangsarbeit verpflichtet – und entgeht im Februar 1943 nur knapp einer großangelegten Verhaftungsaktion mit anschließender Deportation nach ­Auschwitz. Sie taucht unter, wird denunziert, festgenommen und schwer misshandelt. Um zu überleben, verpflichtet sie sich, gemeinsam mit ihrem Freund Rolf Isaaksohn untergetauchte jüdische Menschen aufzugreifen und an die Gestapo auszuliefern. Ihr Leben endet 1994 in Freiburg.


MUSIK

Tracks des Jahres

Mit ihrer Debüt-EP präsentiert sich Mieke als Fan der Musik der 60er. Auf „I’m With the Band“ stehen vor allem die Beatles Pate. Highlight ist das bluesige „Money Factory“, in dem es um Themen wie Sexismus, Rassismus, Waffengewalt, Faschismus und Kapitalismus geht. Miekes Fazit im Gospel-inspirierten Finale ist ganz im Sinne der Fab Four: „The answer is love“.

Beach Blues » Drunkhead’s Tale

Bisher eher als Members der Cosmic Mints bekannt, haben die Jungs von Beach Blues dieses Jahr ihre Debüt-EP veröffentlicht. Besonders cool kommt „Drunkhead’s Tale“ daher. Sänger und Bassist Niclas Soddemann drückt der verrucht klingenden Nummer mit Reibeisenstimme seinen Stempel auf. Der Track erinnert stark an Musik-Ikone Tom Waits. Mit 267 Zeichnungen macht auch das Musikvideo was her.

Foto: © Klaus Polkowsk

Von Welt

Foto: © Mieke

Mieke » Money Factory

Twäng!

Foto: © Maja Wilker

Mit „The Devil in the Orchard“ haben Lambs & Wolves Ende März ein Folk-Album ohne musikalische Scheuklappen veröffentlicht. Der atmosphärische Titelsong überzeugt mit der sanften Stimme von Sänger und Pianist Julian Tröndle. Gemeinsam mit interpretationsoffenem Text, einprägsamer Klaviermelodie und gelungener Instrumentierung schaffen die Löwen und Wölfe einen melancholischen Herbst-Sound.

Foto: © Sandra Kraff

Lambs & Wolves » Devil in the Orchard

Mieke

Raw Sienna

Schmerz: „Dieses Zimmer scheint unendlich groß, hol mich raus, hol mich raus und ich lass nie wieder los.“ Das ist gut getextet, wuchtig produziert und bleibt hängen.

Pyanook » Digital Derwish

Unojah » Ay mi Amor

Die World-Music-Band Unojah hat zuletzt mit der „Live EP“ Einblicke in ihr buntes Portfolio gegeben. Im September haben die Musiker „Ay mi Amor“ als Video ausgekoppelt. Für den Polka- und Cumbia-Song cruisen die fünf auf Lastenrädern, Longboards und Gepäckträgern musizierend durch die Stadt. Da kann nicht nur mitgesungen und mitgetanzt werden – es gibt auch eine Stadtrundfahrt im 360-Grad-View on top.

Der einzige Song ohne Lyrics in dieser chilli-Best-ofReihe kommt vom Freiburger Pianisten und Klangkünstler Ralf Schmid. Mit seinem Pyanook-Projekt lässt er Klavierklänge mit Effektspielereien verschmelzen. Besonders geglückt ist das auf dem Opener seines Albums „Zas“: Digital Dervish. Da tanzen Töne schwerelos durch den Raum – getragen von Xylophon und Percussion. Was zum Zurücklehnen und Genießen.

Milxn » Unendlich groß

Twäng! » Baraye

Der Rapper Milxn ist Newcomer im Breisgau. Mit „Unendlich groß“ hat er eine düstere Single gedroppt. Eine kratzige Gitarre, pulsierende Drums und ein donnernder Bass fesseln schnell. Dazu gibt’s Depri-Lyrics voller Sehnsucht und 68 CHILLI CULTUR.ZEIT DEZEMBER 2023/JANUAR 2024

Der Der A-Cappella-Popchor Twäng! trällert, raunt und sing seit 2014 in allen Tonlagen. Im Frühjahr hat der mittlerweile auf 42 Kehlen angewachsene Freiburger Chor seine Stimme der Revolutionsbewegung im

Foto: © The Rehats

W

elthits aus Freiburg sind auch 2023 nicht geglückt. Aber viele Songs haben die Redaktion dennoch berührt. Wir vier haben erneut unsere zwölf Favoriten ausgewählt.

