Architektur kann mehr

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Sabine von Fischer

Birkhäuser Basel


ARCHI TEKTUR KANN MEHR von Gemeinschaft fördern bis Klimawandel entschleunigen


EINLEITUNG Eine Liebes­erklärung S. 14 Architektur kann mehr … … als ein Dach über unsere Köpfe setzen. … als schön oder auffällig sein. … als Energie verbrauchen. … als eine lineare Abwicklung von Funktionen im Raum definieren.


ZUSAMMEN LEBEN Verflixte Fragen zu Freiraum und Dichte

S. 26 So geht Verdichtung ohne Einöde: Diese Häuser ­ sind farbiger als die Landschaft S. 31 Keine Angst vor Riesenblöcken! Manche grossen Häuser fressen ihre Bewohner, nicht aber dieses ­Ungetüm aus Holz S. 36 Wohnen wird beweglich, die Wände der Klein­wohnungen im performativen Haus sind es auch S. 41 Ein Lob auf die Enge im Lockdown. «Small is ­beautiful» gilt nun auch fürs Zuhause S. 46 Verdichtung in Zeiten der Distanznahme. Vernetzung, Verfügbarkeit und Vielfalt ­ sind­ gewährleistet S. 51 So leer kann es sein, wenn Städte verdichtet ­ werden. Bestandesaufnahme im umgebauten Industriequartier S. 56 Nomaden laden Neugierige in ihr Haus ein: ­ «Es braucht nicht viel, aber es verträgt einiges.» S. 60 Zur poetischen Kraft der Geschichte: «Wir haben vorgeschlagen, Bestehendes nicht unnötiger­­weise durch Neues zu ersetzen.» Roger Diener im ­Gespräch S. 64 Architektin als Abrissgegnerin: «Nachhaltigkeit bedeutet die Pflege dessen, was schon da ist.» ­Anne Lacaton im Gespräch

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POLITISCHE KONSTE­L­LATIONEN Planen und Bauen im Spannungsfeld der Gesellschaft

S. 78 «Architektur ist immer politisch.» Jacques Herzog erklärt, warum er weiterhin in China bauen will S. 86 «Ohne Wissenschaft können wir nicht über­­leben.» Rem Koolhaas und Jacques Herzog über die ­Landschaft der Zukunft S. 97 Unsichtbare Netzwerke: «Die globale Finanz­ industrie arbeitete rund um die Uhr in leeren Bürogebäuden.» Saskia Sassen im Gespräch S. 101 «Ich kenne kein anderes solches Hochhaus, nicht einmal in Manhattan.» Jacques Herzog ­ im Gespräch S. 107 Erst Hedonist, dann Eroberer, nun Überlebender. Rem Koolhaas überrascht wieder S. 115 Stadtraum ohne Namen? Plädoyer für eine ­Diskussion über Hochhäuser am Bode­­n und ­auf Augenhöhe S. 120 Hoch, höher, ausgereizt: Das Hochhaus v2.0 ­optimiert im Innern und unter der Erde S. 125 Höher, grösser, grüner: Bürohochhäuser jagen nach Superlativen – doch wozu noch?

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DIE SORGE UM UMWELT UND KLIMA Wie bleiben wir handlungsfähig?

S. 138 Einst Baustoff für die Ewigkeit, dann Buh-­ Material des Ökozeitalters: Aber der Beton dankt noch nicht ab S. 144 Plastik ist kaum zu zerstören: nicht mit der Abrissbirne und auch nicht auf dem Meeresgrund S. 149 Ein paar Bäume in 50 Metern Höhe sind kein Wald. Urbanes Grün zwischen Augenwischerei und ­Augenweide S. 154 Ein Haus ist ein Haus und kein Kühlschrank. ­Überlegungen zur Energieeffizienz S. 159 Käsekeller neben Datencloud: Die Digitalisierung verändert auch die materielle Welt S. 163 Spurensuche am Stausee, ein Stollen ragt aus ­ dem Berg, von einer unversehrten Landschaft kann nicht die Rede sein S. 168 «Die Häuser folgen keinem Plan, sondern den Bedürfnissen, die sich auch ändern können.» ­ Francis Kéré im Gespräch S. 172 «Ich verliere hier schon die Kontrolle, im guten Sinn.» Manuel Herz über das Eigenleben seines Prototyps in Senegal S. 176 «… wie wir bei allen Versuchen der Erinnerung doch sehr schnell vergessen.» Manuel Herz über Babi Jar, das wieder Kriegsschauplatz ist

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VERWICKELTE WAHR­ NEHMUNGEN Für eine Ästhetik der Verantwortung

S. 188 Räume mit Kontrasten, die für die taubblinden ­Bewohnerinnen und Bewohner mit dem Tastsinn ­erfahrbar sind S. 192 Ein nacktes Haus schwitzt Mörtel: rohe Materialität und präzise Eleganz S. 196 Städte im Reagenzglas: Riechen, so weit das Auge reicht, und so die Gegenwart mit der Nase einfangen S. 201 Die Sinfonie ergreift die Stadt in leisen Tönen – ­drinnen spielen Herzog & de Meuron in voller ­Lautstärke S. 206 Peter Zumthor: «Die Frage nach der Grösse hat mich nie beeindruckt.» S. 212 Das Bauhaus inszenierte sich selbst. Die Revolution des Alltags produzierte am Ende doch Luxusobjekte S. 218 Alle bewegen sich wie Pippi Langstrumpf, mit dem Dach unter dem Kopf S. 222 Farbe und Klang waren für Le Corbusier Kunst und Wissenschaft zugleich S. 227 Diese Häuser sind moderne Ikonen. In Kinderaugen werden sie grösser, als sie sind S. 232 Das Lachen lässt sich nicht verbieten. Dank Eileen Gray und Le Corbusier wurde das Haus zweimal zum Gesamtkunstwerk

