Almanach der Bachwoche Ansbach 2019 (Ausschnitte)

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Das Magazin der Bachwoche Ansbach

A L M A NACH

2019

MEISTERWERKE BR ANDENBURGISCHE KO N Z E R T E U N D J O H A N N E S PA S S I O N

70 J A H R E FREUNDE DER BACHWOCHE

DREI BACH -PIONIERE LUDWIG HOEL SCHER C ARL SEEMANN FERDINAND LEITNER

D A S V O L L S TÄ N D I G E PROGR AMM


INHALT 6 Der ideelle Kern der

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Bachwoche – ein Kreis von Enthusiasten Die »Vereinigung der Freunde der Bachwoche Ansbach e.V.« wird 70 Jahre alt

»Avec plusieurs Instruments« Das Programm der Bachwoche 2019

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Ein Leben für das Cello Ludwig Hoelscher, Mitbegründer der Bachwoche Ansbach

Andreas Bomba

Andreas Bomba

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Von A bis Z

108 Neunundzwanzig Altäre und fünfhundert Grabstätten

Die Künstler der Bachwoche 2019

94 »Ich geh und suche

Das Münster Heilsbronn, die „Christliche Schlafkammer Frankens“

mit Verlangen« Wie Christine Blanken den fränkischen Bach-Kantatendichter Christoph Birkmann entdeckte

Lara Hausleitner

Ein Gespräch mit der Bach-Forscherin

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Kühnes Experiment – solides Handwerk – musikalischer Reichtum

114 Bach war immer sehr experimentierfreudig

44 Voltaires Feder, eine Oper der Markgräin Wilhelmine und die Gumbertusbibel

Johann Sebastian Bachs »Brandenburgische Konzerte« Peter Wollny

Leben lang Ferdinand Leitner, der erste Dirigent der Bachwoche

Ute Kissling

Andreas Bomba

120 Organe der Bachwoche Ansbach

Bach ist schon gerechtfertigt

Ein Gespräch mit dem Dirigenten Jörg Halubek

Ein Gespräch mit Meinrad Walter

102 Man lernt ein

Vor 300 Jahren wurde die Ansbacher Schlossbibliothek gegründet.

20 Das Denkmal für Moderne Ensemblekultur und historisch informierte Aufführungspraxis

Gibt es überhaupt d i e Johannespassion?

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123 Weihrauch war nicht um ihn Carl Seemann, Pianist der ersten Stunde bei der Bachwoche

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Förderer, Sponsoren und Medienpartner Impressum

Andreas Bomba

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Andreas Bomba

DER IDEELLE KERN DER BAC)WOC)E – EIN KREIS VON ENTHUSIASTEN DIE »VEREINIGUNG DER FREUNDE DER BACHWOCHE ANSBACH E.V.« WIRD 70 JAHRE ALT

War es eine feierliche Zeremonie am 1. Februar 1949? Wurde gar eine gute Flasche geöffnet im Amtsgericht Heidelberg? Ins Vereinsregister eintragen ließ sich hier eine

Bachwöchner der ersten Stunde: der Heidelberger Jurist Prof. Karl Geiler, Ehrenvorsitzender des Vereins der Freunde (Foto um 1952)

Institution, die das Ziel verfolgte (§ 1 der Satzung), „die Veranstaltung wiederkehrender Bachwochen in Ansbach mit Rat und Tat zu fördern, um dadurch diese wichtige kulturelle Einrichtung auf die Dauer sicher zu stellen.“ Ratsam schien auch, die neue Vereinigung „der Förderung der Bach’schen Musik im allgemeinen dienen und notleidende Künstler, die der Musik von Bach nahestehen, unterstützen und sie durch Abhaltung von Meisterkursen in ihrem Fortkommen fördern“ zu lassen. Juristendeutsch, schon damals.

„Bach für alle“? Eingeladen, aber nicht Mitglied im Verein: der populäre spätere Wirtschaftsminister Ludwig Erhard bei der Bachwoche Pommersfelden

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Bei Bach – das musste man 1949 nicht besonders betonen – handelte es sich um den Komponisten Johann Sebastian Bach; der neue Verein führte gemäß § 2 der Satzung den Namen »Vereinigung der Freunde der Bachwoche Ansbach e.V.«. Den Verein gibt es noch immer; er hat sich in den nun siebzig Jahren seiner Existenz vom bloßen Unterstützer-Forum entwickelt zum Gesellschafter der 1993 errichteten Bachwoche Ansbach GmbH. Die „Freunde“ verstehen sich als ideeller Kern der Bachwoche, die Beiträge und Spenden der aktuell rund 400 Mitglieder sichern ihre Existenz.


Peter Wollny

KÜ)NES EXPERIMENT – SOLIDES )ANDWERK – MUSIKALISCHER REICHTUM JOHANN SEBASTIAN BACHS »BRANDENBURGISCHE KONZERTE«

Titelblatt der »Six Concerts avec plusieurs Instruments«

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Der Zyklus der sechs »Brandenburgischen Konzerte« gehört heute zu den bekanntesten Werken Johann Sebastian Bachs. Das war nicht immer so; auch der Titel der handschriftlich

