Almanach der Bachwoche Ansbach 2017 (Ausschnitte)

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Das Magazin der Bachwoche Ansbach

A L M A NACH

2017

70 J A H R E B A C H W O C H E BACH UND LUTHER K Ü N S T L E R - P O R T R ÄT S UND INTERVIEWS D A S V O L L S TÄ N D I G E PROGR AMM


INHALT

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Vorwort

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Eine Pilgerfahrt zu Bach Wie die Bachwoche in Pommersfelden entstand und was bis heute nachwirkt Fragen an den Intendanten Dr. Andreas Bomba

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Programm der Bachwoche Ansbach 2017

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Stets auf der Höhe der Zeit Die Bachwoche Ansbach seit 1947

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Lara Hausleitner: Manche halten dem Musikfest seit Jahrzehnten die Treue Seit je her bilden die Bachwochen-Helfer das Rückgrat der Festspiele

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Georg Rudiger: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu Das Freiburger Barockorchester feiert sein 30-jähriges Bestehen

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Wolfgang F. Reddig: Der Schwarzmarkt blühte, möblierte Zimmer waren meldeplichtig Ansbach im Jahre 1948

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Andreas Bomba: Weder eine Modenschau noch eine Automobilausstellung Wie die Bachwoche nach Ansbach kam und wie sie in Ansbach blieb

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Michael Maul: Vollendet unvollendet Fakten und Mythen zu Bachs Kunst der Fuge

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Markus Zepf: Ein Cembalo für Bach Eine Spurensuche

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Bach und Luther? Acht Fragen an den Freiburger Musikwissenschaftler und Theologen Meinrad Walter

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Andreas Bomba: „Ein Abend mit vier Kirchenkantaten ist nicht in unserem Sinne“ Bachwoche und Bachfest 1954: eine schwierige Annäherung

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Künstler bei der Bachwoche Ansbach 2017

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Organe der Bachwoche Ansbach

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Förderer, Sponsoren und Medienpartner

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Andreas Bomba: Zeitgenössische Musik, alte Instrumente, wissenschaftliche Grundlage Der „Vorschlag für eine Bachwoche“ im Archiv der Grafen Schönborn

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Impressum

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VEREHRTES PUBLIKUM, LIEBE FREUNDE DER BACHWOCHE ANSBACH,

„Ansbach wird für die Deutschen eine geweihte Stätte durch die Werke Johann Sebastian Bachs“. Pathetische Worte! Ich gebe zu: als ich sie zum ersten Male las, fand ich diesen Tonfall befremdlich. Eine geweihte Stätte? Und warum Ansbach? Der Satz ist aber noch nicht fertig. Ansbach wird nämlich mit einer anderen fränkischen Stadt verglichen, die ebenfalls ein bedeutendes Musik-Festspiel beherbergt: Bach wirkt in Ansbach, „wie Richard Wagner für seine Kunst die Heimstätte in Bayreuth gefunden hat.“ So schreibt einer der bedeutendsten Bach-Interpreten des 20. Jahrhunderts: Karl Straube (1873-1950) aus Leipzig, Thomasorganist von 1903 bis 1918, Thomaskantor bis 1939 und Vorsitzender der Neuen Bachgesellschaft bis 1949. Mit den zitierten Worten beendete er einen Brief an Carl Weymar, den Organisator der Bachwoche, im Jahre 1948. Weymar hatte ihn eingeladen, ein Orgelkonzert bei der Bachwoche Ansbach zu spielen. Auf diese Weise wollte er eine Verbindung der neuen Festspielstadt Ansbach zu Leipzig herstellen, dem Ursprungsort der Verehrung Johann Sebastian Bachs. Sie merken: die Vergangenheit der Bachwoche hat mich, 70 Jahre nach ihrer Gründung, sehr beschäftigt. Denn die bis heute spürbare und wirksame Besonderheit der Bachwoche wurzelt in den Umständen und Eigenarten jener Nachkriegszeit. Wie konnte man 1947 überhaupt auf die Idee kommen, ein solches Musikfest zu veranstalten? Wo kamen die Musiker her? Wo das Publikum? Wie erfuhr man überhaupt davon? Wie konnte alles in diesen materiellen und seelischen Notzeiten organisiert werden? Und wie kam es zu dem Gründungsort, Schloss Weissenstein bei Pommersfelden und, ein Jahr später, zum Umzug nach Ansbach? Die Beschäftigung mit Tradition und Geschichte ist kein Selbstzweck. Sie hilft uns aber zur Erkenntnis und gibt Hinweise, wie die Zukunft dieses außerordentlichen Musikfestes zu gestalten ist. Die Bachwoche soll ja so bleiben,

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wie ihr Publikum sie liebt. Sie will und muss sich aber auch den Herausforderungen der Gegenwart stellen und, wie man heute – anstelle der „geweihten Stätte“ – lieber sagt: als Leuchtturm das Musikleben unserer Zeit prägen. Die Treue des Publikums, die Kunst des Zuhörens, die Vielfalt des Programms und der Arten, Bachs Musik zu interpretieren kennzeichnen die Bachwoche von Anfang an. Deshalb möchte ich Sie an den Ergebnissen meiner Nachforschungen teilhaben lassen, auch wenn manche Mythen und Legenden, die zu einer solchen Erfolgsgeschichte einfach dazugehören, schonend korrigiert werden müssen. Die siebzigjährige Bachwoche ist eines der ältesten Musikfeste in Deutschland, aus der Taufe gehoben, als es das Wort „Festival“ noch nicht gab und man auch noch nicht vom „Event“ sprach! Der Almanach möchte Ihre Vorfreude auf die Bachwoche steigern, Sie während der Bachwoche begleiten und auch später noch an die Bachwoche und ihre Besonderheiten erinnern. Heute spricht man von „Proil“ und „Alleinstellungsmerkmalen“. Ein bisschen davon schwingt schon 1948 mit, als die Bachwoche nach Ansbach kam; Stadtarchivar Wolfgang Reddig beschreibt diese Situation. Fast strategisch wirkt das Tauziehen um die Neue Bachgesellschaft und ihr Bachfest, das im großen Bach-Jubiläumsjahr 1950 fast nach Ansbach gekommen wäre, im Weltmeisterschaftsjahr 1954 tatsächlich kam, und das in diesem Jahr erneut bei der Bachwoche zu Gast ist. Cembalo gespielt wurde von Anfang an; Markus Zepf zeigt aber, wie sehr sich bei diesem typischen Bach-Instrument historische Perspektiven verändert haben. Das gleiche gilt für Bachs „Kunst der Fuge“, ein Leitmotiv der frühen Bachwochen, wie Michael Maul darlegt. Weil es damals keine Barockorchester gab, stellte sich die Bachwoche über Jahrzehnte ein eigenes Orchester zusammen, die legendäre „Solistengemeinschaft der Bachwoche“.


EINE PILGERFAHRT ZU BACH WIE DIE BACHWOCHE IN POMMERSFELDEN ENTSTAND UND WAS BIS HEUTE NACHWIRKT FRAGEN AN DEN INTENDANTEN DR. ANDREAS BOMBA

Die erste Bachwoche fand vom 27. Juli bis 3. August 1947 in Pommersfelden statt. Was besagt das erste schriftliche Dokument? Es ist eine Vereinbarung zwischen Mitgliedern der Familie Schönborn und einem gewissen Oskar Embacher vom 13. Oktober 1946, erhalten im Schönbornschen Hausarchiv. Embacher irmiert als „Landesvorsitzender der Gewerkschaft der geistig und kulturell Schaffenden Bayerns“. Die Rede ist von im Sommer kommenden Jahres durchzuführenden „künstlerischen und musikalischen Festwochen“, die Embacher planen und für deren Organisation, das kann man aus dem Wortlaut allerdings nur indirekt schließen, er dann auch bezahlt werden will. Sobald „alle Vorarbeiten gediehen und die endgültigen Voraussetzungen eingetroffen sind“, steht da – was auch immer das heißen soll.

Sie gründeten die Bachwoche (v.l.): Dr. Carl Weymar, Ferdinand Leiter, Ludwig Hoelscher, Oskar Embacher (?), Karl Graf von Schönborn

Wie kam Embacher mit den Grafen von Schönborn in Kontakt?