FATCAT

Foto: © Fatjon Humaj

Foto: © Felix Groteloh

DAS CHILLI KÜRT DIE ZWÖLF BESTEN SONGS 2023 AUS FREIBURG


MUSIK Foto: © Beach Blues

sain überzeugt: „Elusive Moods“ lullt die Hörerschaft dank grooviger Bassline von Jan Klementz und Gitarrenakzenten by Micha Scheiffele angenehm ein. Fazit: Melancholie ohne Schwermut.

Foto: © Erdan Genc

Beach Blues

Fatcat » Broken Place

Lambs & Wolves

Die Powerfunker von Fatcat zählen zu den erfolgreichsten Bands der Breisgaumetropole. Dieses Jahr haben sie mit „More Sugar“ ihr drittes Album gedroppt. Dass sie auch die ruhigen Töne beherrschen, beweisen sie mit der zweiten S ­ ingle „Broken Place“. Die gefühlvolle Nummer mit Zeilen wie „I needed love, you needed space“ überzeugt vor allem durch die ausdrucksstarke soulige Stimme von Frontmann und Gesangslehrer Kenny Joyner.

Von Welt » Immer so still Foto: © S.Ringshofer

Milxn

Unojah

The Rehats » Find A Way

Foto: © Steffen Thalemann

The Rehats

Foto: © Samuele Nigro

Pyanook

Heirs to the Wild

Anfang September haben sich die Alternative-Rocker Von Welt mit dem hymnisch-düsteren „Adrenalin“ zurückgemeldet. Der zweite Release des Jahres kommt eine Spur poppiger daher und sorgt ebenfalls für einen Ohrwurm. Lyrisch geht’s um die Gefühle einer introvertierten Person („Immer am liebsten für mich allein, Kopfhörer auf, schau in mich rein“). Das gelungene Musikvideo zeigt das Trio in Freiburg.

Best of: Diese zwölf Acts haben sich im Rennen um die besten Plätze gegen die Konkurrenz durchgesetzt.

Iran geliehen und den Song „Baraye“, die Hymne der Protestwelle, gecovert. Die Freiburger Version ist ein Zeichen für Solidarität und dabei musikalisch eindrücklich, gefühlvoll und frei von Kitsch.

Raw Sienna » Kill the Noise

Die meisten Texte der ersten EP „Mess in Heaven“ vom Freiburger Quintett Raw Sienna sind Verhandlungssache. Ausnahme ist „Kill the Noise“. Fünf Minuten nimmt sich der im Lockdown entstandene Track, um Depressionen und Angststörungen ins Licht zu zerren – zuerst leise und zurückhaltend, zum Ende hin wüst und unnachgiebig, aber nicht ohne Melodie, Takt und Rhythmus.

Heirs to the Wild » Elusive Moods

Ein bisschen Soul, eine Prise Pop, dazu Jazz garniert mit Singer-Songwriter. Fertig ist das launische „Elusive Moods“ von Heirs to the Wild. Die Formation um Sängerin Rabea Hus-

Wer es kuschelig mag, ist bei den Rehats richtig. Smoothen Wohlfühl-Indie-Pop gibt’s da. Für so manchen genau das Richtige in der dunklen Jahreszeit. Auch „Find A Way“ klingt nach Wolldecke, Kaminfeuer und Kräutertee. Johannes Stang singt vom Zusammenhalt eines Paars, die Gitarren säuseln dazu. Ein paar Mitsingelemente gibt’s on top. Das Video von „Luchthansa“ entführt in Überwachungskamera-Optik in den Stadtgarten.

ANHÖREN » Alle Songs zum Nachhören gibt’s auf chilli-freiburg.de » Und in der Spotify-Playlist „Freiburgs Tracks des Jahres“

DIE JURY Name Jobs Hört gerne Ist allergisch auf

Till Neumann chilli-Redakteur und Musiker HipHop, Soul, Urbanes Schlager und schlechte Texte

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Philip Thomas chilli-Redakteur Elektro und Techno Deutsch-Pop und Nazis

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Jennifer Patrias chilli-Volontärin Pop, Party-Schlager Deutschrap und Metal

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Pascal Lienhard chilli-Volontär Punkrock, Singer-Songwriter, Indie Remixe einstmals guter Songs