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REFLEXION S. 242

Warum Architekturkritik alle angeht

ANHANG S. 248 Textnachweis S. 250 Bildnachweis / Dank


Einleitung

LIEBES ERKLÄRUNG Eine Einleitung

S. 21 S. 73 S. 133 S. 183

Architektur kann mehr … … als ein Dach über unsere Köpfe setzen. … als schön oder auffällig sein. … als Energie verbrauchen. … als eine lineare Abwicklung von Funktionen im Raum definieren.

Architektur ist an vielem schuld. Manchmal ist sie auch die Lösung. Dieses Lesebuch ist ein Plädoyer für eine Architekturdiskussion im Alltag, in der Tagespres­ se, in der Öffentlichkeit und für mehr Bewegung in der Debatte um die Baukultur. Es greift grundsätzliche Themen auf, die unsere Generation, wie auch die nächs­ te, beschäftigen. Architekturkritik in der Tagespresse ist wesentlich, weil sie alle angeht. Vom Waldweg bis zum Paketverteilzentrum, vom Wohnhaus bis zur Parkanlage, vom Bahnhof bis zur Staumauer ist das Gelingen beim Planen und Bauen von gesellschaftlichem und politischem Interesse. Für eine hohe Baukultur und für zukünftige Entwicklun­ gen von Stadt und Landschaft gibt es verschiedenste Ideen. Nur eine stete, in breiten Kreisen von Politik und Gesellschaft verankerte Diskussion kann tragfähige Lösungen hervorbringen.

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Liebeserklärung

Architektur kann viel, wenn sie ihre Möglich­ keiten ausschöpft. Sie kann auch eine Menge falsch ­machen. Dies zu vermeiden, ist wichtig. Denn wenn­ sie ihre hohen Ziele erreicht, profitieren viele. Ge­ meinsam mit interessierten und hochspezialisierten, sprachlosen und besserwisserischen Menschen, in gemein­samer Verantwortung der Bauträger, Ingenieu­ rinnen, Hauswartungen, Gärtner, Malerinnen, Sozio­ logen, Technikfachleute und Klimawissenschaftler­ innen muss das Wünschenswerte, Machbare, auch­ das Utopische verhandelt werden. Die Chancen und Risiken der Architektur öffentlich zu diskutieren ist wichtig, so eben auch in den Zeitungen. Architektur kann mehr! So der Aufruf dieses Buchs, das die Handlungsmöglichkeiten von Architek­ tinnen und Architekten, gemeinsam mit den vielen Be­ rufen, die an der Gestaltung der Umwelt beteiligt sind, aufzeigen will. Diese Themen waren während der letz­ ten Jahrzehnte fester Bestandteil der Tagespresse, lei­ der in schwindendem Umfang. In diesem Sinn ist die­ ses Buch auch ein Appell, der Sorge um die Baukultur die Dringlichkeit und Wichtigkeit in der öffentlichen Diskussion zuzugestehen, die ihr gebührt. Die Aufsätze und Interviews in diesem Lese­ buch wollen informieren, unterhalten, zum Nachden­ ken anregen, beunruhigen und ermutigen. Sie legen ei­ nen roten Faden entlang der grossen Themen unserer Zeit und widmen sich den Möglichkeiten und der darin enthaltenen Verantwortung des Planens und Bauens. Viele entstanden während meiner Zeit als festan­ gestellte Redaktorin für Architektur und Design bei­ der Neuen Zürcher Zeitung, einige davor oder danach in freier Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen. In der Zeitung mischen sich diese Texte unter Berichte über

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Einleitung

Wirtschaftskrisen, Kriegsschauplätze, Personalmangel, Popstars und Politiker. Es geht um junge Talente, gros­ se Trends, Fragen zum Zeitgeist: Die Relevanz eines Themas misst sich an vielerlei Kriterien. Es wird auch darauf geachtet, dass auf die vielen schlechten Nach­ richten ab und zu eine gute folgt. Ob die Architektur je­ weils zu den g ­ uten oder schlechten Nachrichten zählt, mögen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden. In diesem Buch sind siebenunddreissig Texte aus meinem Fundus von über vierhundert Zeitungs­ artikeln in neuen Nachbarschaften nochmals abge­ druckt. Es ist in vier Kapitel gegliedert: Zusammenle­ ben, politische Konstellationen, Umwelt und Klima und verwickelte Wahrnehmungen – wohl wissend, dass es in der Architektur keine scharfen Grenzen und zwi­ schen den Themenbereichen vielfache Verflechtun­ gen gibt. Die jeweiligen Kapiteleinführungen erläutern die Überlegungen, eine Reflexion am Schluss des Bands S. 242 gibt Einblicke in den Alltag des Schreibens. Die Vielfalt der Artikel aus diesem Fundus der Zeitungsproduktion ist beträchtlich: Es gibt spalten­ lange und mehrseitige, unter Zeitdruck hingeworfene und lang gewälzte Texte. Es sind Berichterstattungen vor Ort, etwa «Geld oder Gedenken» zur Diskussion­­­ um den Wiederaufbau des New Yorker World Trade Center in der NZZ-Ausgabe vom 1. März 2002. Oder Lektü­retipps für die Strandferien, Hommagen, Kom­ mentare zu Jubiläen, ­Jahrestagen, Auszeichnungen, Ausstellungsbesprech­ungen und Wanderberichte. Oder Einordnungen von Ereignissen wie einem Todesfall oder Grossbrand, etwa «Notre-Dame de Paris, ein schwereloser Zauber aus Stein» vom 15. April 2019 – so­ zusagen meine Feuertaufe als feste Redakt­orin. Eine besondere Freude sind immer die auch im Print reich