... einen vergleichsweise hohen Betrag?

Womöglich gehörte er als Gewerkschafter jener Gruppe von Personen an, die als unbelastet galten und deshalb in den Spruchkammern über die Verstrickung anderer in das Nazi-System zu Gericht sitzen durften. Ihre eigentlich unlösbare Aufgabe bestand darin, alle Deutschen in fünf Belastungsgruppen einzuordnen; die meisten kamen als „Mitläufer“ oder „Minderbelastete“ davon und wurden lediglich mit einer Geldbuße belegt. Bei den Schönborns handelte es sich zunächst um eine Million Mark ...

Ja. Embacher hatte aber die Idee, dieses Geld, wie man heute sagen würde, einem guten Zweck zuzuführen, nämlich der „Durchführung hochwichtiger kulturpolitischer Aufgaben“. Der Gewerkschafter neigte zu einem etwas wichtigtuerischen Ton; man könnte ihm sogar die Ausnutzung einer Zwangslage und einen Deal zum eigenen Nutzen unterstellen, dazu müsste man aber noch weitere Quellen sichten. Er ist an der ersten Bachwoche dann auch beteiligt und besucht sie in vornehmer Zurückhaltung.

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BACH ENTDECKEN Workshops für Kinder und Jugendliche von 4 bis 18 Jahren

Für Kinder und Jugendliche bietet die Bachwoche bereits seit 2009 Workshops an, die sich altersgerecht mit Leben und Werk von Johann Sebastian Bach beschäftigen. Die „Kinderbachwoche“ ist bereits zum fest etablierten Format der Bachwoche geworden und bisher einmalig in der deutschen Festspiel-Landschaft. Das Konzept von Petra Mengeringhausen hat zum Ziel, die Musik aktiv zu begreifen, also „Musik zum Anfassen“. Die einzelnen Kurse sind am Programm der Bachwoche orientiert, somit haben Eltern und Kinder die Möglichkeit, die Bachwoche zu erleben, abgerundet durch Besuche von Künstlern in den Workshops.

Jeder Workshop hat ein eigenes Oberthema, die einzelnen Kurse sind in sich abgeschlossen und können als Abo für eine ganze Woche oder auch tageweise besucht werden, sie bauen nicht aufeinander auf. Musikalische Vorkenntnisse sind, bis auf den Kurs „Crossover B-A-C-H“, nicht notwendig, insbesondere um Kindern und Jugendlichen einen unbeschwerten und freien Zugang zur Musik aber auch zu Ihrem Lieblingsinstrument zu bieten.

Konzept und Leitung:

Petra Mengeringhausen (Dipl. Musikpädagogin) Fachleiter:

Monika Faude-Greifenstein Christine Dressel Annemarie Kreuzer Thomas Wagner Viola Wenk

Die Workshops inden täglich im PlatenGymnasium Ansbach (Bahnhofstraße 15) von 9:30 bis 13:30 Uhr statt, um 13:15 Uhr präsentiert jeder Workshop seine Ergebnisse. Eltern, Großeltern, Freunde und Bekannte sind hierzu herzlich eingeladen.

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STETS AUF DER HÖHE DER ZEIT DIE BACHWOHE ANSBACH SEIT 1947

Die Bachwoche übersiedelt nach Ansbach | Erster Auftritt des „Pfarrwaisenhauschores“ (Windsbacher Knabenchor) | Fritz Neumeyer und Gustav Scheck spielen auf historischen Instrumenten | Edith Picht-Axenfeld

200. Todestag Bachs | Erstmalige Nutzung von St. Gumbertus für einen Festgottesdienst | Landesbischof Hanns Lilje spricht über „Bach – Musik aus Glauben“ | Edith Picht-Axenfeld spielt das Wohltemperierte Klavier

Bachfest der Neuen Bachgesellschaft zusammen mit der Bachwoche Ansbach. Prominente Künstler: Thomanerchor, Karl Richter, Yehudi Menuhin, Wolfgang Schneiderhan, Pierre Fournier, Aurèle Nicolet

Währungsreform | alliierte Luftbrücke versorgt West-Berlin nach russischer Blockade | In Paris wird der Citroen 2 CV, die „Ente“, vorgestellt | Staat Israel wird gegründet

Walter Ulbricht wird Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED | Kassenschlager im Kino: „Schwarzwaldmädel“ (14 Mio. Zuschauer) | Premiere des Kleinwagens Lloyd 300, der „Leukoplastbomber“

Neugliederung der DDR: die bisherigen fünf Bundesländer werden durch 14 Bezirke ersetzt | Die erste Bild-Zeitung erscheint | Argentinien trauert um „Evita“ Perón

„Wunder von Bern“: Deutschland Fußball-Weltmeister | J. R. R. Tolkien veröffentlicht die Saga „Der Herr der Ringe“ | Elvis Presley nimmt seine erste Schallplatte auf

1948

1950

1952

1954

1947

1949

1951

1953

Marshall-Plan zum Wiederaufbau Europas | Mahatma Gandhi wird Indiens Premierminister | Uraufführung von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“

Grundgesetzt tritt in Kraft | Adenauer erster Bundeskanzler | Gründung der DDR | Fußballteam des FC Turin stirbt bei Flugzeugabsturz

1. Fünfjahresplan der DDR | Hildegard Knef hüllenlos im Film „Die Sünderin“ | Traumhochzeit und Stoff fürs Goldene Blatt: deutschstämmige Soraya heiratet Schah von Persien

Erstbesteigung des Mount Everest | Elisabeth II. wird zur Königin gekrönt | 17. Juni: Volksaufstand in der DDR | Marylin Monroe ziert den ersten „Playboy“

Erste Bachwoche in Pommersfelden / Schloss Weissenstein vom 27. Juli bis 3. August. Künstler der ersten Stunde sind Ludwig Hoelscher, Ferdinand Leitner und Carl Seemann.

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Erste Konzerte in der wiederhergestellten Orangerie | Orgelkonzerte mit Thomaskantor Günther Ramin und André Marchal (Paris) | erstmals „Matthäus-Passion“ (Ltg. Kurt Thomas) | Wilhelm Kempff spielt Goldberg-Variationen

Gründung des „Vereins der Freunde der Bachwoche“ | Erstes Orgelkonzert mit Helmut Walcha | „Kunst der Fuge“ in Rothenburg | Erste h-Moll-Messe (Ltg. Theo Egel) | Konzert auf dem Bahnhof für Russland-Heimkehrer

Erstmalige Aufführung von Kantaten (Ltg. Fritz Grischkat) und der „Johannes-Passion“ (Ltg. Kurt Thomas, im Münster Heilsbronn)

Keine Bachwoche. Werbekonzert für hochrangige Gäste und Politiker auf Schloss Brühl. Hier tritt erstmals ein Cembalist namens Karl Richter in Erscheinung


Dietrich Fischer-Dieskau singt Solo-Kantaten | Erstmals Fritz Wunderlich, Peter Pears und der Münchner Bachchor | Sonderkonzert ohne Bach-Werke mit dem Gitarristen Andres Segovia

Fürst Rainier heiratet Grace Kelly | Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) | Bill Haleys „Rock Around the Clock“ ist Nummer-Eins-Hit

1956

Erster Staatsempfang des bayer. Ministerpräsidenten | „Freunde der Bachwoche“ stimmen erstmals gegen Umzug nach München | Die Nachfrage nach Eintrittskarten wird immer größer | Henryk Szeryng spielt Solo-Sonaten

Johannes-Passion in Star-Besetzung (Buckel, Töpper, Pears, Wunderlich, Prey, Engen) | Erstmals George Malcolm (Cembalo), Jörg Demus (Klavier) und Hedwig Bilgram (Orgel)

US-Präsident Kennedy: „Ich bin ein Berliner“ | ElyséeVertrag besiegelt deutsch-französische Aussöhnung | Start der Fußball-Bundesliga | HitchcockThriller „Die Vögel“

Blutige Kulturrevolution in China durch Mao Zedong | Udo Jürgens gewinnt den Grand Prix Eurovision de la Chanson („Merci Chérie“) | Im Wembley-Stadion fällt das umstrittenste Tor aller Zeiten