überlieferten

Werke

stammt erst aus dem 19. Jahrhundert. Wie so oft bei Bach und seiner herrlichen Musik ist man also auch hier einigen Rätseln auf der Spur. In einem Originalbeitrag für diesen Almanach umreißt der Direktor des Leipziger Bach-Archivs den aktuellen Stand der Forschung. Hierhin begleiten Bach und die Köthener Hofkapelle ihren Fürsten Leopold mindestens zweimal, 1718 und 1721: das mondäne Karlsbad in Böhmen Am 20. April 1849 berichtete der damalige Kustos der Musiksammlung der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Siegfried Wilhelm Dehn, über einen bemerkenswerten Fund: „Bei der Anfertigung Möglicherweise waren Bach und Christian Ludwig einander im Mai meines Kataloges sämtlicher in Berlin von Johann Sebastian Bach 1718 in Karlsbad begegnet, wo viele der gekrönten Häupter Deutschvorhandenen Werke bin ich auch auf manche bisher ganz unbekannlands – begleitet von ihren Hofmusikern – damals während der Somte (selbst seinen Söhnen Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemermonate zusammentrafen und wo sich regelmäßig so etwas wie mann, wie auch dem exacten Forkel unbekannt gebliebene) Werke eine Festspielatmosphäre einstellte. Bach hätte in diesem Fall allervon höchster Bedeutung gestoßen, darunter auf 6 Concerti grossi, dings volle drei Jahre verstreichen lassen, bevor er dem Wunsch des die dem Markgrafen Christian Ludwig von BranMarkgrafen nachkam. Eine andere – und insgedenburg zugeeignet sind.“ Für die hier nach über samt vielleicht näherliegende – Gelegenheit für hundertjährigem Dornröschenschlaf wieder zueine Begegnung war Bachs Reise nach Berlin im tage geförderten Konzerte hat sich seit Philipp MÖGLICHERWEISE WAREN Frühjahr 1719, wo er für seinen Köthener DienstSpittas monumentaler Bach-Biographie (1873) BACH UND CHRISTIAN herrn ein großes zweimanualiges Cembalo des der Name »Brandenburgische Konzerte« eingeLUDWIG EINANDER IM dortigen Hoinstrumentenbauers Michael Mietke bürgert; unter diesem Namen gehören sie heute MAI 1718 IN KARLSBAD abholen sollte. zu den bekanntesten Werken des Komponisten, BEGEGNET, WO VIELE ja der musikalischen Weltliteratur. Diese PopulaDER GEKRÖNTEN DER MARKGRAF rität sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, HÄUPTER DEUTSCHLANDS CHRISTIAN LUDWIG dass unser faktisches Wissen über Entstehungsge– BEGLEITET VON schichte und Chronologie dieser in vieler Hinsicht IHREN HOFMUSIKERN Die historische Bedeutung des Markgrafen Chribeispiellosen Kompositionen immer noch eher – DAMALS WÄHREND stian Ludwig von Brandenburg-Schwedt (1677dürftig ist. DER SOMMERMONATE 1734) ist lange Zeit unterschätzt worden. Man ZUSAMMENTRAFEN. hielt ihn für eine Art preußischen „Landjunker“, Einige Hinweise zum historischen Kontext der die meiste Zeit auf seinen Gütern irgendwo im inden sich in Bachs Widmungsvorrede. Demländlichen Brandenburg verbrachte und dessen nach hatte der in Berlin residierende Markgraf Begegnung mit Bach eher dem Zufall geschuldet war. Tatsächlich von Brandenburg Bach gegenüber „vor einem Paar von Jahren“ aber handelte es sich um eine der einlussreichsten Standespersonen (so die Übersetzung des in nicht ganz einwandfreiem Französisch Berlins. Christian Ludwig war der jüngste Sohn des „Großen Kurfürabgefassten Texts) den Wunsch geäußert, das Repertoire an Instrusten“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg, sein Bruder war mithin der mentalwerken für seine Hofkapelle zu erweitern. spätere preußische König Friedrich I. Er selbst verfügte zwar über kei-

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EIN GESPRÄCH MIT DEM DIRIGENTEN JÖRG HALUBEK

DAS DENKMAL FÜR BACH IST SCHON GERECHTFERTIGT MODERNE ENSEMBLEKULTUR UND HISTORISCH INFORMIERTE AUFFÜHRUNGSPRAXIS

Die Bachwoche hatte von Anfang an ein eigenes Orchester. Das verwundert nicht, denn speziische Bach-Orchester gab es 1947 noch nicht. In Schloss Weissenstein spielten im »Orchester der Bachwoche« Musiker vor allem aus Hamburg, München und Stuttgart, den drei bisherigen Wirkungsorten des Dirigenten Ferdinand Leitner. Dazu vereinzelt andere, etwa von den soeben in der Nachbarschaft gegründeten Bamberger Symphonikern oder der Konzertmeister des Gewandhauses, mit dem der Pianist Carl Seemann seit gemeinsamen Studienzeiten in Leipzig gut bekannt war. Heute wird Bachs Orchestermusik von zwei Sorten Orchester musiziert. Zum einen gehört sie ins Repertoire moderner Kammerorchester, die Bach im Konzert gerne mit Musik folgender Jahrhunderte kontrastieren, wie es etwa das »Ensemble Resonanz« schon mehrfach bei der Bachwoche vorgeführt hat. Vor allem aber sind es die

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historisch informierten Barock-Ensembles, die Bach spielen und seine Musik mit Händel und Telemann und vielen anderen, zum Teil neu entdeckten Komponisten des 18. Jahrhunderts kombinieren. Seit 2011 arbeitet die Bachwoche regelmäßig mit Jörg Halubek zusammen. Der gebürtige Westfale ist, wie manch andere, berühmte Bachinterpreten von Karl Richter bis Ton Koopman, ein vielseitig begabter Künstler. Als Organist nimmt er gerade das Bachsche Orgelwerk auf, um es auch in neuartigen Vermittlungsformen zu präsentieren. Als Cembalist gewann er 2004 den Leipziger Bachwettbewerb und unterrichtet heute junge Cembalisten an der Stuttgarter Musikhochschule. Als Dirigent ist er vor allem in der Opernwelt unterwegs; Händel- und Vivaldi-Produktionen waren in Kassel zu sehen, in Mannheim entsteht ein Monteverdi-Zyklus, Händel dirigierte er zuletzt auch an der Berliner Komischen Oper und bei den Festspie-


Wo, Herr Halubek, kommen die Musiker von »il Gusto Barocco« eigentlich her? Im Kern kommen sie aus Basel, die meisten kenne ich noch vom Studium her, vor allem in der Continuogruppe, wo man sehr eigene Kontakte entwickelt. Darüber hinaus sind die Musiker sehr weit verstreut, die meisten haben aber irgendwann doch mal in Basel studiert, spielen natürlich auch in anderen Ensembles, mit Andrea Marcon und La Cetra zum Beispiel. Anias Chen, die Konzertmeisterin hat mehrere Wurzeln, sie spielt auch in London in einigen Ensembles. Das ist typisch für die Szene, jeder hat mehrere Standbeine. Alle sind also selbständige Musiker. Das klingt ein wenig nach Selbstausbeutung...

len in Halle. Jüngst erregten, erneut in Kassel, inszenierte Bach-Kantaten Aufsehen; an einen – wenn auch polarisierenden – Vorlauf dazu im Jahre 2015 erinnern sich sicher noch viele Bachwoche-Gäste. Die Opernarbeit erfolgt zum Teil mit hauseigenen Orchestern, die bei Jörg Halubek also sozusagen in die Barock-Schule gehen, oder mit dem von ihm vor gut zehn Jahren gegründeten Ensemble »il Gusto Barocco«. Bachwochen-Intendant Andreas Bomba hat es in diesem Jahr als Festspielorchester zur Bachwoche eingeladen. Dazu ein Gespräch mit dem Künstler.