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MUSIK

Durch den Monsun

NIELS FREVERT

PETER FOX

Singer-Songwriter

HipHop

Held der Eingeweihten

Urbanes Meisterwerk

(pl). Der große Durchbruch ist Niels Frevert verwehrt geblieben. Gut, die Single „Evelin“ seiner Ex-Band Nationalgalerie war ein Achtungserfolg. Doch das war 1993. Seit mehr als 25 Jahren veröffentlicht Frevert seine Alben als Solo-Künstler. Nicht wenige halten ihn für einen der besten deutschen Songwriter. Auf seinem achten Longplayer „Pseudopoesie“ knüpft der Hanseate an den Vorgänger „Putzlicht“ an, musikalisch öffnet er sich mehr denn je dem Pop. Die Texte sind auf gewohnt hohem Niveau. Andere würden sich nach einem Songtitel wie „Träume hören nicht auf bei Tagesanbruch“ die Finger lecken. Und geht es im flirrend-nervösen Opener „Weite Landschaft“ nun um eine marode Beziehung oder um den Klimawandel? Zu den Höhepunkten der Platte zählt neben dem Titeltrack das hypnotisierende „Rachmaninow“, das auf eine nächtliche Autofahrt entführt. Doch das eigentliche Highlight ist „Waschbeckenrand“. Im hymnischen Track spielt der 56-Jährige mit Zeilen wie „Es bleibt nur eine Richtung übrig mit dem Rücken zur Wand“ seine lyrischen Stärken voll aus. Für Fans hat es auch Vorteile, dass der Musiker nie zum Topseller wurde: Sie können ihn weiter in kleineren Locations erleben. Wer Frevert und Band im Mai im Freiburger Waldsee gesehen hat, wird das unterschreiben.

(tln). Peter Fox hat sich mit dem Album „Love Songs“ vielleicht nicht neu erfunden. Eine neue musikalische Richtung hat er aber sicher eingeschlagen: Amapiano- und Afroelemente sind die neue Duftmarke des Berliners. Sie machen seinen Sound leichtfüßiger, tanzbarer und bunter. Mit der Single „Zukunft Pink“ hat der Seeed-Frontmann zudem seine Fähigkeiten als einer der Top-Texter der Republik unter Beweis gestellt. Er schafft es in 3.51 Minuten viele Problemzonen unserer Zeit aufzuzeigen: unbezahlbare Mieten, größenwahnsinnige Investoren (Elon Musk), Diversity, Künstliche Intelligenz – und trotzdem Hoffnung zu verbreiten. Auch Songs wie „Ein Auge blau“, „Tuff Cookie“ oder „Toscana Fanboy“ sind Hymnen. Das funktioniert sowohl als Studioversion (mehr als 100 Millionen Streams) als auch live: Beim Münsterplatz-Konzert hat er das im Juni in Freiburg mit Bravour bewiesen: Er und seine Band boten Überragendes – und holten rund 40 Tänzer·innen auf die Bühne. Ein Community-Spektakel der Extraklasse. Und das von einem Mann über 50. Chapeau. Seeed war einst für viele kaum zu toppen. Fox zeigt aber solo, dass noch mehr geht. Er ist kommerziell erfolgreicher als es die Band jemals war. Wer sich das urbane Meisterwerk „Love Songs“ anhört, weiß, warum das so ist.

PSEUDOPOESIE

LOVE SONGS

Foto: © Klaus Polkowski

3 FRAGEN AN HANNA TEEPE VOM ZMF Das ZMF arbeitet am Programm für nächsten Sommer – und bucht Tokio Hotel. Wie schwer war es, die „Durch den Monsun“-Band zu kriegen? Und muss das Zirkuszelt jetzt vergrößert werden? ZMF-Geschäftsführerin Hanna Teepe gibt Einblicke im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann. Wie kam es zur Idee, Tokio Hotel aufs ZMF zu holen? Die Band, vor allem Bill und Tom Kaulitz, ist ja sehr präsent momentan. Nicht nur mit ihrem Podcast „Kaulitz Hills – Senf aus Hollywood“, auch bei der Fernsehshow „The Voice“ und so weiter. Wir hatten letztes Jahr schon die Idee, sie zum ZMF zu holen. Dann war es aber zu kurzfristig und wir konnten keinen passenden Termin finden. Wir schwer war es, sie zu bekommen? Da wir schon für das letzte Jahr darüber gesprochen haben, war es für dieses Jahr nicht schwer. Die Band war dann schnell wieder Thema bei uns und so haben wir geschaut, dass wir die passenden Rahmen­ bedingungen finden. Müsst ihr für den Andrang ein XXL-Zelt aufbauen? Die Größe des Zeltes ist ja nicht veränderbar und auch der Platz, auf dem es steht. Der Andrang war die ersten Stunden recht hoch, bislang ist circa ein Drittel verkauft. Man sieht also, dass es nicht lange dauern wird, bis das Konzert ausverkauft ist.