1963

1966

Putsch in Kuba durch Che Guevara und Fidel Castro | Die erste Barbie-Puppe wird verkauft | Erstmals läuft das Sandmännchen im DDR-Fernsehen

1959

Januar: „Freunde der Bachwoche“ entscheiden sich für Verbleib in Ansbach | Kurz-Bachwoche erstmalig unter Trägerschaft der Stadt | Rudolf Hetzer wird künstl. Leiter | „Blaues Heft“ | Artur Grumiaux (Geige) spielt Bach

1955

1957

1961

1964

Gründung der Bundeswehr | Beitritt der BRD zur NATO und der DDR zum Warschauer Pakt | Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen | erste „documenta“ in Kassel

Römische Verträge als Vorläufer der heutigen EU | Erich Mielke wird Minister für Staatssicherheit | russischer SputnikSatellit eröffnet Raumfahrt-Zeitalter

Bau der Berliner Mauer | die „Pille“ kommt auf den Markt | Oscar für „Ein Pyjama für Zwei“ mit Doris Day und Rock Hudson

Die USA greifen in den Vietnamkrieg ein | DDR-Rentner dürfen West-Verwandtschaft besuchen | Nelson Mandela wird zu lebenslanger Haft verurteilt (Freilassung 1990)

Erstmals WeihnachtsOratorium (Wiener Sängerknaben, Ltg. Karl Richter) | Ralf Kirkpatrick (Cembalo) spielt die sechs Partiten | Werner Egk dirigiert die Solistengemeinschaft

Zehn Jahre Bachwoche: Karl Richter dirigiert beide Passionen und die h-Moll-Messe | Motetten in Heilsbronn: Kurt Thomas mit den Thomanern | Menuhin, Kirkpatrick, Fournier. 1958 keine Bachwoche

Erstmals KonzertWiederholungen zur Befriedigung der Nachfrage | „Kunst der Fuge“ mit dem Boccherini-Quartett | Orgelkonzert HansMartin Schneidt in St. Gumbertus

Letzte Bachwoche unter Leitung von Karl Richter und Carl Weymar | Richter spielt mit W. Schneiderhan Bachs Violinsonaten | Erstmalige Nutzung des OnoldiaSaales | Orgelkonzert Jean Guillou (Paris)

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Lara Hausleitner

MANCHE HALTEN DEM MUSIKFEST SEIT JAHRZEHNTEN DIE TREUE SEIT JE HER BILDEN DIE BACHWOCHEN-HELFER DAS RÜCKGRAT DER FESTSPIELE

Im Alltag sind sie Ingenieure und Lehrer, Anwälte, Theologen, Polizisten und Computerexperten, Schüler und Studenten – die rund 70 Bachwochenhelfer. Sie sind die „guten Geister“ des internationalen Musikfests, die hinter den Kulissen dafür sorgen, dass „es läuft“, wie Oberhelfer Stephan Uhlig erklärt. Sie sortieren Programmhefte und kontrollieren Eintrittskarten, schleppen Stühle und Notenpulte, betreuen die Künstler während der Konzerte und chaufieren sie zum Hotel oder Auftrittsort. Auch bei kleinen Notfällen greifen sie ein: wenn ein Hemd vor Schweiß trieft, ein Zahn schmerzt oder die eleganten Konzertschuhe vergessen wurden. Oder wenn ein Musiker die Fassung verliert wegen eines klingelnden Telefons.

Bei jeder Bachwoche sind etliche neue Helfer mit von der Partie – vor allem musikbegeisterte Schülerinnen und Schüler. Sie bekommen ein kleines Honorar und haben die Gelegenheit, den Konzerten zu lauschen. Diese Chance ist für die meisten der jungen Leute Motivation genug, sich während des Musikfests von früh bis spät ins Zeug zu legen. Viele Helfer machen nur bei einer einzigen Bachwoche mit, doch manche halten dem Musikfest seit Jahrzehnten die Treue. Sie nehmen alle zwei Jahre Urlaub ab Ende Juli und reisen teils aus der Ferne an, „um wieder und wieder den besonderen Flair zu erleben“, sagt Uhlig. Als Stephan Uhlig 1973 als Bachwochenhelfer aning, war er noch nicht volljährig. „Das war damals möglich, heute muss man wegen des Jugendschutzes 18 sein“, erzählt der mittlerweile 60-Jährige, der als Geologe im Raum München ein Ingenieurbüro betreibt. Nur eine einzige Bachwoche hat er seitdem verpasst, was einem längeren Auslandsaufenthalt geschuldet war. In seiner Anfangszeit sei die Arbeit der Helfer „beschaulicher“ gewesen, denkt Uhlig zurück. „Das lag daran, dass noch keine Parallelveranstaltungen stattfanden. Es waren auch nicht so viele Helfer wie heute. Wir passten alle auf die Empore der Karlshal-

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Stephan Uhlig erlebte 1973 seine erste Bachwoche. Heute koordiniert er als einer der Oberhelfer das gesamte Helfer-Team.

le. Dort haben wir gewartet, bis unten einer piff und rief, dass zum Beispiel zwei Leute gebraucht werden. Stühle von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort zu bringen, gehörte bei seinen ersten Bachwochen zu den Hauptaufgaben, schildert Uhlig. „Es gab ausgeklügelte Stuhl-Rochaden durch die Stadt.“ Der 60-Jährige ist einer der vier Oberhelfer bei dem Musikfest. „Dieser Begriff ist im Zusammenhang mit jenen parallelen Veranstaltungen aufgetaucht, die es nötig machten, mehr zu koordinieren. So wurden einige von uns, die schon Erfahrung hatten und gern auch mehr Verantwortung übernehmen wollten, zu Oberhelfern. Wir treffen uns regelmäßig zur Vor- und Nachbereitung und haben ein internes Handbuch, das immer fortgeführt wird.“ Und was genau gilt es zu organisieren? „Wir planen alle zeitlichen Abläufe - zum Beispiel muss ja bei den Landpartien alles reibungslos klappen. Wir klären, wann welcher Künstler ankommt und wann die Veranstaltungsräume vorbereitet werden müssen“, erläutert Uhlig: „Wann gibt es ein Zeitfenster zwischen den Proben für das Auslegen der Platzkarten? Wo sind Transporte von Stühlen oder Notenpulten nötig? All das wird koordiniert, nachdem wir im Vorfeld das Programm mit den Probenplänen durchgeackert haben.“ Zudem werden die Neulinge von den Oberhelfern vorbereitet: „Den Junghelfern müssen wir erst mal erklären, was sie zu tun haben, was etwa bei der Kontrolle der Eintrittskarten zu beachten ist.“ An seine eigene erste Bachwoche hat Uhlig beste Erinnerungen. „Es war unglaublich toll, weil die Orangerie nach langjähriger Renovierung endlich wieder zur Verfügung stand. Das erste Konzert dort war ein Riesenerlebnis.“ Der Geologe hat zudem eine familiäre Verbindung zu dem Musikfest: Seine verstorbene Mutter war Sänge-

Als ausgebildete Cellistin weiß Konzertbetreuerin Petra Mehringer bestens, worauf es bei den Bachwochen-Künstlern ankommt.

rin und trat 1948 bei der Bachwoche als Solistin auf - unter ihrem Mädchennamen Hilde Funk. Stephan Uhlig ist selbst ein guter Sänger, wenn ihm auch berufsbedingt wenig Zeit für diese Leidenschaft bleibt. „Beim Helferkonzert möchte ich aber mitsingen.“

MANSCHETTENKNÖPFE FÜR ROSTROPOWITSCH Dieses Konzert mit Solisten, Chor und Orchester aus den Reihen der musikalischen Bachwochenhelfer gehört längst zum festen Repertoire und indet diesmal am Sonntag, 6. August, um 15 Uhr in St. Johannis statt. Auch die Ansbacher Cellistin Petra Mehringer wird mitspielen. Sie ist seit 1975 als Helferin mit von der Partie. „Wenn ich mal nicht dabei war, hatte das einen wichtigen Grund“, schmunzelt Mehringer. „Zum Beispiel wurde eins meiner drei Kinder geboren während der Bachwoche.“