... oder Selbstverwirklichung! In der Barockmusikszene gibt es nur einige wenige etablierte Orchester, deren Mitglieder hauptberulich für das Orchester arbeiten, das Freiburger Barockorchester etwa, die Akademie für Alte Musik Berlin oder Concerto Köln. Normalerweise ist das immer ein Patchwork, und viele Musiker empinden es durchaus als befriedigend, nicht immer, wie es in philharmonischen Orchestern der Fall ist, neben den gleichen Kollegen sitzen zu müssen. Es gibt viel Austausch über die Aufführungspraxis, wenn man woanders spielt, andere Kollegen forschen weiter, auch im Instrumentenbau, da geht es um die Besaitung von Geigen und was nicht alles sonst. Das bedeutet hohe Spezialisierung, und der Austausch hält das Niveau hoch. Wie weit kann diese Spezialisierung gehen? Wie sinnvoll ist sie? Also: gibt es Musiker, die nur Bach spielen, andere vielleicht noch Händel und Telemann dazu, wieder andere dann, wie bei »il Gusto Barocco«, auch Monteverdi, also Barockmusik von den Anfängen her entdecken – immerhin 150 Jahre Unterschied? Es ist mir in den letzten Jahren klar geworden: Spezialisieren im Sinne von Rekonstruieren inde ich nicht erstrebenswert. Wir müssen ja

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EIN LEBEN FÜR DAS CELLO LUDWIG HOELSCHER, MITBEGRÜNDER DER BACHWOCHE ANSBACH

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Andreas Bomba


„Lieber Bruder Ludwig!“ So beginnt Carl Weymar einen Brief an Ludwig Hoelscher . Das Jahr 1956 neigt sich seinem Ende zu, die Vorbereitungen für die Bachwoche 1957 sind in vollem Gange. Im Handumdrehen, wie es scheint, sind die ersten zehn Jahre Bachwoche seit 1947 vergangen, und schon im Sommer hatte Hoelscher Weymar wissen lassen, er möchte gerne zum zehnten Geburtstag der Bachwoche einmal wieder hier auftreten. Bis 1951 war der Cellist bei allen Bachwochen dabei gewesen, dann hatte er Pierre Fournier empfohlen und vermittelt, weil er nicht derjenige sein wollte, der immerzu auftritt: der verehrte Freund und Kollege solle zum Zuge kommen. Aber nun... Bruder Ludwig wird schon bei der ungewohnt kumpelhaften Anrede die Stirn in Falten gelegt haben. Weymar legt dem Brief nämlich einen Prospekt zur Bachwoche 1957 bei, der den Namen des Cellisten im reichhaltigen Konzertprogramm nicht verzeichnet. Weil „mir nicht die Möglichkeit gegeben war“, wie Weymar bedauert: Fournier, „die Ersatzverplichtung für Sie, hat sich so bindend gestaltet, dass ich sie um der Sache willen nicht abbrechen kann“. Ein Sachzwang also, Weymar kann nicht anders, leider. Obwohl er es besser wissen müsste: Ludwig Hoelscher war 1947 der eigentliche Motor der Bachwoche gewesen, „derjenige, der für ihr erstes Zustandekommen den Anstoss gegeben hat“. Das gesteht Weymar in seinem Brief unumwunden zu, allerdings nicht ohne im gleichen Atemzug seinen Anteil zu reklamieren, „als Sie [Hoelscher] unmittelbar nach dem Zusammenbruch davon mir [Weymar] erzählten, dass die Familie Schoenborn ihr Schloss zur Verfügung stellen wollte“. Die weitere Entwicklung der Bachwoche sei in dieser Form nicht zu erwarten ge-

wesen, diese aber, so will Weymar sagen, sei sein Verdienst. Ganz unrecht hat er damit nicht.

SCHLOSS HALLBURG UND SCHLOSS WEISSENSTEIN 1956 also. Weihnachten und der Jahreswechsel verstreichen, bis Ludwig Hoelscher sich selbst an die Schreibmaschine setzt (oder die Antwort diktiert). Sechzig Jahre später lesen wir diesen im Stadtarchiv Ansbach erhaltenen Briefwechsel wie ein Gründungsdokument der Bachwoche. „Damals“, erinnert sich Hoelscher, „als ich im schrecklichen Jahr 1946 auf den Gedanken kam, an Gräin Schönborn, mit der mich eine lange Freundschaft verbindet, zu appellieren, ihr Schloss für eine musikalische Veranstaltung zur Verfügung zu stellen.“ Auch das trifft für den Beginn der Bachwoche nicht ganz zu. Die Freundschaft Hoelschers mit Gräin Ernestina und ihrem Sohn Graf Karl reicht in der Tat bis zurück in die Jugend. Wilhelm Lamping, Hoelschers Lehrer, hatte von Graf Erwein, Ernestinas Gatte, für seine Sommerakademien – der jugendbewegte Meister war der Meinung, „in grauer Städte Mauern“ könnten musikalische Talente nicht angemessen gefördert werden – das den Schönborns gehörende Schloss Hallburg bei Volkach zur Verfügung gestellt bekommen. Im Sommer 1925 bezogen Lamping und seine Schüler ihre „Künstlerkolonie“; die Schönborns machten und hörten gerne Musik, es passte alles. Der 1907 in Solingen geborene Hoelscher lernte dort 1927 die Pianistin Elly Ney (1892-1968) kennen, freundete sich mit dem neun Jahre jüngeren Grafen Karl an und durfte schließlich sogar, im Jahre 1940, mit seiner Frau Marion in Schloss Weissenstein Hochzeit feiern. Der Anstoß, hier im Sommer 1947 ein Musikfest zu veranstalten, kam jedoch von Oskar Embacher. Im Oktober 1946 hatte der Vorsitzende der »Gewerkschaft der geistig und kulturell Schaffenden Bayerns« dem Grafen seine Hilfe angeboten (man könnte auch sagen: ihn dazu genötigt), die diesem im Spruchkammerverfahren auferlegte hohe Sühneleistung in

