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Brodowys Momentaufnahme

Ein verlassenes Hotel. Wohl schon länger geschlossen. Über dem gesamten Gebäudekomplex liegt eine Patina vergangener Größe. Wahrscheinlich wurde man früher bereits im Entrée von einem Pagen willkommen geheißen, der dem Gast in hoteleigener Dienstkluft die Koffer abnahm und auf die Zimmer brachte. Zimmer, von denen man wohl einen phantastischen Blick auf Stadt und See und die umliegende Bergwelt hatte und in denen jetzt eine zentimeterdicke Staubschicht den vergangenen Glanz überdeckt. Nur die Milben feiern fröhlich Urständ. Ich schaue mir den Sichtbetonbau an und kann mir nicht vorstellen, dass man ihn je von außen hat architektonisch reizvoll finden können. Ein Grand Hotel für die einen, für den Flaneur jedoch, der sich an der ansonsten so paradiesischen Umgebung kaum sattsehen kann, sieht es aus wie ein bettenburgiges Bollwerk des frühen Massentourismus, der nach Luxus japste, mit Fernseher und Minibar im Zimmer und eigenem Bad mit WC anstelle eines gemeinsamen auf dem Flur. Morgens schließlich am Frühstückstisch eine Armada von hyperhygienischen Miniplastikschälchen mit Pfirsich-Maracuja- oder Aprikosen-Marmelade nebst Diät-Margarine in eben solcher Hartschale. »Eden« – der Name dieses Hotels. Ich stehe vor der grauen Fassade und kann mich nicht wehren. Ein Lied hämmert in meinen Schläfen. Ich war nie ein Schlagerfan. Aber es gibt so ein paar Schlager, die haben sich tief in die Synapsen eingebuddelt. Die wirst du nie mehr los. Ob du sie magst oder nicht. Wenn ich zum Beispiel »Santa Maria« sage, werden Sie bestimmt sofort ergänzen: »Insel, die aus Träumen geboren ...« Roland Kaiser! Oder wenn ich beginne mit »Er gehört zu mir«, enden Sie garantiert mit »wie mein Name an der Tür ...« Marianne Rosenberg! Und nun stehe ich vor dem geschlossenen Hotel Eden und in meinem Kopf singt eine Stimme: »Wenn selbst ein Kind nicht mehr lacht wie ein Kind, dann sind wir jenseits von Eden! Wenn wir nicht fühlen, die Erde, sie weint, wie kein andrer Planet – dann haben wir umsonst gelebt ...« Nino de Angelo! Haben Sie die Melodie im Ohr? Hoffentlich nicht. Kriegen Sie nicht mehr raus! Meine Güte, was für ein schwülstiger Text! Liebeslied plus überbordender Weltschmerz plus weinende Erde, damit auch die Jutebeutelträger von diesem Lied ergriffen wurden. Bei der Gelegenheit: Erinnern Sie sich noch an den unfassbar kritischen Song »Karl, der Käfer?« Das war der, der nicht gefragt wurde, weil man ihn einfach fortgejagt hatte. Bei solch Lyrik wurden selbst weiße Tauben müde und mein Freund, der Baum, legte sich zum Sterben nieder. Das Schlimmste an diesen Liedern ist, dass sie, ob man sie mag oder nicht, nicht mehr aus dem Kopf rausgehen. Sie werden sie nur los, wenn Sie sie durch einen anderen Ohrwurm ersetzen. Oder anders gesagt: Sollten Sie jemals jenseits von Eden sein, dann gehen Sie einfach atemlos durch die Nacht! Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber

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