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NUR WER SICH ÄNDERT, BLEIBT SICH TREU DAS FREIBURGER BAROCKORCHESTER FEIERT SEIN 30-JÄHRIGES BESTEHEN

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Georg Rudiger


Dreißig Musikerinnen und Musiker sitzen im Halbkreis im großen Probensaal des Freiburger Ensemblehauses. An den nackten Betonwänden sind einzelne Holzpaneele angebracht, die die Akustik optimieren. Statt eines Dirigenten steht der Sprecher Wolfgang Newerla in der Mitte. Auf den Notenpulten liegt Christoph Willibald Glucks Ballettmusik „Don Juan ou Le festin de pierre“. Es ist die erste Probe für dieses Konzertprojekt, das den Titel „Don Juan und Himmelfahrt“ trägt. Gottfried von der Goltz leitet vom Konzertmeisterpult aus die Probe. Immer wieder dreht er sich während des Spielens zur Seite, um auch zu den hinteren Reihen des Orchesters Kontakt aufzunehmen. Besonders die Anschlüsse der Tänze an die Texte sind heikel. Ein einziger Impuls mit dem Körper – und das Tempo muss stehen. Der Streicherklang ist rau und geräuschhaft, die Hörner schmettern. Und wenn die Höllenfahrt Don Juans beginnt, dann werden die Punktierungen zusätzlich geschärft. „Sollen wir das Ganze jetzt einmal rocken?“, fragt eine Musikerin. Cembalist Torsten Johann bittet darum, in einer bestimmten Passage „mehr auf Linie zu spielen“ – und begründet das mit dem harmonischen Verlauf. Auch die Musiker an den hinteren Pulten melden sich zu Wort, ehe Gottfried von der Goltz festlegt, welche Version nun genommen wird.

für welches Repertoire aufziehen, welchen Stimmton wir nehmen müssen und wie wir phrasieren. Da gibt es ja große Unterschiede, beispielsweise zwischen dem französischen und italienischen Repertoire.“ Der 52-jährige Geiger, der auch eine Professur für Barockvioline an der Freiburger Musikhochschule hat, gehört zu den Gründungsmitgliedern des Ensembles. Es war die Geigenklasse des im März dieses Jahres verstorbenen Violinprofessors Rainer Kussmaul mit begabten und interessierten Studenten wie Thomas Hengelbrock und Petra Müllejans, in der auch mal mit Barockinstrumenten experimentiert wurde. Die Idee, ein Orchester zu gründen, kam dann von den Studenten selbst. Gottfried von der Goltz hatte damals schon mit 21 Jahren eine feste Stelle im NDR-Sinfonieorchester, die er für das Abenteuer Freiburger Barockorchester aufgab. „Wir hatten einfach alle Lust darauf, etwas Neues auszuprobieren. Das lag auch in der Luft – auch das Concerto Köln und andere freie Ensembles wurden ja damals gegründet.“ Seit dem ersten Konzert am 8. November 1987 in der Burgheimer Kirche in Lahr hat sich vieles verändert. Das Repertoire wurde von der Barockzeit über die Klassik und Romantik bis hin zu zeitgenössischer Musik erweitert. 2009 wurde bei der Bachwoche Ansbach das von Manfred Trojahn für das FBO komponierte „Ansbachische Konzert“ uraufgeführt.

„WIR HATTEN LUST, ETWAS NEUES AUSZUPROBIEREN“ Zwar leitet nicht jedes einzelne Orchestermitglied einen Probenabschnitt, wie das noch bei der Gründung des Freiburger Barockorchesters vor dreißig Jahren der Fall war, aber die rege Diskussionskultur und die Wertschätzung jedes einzelnen Orchestermitglieds hat sich bis heute gehalten. „Das war eine eher untypische Probe, weil wegen des unklaren Notenmaterials viele Fragen auftauchten“, sagt Gottfried von der Goltz in der Pause. „Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine große Stilsicherheit gewonnen. Wir wissen inzwischen, welche Saiten wir

Von Anfang an dabei: Die Gründungsmitglieder Petra Müllejans und Gottfried von der Goltz leiten beide als Konzertmeister das Ensemble vom ersten Pult aus.

Neben reinen Orchesterwerken spielt das FBO auch viele Konzerte mit Chören und sitzt für Opernproduktionen im Graben. Von 2014 bis 2016 waren die Freiburger Residenzorchester beim renommierten Opernfestival in Aix-en-Provence. Nahezu jedes Jahr spielen sie eine szenische Produktion am Theater an der Wien. Die mit René Jacobs entstanden CD-Einspielungen von Mozart-Opern wie „Idomeneo“, „La Clemenza di Tito“ oder „Don Giovanni“ gewannen wichtige Preise. Auch die Schumann-Trilogie der Konzerte für Violine (Isabelle Faust), Violoncello (Jean-Guihen Queyras) und Klavier (Alexander Melnikov) wurde mehrfach ausgezeichnet. Es gibt aber

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DER SCHWARZMARKT BLÜHTE, MÖBLIERTE ZIMMER WAREN MELDEPFLICHTIG ANSBACH IM JAHRE 1948

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Kaum zu glauben, aber bis 1977 Wirklichkeit – Autoverkehr in Ansbachs Innenstadt!

Wolfgang F. Reddig


Das Jahr 1948 brachte für Ansbach die Bachwoche1), das 1200-jährige Stadtjubiläum und natürlich die Währungsreform2). In einer Extraausgabe erläuterte die „Fränkische Landeszeitung“ im Juni die „Umwertung des Altgeldes“ nach dem Prinzip 10:1 und die Ausgabe des Kopfgeldes von insgesamt 60 Mark.3) Selbstverständlich wollten auch die Musiker der Bachwoche vom Organisator Dr. Carl Weymar4) in der neuen Währung bezahlt werden! Erstaunt stellte man fest, dass sich die Schaufenster der Geschäfte wieder mit Waren füllten. Wer sich über Ansbach und die Welt informieren wollte, musste sich gedulden, denn die lokale Zeitung erschien nur zweimal in der Woche. In Frankfurt am Main trafen zu dieser Zeit die drei Militärgouverneure der Westzonen mit elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder zusammen, um über die Bildung einer Bundesregierung zu beraten. Die Frage stand im Raum, ob das Angebot der Alliierten zur endgültigen Teilung Deutschlands führen könnte. Die Großmächte befanden sich im „Kalten Krieg“, amerikanische „Rosinenbomber“ logen gegen die Berlin-Blockade der Sowjets an. Zahlreiche CARE-Pakete landeten auch in der Stadt an der Rezat. Hier lebten um 1948 etwa 33.000 Einwohner. Darunter befanden sich mehr als 7.000 Heimatvertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte. D.h. mindestens jeder vierte Einwohner war nicht in Ansbach geboren worden. Der Schwarzmarkt blühte und nicht belegte, möblierte Zimmer waren meldeplichtig. In den Auffanglagern der Karlshalle, der Karolinen-Turnhalle oder in der Turnhalle der Güllschule markierte oft-

1) Andreas Bomba, Kein Unbekannter – Bach in Ansbach, in: Hans-Joachim Schulze, Bach in Ansbach, Leipzig 2013, S. 7-18.

Die Uzstraße 1950, heute zentrale Achse der Fußgängerzone. Benannt nach dem Ansbacher Dichter Johann Peter Uz (1720-1796)

mals eine Wäscheleine oder ein Kreidestrich auf dem Boden das eigene „Daheim“. Wer eine Wohnung besaß, musste sich streng an die „Beleuchtungszeit“ halten, sie galt von 6.30 Uhr bis 8.00 Uhr und von 17.00 Uhr bis 22.00 Uhr. Wer danach Strom verbrauchte, wurde für 1 Monat gesperrt. Die amerikanische Militärregierung war mit der Entnaziizierung und Demokratisierung beschäftigt, nicht nur neue Schulbücher waren genehmigungsplichtig.