Celloquartett auf der Hallburg: der junge Ludwig Hoelscher (2.v.l.) mit zwei Kommilitonen und seinem Lehrer Willy Lamping (l.), ca. 1928

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VOLTAIRES FEDER, EINE OPER DER MARKGRÄFIN WILHELMINE UND DIE GUMBERTUSBIBEL

Ute Kissling

VOR 300 JAHREN WURDE DIE ANSBACHER SCHLOSSBIBLIOTHEK GEGRÜNDET

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Eingang zur Bibliothek, Reitbahn 5


»EIN VOR ALLE WISSENSCHAFTEN GEHÖRIGES EDLES KLEINOD UND SONDERBARE ZIERDE UNSERER FÜRSTLICHEN RESIDENZ« (Markgraf Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach, Fundationsbrief 1738)

Etwas verborgen, aber noch in Kontakt zur Residenz beindet sich die Staatliche, ehemalige Schlossbibliothek Ansbach. Sie erfüllt seit dem 18. Jahrhundert auch die Aufgabe einer öffentlichen Bibliothek. Kaum zu glauben, dass in den Räumlichkeiten einst Opern gespielt wurden – wie die Vettern in Bayreuth liebten auch die hiesigen Markgrafen das Musiktheater. Musikalien gehören denn auch zum Bestand der Bibliothek; viele einstige Kostbarkeiten sind im Laufe der wechselvollen Geschichte Preußens, Frankens und Bayerns jedoch an andere Orte verbracht worden.

DIE HOCHFÜRSTLICHE BIBLIOTHEK Markgraf Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach, der Vater des oben zitierten Fürsten, rief Ende 1720 die erste „öffentliche“ Bibliothek der Stadt ins Leben: ein ungewöhnlich früher Zeitpunkt! Behielt man sich doch bei Hofe und in Adelskreisen das in Büchern gesammelte (Herrschafts-)Wissen gern also solches vor. Anders in Ansbach: Der regierende Fürst öffnete die eigene Büchersammlung, es wurden festgesetzte Benutzungszeiten bestimmt und besonders gebildetes, selbstverständlich männliches Personal zur Betreuung des Bücherschatzes abgestellt. Freilich, eine Ausleihe war noch nicht vorgesehen, die Benutzung hatte vor Ort zu erfolgen. Aber kommen durfte nun, wer wollte – heißt, wer des Lesens und Schreibens kundig war. Grundstock dieser ersten Bibliothek in Ansbach (als einer der ältesten wissenschaftlichen Bibliotheken Frankens) war die fürstliche Hausbibliothek der markgrälichen Familie zu Brandenburg-Ansbach, die zunächst nur ihr und Mitgliedern des Hofstaats zur Belehrung und Unterhaltung diente. Sie ging auf Markgraf Georg Friedrich den Älteren (reg. 1543-1603) zurück, wie viele ledergebundene Bände mit seiner Besitzmarke „GF MZB“ bekunden. Theologische Werke, lateinische Klassiker und Chroniken zeugen von seinen Spezialinteressen. Ein breites Spektrum aller Wissensgebiete zeigte sich dann erst in der Bibliothek des Markgrafen Johann Friedrich (reg. 1667 – 1686). Weitere Bereicherung erfuhr die Sammlung durch die umfangreiche und kostbare Bibliothek der Markgräin Christia-

ne Charlotte (reg. 1723-1729), einer geborenen württembergischen Prinzessin, die nach Ansbach verheiratet wurde. Am Ende der Markgrafenzeit zählte die Schlossbibliothek nach Zukauf etlicher Gelehrtenbibliotheken annähernd 20.000 Bände.

FRÜHNEUZEITLICHES CROWDFUNDING Kostenträger ihrer Einrichtung waren nicht etwa nur der Fürst und seine Familie, sondern man hatte ein verplichtendes System erdacht, nachdem die Nutznießer der Bibliothek bei Hofe ihr Scherlein beitragen mussten. So hatte jeder fürstliche Beamte oder Diener bei Antritt eines neuen Amtes einen nach Rang genau gestuften Beitrag zu leisten. ,Ein jeder Rath und Diener, weltlich und geistlichen Standes, von jeder besitzenden Charge, sie mögen Namen haben wie sie wollen, wie auch die Titulares, wenn sie gleich keine Besoldung beziehen…‘ hatte nach folgender Taxierung Beiträge zu leisten: ,Ein Minister, Geheimer Rat oder Oberhofmarschall 8 l. (Florin), ein Obrist, Forstmeister, Oberamtsmann oder Kollegialrat 6 l., ein Rittmeister, Kammerjunker oder Hofmedikus 4 l., ein Dekan, Hofjunker, Sekretär oder Rektor 3 l., und ein Pfarrer, Kanzlist oder Kammerdiener 2 l.‘ 1) Frühneuzeitliches Crowdfunding! Das Herrscherhaus selbst übernahm jährlich einen Beitrag von 200 l., um der Bibliothek Ankäufe zu ermöglichen. Oft ging es bei den neuen Erwerbungen darum, bereits begonnene Reihen fortzuführen, bzw. mehrbändige Werke zu vervollständigen, „deren Fortsetzung theils aber öfters wegen der sehr geringen Barschaft der hochfürstlichen Bibliothekscassa, theils wegen anderer Hindernisse … unterblieben, solche Bücher aber beynahe ganz unnütz werden oder wenigstens einen Teil ihres Wertes verlieren würden, so ferne man nicht auf deren baldige Supplirung den sorgfältigsten Bedacht nehmen würde…“ 2) – eine Sorge, die mitunter durchaus auch in neuzeitlichen Bibliotheken herrscht!