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Liebeserklärung

bebilderten Doppel­seiten. So jene zum Licht als wich­ tigstem Baustoff in Peter Zumthors laufenden Muse­ umsprojekten in der Wochenendausgabe vom 26. März 2022, die als Weiterführung des am Ende dieses Bands abgedruckten Gesprächs «Die Frage nach der Grösse hat mich nie beeindruckt.» eingeordnet werden darf. Die Tageszeitungen sind immer noch der Ort par excellence der öffentlichen Diskussion. Die dort ausge­ führten Überlegungen werden auf Papier gedruckt und auf Bildschirmen verbreitet in Cafés und in Büro­ gebäuden, in Wohn- und Schlafzimmern genauso wie in den Speisewagen von Intercityzügen gelesen. Doch die mediale Welt ist im Wandel, und mit ihr sind es­ die Lesegewohnheiten. Die Seitenzahl der gedruckten ­Zeitungen nimmt ab und die digitale Welt der Nach­ richten orientiert sich an den Aktienkursen der Ver­ lagsgesellschaften, weshalb insbesondere die Kulturbe­ richterstattung in eine ungewisse Zukunft blickt. Bei aller Ratlosigkeit bietet dieses Lesebuch Platz für einen Dank. Das Schreiben ist mir als Leiden­ schaft geblieben, weswegen ich hier mit dieser Liebes­ erklärung beginne. Mit allen zu sprechen und für alle zu schreiben ist das grösste Geschenk, das mir das Be­ rufsleben machen konnte. Für Zeitungen zu schreiben ­bedeutet, inmitten einer ständig sich verändernden ­Gegenwart in Bewegung zu bleiben. Es ist eine aktive Form der Teilnahme und ein Handeln mittendrin im Geschehen.

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Zusammen leben

Keine Angst vor Riesenblöcken! Manche grossen Häuser fressen ihre Bewohner, nicht aber dieses Ungetüm aus Holz

254 neue Wohnungen in der Lokstadt auf dem Winterthurer Sulzerareal

Die Tristesse der Vororte, anonyme Satellitenstädte, Sozial­ wohnungsbauten der Banlieue: Das international schlechte Image von Wohnhochhäusern hat seine Gründe. Es gibt sie zuhauf, die ge­ sichtslosen Kisten, in die Menschen zu Tausenden abgefüllt wer­ den. Zum Moloch geradezu werden die Grossbauten, zu blutrünsti­ gen Abgöttern, die ihre eigenen Kinder verschlingen. Im dritten Buch Mose der christlichen Bibel ist aber nach­ zulesen: «Und von deinen Nachkommen sollst du keinen hingeben und ihn dem Moloch darbringen.» Und tatsächlich gibt es sie: die Grossbauten, die sich den Menschen zum Massstab nehmen. Ein Beispiel ist der erste Neubau im Winterthurer Industriequartier «Lokstadt», wo dereinst 1500 Menschen wohnen und arbeiten wer­ den. Den gängigen Vorurteilen gegenüber dem Hochhaus als Häu­ sermoloch stellt dieses Riesenhaus einiges entgegen. Sein Name lässt Sinn für Ironie vermuten: Es heisst nämlich «Krokodil».

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Zusammen leben

Lokomotive ohne Rauch 254 Wohnungen schmiegen sich im Krokodil dicht anei­ nander, ganz ohne Furcht vor Grösse oder Dichte. Vier Bauträger sorgen für Durchmischung: Es gibt Eigentumswohnungen, Alters­ wohnungen, günstige Wohnungen mit knappen Flächen und, im grössten Abschnitt an der nördlichen Seite des Innenhofs, genos­ senschaftliches Wohnen über einer grosszügigen Eingangshalle, dazu noch mit Aussicht sowohl nach draussen über die Dächer der erhaltenen Industriehallen als auch in die zwei grossen Atrien, die den Gemeinsinn räumlich stärken. Als Teil des Nachhaltigkeitskonzepts für das 2000-WattAreal in der Lokstadt gibt es neben Photovoltaikanlagen auch Fern­ wärmeleitungen. Die stärkste Karte im Poker um Ressourcen für spätere Generationen aber ist der kompakte Baukörper mit seinem kleinen Flächenverbrauch. Bei aller Grösse herrscht hier Zuver­ sicht, dass die Nähe den Nachbarschaften nicht schadet. Die Wohn­ lichkeit gewinnt vielmehr, denn wer sich durch einen der Eingänge in den Schlund des Riesenviechs begibt, findet vor allem Licht und einladende Gesten in freundlichen Farben. Einzig der Zackenhim­ mel in der Lobby der Genossenschaft Gesewo erinnert an Kroko­ dilzähne aus einem Kinderbuch. Im Innern gibt es einiges zu entdecken: einerseits in der Höhe, denn gegenüber dem Dialogplatz ist das Krokodil sogar acht Geschosse hoch, andererseits und vor allem in der Weite, weil sich seine Form an die früheren Hallenbauten der Industrie anlehnt. Aussen ist das Riesenhaus ein grosses Ungetüm mit einer rauen Haut, es hat sogar Schuppen: unten in Faserzement und oben in Blech. Es ist eine Fassade zum Anfassen, die sich auch nicht scheut, das Rohe der industriellen Vergangenheit des Areals aufzu­ nehmen. Von 1850 bis 2010 wurden auf dem Sulzerareal Lokomoti­ ven hergestellt, eben auch jene legendäre Elektrolok mit dem tieri­ schen Namen. Über die Eisenbahner-Vergangenheit hinaus hat sich das Motiv auch als Vision für die Zukunft bewährt, denn in einem Krokodil zu wohnen, klingt mutig und pionierhaft. Diesen Herbst, kurz vor der zweiten Welle der Pandemie, sind die Bewohnerinnen und Bewohner hier eingezogen. Auch fürs Home-Office bewährt sich das Haus, wie der Rundgang durch die lichtdurchfluteten Treppenhäuser mit Ein­ sicht in die Wohnungen zeigt: Die Architektur minimiert mittels Flächeneffizienz nicht nur die Umweltbelastung durch das Bauen, sondern auch die Einsamkeit im Wohnzimmer-Büro.