WOCHENMARKT UND WOHNUNGSNOT Die Geldumstellung reduzierte die Schulden der Stadt von einen Tag auf den anderen um 1,5 Millionen, aber auch das Guthaben schwand um 4,5 Millionen, alles in allem hatte man so einen Verlust von 3 Millionen Reichsmark zu verkraften. So konnten laufende Bauaufträge denn die vollständige Wiederherstellung der Kriegsschäden und Wohnungsbau waren das Gebot der Stunde - nur schwer inanziert werden. Hatten vorher die Baumaterialien gefehlt, so konnte man nun Löhne, Stahl, Zement und Steine nicht bezahlen. Andererseits

2) Lokaler zeitgeschichtlicher Überblick bei Hermann Dallhammer/ Werner Bürger, Ansbach. Geschichte einer Stadt, Ansbach 1993, S. 363-388, zur Bachwoche S. 387-389.

3) Soweit nicht anders vermerkt, nach Stadtarchiv Ansbach, Zeitungsarchiv, Jahrgang 1948.

4) Ein „Organisationsgenie“ nach Dallhammer/Bürger, Ansbach, S. 387.

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WEDER EINE MODENSCHAU NOCH EINE AUTOMOBILAUSSTELLUNG

Andreas Bomba

WIE DIE BACHWOCHE NACH ANSBACH KAM UND WIE SIE IN ANSBACH BLIEB.

Modenschau oder Automobilausstellung. Parken durfte man immerhin noch in der Innenstadt! (Bachwoche Ansbach 1952).

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Am 12. Januar 1948 hielt der Ausschuss friedigung zur Kenntnis.“ Ob die Ansbacher des Ansbacher Stadtrates für Bau und WiederBürger wussten oder wenigstens ahnten, was aufbau seine erste Sitzung im neuen Jahr ab. sie sich damit eingebrockt hatten? Jedenfalls Oberbürgermeister Ernst Körner berichtete, sagte Stadtrat Stecher „auch vom Volkshaus ein Herr Dr. Weimer habe vorgesprochen und die bestmögliche Unterstützung zu“. gefragt, „ob Einverständnis mit der Verlegung der jährlich stattindenden ‚Bach-Woche’ nach DAS ENDE IN POMMERSFELDEN Ansbach bestehen würde“, so das Protokoll. Jemand änderte später „Weimer“ in Weymar. Dr. Carl Weymar hatte, im Auftrag von „Diese ‚Bach-Woche’“, so Körner weiter, „wurLudwig Hoelscher, Ferdinand Leitner und Karl de bisher im Schloß Pommelsbrunn [sic!] abCarl Weymar, Fränkische Landeszeitung 1950 Graf von Schönborn, im Vorjahr die Bachwogehalten, das sich in Privatbesitz beindet und che organisiert. An seinem Gebaren in Schloss Weissenstein war für eine Durchführung vom nächsten Jahr ab nicht mehr in Betracht harsche Kritik laut geworden: er habe nicht die Sache, also die Mukommt.“ Geplant sei, die Veranstaltungen in der Woche vom 27.7. sik Johann Sebastian Bachs in den Vordergrund gestellt, sondern bis 3.8.1948 im Festsaal des Schlosses und in der St. Johanniskirche sich selbst. Formuliert wurde die Kritik von Oskar Embacher, einem abzuhalten, Regierungspräsident Dr. Schregle begrüße das Vorhaben Münchner Gewerkschafter, der womöglich die Bachwoche selbst orsehr, und auch Landrat Dr. Neff habe seine Unterstützung zugesagt. ganisieren und dafür, wie Weymar, bezahlt werden wollte. Der Kritik Körner wurde auch konkret: „350 Gäste, die sich bereits fest angeschloss sich die Familie Schönborn an. In einer Unterredung zwischen meldet haben, müßten, soweit sie nicht in Hotels und Gasthöfen unGraf Karl und dem musikalischen Leiter, Ferdinand Leitner am 9. Okterkommen, in Ansbacher Familien und im Landkreis aufgenommen tober 1947, wurde festgelegt, dass Weymar – auf dessen Mitwirwerden.“ kung Leitner ultimativen Wert legte – „sich nur um die Organisation ausserhalb des Schlosses zu kümmern habe“ [Unterstreichungen Als Voraussetzung benannte er eine Anweisung an das Wohoriginal]. De facto bedeutete das: Hausverbot für Dr. Carl Weymar! nungsamt, „daß diejenigen Familien, die sich einschränken und einen Er solle sich außerdem so einrichten, „dass während der Bachwoche Gast beherbergen, keine nachträglichen Schwierigkeiten durch evtl. er selbst nicht infolge anwachsender Arbeit durch diese überwältigt Beschlagnahme von Räumen bekommen.“ Noch waren schließlich wird“. Auf Betreiben auch des Landrats von Höchstadt, Dr. Valentin Millionen vor allem sudetendeutsche Flüchtlinge nicht untergebracht! Fröhlich, sollte ein Vertrag die Zuständigkeiten regeln. Ludwig HoDer Ausschuss, so schließt diese Notiz, nahm diesen Bericht „mit Beelscher dagegen, der eigentliche Motor der Bachwoche, hatte Weymar die Freundschaft bereits gekündigt, auch Oskar Embacher verschwand von der Bildläche. Verschiedene Schreiben gingen zwischen dem Grafen von Schönborn und Weymar hin und her; zum Jahresende bat Weymar um ein Treffen bis spätestens 10. Januar 1948; einen kleinen Überschuss der vergangenen Bachwoche wolle er noch überweisen, „da man

Musica Praeudium vitae eternae – Musik ist ein Vorspiel aufs ewige Leben. Landesbischof Dr. Hanns Lilje, Hannover, hält am 28. Juli 1948 im Prunksaal der Ansbacher Residenz die Gedenkrede zu Bachs Todestag. (Bild: A. Hoelscher)

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VOLLENDET UNVOLLENDET FAKTEN UND MYTHEN ZU BACHS KUNST DER FUGE

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Michael Maul


Schon lange vor Johann Sebastian Bach war das Komponieren von Fugen eine der beliebtesten Herausforderung für Komponisten, die im Kontrapunkt zu Hause waren. Und die Namen der berühmtesten „starken Fugisten“ älterer Zeit – Frescobaldi, Scheidt, Froberger, Buxtehude oder Reincken – belegen: die Gattung war zunächst eine Domäne der Organisten. Kein Wunder also, dass Johann Mattheson (16811764) in seiner epochalen Enzyklopädie Der Vollkommene Kapellmeister 1739 unverblümt den Wunsch äußerte: „etwas dergleichen von dem berühmten Herrn Bach in Leipzig, der ein grosser Fugenmeister ist, ans Licht gestellet zu sehen“.

satz Gestalt an, einen ganzen Zyklus von Fugen, Gegenfugen, Doppelfugen, Spiegelfugen und Canons (Oberbegriff: „Contrapunctus“) zu schreiben, der exemplarisch – und mit der Bach eigenen Rafinesse – die Verarbeitungs- und Kombinationsmöglichkeiten eines einzigen Themas aufzeigen sollte. Ob Bach damals schon ein Werk vor Augen hatte, das schließlich den selbstbewussten Namen Die Kunst der Fuge tragen würde, wissen wir nicht, weil er jenen neun Fugen in der Originalhandschrift keinen Projekttitel voranstellte und diesen auch später nie ergänzen sollte. Merkwürdigerweise geriet das Fugen-Projekt dann aber ins Stocken. Nach dem Quellenbefund zu urteilen, dürfte die Niederschrift von fünf weiteren Sätzen (BWV 1080/8, 11–13 und 15) nach einer längeren Unterbrechung erst um 1745/46 erfolgt sein. Der restliche Teil der Originalhandschrift besteht aus drei dem eigentlichen Notenband hinzugefügten losen Beilagen: einer Bearbeitung der dreistimmigen Spiegelfuge für zwei Cembali (BWV 1080/18, niedergeschrieben wohl Mitte der 1740er Jahre), dem Augmentationskanon BWV 1080/14 (circa 1747/48) und dem berühmten Fragment der „BACH“-Fuge BWV 1080/19 (circa 1748/49).