1) Schuhmann, Günther: Ansbacher Bibliotheken vom Mittelalter bis 1806. Kallmünz: Lassleben, 1961, S. 101 f. 2) a.a.O., S. 137

Historischer Bibliothekssaal in der Residenz, ca. 1910

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WEIHRAUCH WAR NICHT UM IHN

Andreas Bomba

CARL SEEMANN, PIANIST DER ERSTEN STUNDE BEI DER BACHWOCHE

Carl Seemann, Klavier. Carl Seemann, Cembalo. Carl Seemann, Orgel. Ging es um Musik für Tasteninstrumente bei der Bachwoche, stand er bereit. Carl Seemann, geboren am 8. Mai 1910 in Bremen, gehörte nach dem Krieg zu den führenden Bach-Interpreten, zumindest in Deutschland. Und so international war das Musikleben damals noch nicht!

SEEMANN WUCHS MITTEN IN EINE LEBENDIGE BACHTRADITION HINEIN, UM DIE HERUM EIN HOCHKARÄTIGES MUSIKLEBEN BRODELTE.

Dass Musiker Klavier, Cembalo und Orgel konzertreif spielen, ist heute eher selten. Die Spezialisierung erlaubt natürlich, mit dem vertieften Wissen über Instrumente, Spielweisen und Traditionen direktere Zugänge zur barocken Musik zu inden. Andererseits proitiert gerade die Bach-Interpretation von dem, was Musiker der seither vergangenen Jahrhunderte aus Bachs Musik heraus- und in sie hineingelesen haben. Immerhin dienen Bachs Klavierwerke bis heute ihrem Zweck, der musikalischen Ausbildung nämlich, und als Anleitung zur Komposition weit über ihr barockes Umfeld hinaus.

Carl Seemann 1950, hier am Klavier

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KÜNSTLER 2019

Vier Fragen an Simone Rubino

»BACH WAR IMMER AN NEUI(KEITEN INTERESSIERT.« 1. Meine erste Begegnung mit Johann Sebastian Bach … ... war zuhause. Meine Mutter hat immer klassische Musik gehört, zusammen mit mir. Da war Bach natürlich dabei. Sie hat gemerkt, dass mich alles interessiert, was irgendwie klingt und mich daher zum Musikunterricht geschickt. Studiert habe ich zunächst Cello, und da steht natürlich ebenfalls Bach auf dem Stundenplan. Bis ich gemerkt habe, dass die Suiten auf dem Marimbaphon viel schöner klingen ...

2. Was hat ein Schlagzeuger davon, Bach zu spielen? Als Schlagzeuger ist man natürlich immer mit neuer Musik beschäftigt, 80 Prozent der Literatur ist aktuell komponiert. Die heutigen Komponisten haben auch eine große Afinität zu der unendlichen Klangwelt des Schlagzeugs. Wenn man sich mit Bach beschäftigt, versteht man gut, woher die heutige Musik kommt.

3. Hätte Bach für Schlaginstrumente komponiert? Ich bin ziemlich sicher, ja! Er war ja immer an Neuigkeiten interessiert und hat selbst Musik vom einen auf das andere Instrument übertragen. Und gemerkt, dass seine Musik dabei nicht an Substanz verliert, sondern immer etwas dazugewinnt.

4. Ein Musikerleben ohne Bach wäre möglich, aber ... ... mein Instrument, das Marimbaphon, würde nicht mehr so schön singen wie es das mit Bach kann.

Simone Rubino Schlagwerk Der junge Italiener Simone Rubino, der 2014 fulminant den ARD Musikwettbewerb gewonnen hat, läutet eine neue Ära von Schlagzeugern ein, die sich mittlerweile im klassischen Konzertbetrieb etabliert haben. 1993 in Turin geboren, studierte er zunächst in seiner Heimatstadt am Konservatorium Giuseppe Verdi, ehe er nach München zu Peter Sadlo wechselte. Er spielte Konzerte u.a. mit den Wiener Philharmonikern, dem BR-Symphonieorchester oder dem Orchestre Philharmonique de Monte Carlo unter Dirigenten wie Zubin Mehta, Gustavo Gimeno, Manfred Honeck, Tugan Sokhiev und Kazuki Yamada. Neben seinen Auftritten als Solist liegt ihm die Kammermusik am Herzen, was seine Konzerte mit dem Esegesi Percussion Quartett bezeugen. Simone Rubino macht sich für die Erweiterung des Schlagwerk-Repertoires stark und arbeitet mit Komponisten wie Avner Dorman, Adriano Gaglianello oder Carlo Boccadoro zusammen. Simone Rubino entfacht in seinen Konzerten ein virtuoses Feuerwerk an ungehörten Klangfarben und rhythmischer Präzision – gleichzeitig verblüfft er mit einem empindsamen und differenzierten Stil. Seine Bandbreite zeigte sich bereits auf seinem ersten Solo-Album „Immortal Bach“ (2017), das eine Bearbeitung von Bachs dritter Cello-Suite Werken u.a. von Xenakis, Boccadoro und Cage gegenüberstellt.

Erstmals bei der Bachwoche DO 1.8. BACH MARIMBA 89


»ICH GEH UND SUCHE MIT VERLANGEN« WIE CHRISTINE BLANKEN VOM BACH-ARCHIV LEIPZIG DEN FRÄNKISCHEN BACH-KANTATENDICHTER CHRISTOPH BIRKMANN ENTDECKTE

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EIN GESPRÄCH MIT ANDREAS BOMBA


„Der uns unbekannte Dichter...“ – wer Alfred Dürrs Standardwerk über die Kantaten Johann Sebastian Bachs aufmerksam liest, kennt diesen Satz. Der große Bachforscher hat ihn so oder ähnlich oft verwenden müssen. Und stets schwang ein Seufzer mit. Denn Dürr wusste: Text und Musik gehören bei Bach zusammen, ja: inspirierten einander. Aber wenn man den Dichter nicht kennt? Vor diesem Hintergrund kam es einer Sensation gleich, als Christine Blanken im »Bach-Jahrbuch« 2015 einem jener unbekannten Dichter auf die Spur kam. Bedeutsam für die Bachwoche: die Biographie von Christoph Birkmann (1703-1772) beginnt und endet unweit von Ansbach, in Nürnberg, und zwei der von ihm gedichteten Kantaten, »Ich geh und suche mit Verlangen« BWV 49 und »Gott soll allein mein Herze haben« BWV 169 erklingen bei der diesjährigen Bachwoche (Konzert »Kantaten 2«). Ein Grund, mit der Leipziger Bachforscherin zu sprechen.