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KOLUMNE TAYLOR SWIFT

ZACH BRYAN

Pop

Country

1989 (TAYLOR’S VERSION) [DELUXE]

ZACH BRYAN

... zum Jahresende Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacks­verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Dem Label zum Trotz

Gegen den Trend

(jp). Mehr als 26 Milliarden Streams hat Taylor Swift seit Januar zu verzeichnen – und das aus gutem Grund: Nicht nur aktuelle Songs bringen die Herzen der Swiftis zum Schmelzen, auch die Alben „Speak Now“ und „1989“, die sie nach einem Streit mit ihrem ehemaligen Label neu einspielte, gehen steil durch die Decke. 21 eigeninterpretierte Songs gibt’s auf „1989“ auf die Ohren, inklusive fünf bisher unveröffentlichte Tracks. Die Melodien sind leicht abgewandelt, die Texte teils umgeschrieben und Swifts Gesang technisch kraftvoller und erwachsener. So hat sich der Sound bei „Out of the Woods“ leicht verändert und wurde dezent in den Vordergrund gerückt, während sich „Shake it off“ durch die veränderte Stimme und die etwas langsamere Hintergrundmusik fast wie ein ganz neuer Song anhört. Neu sind unter anderem der KendrickLamar-Remix zu „Bad Blood“, die Elek­ tropop-Ballade „Is it Over Now?“ und der Disco-Groove-Song „Now that we don’t talk“. Und wie könnte es anders sein, erzählt das Lied von einer Trennung und den daraus folgenden Konsequenzen. Dass die Thematik funktioniert, zeigt die aktuell ausverkaufte Tour der Sängerin. 2024 kommt Swift im Rahmen ihrer „The Eras“-Tour auch nach Deutschland. In Gelsenkirchen, Hamburg und München wird sie mit ihren Songs die Hallen zum Beben bringen.

(pt). Kaltes Bier, blaue Jeans und qualmende Trucks. Um allzu beliebte und blümerante Motive von Country-Musik macht das Self-Titled Zach Bryan einen großen Bogen. Und auch sonst zieht der 27-Jährige weite Kreise: Aus kleinen Clubs in Oklahoma in die Stadien des Landes, vom Viral-Hit „Something in The Orange“ zur umfassenden LP. Und die hat es in sich. Denn trotz Verzicht auf Genre-Konventionen entzündet sich beim Hörer rasch ein Lagerfeuer im Kopf. Zwischen melodische Melancholie mischen sich aber immer wieder eingängige Hooks und sogar tanzbare Klänge von Akustikgitarre und Banjo. Darüber reflektiert Bryan nostalgisch und organisch produziert seine Liebschaften sowie Lebensreisen. Ja, stimmlich ist beim Youngster noch Luft nach oben, das Album drei, vier Songs zu lang und ganz ohne Pick-up kommt die Single „I Remember Everything“ dann doch nicht aus. Wenn aber der ambivalente Rückblick zweier Verflossener so intensiv wie eindrücklich eingespielt ist, mögen Hörer auch das verzeihen. Wichtiger ist nämlich die Summe der 16 Bryan-Songs: Nach wüsten Verwurstungen in Rap und Pop hat das in Mitleidenschaft gezogene Patriotismus-Vehikel Country als Genre ein großes Stück Identität zurück.

War was? Ach so, das. Gut. Nein, schlecht. Dieses Jahr. Wie das letzte. Einfach das Letzte. Sie fragen warum? Was soll’s, dann gewähren wir hier exklusiv einen kurzen Einblick in die Akte 2023. Januar: Es fing schon mal gut an: Kaltstart mit Cold cases – zum Frösteln. Februar: Schlimme Finger allerorten. Tatorte sind unter anderem Polonaisen, Kappenabende, Prunksitzungen und Straßenumzüge. März: Fastenzeit, aber nur fast. Stichwort Frühlingsgefühlefühlefühle. April: Alles bestens. April, April! Mai: Urlaubssperre-Maibowle und Bockbier. Juni: Betriebsausflug in den Europapark? Von wegen. „Immer wieder sonntags“ mit Stefan Mross. Juli: „Auslandseinsatz“ auf Malle. Der Ballermann – auch für hartgesottene Beamte immer wieder aufs Neue eine Herausforderung. August: Überüberüberstunden abfeiern, pünktlich Feierabend – schön wär’s! September: Oktoberfest! Noch Fragen? Oktober: Reste vom Oktoberfest inklusive Aufarbeitung – sofern überhaupt irgendwie möglich. November: Es geht los: Sankt Martin, Halleluja, Weihnachtsmarkt, Blockflöten werden in Stellung gebracht – sprich Schwerstarbeit. Dezember: Noch mehr Halleluja, Blockflöten, Macht hoch die Tür, Last Christmas, Dinner for onetwothreefour … Der Anfang vom Ende endet wie er angefangen hat oder das fängt ja wieder gut an. Sie hören von uns, auch in 2024, Ihre GeschPO Freiburg