Es ist gut möglich, dass die Bemerkung des Hamburger Kritikerpapstes am gut 400 Kilometer entfernten Leipziger Thomaskirchhof eine Initialzündung auslöste. Sprich: Dass sie Bach den entscheidenden Impuls dafür lieferte, ein von vornherein zur Publikation gedachtes Kompositionsprojekt anzugehen; eines, mit dem der in die Jahre gekommene Thomaskantor seiner einzigartigen Fugenkunst ein Denkmal setzen wollte. Tatsächlich lässt sich aus kontrapunktischen Übungen, die Bach gemeinsam mit seinem ältesten Sohn Wilhelm Friedemann um 1739 zu Papier brachte, ersehen, dass ihn das charakteristische Soggetto (Thema) der erst posthum (1751) gedruckten Kunst der Fuge schon damals beschäftigte. Mit der um 1742 angefertigten Reinschrift von neun Sätzen (BWV 1080/1–3, 5–7, 9) nahm sein Vor-

Das Bach-Werkverzeichnis (BWV) listet den Beginn sämtlicher Fugen und Kanons der erst 1751 gedruckten Kunst der Fuge, BWV 1080, auf.

Einige Notizen im Manuskript und das Vorliegen einer Reinschrift von BWV 1080/14, die ohne jeden Zweifel als Abklatschvorlage dienen sollte, bezeugen, dass der Plan, die Werke – zumindest teil-

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EIN CEMBALO FÜR BACH

Markus Zepf

EINE SPURENSUCHE

Die Tastenmusik von Johann Sebastian Bach auf einem Cembalo oder der Orgel wiederzugeben, ist im Klassikbetrieb nichts Außergewöhnliches mehr. Seit Jahrzehnten bemüht sich die „historisch informierte Aufführungspraxis“, dem Klang vergangener Epochen mittels historischer bzw. dem historischen Vorbild nachempfundener Musikinstrumente im Verbund mit einer entsprechenden Spielweise nachzuspüren. Doch wie alle Kunst ist auch dieser Bereich nicht frei von Moden. Galten noch vor wenigen Jahrzehnten die im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelten, optisch massiven Cembali der Firma Neupert als Zeichen einer authentischen Wiedergabe, so hat sich das Blatt inzwischen gewendet und es zählt zu den Besonderheiten, wenn Musiker wie Jörg Halubek öffentlich mit Werken Bachs darauf konzertieren. Es stellt sich die Frage, was wir von Johann Sebastian Bachs Cembali eigentlich wissen.

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Die Quellen zeigen sich nicht nur zu den Tasteninstrumenten, die Bach benutzte, von einer „austernhaften Verschwiegenheit“, wie Paul Hindemith 1950 bemängelte. Eine brauchbare Spur liefern die Rechnungsbücher der Köthener Hofhaltung, denn sie verzeichnen am 1. März 1719 die Ausgabe von 130 Talern für den „Capellmeister Bachen vor das zu Berlin gefertigte Clavessin und Reyse Kosten“. Das längst verschollene Instrument erscheint noch 1784 im Inventar der fürstlichen Musikkammer als das „große Clavecin oder Flügel mit 2 Clavituren [sic], von Michael Mietke in Berlin, 1719“. Technisch dürfte es Mietkes um 1710 gebautem, aber unsigniertem Cembalo (Umfang F1, G1, A1–c3, Register 8'–4' auf dem unteren und 8' auf dem oberen Manual) aus dem Charlottenburger Schloss entsprochen haben. Das alte Längenmaß „Fuß“ (z.B. 8’) bezeichnet die längste (= am tiefsten klingende) Saite eines Registers. 4' klingt eine Oktave höher als die „Normallage“ 8', 16' eine Oktave tiefer.


Nur wenig mehr ist über Bachs eigene Musikinstrumente bekannt. Das im Herbst 1750 erstellte Nachlassverzeichnis nennt eine Laute, neun Streichinstrumente, fünf Cembali unterschiedlicher Größe, ein Spinett sowie zwei „Lautenwerke“ genannte Sonderkonstruktionen mit Darm- statt Messing- und Eisensaiten. Dass in dieser Aufstellung Clavichord und Hammerklavier fehlen, ist auffällig. Dass Bach italienische oder französische Cembali besaß, ist ebenso denkbar, wie (mittel-)deutsche Instrumente. Sein innovationsfreudiger Vetter, der Jenaer Stadtorganist Johann Nicolaus Bach, zum Beispiel fertigte Lautenclaviere mit wohltemperierter Stimmung. Als Thomaskantor in Leipzig stand Johann Sebastian Bach ein 1672 angeschafftes Cembalo von Ludwig Compenius aus Halle/Saale zur Verfügung, für dessen Unterhalt er bis 1734 zuständig war. Danach ließ er dessen Plege dem Orgelbauer Zacharias Hildebrandt übertragen, einem ehemaligen Gesellen Gottfried Silbermanns. Aus jener Zeit datiert die gemeinsame Entwicklung eines Lautenclaviers und es wäre durchaus denkbar, dass die im Nachlass genannten Lautenclaviere aus dieser Zusammenarbeit oder von seinem Jenaer Vetter stammten. Aufgrund von Bachs Beziehungen nach Berlin und Hamburg kämen neben Mietke auch Cembalobauer wie Johann Christoph Fleischer und Hieronymus Albrecht Hass (Hamburg), Christian Vater (Hannover) oder die Familie Gräbner in Dresden für Bachs eigene Collection in Betracht. Wann Orgel und Regal zu starck bey Music Chören, so diene ich vergnügt: Des Clavicimbels Schall lässt durch die WunderFaust auch Wunderdinge hören, es dringt durch Hertz und Ohr der angenehme Hall. Kommt eine schöne Fug und rare Phantasien, so muß, was sonst betrübt, im Augenblick entliehen. (Kupferstich von Christoff Weigel, Regensburg 1698)

Optisch unterscheiden sich deutsche Cembali durch ihre doppelt gebogene Hohlwand von jenen aus Italien, Frankreich oder den Niederlanden, deren Hohlwand in Höhe der Bass-Saiten in einem jeweils charakteristischen Winkel abknickt. Für die Klangunterschiede der regionalen Schulen ist aber nicht der Grundriss, sondern das Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich. Neben dem Anreißpunkt der aus Kolkrabenfedern (heute vielfach aus Kunststoff) gefertigten Kiele an den Messing- und Eisensaiten sind es vor allem der aus dünnem Fichtenholz gearbeitete Resonanzboden und die auf ihm parallel zur Hohlwand verlaufenden Stege, die den Klangcharakter eines Instruments bestimmen.

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BACH UND LUTHER? ACHT FRAGEN AN DEN FREIBURGER MUSIKWISSENSCHAFTLER UND THEOLOGEN MEINRAD WALTER

2017 wird an den Wittenberger Thesenanschlag erinnert. Mit ihm beginnt die Reformation. Formuliert hat die 95 Forderungen ein

gelehrter

Augustinermönch

namens

Martin Luther. Wir feiern also ein Reformationsjubiläum und erst in zweiter Linie ein Luther-Jahr. Damals wie heute stehen jedoch nicht Papiere und Diskurse im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern Personen, die Thesen formulieren und verbreiten. Insofern ist es legitim, das Verhältnis protestantischer Kirchenmusik zur Reformation in die personale Konstellation „Bach und Luther“ zu fassen: Johann Sebastian Bach als wohl bedeutendster musikalischer Prediger reformatorischen Kirchen- und Glaubensverständnisses, und Martin Luther, der die Reformation in Gang setzte. Beide lebten zwei Jahrhunderte voneinander entfernt; just zweihundert Jahre nach dem Thesenanschlag, 1717, wechselte der Lutheraner Bach an den reformierten Hof nach Köthen. Hier hatte der Hofkepallmester, jedenfalls im Amt, nichts mit Kirchenmusik zu tun. 13 Jahre später, in Leipzig, wird er sich wehmütig zurückerinnern an den Ort, wo er glücklich war und „vermeinete, meine Lebenszeit zu beschließen“. Wie

durchdrungen

von

seinem

luthe-

risch-protestantischen Glauben Bach insgesamt komponierte, ist seit langem umstritten. Immer wieder wird auch das für den Gebrauch außerhalb der Kirche entstandene Werk mit religiösen Grundhaltungen in Verbindung gebracht. Das folgende Gespräch über Bach und Luther konzentriert sich auf die Kirchenmusik – so klar sind die Antworten hier nämlich auch nicht!