Wie sind Sie auf Christoph Birkmann gestoßen? Wir besitzen im Bach-Archiv die wohl größte Sammlung von Musik Johann Sebastian Bachs, die im 18. Jahrhundert im süddeutschen Raum zusammengestellt wurde. Sie wurde 1968 vom Göttinger Bach-Institut erworben und für Publikationen ausgewertet. Da es sich dabei meist um Sonderfassungen schon bekannter Stücke handelt, haben die Kollegen eine Edition zurückgestellt. Als Organistin aber hat mich die Sammlung schon gereizt, denn Sonderfassungen entstehen ja nicht einfach so, sondern haben einen Anlass, der in diesem Fall mit Nürnberg zu tun haben könnte. Man kennt nämlich den Organisten, auf den die Sammlung zurückgeht, Leonhard Scholz (1720-1798), der an den Hauptkirchen St. Sebald und St. Lorenz tätig war.

grossen Meister, Herrn Director Bach und seinem Chor…“. Mit diesem Hinweise hat sich seither niemand beschäftigt. Das aber hat noch nichts mit Kantaten-Dichtungen zu tun...

Nein, das Beste kommt ja erst noch. Der Historiker Will sammelte vieles von Birkmann, darunter auch einen Druck mit dem merkwürdigen Titel »GOTT geheiligte Sabbaths-Zehnden«. Diesen Textdruck habe ich mir genauer angeschaut. Und siehe da: er enthielt viele Genau, und hier wollte ich die bewusste Sammlung in einer Texte, die ich durch eine Vertonung Bachs kannte, und zwar aus Kabinettausstellung des Bach-Museums erstmalig vorstellen. Zu Kantaten, die zwischen 1724 bis 1727 entstanden sind. Das ist weiteren Recherchen bin ich nun nach Nürnberg gefahren und dort genau die Zeit, in der Birkmann in Leipzig studiert hat, genauer: vom in der Stadtbibliothek auf die um 1800 erschiene1. Dezember 1724 bis Anfang September 1727. nen Nachlasskataloge des Altdorfer Historikers Die Autobiographie berichtet folgendes: ChrisGeorg Andreas Will gestoßen. Dort werden toph Birkmann ist ein in Nürnberg geborener Dokumente eines Theologen namens Birkmann Theologe, früh verwaist, hatte es nicht ganz erwähnt; derselbe, den schon Hans-Joachim leicht, proitierte vom damals fortschrittlichen „ICH HIELTE MICH Schulze im 1972 herausgegebenen »Bach-DokuNürnberger Schulwesen, absolvierte eine FLEISSIG ZU DEM mente-Band III« nennt. Schulze zitiert den einen akademische Laufbahn, kam über die Universität GROSSEN MEISTER, Satz aus der nach Birkmanns Tod gedruckten Altdorf nach Leipzig und hat offenbar in „Bachs HERRN DIRECTOR BACH Leichenpredigt, in dem Bach in einer AutobiograChor“, das heißt: als Sänger oder als Mitglied des UND SEINEM CHOR…“. phie des Verstorbenen namentlich genannt wird. Orchesters, bei Aufführungen in den Leipziger Hier heißt es: Ich „hielte mich leißig zu dem Kirchen mitgewirkt. Im Jahre 2006 wurde das Bach-Institut Göttingen geschlossen, die Bestände gingen nach Leipzig...

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MAN LERNT EIN LEBEN LANG FERDINAND LEITNER, DER ERSTE DIRIGENT DER BACHWOCHE

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Andreas Bomba


Vierzig Jahre nach der Gründung kehrte Ferdinand Leitner ein letztes Mal zur Bachwoche zurück und dirigierte die Uraufführung des Doppelkonzerts von Gerhard Schedl. Die Geiger im Jahre 1987 waren Christian Altenburger und Kurt Guntner, Konzertmeister der Solistengemeinschaft.

„Da ich selbst zu denjenigen gehörte, die in den vergangenen 12 Jahren teilweise verboten oder unerwünscht waren, glaube ich ein besonders feines Empinden für diese Dinge zu haben. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass dieser Mann wieder seinem Beruf nachgehen kann.“ 1 Schreibt Ferdinand Leitner am 31. August 1946. „Dieser Mann“ ist Carl Weymar, zu dessen Entlastung der frischgebackene Münchner Operndirektor beitragen will. Leitner, Jahrgang 1912, gehörte jener Generation an, deren Entwicklungsmöglichkeiten die Nazis massiv behindert hatten. Erst 1945 konnte der Dirigent durchstarten, zuerst für je ein Jahr in Hamburg und München, ab 1947 dann in Stuttgart, wo er 22 Jahre lang als Generalmusikdirektor Oper und Musikleben der Stadt prägte, gemeinsam übrigens mit dem Intendanten Walter Erich Schäfer (1901-1981), dem Vater des späteren Bachwoche-Leiters Hans-Georg Schäfer. Seine Karriere setzte Leitner bis 1984 als Chefdirigent der Züricher Oper fort, um sie, bis zu seinem Tod im Juni 1996, als freier Dirigent ausklingen zu lassen.