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Keine Angst vor Riesenblöcken

Atmosphäre als Kapital Das Umwidmen von Industriearealen beschäftigt die Schweizer Planer und Architekten seit Jahrzehnten, und sie haben gelernt: Wer alle Spuren verwischt, verschenkt auch die Atmo­ sphäre, die neben dem Bauland das grösste Kapital dieser Orte stellt. Die Vergangenheit aber zu würdigen und doch Neues, näm­ lich Wohnen und nichtindustrielles Arbeiten, zu ermöglichen, ist anspruchsvoll. Hier geht es nicht um Heldentum, sondern um das Austarieren des Möglichen. So heisst der grosse, öffentliche Platz im Osten sinnigerweise auch «Dialogplatz». Angelegt wurde der zentrale Platz im Rahmen einer Abma­ chung der Stadt Winterthur mit der neuen Eigentümerin, die das Gelände 2010 von den Sulzer Immobilien übernommen hatte. In mehreren Etappen erneuert sie nun als Projektentwicklerin die verschiedenen Grundstücke. Derzeit widmet sie mit Neu- und Um­ bauten einen zentralen Abschnitt des ehemaligen Industriequar­ tiers in das neue Wohn- und Arbeitsquartier Lokstadt um. Es war kein Kuhhandel zwischen der Stadt und den Immobilienentwick­ lern, sondern ein hierzulande in dieser Art wenig bekanntes, gera­ dezu krokodilisches Abkommen: Der städtebauliche Vertrag zwi­ schen der Stadt Winterthur und Implenia schrieb fest, dass die Bau- und Immobilienfirma auf dem neuen Lokstadt-Areal eine Mehrausnutzung realisieren dürfe, wenn sie zusätzlich zum Bau und Verkauf der renditeorientierten Liegenschaften auch etwas für den Stadtraum tue. Unter den verschiedenen Beiträgen an die Öffentlichkeit schrieb die Stadt unter anderem extrahohe Erdge­ schosse mit Geschossdecken auf einem Mindestmass von vier Me­ tern vor, in denen auch öffentliche Läden, Gewerbe- und Hand­ werksbetriebe zum dynamischen Stadtgefüge beitragen können, und vor allem die Strassen und Plätze, die – als Gegengeschenke für die Mehrausnutzung – fertig gebaut in Etappen ab Mitte 2021 an die Stadt Winterthur übergehen. Dank dem Dialogplatz und den weiteren grossen Plätzen im ehemaligen Industriegebiet, dem Innenhof des grossen Hallen­ baus und vor allem dank den durchdachten Grundrissen stellen sich hier Wohnqualitäten ein, die den Vorurteilen gegenüber Wohnhochhäusern als Massenwohnungssilos vieles entgegenset­ zen. Auch wenn in der Lokstadt weitere, höhere Hochhäuser zu Nachbarn des Krokodils werden, bleiben die Wohnungen dank ih­ rer durchdachten Ausrichtung zu den weiten Hof- und Platzräu­ men unbeengt und lichtdurchflutet.