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Bach wird auch als „Fünfter Evangelist“ bezeichnet. Nun hat Bach ja kein Evangelium geschrieben. Aber nach Meinung vieler legt er das Evangelium in seiner Musik aus. Bach predigt. Was ist am Evangelisten Bach also falsch – und was vielleicht doch richtig? Auch das „Heilige Land“ wird als „Fünftes Evangelium“ bezeichnet, weil dort das Evangelium besonders intensiv erlebbar wird. Ähnlich ist es mit Bach: Seine Musik bringt die facettenreiche biblische Botschaft höchst lebendig zum Klingen. Heute weltweit! Übrigens hat der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom (1866–1931) ja nicht von einem „Fünften Evangelisten“ gesprochen, sondern von Bachs Musik als einem „Fünften Evangelium“. Falsch wäre es, einseitig die Person des Komponisten, etwa als moralisches Vorbild, ins Zentrum zu rücken. Es geht um die Musik! Weil Bach alle kompositorischen Mittel überaus kreativ einsetzt, um das Evangelium „in Schwang zu bringen“ (Luther), hat der etwas überschwängliche Titel „Fünfter Evangelist“ seine Berechtigung. Viele heutige Hörerinnen und Hörer können sich auch mit Friedrich Nietzsche identiizieren. Er schrieb nach dem Erlebnis von Bachs Matthäuspassion: „Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“ Bach besaß Luthers gesamte Schriften in mehreren Ausgaben. Auch etliche Bibel-Übersetzungen. Ist er deshalb „Lutheraner“? Gab es auch andere maßgebliche Schriften, andere Übersetzungen? Die Bibel und Luther stehen zweifellos im Zentrum. Aber auch die literarisch-theologische Umgebung ist interessant. In Bachs theologischer Bibliothek, von der etwa 50 Buchtitel bekannt sind, gab es Gebetbü-

cher und sogenannte „Postillen“ mit Predigten entlang dem Kirchenjahr. Eines dieser Gebetbücher, die Christliche Bet-Schule (1668) von Johann Olearius, war inspirierend für den Wortlaut des Actus tragicus BWV 106 von Bach; Passionspredigten des Rostocker Theologen Heinrich Müller wiederum standen Pate bei Picanders Libretto zur Matthäuspassion. Und besonders eindrucksvoll sind die Randbemerkungen, die Bach eigenhändig in seine dreibändige, von Abraham Calov herausgegebene und kommentierte Lutherbibel eingetragen hat. Beim alttestamentlichen Bericht von der Einsetzung der Tempelmusik im ersten Buch der Chronik notiert er: „Merke wohl. Ein herrlicher Beweis, dass neben anderen Anstalten des Gottesdienstes besonders auch die Musica von Gottes Geist durch David mit angeordnet worden.“ Offenbar war dieser musikalische Aspekt der biblischen Botschaft für Bach nicht Vergangenheit, sondern aktuelle Gegenwart. Bach schrieb sich zum 1. Advent 1723 die Gottesdienstordnung der Leipziger Thomaskirche in die Noten. Was ist an dieser Ordnung reformatorisch, was lutherisch? Der schwedische Theologe und Erzbischof von Uppsala Nathan Söderblom (1866-1931) prägte den Begriff von Johann Sebastian Bach als „Fünfter Evangelist“.

Ein interessanter „Spickzettel“, den wir in dieser Partitur inden! Bach ruft sich den Ablauf eigens in Erinnerung, weil am Ersten Advent einige Besonderheiten zu berücksichtigen waren. Etliches an dieser Ordnung ist zunächst einmal „catholisch“, etwa mit Kyrie und Evangelium, weil das dem Konsens aus vorreformatorischer Zeit folgt. Typisch reformatorisch aber ist die deutsche Sprache mitsamt der Predigt. Und lutherisch ist nicht nur die im konzertanten Stil gehaltene „Hauptmusik“, also Bachs Kantate, sondern auch die wichtige soziale und gottesdienstliche Stellung des Kirchenmusikers. Er „umrahmt“ den Gottesdienst nicht mit Klängen, sondern er prägt ihn wesentlich mit. Das verdanken wir Luther.

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„EIN ABEND MIT VIER KIRCHENKANTATEN IST NICHT IN UNSEREM SINNE“ BACHWOCHE UND BACHFEST 1954: EINE SCHWIERIGE ANNÄHERUNG

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Andreas Bomba


Christian Schoen

DAS BACHFEST DER NEUEN BACHGESELLSCHAFT Am 27. Januar 1900 wurde in Leipzig die Neue Bachgesellschaft, kurz: NBG gegründet. „Neu“ deshalb, weil sie an die Stelle der am selben Tag aufgelösten Bach-Gesellschaft trat. Diese hatte den Zweck verfolgt, das gesamte Werk Johann Sebastian Bachs im Druck herauszugeben. Das Vorhaben war erfüllt, nun ging es darum, die Musik in ihrer Vielfalt auch bekannt zu machen. Zu diesem Zweck rief der NBG-Vorsitzende Hermann Kretzschmar (1848-1924) ein zentrales Bachfest ins Leben. Es sollte in festem Turnus an wechselnden Orten stattinden. Davon versprach sich die Gesellschaft, in deren Vorstand illustre Persönlichkeiten wie Thomaskantor Gustav Schreck (1849-1918), Thomasorganist Karl Straube (1873-1950), der Geiger Joseph Joachim (1831-1907) und Theologen wie Julius Smend (1857-1930) und Friedrich Spitta (1852-1924) saßen, Motivation und Anregungen für die jeweilige lokale Bachplege. Zudem konnten aus anderen Teilen des Landes anreisende NBG-Mitglieder kennenlernen, was vor Ort von tüchtigen Kirchenmusikern, Chören, Orchestern und Veranstaltern für Bach und seine Musik geleistet wurde. 1901 fand das erste Bachfest statt, in der Reichshauptstadt Berlin, 1904 in der Bach-Hauptstadt Leipzig das zweite, 1907 in Bachs Geburtsstadt Eisenach das dritte. Danach gerieten mit Chemnitz, Duisburg und Breslau und sogar dem österreichischen Wien Orte an der Bach-Peripherie ins Licht, und es gelang, mit wenigen Ausnahmen, ein jährlicher Turnus, bisweilen im Wechsel von „kleinen“ zu (ab 1912) „Deutschen“ Bachfesten. Neben der Vorstellung noch nicht bekannter Musik, vor allem aus dem Bereich der Kirchenkantaten, wurde auch über die rechte Art diskutiert, Bachs Musik aufzuführen. „Nur immer einförmig, würdevoll und keine Zusätze – das allein ist echt!“1 mokierte sich der Musikologe Max Seiffert (1868-1948). Klavier, Cembalo oder Clavichord? Alte Instrumente, große oder kleine Besetzungen? Solche Fragen bestimmten schon damals die Diskussion. Im Juni 1939 fand in Bremen das letzte Deutsche Bachfest vor dem Krieg statt. Wiederaufgenommen wurde die Tradition mit dem 27. Deutschen Bachfest 1950 in Leipzig. Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch schon zwei deutsche Staaten und, für die NBG und ihre Einheit, eine ungewisse Zukunft.

1) Zitiert nach Maria Hübner, Zur Diskussion um Aufführungspraxis in der Frühzeit der Neuen Bachgesellschaft. In: 100 Jahre Neue Bachgesellschaft, Leipzig 2001, S. 78.

2) Protokoll der Aussprache zwischen Vertretern der NBG und Funktionären der SED mit weiteren Details im Archiv der NBG.