LEITNER, LUDWIG HOELSCHER UND DIE BACHWOCHE POMMERSFELDEN Im Spätherbst 1946, erzählte Leitner mir im Jahre 1989, traf er an einem regnerischen Tag in München den Cellisten Ludwig Hoelscher, einen alten Freund und Kollegen. Hoelscher erzählte von Konzerten auf Schloss Weissenstein. Wenn die erinnerte Chronologie so stimmt, war es just der Zeitpunkt, als Karl Graf von Schönborn den Jugendfreund um Rat gefragt hatte, wie er denn auf dem Schloss im Sommer kommenden Jahres ein Musikfest organisieren könne. Die Veranstaltung dieses Festes zur Kompensation einer gravierenden „Sühneleistung“ war einer Idee (oder: Vorgabe?) des Gewerkschafters Oskar Embacher entsprungen.2 Leitner, der eine amerikanische Lizenz zum Konzertveranstalten besaß, war erfreut über diese Aussicht und schlug ein. In seinem Büro schmiedeten er und Hoelscher große Pläne. Für die geschäftlichen und organisatorischen Dinge sollte Carl Weymar, passionierter Bratscher und Geschäftsmann in München gewonnen werden. Dieser, wissen wir aus der Feder Hoelschers, schlug seinerseits vor, das Pommersfeldener Musikfest „ins Zeichen Johann Sebastian Bachs zu stellen“3, verlegte die Bachwoche 1948 nach Ansbach4 und organisierte sie hier bis 1964.

1) Spruchkammerverfahren Carl Weymar im Staatsarchiv München, Karton 4419, AZ 324 2) Brief Oskar Embacher an Ernestina Gräin Schönborn vom 19. Oktober 1946, im Schönbornschen Hausarchiv 3) Brief Ludwig Hoelscher an Carl Weymar, 27. Januar 1957, Stadtarchiv Ansbach

4) Die Gründe für diesen Umzug sind, wie im Almanach zur Bachwoche 2017 beschrieben, noch nicht hinreichend geklärt. Während Weymar sich bereits in Pommersfelden mit Hoelscher, Embacher und der Familie Schönborn überworfen hatte und in Schloss Weissenstein 1948 nur noch sehr eingeschränkt hätte tätig werden können, hielt Leitner dem Organisator und (...weiter nächste Seite)

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NEUNUNDZWANZIG ALTÄRE UND FÜNFHUNDERT GRABSTÄTTEN DAS MÜNSTER HEILSBRONN, DIE „CHRISTLICHE SCHLAFKAMMER FRANKENS“

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Lara Hausleitner


DA SAUSTE EIN BLITZ AUS HEITEREM HIMMEL – DAS GEWITTER HATTE SICH LÄNGST VERZOGEN GEHABT - IN DEN TURM DES MÜNSTERS VON HEILSBRONN UND EIN KRACHENDER DONNER FOLGTE.

Es ist kühl im Heilsbronner Münster, auch im Sommer. Kühl und ein bisschen klamm. Der Raum beeindruckt und irritiert, denn er ist gleichzeitig klar und uneinheitlich: der frühgotische Chor östlich des romanischen Mittelschiffs, die erhöhte schlichte Ritterkapelle im Westen, das „Mortuarium“ mit seinen iligranen spätgotischen Pfeilern im Süden. Dieses Mortuarium ist bei Sonnenschein lichtdurchlutet und im Münster der Lieblingsplatz von Pfarrer Dr. Ulrich Schindler. Ein schöner, stiller Ort, an dem der Pfarrer gern eines Tages einen Totentanz in mittelalterlicher Tradition aufführen lassen möchte. Das passt, denn nicht nur das Mortuarium, sondern die ganze Kirche ist ein Friedhof. Unter dem mächtigen Bau sind an die 500 Grabstätten verborgen. Und das Mittelschiff prägen drei imposante Hochgräber der Hohenzollern.

Einen Totentanz hat es noch nicht gegeben im Münster Heilsbronn, doch die Passionen Johann Sebastian Bachs waren schon mehrfach zu erleben, zu empinden während der Bachwoche. Unter anderem am 28. Juli 1950, an Bachs 200. Todestag. Klaus Hoesch, der den Freunden der Bachwoche in den Anfangsjahren vorstand, hat geschildert, was damals geschah:

fen, ja sogar zu Handgreilichkeiten. Die Radioübertragung war eingeschaltet, und man sagte dem Publikum, aus technischen Gründen müsse die Veranstaltung wohl um eine halbe Stunde verschoben werden. Die Künstler wurden inzwischen besänftigt und die Aufführung konnte beginnen. Sie war von Anfang an glänzend. Gott sei Dank ging zu Beginn des zweiten Teils ein rasantes Gewitter nieder, das die ganzen Spannungen sowohl der Künstler als auch der Zuhörer löste. Die Aufführung verlief in wunderbarer Atmosphäre bis zu der Stelle: ,Jesus schriee abermal laut und verschied´ - Generalpause. Da sauste ein Blitz aus heiterem Himmel - das Gewitter hatte sich längst verzogen gehabt - in den Turm des Münsters von Heilsbronn und ein krachender Donner folgte. Als ich auf die Uhr sah, war es genau ein Viertel nach neun, also die Todesstunde von Bach. Bei normalem Beginn der Aufführung hätte diese Koinzidenz von Blitz und Todesstunde nicht auftreten können, da sie dann schon beendet gewesen wäre.“

„Es war ein furchtbar gewittriger Tag, die elektrische Spannung lag in der Luft, ging aber auch bis in die Künstlerzimmer – und dort kam es unter den Hauptinterpreten zu gegenseitigen Vorwür-

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BACH WAR IMMER SEHR EXPERIMENTIERFREUDIG GIBT ES ÜBERHAUPT D I E JOHANNESPASSION?

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EIN GESPRÄCH MIT MEINRAD WALTER


Johann Sebastian Bachs Johannespassion erklang in Leipzig erstmals 1724 und letztmals 1749. Dazwischen liegen 25 Jahre und mehrere Fassungen. Ja, es scheint, als habe Bach das Stück keine zwei Male in gleicher Form aufgeführt! Das muss Gründe haben. Dazu Fragen von Andreas Bomba an Meinrad Walter, profunder Bach-Kenner und Autor

Auf dem Kopftitel dieser Partitur (1739) steht: »Passio secundum Joannem«. Also ausführlich übersetzt: Passion (Leidensgeschichte) nach dem Evangelisten Johannes. Durchsetzt hat Bach den von Luther ins Deutsche übersetzten Evangeliumstext aber mit weiteren, nichtbiblischen Texten. Zunächst: Von wem stammen diese Texte?