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Zusammen leben

Die Holzpfosten wohnen mit Den Kritikern der dichten Bebauung darf man schon recht geben: Mitten in der Stadt auf ehemaligem Industrieland in einem nachhaltigen Haus zu wohnen, reicht noch nicht fürs Aus­ serordentliche. Aber eine bautechnische Entscheidung zugunsten der Nachhaltigkeitsziele macht das Krokodil zum Vorzeigeprojekt. Dass die tragende Struktur des Hauses ganz aus Holz ist, bringt ihm nicht nur Ingenieurstolz, sondern auch einen ganz besonde­ ren Charme mit viel Wohnlichkeit. Das Holz ist überall, ausser an den Fassaden, wo man es von weit her sehen würde. Mitten im Wohnraum aber oder in der Ecke eines Zimmers stehen die Riesenpfosten, fast wie weitere Mitbewohner, und prägen die Innenräume genauso wie die Türen und Fenster. Sie setzen Akzente und fassen den Raum in jeder Wohnung auf andere Art, denn kaum ein Grundriss wiederholt sich in diesem Riesenhaus. «Es gab wahnsinnig viel zu tun, aber es war eine tolle Arbeit», berichten die Architekten. Baumberger & Stegmeier aus Zürich und KilgaPopp Architekten aus Winterthur, die das grosse Projekt gemeinsam bearbeiteten, behielten jede der über 2000 Stützen im Augenwinkel. So steht nun jede von ihnen in der fertigen Wohnung auch genau da, wo sie zur Gliederung der verschiedenen Wohnzonen beiträgt. Anfangs war es die Erinnerung an die ehemaligen Fabrik­ hallen, die dieses Regelwerk aus hölzernen Stützen inspirierte. Doch im Lauf der Arbeit wurden den Pfosten viele weitere Quali­ täten eingeschrieben. So bindet die regelmässige Tragstruktur die über zweihundert unterschiedlichen Wohnungen in einer einzi­ gen Figur zusammen, was wiederum dem städtebaulichen Ganzen zugutekommt. In ihrer Beschäftigung mit den Baumaterialien haben sich die Architekten auch von Gottfried Sempers Stoffwechseltheorie inspirieren lassen und sogar den schliesslich in Beton gefertigten Balkonstützen eine hölzerne Anmutung verliehen. Mit eingehen­ den Überlegungen wurden die Materialien ihrer Aufgabe und Funktion entsprechend ausgewählt und im Ausdruck so geformt, dass nicht nur die technischen Bedingungen, sondern auch die Ge­ schichte des Bauens überhaupt in Erinnerung gerufen wird. So bleibt der Entwurf stringent und spielerisch zugleich, fest im Bo­ den verankert und trotzdem auf wundersame Weise fast schwe­ bend.

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Keine Angst vor Riesenblöcken

CO2 verschlingen Auch die Ingenieure zerbrachen sich den Kopf und mach­ ten gleich eine Erfindung: Das Krokodil ist zwar nicht ihr aller­ grösstes Wohnhaus in Holz, aber schweizweit das erste, für das der Bauprozess umgekehrt wurde. Früher wurden erst die Treppen­ häuser in Beton gegossen. Zwischen diesen schweren Kernen pass­ te dann der Zimmermann die Holzteile einzeln und millimeter­ genau ein. Anders nun beim Krokodil: Die Holzstruktur wurde vorfabriziert und aufgebaut, danach wurden die Betontreppen­ häuser in die vom Holzbau vorgegebene Form eingegossen. «Das ist doch logisch, wieso sind wir nicht schon früher draufgekommen?», fragt sich Andreas Burgherr von «timbatec» im Nachhinein. Stolz ist er auch auf die Umweltbilanz: Im hier verbauten Holz sind 6418 Tonnen CO2 gebunden, die Ingenieure nennen das Haus auch ei­ nen «bewohnbaren CO2-Speicher». Wenn also dieses grosse Haus in einer Hinsicht als Moloch gelten könnte, wäre dies nicht im Sinne eines Königs, der seine Kin­ der verschlingt, sondern bezüglich der Holzkonstruktion, die ohne zusätzliche Aufwände oder grosse Maschinen der Atmosphäre schädliches Kohlendioxid entzieht. Die Schweizer Holzbauindustrie ist zum internationalen Vorreiter der Branche geworden: Bis weit über die Höhe des acht­ geschossigen Krokodil-Gevierts, nämlich bis zur schwindligen 100-Meter-Grenze, gibt es hierzulande allgemein verbindliche Brandschutzvorschriften für Holzbauten. Im Ausland dagegen gilt jedes mit Holz gebaute Haus mit mehr als vier Geschossen a priori noch als Ausnahme. Kein Wunder also, verzeichnet die Schweiz ei­ nige international beachtete grossvolumige Bauten in Holz, das Krokodil ist eines von ihnen. Einst machten Schweizer Lokomotiven die hiesige Indus­ trie berühmt, nun sind es Holztragwerke und Wohnungsgrundris­ se. Die hiesigen Ingenieure und Architektinnen haben also auch die Antwort auf die Frage, ob es für eine beschauliche Wohnlich­ keit vier eigene Aussenwände und eine Decke, an die keine Nach­ barwohnungen grenzen, braucht. Wer sich in den Schlund des Krokodils wagt, begreift: Grösse und Wohnlichkeit sind keine Ge­ gensätze.

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Saskia Sassen: Unsichtbare Netzwerke

Unsichtbare Netzwerke: ­ «Die globale Finanzindustrie arbeitete rund um die ­Uhr ­ in leeren Bürogebäuden.» ­Saskia Sassen im Gespräch

Ökonomie und Soziologie in Engführung: Saskia Sassen macht globale ­Verflechtungen in Zahlen und Fakten greifbar.

Frau Sassen, wenn ich an New York denke, sehe ich eine pulsierende Metropole mit hektischer Aktivität vor mir. Sie haben die Stadt in den 1980er-Jahren aber ganz anders erlebt und mit dem frischen Blick einer Neuangekommenen gesehen, was allen Experten entgangen war. Ihr Buch The Global City hat eine anhaltende Diskussion ausgelöst. Erschien die Stadt denn damals wirklich wie ausgestorben? Es ist unglaublich, was für ein langes Nachleben dieses Buch hat! Ja, es gab einen enormen Leerstand, vor al­ lem in den Bürogebäuden. Keine grosse Firma, die es sich leisten konnte, war in den Städten geblieben, alle bauten sie ihre Firmensitze in den Vorstädten und ausserhalb. New York war offiziell bankrott. Es wirkte verlassen: Dass eine Stadt nicht mehr wächst, sondern schrumpft, war eine Zäsur und zeichnete sich in dieser Zeit klar ab.