DAS SIND DIE BÜCHER DES JAHRES VON FREIBURGER PROMIS UND EXPERTEN Für die einen gehören Bücher und Literatur zum Beruf, für andere ist Lesen einfach eine Lieblingsbeschäftigung. Allen ist indessen gemeinsam, dass die Lektüre der Erweiterung des eigenen Horizonts, dem Erproben neuer Sichtweisen dienen kann. Sechs prominente Freiburger·innen geben Auskunft über ihr Buch des Jahres 2023.

Vermeers Hut Das 17. Jahrhundert und der Beginn der globalen Welt von Timothy Brook Verlag: Edition Tiamat, 2009 272 Seiten Paperback Preis: 18 Euro

Panorama einer „Goldenen Zeit“

Crossing America von Jonas Deichmann Verlag: Polyglott, 2023 272 Seiten Hardcover Preis: 22 Euro

Grenzerfahrung und Gelassenheit

Im Frühjahr konnte ich mehrmals die große Jan Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum Amsterdam besuchen. Parallel habe ich endlich Timothy Brooks Buch gelesen, dessen englische Ausgabe schon seit ein paar Jahren bei mir im Regal stand. Ausgehend von Gegenständen in Vermeers Gemälden – dem titelgebenden Hut aus Biberfilz, einem türkischen Teppich, einer chinesischen Keramikschale usw. – entfaltet der begnadete Geschichtserzähler Brook ein Panorama der „Goldenen Zeit“ der Niederlande, in der das Bürgertum die Wohnzimmer mit exotischen Gegenständen schmückte. So öffnen die intimen Bilder Vermeers den Blick in das weltumspannende Handelsnetz, das die Niederlande wesentlich aufbauten, und die vielen spannenden Verflechtungen, die sich daraus ergaben. Peter Kalchthaler

Meine Wahl ist natürlich davon beeinflusst, dass ich Sportler bin. Wer allerdings schon von Jonas Deichmann, dem „deutschen Forrest Gump“, gehört hat, wird mir recht geben, dass auch Sportmuffel von ihm lernen können. Selbst wenn es nur die Feststellung ist, dass ein 120-facher Triathlon um die Welt komplett verrückt ist. Genau da liegt Deichmanns Faszination für mich. Denn es geht nicht nur um den Sport, sondern um das Abenteuer, das er mit sich bringen kann. Und darum, wie man in ausweglosen Situationen, klirrender Kälte, brennender Hitze oder geschlossenen Grenzen die Gelassenheit bewahrt und sagt: „Mir geht es gut, ich bin genau da, wo ich sein will.“ So ist es auch in seinem per Rad und Ultra-Marathons zurückgelegten „Crossing America“. Simon Geschke

Peter Kalchthaler, Stadthistoriker, Museumsdirektor i.R.

Simon Geschke, Radrennfahrer, Teilnehmer Tour de France

72 CHILLI CULTUR.ZEIT DEZEMBER 2023/JANUAR 2024

Foto: © iStock.com/Dejan_Dundjerski

Behütete Geheimnisse und lange Abschiede


LITERATUR Bank-Geheimnis Selbstgespräche eines Fußballprofis von Nils Petersen Verlag: Herder, 2023 176 Seiten Paperback Preis: 18 Euro

All right. Good night. von Helgard Haug Verlag: Rowohlt, 2023 155 Seiten Festeinband Preis: 22 Euro