Von wissbegierigen Bachwöchnern umlagert: Thomaskantor Günter Ramin (2.v.r.) nach seinem Orgelkonzert am 23. Juli 1952 in der Kirche St. Johannis

Am 4. Dezember 1943 traf ein Bombenangriff auf Leipzig auch den in der Nürnberger Straße 35 ansässigen Verlag Breitkopf & Härtel schwer. Dabei verbrannte auch das Archiv der NBG vollständig; gleichsam als Statthalter verblieb der damals siebzigjährige Karl Straube, der bereits 1939 das Thomaskantorat an seinen Schüler, den Organisten Günter Ramin (1898-1956) abgegeben hatte. Die als Institution nicht erloschene NBG wurde am 4. Juli 1949 in den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands eingegliedert.2 Fünf Wochen später, am 10. August 1949, wählte die Gesellschaft einmütig Christhard Mahrenholz (1900-1980), Oberlandeskirchenrat aus Hannover, zu ihrem Vorsitzenden. Thomaskantor Ramin fungierte nun als „geschäftsführendes Vorstandsmitglied“ von Leipzig aus, unterstützt von Theodor Biebrich, einem bewährten Breitkopf & Härtel-Angestellten, der bis zu seinem Tod 1954 noch hier verblieb. Die bewährte, auch büromäßige Verbindung mit dem Verlag war durch die Enteignung desselben bzw. dessen Abwanderung in die Westzonen, nach Wiesbaden, zerbrochen.3 Mit der Reaktivierung der nun fast fünfzig Jahre alten Neuen Bachgesellschaft lebte auch die Idee der Bachfeste wieder auf. Es lag auf der Hand, ein solches erstes Bachfest nach der kriegsbedingten Zäsur im Jahre 1950 durchzuführen, zweihundert Jahre nach dem Tode Johann Sebastian Bachs. Naturgemäß bot sich Leipzig als Feststadt an; als Höhepunkt dieses Bachfestes plante man die Umbettung der – vom alten Johannisfriedhof überführten – sterblichen Überreste des Thomaskantors (oder was man dafür hielt) in die Thomaskirche. Günter Ramin hielt diesen Gedanken, „nach bitteren Erfahrungen des Goethe-Jahres“, für wichtig, um „die kulturelle Einheit der Nation“ zu demonstrieren.4

3) Zur Entwicklung der NBG in den Nachkriegsjahren s. v.a. die Referate des Kongresses „Bach unter den Dikta-turen“, Leipzig 1994, in: Die Musikforschung, 49. Jg., Heft 4, S. 105 ff. Der Kunsthistoriker Martin von Hase (1901-1971), Sohne des Breitkopf & Härtel-Besitzers Oskar von Hase, gehörte zum Kreis der Bachwoche-Gäste schon in Pommersfelden 1947.

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KÜNSTLER 2017

Vier Fragen an amarcord

»ALLES KOMMT ZU IHM, VIELES GEHT VON IHM AUS.« 1. Wann sind Sie Johann Sebastian Bach und seiner Musik zum ersten Mal begegnet? Das weiß ich ganz genau: 1984, als ich als Neuling bei den Thomaner erstmals die Motette „Jesu, meine Freude“ mitsingen durfte. Das war in der „Mottete“ in der Thomaskirche zu Schulbeginn, wir durften uns damals schon eine Woche vorher eingewöhnen, mitproben und gehörten schon dazu. Diese Musik, der Ort, die neue Situation waren für einen Zehnjährigen ein Schlüsselerlebnis. Wir sind ja unterschiedliche Jahrgänge, aber ich weiß: den anderen ging es genauso.

2. Was bedeutet Ihnen Bach und seine Musik? Alles kommt zu ihm, vieles geht von ihm aus. Bach hat sich trotz seines Genies ja immer auch beeinlussen lassen. Er ist das Zentrum meines musikalischen Selbst, lässt einen nie in Ruhe, seine Musik wird einem nie zu viel und wirkt immer wieder neu. 3. Warum gibt es von Bach keine a-cappellaMusik? Ja, schade! Es gibt ja a-cappella-Messen von seinen Vorgängern, die er sicher kannte. Aber das liegt an der Zeit und den damaligen Moden. Man kann aber, und das tun wir ja auch, zumindest seine Motetten unbegleitet singen, im Chor haben wir das lange auch so gemacht. Vielleicht waren damals die Thomaner gar

nicht in der Lage, ohne instrumentale Stütze zu singen, wir kennen ja Bachs Klagen über die Qualität des Chores. Ich glaube, dass er diesem Gipfel der vokalen Kunst sehr viel hätte abgewinnen können. Heute würden wir ihn zum a-cappella-Festival einladen, nein: er würde sicher von selbst kommen und mit großem Interesse hören, wie und welche Musik die Gruppen aus Georgien, Sardinien, Afrika und wo sie alle herkommen singen. Und Spuren davon würden wird dann sicher auch in seinen Kompositionen inden. 4. Wenn Sie Bach etwas fragen könnten ... Vor lauter Ehrfurcht würde ich erst einmal meine Bewunderung zum Ausdruck bringen. Phänomenal, was Sie geleistet, geschafft haben! Und dann fragen: wie haben Sie das alles hinbekommen? So viel Musik, nur gute Musik, alles originär und originell, selbst wenn Sie früher komponierte Musik hier und da wiederverwenden? Und das alles vor dem Hintergrund einer angespannten Lebenssituation: die Schule, die Dienste, die Familie, der Ärger mit den Behörden, der enge Wohnraum... (Für amarcord antwortete der Bassist Holger Krause)

Gast bei der Bachwoche: 2009, 2017

MI 2.8. AUS BACHS NOTENSCHRANK DO 3.8. LEIPZIG UND EUROPA

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KÜNSTLER 2017

Angela Hewitt Klavier Angela Hewitt gilt als eine der besten Bach-Interpreten unserer Tage. Ihr 2005 nach elf Jahren abgeschlossenes Projekt, alle großen Klavierwerke von Bach einzuspielen, wurde als „einer der diskographischen Triumphe unserer Zeit” (The Sunday Times) gefeiert und sie wurde als „die überragende Bach-Interpretin unserer Zeit” (The Guardian) bejubelt. Im Herbst 2016 startete sie ihr nächstes großes Projekt mit dem Titel „The Bach Odyssey’“, bei dem sie alle Bach-Klavierwerke in zwölf Recitals weltweit im Zeitraum von vier Jahren aufführen wird, u.a. in der Londoner Wigmore Hall, in der New Yorker 92nd Street Y, im Nationalen Kunstzentrum von Ottawa sowie in Tokio und Florenz. Weitere Höhepunkte der Hewitt-Saison 2016/17 sind die Sinfonie-Orchester von Baltimore Symphony und Winnipeg, die Duisburger Philharmoniker, das Orchester symphonique de Montréal und das National Arts Centre Orchestra, Ottawa. Hewitt dirigiert auch das Festival Strings Luzern vom Klavier aus im Münchner Gasteig und im Frühjahr 2017 gab sie Tourneen in Großbritannien mit dem Wiener Tonkünstler Orchester. Zu den jüngsten Aufnahmen von Hewitt gehören ihr sechster Band von Beethovens Sonaten, eine neue Aufnahme von Bachs Goldberg-Variationen und die Turangalîla-Sinfonie von Messiaen mit dem innischen Radio-Sinfonieorchester und Hannu Lintu. Ein erstes Album von ScarlattiSonaten wurde 2016 veröffentlicht.

Gast bei der Bachwoche: 2007, 2011, 2015, 2017

FR 4.8. PARTITEN � SA 5.8. PARTITEN �

Jörg Halubek Cembalo Jörg Halubek (geb. 1977) studierte Kirchenmusik und Cembalo und spezialisierte sich danach in der historischen Aufführungspraxis an der Schola Cantorum Basiliensis. 2004 gewann er den ersten Preis im Fach Orgel des Bach-Wettbewerbs Leipzig. Es folgten Einladungen zu Konzerten bei internationalen Festivals, beispielsweise die Bachfeste in Leipzig, Ansbach, Salzburg und Ekaterinburg. 2007 spielte er sämtliche Orgelwerke Bachs an vierzehn aufeinander folgenden Sonntagen in Stuttgart. Seit 2011 leitet Jörg Halubek als Gastdirigent die Barockopern an den Theatern in Kassel, Oldenburg und Wuppertal. Seine aktuelle CD mit der Barockgeigerin Leila Schayegh umfasst Werke von C.P.E. Bach für Cembalo und Violine und erhielt einen Diapason d´or. Seit 2010 ist er Professor für Cembalo und Aufführungspraxis an den Hochschulen in Linz und Stuttgart.

Gast bei der Bachwoche: 2007, 2011, 2015, 2017

SA 29.7. CEMBALO ’��

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I S B N 9 7 8 - 3 - 9 8 174 8 1-1- 6


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