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Politische Konstellationen

Sie waren damals erst vor kurzem in New York angekommen. Was bemerkten Sie? Ich war sehr jung, ich hatte einen frischen Blick. Die Fachleute und Expertinnen, die schon lange dort wa­ ren, sahen es nicht. Aber ich bemerkte, dass eine neue Gruppe von Akteuren sich in diesen leeren Gebäuden in­ stallierte, nur blieben sie an den Häuserfassaden unsicht­ bar. Und wie entdeckten Sie diese unsichtbaren Aktivitäten? Weil ich mich mit Migrationsforschung beschäf­ tigte, verbrachte ich eine ganze Nacht mit einer Putzequipe in einem dieser riesigen Bürogebäudeklumpen, in denen normalerweise Versicherungen und Handelsfirmen sind. Aber die hatten die Stadt längst verlassen. Mich hatten erst die Putzleute interessiert, die dort in einer Parallel­ welt lebten. Mitten in der Nacht sagten sie: «Let’s have lunch.» Ich ass mein Sandwich gemeinsam mit ihnen. Wir sprachen Spanisch. «Für wen putzt ihr eigentlich dieses Gebäude, es steht doch leer?», fragte ich. So fand ich neben meiner eigentlichen Forschung auch etwas ganz anderes: Mitten in diesem verlassenen Gebäude gab es unglaublich schicke, luxuriös eingerichtete kleine Firmen. Weil ge­ putzt wurde, standen die Türen offen. Sie sahen die Büros, aber nicht die Leute, die dort arbeiteten? Ja, die Computer liefen allerdings oft 24 Stunden lang. Die globale Finanzindustrie operierte komplett un­ sichtbar, aber rund um die Uhr in leeren Bürogebäuden. Und die Putzleute wussten, wer dort arbeitete: über 70 Na­ tionalitäten. Ich hatte so Zugang zu vielen Informationen, die die Analysten und Experten mit ihren gewohnten Me­ thoden nicht fanden. New York war offiziell bankrott, aber was ich sah, war etwas ganz anderes: Hier wurde viel, sehr viel Geld umgesetzt. Diese Firmen arbeiteten aber mit Computer und Internet. Wofür brauchten sie also die Stadt? Das war es genau, was ich mich fragte: Warum sind diese Leute hier? Sie könnten irgendwo sein, mit der Digitalisierung sowieso, so denkt man. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es gab hier offensichtlich einen Typ von Firma, der diese Lokalität, die physische Anwesenheit der Stadt, braucht und dabei international operiert.

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Saskia Sassen: Unsichtbare Netzwerke

Darin sahen Sie also den Beginn einer Globalisierung? Das Wort wurde damals ja noch kaum verwendet. Der Unterschied zu einer internationalen Firma im alten Stil war, dass diese in einem Kerngebiet arbeitete und nur zwei oder drei Verbindungen zum Ausland pfleg­ te. Diese neuen Firmen waren extrem spezialisiert, und sie brauchten Dutzende, wenn nicht Hunderte von Informa­ tionsquellen, in der ganzen Welt. Sie hatten höchst ver­ netzte Systeme. Sie waren klein und installierten sich in Paris, London, New York. Ihre Forschung hat sich später auch mit den Auswirkungen dieser Firmen auf den Wohnungsmarkt beschäftigt. Es gab in diesen Städten plötzlich eine Menge Leu­ te, die unglaublich viel Geld hatten. Die extrem Reichen, das obere eine Prozent, die hatte es schon immer gegeben. Aber nun gab es plötzlich diese oberen dreissig Prozent, die sich Luxuswohnungen in den Innenstädten kauften. Und mit diesen neuen Bewohnern kam eine ganze Industrie von Luxus: Bars, Restaurants, Modegeschäfte, Fitnessklubs. Ein normalverdienender Anwalt oder Versicherungsbeam­ ter konnte sich hier gar keine Wohnung mehr leisten. Sie nannten diese neuen Akteure auch schon «raptors» und «looters», deutsch etwa «Raubtiere» und «Plünderer». Ich habe einige Investoren der neuen Finanzmärk­ te sicher sehr hart kritisiert. Aber ich will damit nicht sagen, dass sie stehlen oder plündern. Im Gegenteil sogar, sie be­ dienen sich ausgeklügelter Instrumente von bewunderns­ werter Komplexität, wie hochkomplexer Algorithmen. Dann nehmen sie also niemandem etwas weg. Das Problem ist der Machtmissbrauch einiger ­Firmen. Diese Instrumente werden auch für fragwürdige Zwecke eingesetzt. Die Investorengesellschaft Blackstone, die wir genau untersucht haben, ist darin ein besonderer Fall: Sie kaufte weltweit im grossen Stil Wohnsiedlungen mit tiefem Standard auf und wertete sie auf. Danach konn­ ten die bisherigen Mieter nicht mehr dorthin zurückkeh­ ren, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Werden Sie bei Ihrem kommenden Besuch in Zürich auch über die Wohnungsfrage sprechen? Ja, aber ich spreche ja nicht über das Wohnen an sich, sondern über den immer schwierigeren Zugang,