Must-Have für alle Bobbele

Schmerzhaftes Verschwinden

Betty BBQ, Entertainerin & Botschafterin der Stadt Freiburg

Meike Jäger, Leiterin der Stadtbibliothek Freiburg

Nils Petersen hat dieses Jahr endlich sein Geheimnis gelüftet und wir alle dürfen teilhaben! In seinem Buch Bank-Geheimnis nimmt uns der ehemalige Bundesliga-Joker mit auf eine emotionale Reise durch sein Leben als Profifußballer. Mit viel Charme und einer Prise Selbstironie erzählt er von seinen Anfängen, seiner persönlichen Reifung und seinem Privileg, Vorbild sein zu dürfen. Dabei gewährt er uns seltene Einblicke hinter die Kulissen des Fußball-Business. Natürlich dürfen auch die besten Anekdoten aus seiner Zeit hier bei uns in Freiburg nicht fehlen, wo er als ‚Fußballgott‘ Kultstatus erlangte. Ein absolutes Must-Have für alle Bobbele, nicht nur für Fußballfans, und ein herzerwärmendes Dankeschön an alle, die ihn auf seinem Weg begleitet haben. Dazu gibt's jede Menge Farbfotos aus seiner aktiven Zeit auf dem Platz. Lachen, staunen und mitfiebern ist garantiert! Betty BBQ

Ein Hof und elf Geschwister Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland von Ewald Frie Verlag: C.H. Beck, 2023 191 Seiten Hardcover Preis: 23 Euro

Das Romandebüt „All right. Good night.“ von Helgard Haug, einer der prägendsten Stimmen des deutschsprachigen Theaters, hat mich zutiefst bewegt Das Buch entfaltet eine einfühlsame Erzählung über Demenz, Verlust und das schmerzhafte Verschwinden geliebter Menschen. Die Geschichte beginnt damit, dass ein Flugzeug auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking plötzlich vom Radar verschwindet. Parallel dazu versinkt auch der einst wortgewandte Vater in den Nebeln der Demenz. Die Erzählung wechselt subtil zwischen den beiden Verschwinden, zwischen dem mysteriösen Flugzeugabsturz und dem schmerzhaften Verlust der Persönlichkeit des Vaters. Der Roman erinnert daran, dass wir alle mit Verlust und Abschied konfrontiert werden, aber gleichzeitig ermutigt er dazu, die Schönheit und Bedeutung der gemeinsamen Erinnerungen zu schätzen. Beeindruckend und lange nachwirkend. Meike Jäger

22 Bahnen von Caroline Wahl Verlag: Dumont, 2023 208 Seiten gebunden Preis: 22 Euro

Alltagsbilder des letzten Jahrhunderts

Bedeutungsvolle leere Flaschen

Martin Bruch, Leiter des Literaturhauses Freiburg

Christine Buchheit, Freiburgs Umwelt- und Bildungsbürgemeisterin

Als die Corona-Pandemie ein Forschungsvorhaben durchkreuzt, reist Ewald Frie los. Er sucht seine Geschwister auf, um im Gespräch mit ihnen das gemeinsame Elternhaus abzuschreiten, Räume, Gegenstände, Gefühle zu erinnern. In „Ein Hof und elf Geschwister“ entwirft der 1962 geborene Historiker eine packende, einfühlsame Familiengeschichte, die Auskunft gibt über bäuerliches Leben im Münsterland, über Knochenarbeit, Klassenfragen und Katholizismus. Eine Welt im Wandel. Bei der Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises sieht man Ewald Frie so, wie man sein Buch liest: umringt von seinen Geschwistern, bewegt, beschenkt von dieser Geschichte, die verschwindendes Erfahrungswissen in Alltagsbildern des letzten Jahrhunderts festhält. Martin Bruch

Caroline Wahl nimmt uns mit in einen Sommer einer jungen Frau – mit klaren, schlichten Sätzen, deren Inhalt eine hohe Dichte erzeugen. Die schwierige Welt einer Studentin mit komplexen Familienverhältnissen wird eindrücklich geschildert. Gerade der Kontrast der knappen Sprache und der herausfordernden Lebenssituation überzeugt und hinterlässt einen tiefen Eindruck. Das Buch öffnet Türen in Welten, die zu selten im Mittelpunkt unserer Lektüren und unserer Aufmerksamkeit stehen. Bei jedem Gang zum Altglascontainer muss ich mittlerweile an diese junge Frau denken, deren tägliches Entsorgen von leeren Flaschen für den verzweifelten Versuch steht, in der Welt einer alkoholkranken Angehörigen für Ordnung zu sorgen. Christine Buchheit

73 CHILLI CULTUR.ZEIT DEZEMBER 2023/JANUAR 2024



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