einer viel gelesenen Einführung in das Werk

Dem biblischen Text „unterlochten“ – so sagte man damals – sind Choralstrophen aus Passionsliedern und Strophen geistlicher Dichtung. Insgesamt ist das eine Art Autoren-Polyphonie. Bei den Herr Walter, wer Bachs Johannespassion aufführt, schreibt Liedern kennen wir die Verfasser allesamt. Darunter sind Luther mit aufs Plakat: „Johann Sebastian Bach: Johannespassion“. „Dein Will gescheh“ aus seinem Vaterunser-Lied und Paul Gerhardt Vielleicht noch BWV 245. Mal ketzerisch gefragt: Gibt es mit „Wer hat dich so geschlagen?“ Ziemlich bunt wird es bei den „d i e Johannespassion“ von Bach überhaupt? Arien. Denn hier begegnet uns gleich im ersten Teil ein Stück aus der berühmten Passionsdichtung Ja und Nein! Es gibt zu diesem Werk ca. 700 des Hamburger Ratsherrn Barthold Hinrich Notenseiten, geschrieben von Bach und etwa Brockes: „Von den Stricken meiner Sünden“ ist bei BEI BACH SINGT EIN zwanzig weiteren Schreibern im Zeitraum von 25 Brockes der Eingangschor mit drastischen Worten Jahren. Etliche Sätze sind leider unwiederbringlich „ICH“, DAS AUF PETRUS wie „von der Laster Eiterbeulen“, was bei Bach verloren. Wir klagen ja gern, wenn ein großes SCHAUT – ABER ES SINGT abgeschwächt ist zu „mich von allen LasterbeuWerk unvollständig geblieben ist wie Schuberts EBEN NICHT PETRUS, DER len“. Der Wortlaut der Tenor-Arie „Ach, mein »Unvollendete« oder Mozarts Requiem. Die MÜSSTE JA BASS SINGEN Sinn“ wiederum stammt aus dem Gedicht „Der Johannespassion von Bach ist jedoch in gewisser UND NICHT TENOR. weinende Petrus“ von Christian Weise. Die Hinsicht zu vollständig! Bach hat seit 1724 Petrus-Arie von Brockes fand keinen Eingang in mindestens vier verschiedene Fassungen Bachs Passion, vielleicht weil Bach sich an Worten aufgeführt, von denen nur die zweite (1725) und wie „hier ist die vierte (1749) hinreichend überliefert sind. Im Jahr 1739 hat Bach Petrus ohne versucht, dem Werk eine deinitive Gestalt zu geben. Diese ReinSchwert“ gestört schriftpartitur bricht aber leider nach 20 Seiten ab. Also sind hat. Bei Bach einerseits zu viele Fassungen im Spiel, während wir von der als singt ein „Ich“, deinitiv geplanten „Fassung letzter Hand“ zu wenige Seiten haben. das auf Petrus schaut – aber es Was wird denn dann gemeinhin aufgeführt? singt eben nicht Petrus, der Eine Mischfassung, die durchaus stimmig ist, aber den Nachteil hat, müsste ja Bass dass Bach sie so nicht kannte. Der amerikanische Dirigent und singen und nicht Musikwissenschaftler Arthur Mendel hat diese Version 1973/74 im Tenor. Rahmen der Neuen Bach-Ausgabe (NBA) vorgelegt. Dafür hat er die erwähnten 700 Notenseiten erstmals richtig sortiert, was gar nicht einfach war. Da gibt es viel Durchgestrichenes, was schwer zu lesen ist. Auch Zusatzblätter, die für eine Fassung aufgenäht und dann für die nächste wieder abgetrennt wurden, so dass man die richtige Zuordnung mit dem Mikroskop anhand der Nadellöcher herausinden musste. Am Ende hat Mendel sich dann dafür entschieden, nicht eine der Bachschen Fassungen zu edieren, sondern sie zu mischen: Die ersten 20 Minuten etwa erklingen nach Bachs Partitur 1739, deren subtile „Verbesserungen“ aber bei Bach nie erklungen sind, weil er sie gar nicht in sein Notenmaterial übertragen hat. Dann hören wir in der NBA-Fassung eine Mischung der Fassungen I und IV. Das klingt alles etwas abstrakt. Aber bisweilen ist es auch gut hörbar. Der erste Choral „O große Lieb“ etwa wird heute, in der Fassung IV, in Moll schließen, so wie bei allen Leipziger Aufführungen Bachs! Und nicht in Dur, wie heutzutage meistens, weil es so in Bachs Fragment gebliebener Partitur von 1739 steht.

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DIE GANZE BACHWOCHE IN �� PROGRAMMHEFTEN! Werkfolgen, Einführungstexte, Libretti, Biographien Zur Vor- und Nachbereitung der Konzerte

Schuber 1: Konzerte von Freitag, 26. bis Dienstag, 30. Juli Schuber 2: Konzerte von Mittwoch, 31. Juli bis Sonntag, 4. August Preis je Schuber mit 9 Heften: 15 €, beide zusammen 25 € (Einzelprogrammhefte kosten an der Abendkasse 3 €)

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IMPRESSUM BACHWOCHE ANSBACH 2021 Freitag, 30. Juli, bis Sonntag, 8. August

Herausgeber: Bachwoche Ansbach GmbH Postfach 12 24, 91503 Ansbach Telefon: +49 (0) 981 15-037 Telefax: +49 (0) 981 15-501 info@bachwoche.de www.bachwoche.de Redaktion: Dr. Andreas Bomba Christian Mall Gestaltung: Böker & Mundry Werbeagentur GmbH, Ansbach Fotos: Archiv Bachwoche: S. 6, 8, 9,1 0, 50, 51, 53, 54, 102 bis 106 Ute Kissling: S. 47 oben Nachlass Ludwig Hoelscher: S. 6, 9, 38, 40, 41, 42 Nachlass Liesel Heidersdorf: S. 52, 104 Nationaltheater Mannheim: S. 20 W. Röber: S. 47 unten Stadtbibliothek Nürnberg: S. 96, 97, 99 Staatstheater Kassel: S. 23 Künstlerfotos: Agenturen Alle anderen: Jim Albright und Michael Vogel

Alle Rechte: Bachwoche Ansbach GmbH Printed in Germany, Imprimé en Allemagne

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