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Politische Konstellationen

­sogar Verlust von Wohnraum für Leute mit kleinen Ein­ kommen. Diese Menschen sind Firmen wie Blackstone komplett ausgeliefert. Das bringt auch einen weiteren As­ pekt mit sich, den ich in den letzten Jahren vertieft habe, nämlich die Gesetze. Viele zentrale Entscheidungsträger haben grosse Schwierigkeiten, überhaupt zu verstehen, welcher Logik diese Finanzsysteme folgen. Was ist denn daran so schwierig zu verstehen? Dieses neue System ist völlig anders als traditionel­ le Bankengeschäfte, mit denen die politische Klasse ja gut vertraut ist. Es kennt viele Wege, die Gesetze zu umgehen, wir haben lange Listen solcher Fälle. Danke für Ihre Zeit. Ich kenne niemanden, der so viel unterwegs ist wie Sie. Es hält mich jung! Und ich sitze nicht herum, ich bin ständig in Bewegung.

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Verwickelte Wahr­nehmungen

Räume mit Kontrasten, die ­ für die taubblinden Bewohner­ innen und Bewohner mit ­ dem Tastsinn erfahrbar sind

Orientierung für alle Sinne: Kompetenzzentrum für angeborene Taubblindheit in Langnau a. A.

Schon bei der Ankunft ist der Tastsinn Thema. An der ins­ titutionseigenen Bushaltestelle der «Tanne» sind farbige Kacheln mit den Abdrücken von Kinder- und Erwachsenenhänden ange­ bracht, als Erinnerung an den Tag, als mit einem Spatenstich die Baustelle für den neuen Wohn- und Schulbau eingeweiht wurde. Im Glanz der Glasur spiegelt sich der Freiraum zwischen den Bau­ ten, der eine Art Dorfplatz innerhalb der Anlage des Schweizer Kompetenzzentrums für angeborene Taubblindheit bildet. Es ist auch ein Treffpunkt in Langnau am Albis, gut zehn Kilometer aus­ serhalb der Stadt Zürich nahe dem Sihlwald. Der Platz ist öffentlich zugänglich und gleichzeitig ein Ort der Geborgenheit für die Men­ schen, die hier zur Schule oder in die Kita gehen, wohnen und ­arbeiten und sich dabei auch mit Mehrfachbehinderung zurecht­ finden.

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Räume mit Kontrasten

Orientierung geschieht über viele Sinne: Hören, Sehen, Rie­ chen und Tasten ergänzen sich. Dieses Zusammenspiel ist hier be­ sonders wichtig, denn die Schüler und Bewohner der Tanne sind mit mehrfachen Sinneseinschränkungen zur Welt gekommen. All­ tägliche, von vielen meist gedankenlos ausgeführte Handlungen verlangen ihnen eine erhöhte Anstrengung, Konzentration und auch mehr Zeit ab. So machten sich die jungen Basler Architekten Maya Scheibler und Sylvain Villard für dieses Projekt viele Gedan­ ken, wie ihr Entwurf die Raumwahrnehmung unterstützen könn­ te. Das Ensemble aus Schul- und Wohngebäude, das die Anlage seit dem letzten Jahr ergänzt, ist ein Lehrstück für das Bauen für be­ sondere Bedürfnisse geworden. Und darüber hinaus auch für eine sensible und ganzheitliche Raumgestaltung, in der jede Oberfläche, jede Farbe, jede Kontur und jeder Lichteinfall eine Rolle spielen. Wie ein Dorf im Dorf Für die beiden Architekten war der Auftrag der Stiftung Tanne der erste grosse Neubau, den sie mit ihrem wenige Jahre nach Studienabschluss gegründeten Architekturbüro Scheibler & Villard ausführten. Das unterdessen 30-jährige Ensemble aus ei­ nem Rund- und einem Langbau der Architekten Max Baumann und Georges J. Frey wurde so an die Bedürfnisse der Zeit angepasst und mit den zwei kleineren Neubauten der Basler Newcomer er­ weitert. Das Schulgebäude mit einem öffentlich zugänglichen Café im Erdgeschoss und das Wohngebäude entlang der Hauptstrasse nehmen die Materialien und Gebäudegrössen der dörflichen Um­ gebung auf, mit der Absicht, dass die Gebäudegruppe der Stiftung Tanne Teil von Langnau am Albis wird. Auch wenn die Klienten der Tanne auf Sorgfalt und Schutz vor der Hektik und den Wirren des Alltags angewiesen sind, steht der Austausch mit anderen Menschen, mit der Umgebung und so eben auch mit der Architektur im Vordergrund. Die Stiftung Tanne entwickelt seit über fünfzig Jahren eine Tast- und Gebärdenspra­ che für Menschen mit mehrfacher Einschränkung der Sinnes­ wahrnehmungen. Diese geschieht auch über Hände und Körper. Nicht nur die Bauten, auch das Programm der Tanne wurde mit der letztjährigen Erweiterung ausgebaut, unter anderem mit einer in­ klusiven Kita, in der Kinder mit und ohne sonderpädagogische Be­ dürfnisse von- und miteinander lernen. Im Laden an der Alten Dorfstrasse stehen Produkte aus den betriebsinternen Ateliers zum Verkauf.

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Verwickelte Wahr­nehmungen

Welche Sprache muss also die Architektur sprechen, wenn ihre Nutzer und Bewohner weniger hören und sehen als diejenigen, deren Wahrnehmung als durchschnittlich oder normal betrachtet wird? Scheibler & Villard vertieften sich aus eigener Initiative in einen langen Prozess, in dem die Raumwahrnehmung hinterfragt und nach Mitteln gesucht wurde, diese auch zu aktivieren. So präsentierten sie 2015 im Studienauftrag erst gar keine ausgefeilten Formen, sondern einen möglichen Tagesablauf in den geplanten Räumen. Damit signalisierten sie ihre Bereitschaft, sich in die besonderen Bedingungen der Lebensumstände der TanneKlienten hineinzudenken. Diese Herangehensweise, die auf Farb­ kontraste, Materialstrukturen und die Lichtkontraste fokussierte, stiess allerdings an Grenzen, wenn sich die Architekten durch me­ terhohe Stapel von Normen und Richtlinien für die verschiedenen Anforderungen durcharbeiteten und sich die Vorgaben bezüglich der hochspezifischen Situation in der Institution Tanne wider­ sprachen. Wahrnehmungen aktivieren Als 1990 die ersten Wohn-, Therapie- und Arbeitsgebäude der Stiftung Tanne gebaut wurden, galten Röteln während der Schwangerschaft als die häufigste Ursache von Taubblindheit. Die Wohneinheiten wurden zum Teil als Maisonnettes ausgebildet, in denen die Klienten sich also über Treppen auf und ab bewegten. Dank Impfungen sind Röteln kaum mehr eine Gefahr, die Bedürf­ nisse haben sich verändert, und die dreissigjährigen Bauten ent­ sprachen nicht mehr den Anforderungen. Viele der hier wohnhaften Menschen sind nämlich nicht nur mit beeinträchtigtem Seh- und Hörsinn geboren, sondern auch mit eingeschränkter Mobilität. Neu sind alle Räume mit Liftzufahr­ ten erschlossen und wurden nach Möglichkeit so erweitert, dass sie mit Rollstühlen und Betten befahrbar sind. Auch wenn für viele Klienten der Tanne das Gehen auf den eigenen Füssen herausfordernd oder unmöglich ist, ist die Bewe­ gung durch die Räume und auch aus dem Wohnhaus in das Schulund ins Therapiehaus ein zentraler Teil des Tagesablaufs. Dabei ­helfen alle Sinne, den Weg zu finden: Im Wohnhaus sind die Innen­ räume in verschiedenen Rottönen, im Schulhaus in Nuancen von Grün gehalten. Die Fenster sind so in Wände und Decke gesetzt, dass starke Lichtkontraste die Orientierung unterstützen. Das Holz der Tragstruktur und Auskleidungen in der äusseren Gebäude­

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Räume mit Kontrasten

schicht lassen diese Räume dumpfer klingen als der rohe Beton der Treppenhäuser. Diese Trennung in einen massiven, vor Ort gegossenen Kern und leichte, vorgefertigte Holzelemente für die äussere Raum­ schicht führte zu einer aufwendigen Konstruktion. Doch wegge­ spart werden konnte sie nicht, denn sie leistet viel: Die Holzbalken unter den Füssen klingen anders als der gegossene Betonboden, sie schwingen anders, sie riechen sogar anders. Der Nase nach Eine solche spezifische Artikulation der Räume hat in je­ dem Haus eine Bedeutung, in den Räumen der Stiftung Tanne ist sie Teil des pädagogischen und therapeutischen Konzepts. Sehen, ­Hören, Tasten, auch Riechen helfen den Menschen, sich in diesen Häusern zu verorten: Besonders auffällig ist der Geruch neben dem Eingang des neuen Wohnbaus, wo es in der Lingerie zuweilen stark nach Waschmittel riecht. Wer hier ankommt, weiss: Jetzt bin ich im Wohngebäude. Als Gesamtheit der Sinneseindrücke soll sich so je­ der Raum in die Erinnerung einprägen. Haptik, Optik, Akustik, sogar Olfaktorik gehören zum ar­ chitektonischen Entwurf – wie immer, aber hier ganz besonders: Ob der Beton fein oder grob ist, ob die Hölzer vertikal oder horizon­ tal verlegt sind, alles folgt einem mit viel Einfühlung erarbeiteten Plan, der den Klienten vom Säuglingsalter bis ins späte Senioren­ alter ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Hier Rauten, dort Streifen: In die Betonwände sind Reliefs eingegossen, auf jedem Stockwerk ein anderes. Diese Konturen dienen in erster Linie dem Tasten, aber auch den anderen Sinnen. Die umgebauten und die neuen Gebäude sind seit über ei­ nem Jahr in Betrieb, doch der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Zwischen den Geschossen sollen die Bewohner, die nicht auf den Lift angewiesen sind, sich auch am Handlauf entlang dem betonier­ ten Treppengeländer haptisch orientieren können. Der Hartgummi ist bereits montiert, die Strukturen der tastbaren Einkerbungen sind noch in Entwicklung. Der aufwendige Prozess, für jeden Raum und jedes Bauteil eine sinnstiftende Materialität und Ausdrucks­ form zu finden, läuft immer weiter und hat der Tanne eine muster­ gültige Architektur beschert. Darüber hinaus aber ist er ein Lehr­ stück, wie viele Sinne jeder einzelne Teil eines Hauses ansprechen kann, und dafür, dass auch das Bauen für jede andere Situation sol­ che Überlegungen zur Raumwahrnehmung verdient.

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