Sich ein Bild machen - Blind in Metz Jw 2016 02 10

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ALTERNATIVES REISEN

Mittwoch, 10. Februar 2016, Nr. 34

Marcus Bauer – ist freiberuflicher Reisejournalist, Mitbegründer der Agentur Respontour und unterrichtet außerdem im Tourismusbereich an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes – hat ein Faible für gute Küche und schöne Gerüche – träumt von einer Durchquerung Afrikas von Küste zu Küste. Sein Tip: Wenn du irgendwo neu bist, setz dich erst mal eine Stunde ins Café!

Stein und Glas

Infos: Orte mit dem französischen Siegel für barrierefreies Reisen: tourismehandicaps.fr Beim Metzer Tourismusbüro ist auf Nachfrage eine Stadtbroschüre in Brailleschrift erhältlich, die auch die Konturen einiger Sehenswürdigkeiten abbildet. Außerdem gibt es Audioguides in verschiedenen Sprachen.

Im Office de Tourisme nimmt uns Estelle Trunkenwald in Empfang. Ihr zweiter Satz, direkt nach dem Hallo: »Für mich ist es das erste Mal, dass ich einen blinden Gast durch die Stadt führe. Lasst es mich wissen, wenn ich etwas falsch mache.« Peter beruhigt sie: »Wird schon klappen, keine Bange. Ich war noch nie hier, für mich ist alles interessant.« Detailverliebt beschreibt sie das Innere des historischen Gebäudes, in dessen Halle wir stehen, seine Dimensionen, Farben und Formen, bevor sie uns vor die Tür führt. Wir stehen auf dem Paradeplatz, der auf den Längsseiten eingefasst ist vom Rathaus und der gewaltigen Kathedrale. Hierhin führt uns Estelle, Peter folgt mir in geringem Abstand, die Hand leicht an meinen Oberarm angelehnt. Seinen weißen Stock hat er im Rucksack verstaut. Erst als wir im Domportal ankommen und Estelle uns zum Abtasten einiger Steinskulpturen anhält, bleiben vereinzelt Passanten stehen und beobachten uns kurz. Ein blinder Stadtrundgang scheint noch einen gewissen Seltenheitswert zu haben. Peters Hände tasten die Konturen der filigranen Steinmetzarbeiten ab. Gesichter sind einfach zu erkennen, schwierig wird es bei Tieren wie dem sich aufopfernden Pelikan und dem ANZEIGEN

LUCY NICHOLSON/REUTERS

PRIVAT

E

s ist ein ungewöhnlicher Besuch in der Nachbarschaft. Ich habe Peter, 52 Jahre alt und von Geburt an blind, eingeladen, mit mir Metz zu besuchen. Es sich anzusehen, um gleich ins erste Fettnäpfchen zu treten. Bei der Planung unterstützten mich die französische Tourismusbehörde Atout sowie Tourisme Lorraine. Unsichtbarkeit bezeichnet einen Zustand, in dem ein Gegenstand nicht für das menschliche Auge wahrnehmbar ist. Dass sich, was das Ziel unserer Reise angeht, klare Konturen erst herausbilden müssen, liegt nicht nur am menschlichen Auge, das nicht sehen kann. Metz war bis vor wenigen Wochen die Hauptstadt Lothringens. Doch nun ist Lothringen Teil der neuen Großregion Alsace-Lorraine-Champagne-Ardenne, kurz ALCA, vermutliche Neubenennung Grand Est. So genau weiß man es noch nicht. Die Gebietsreform, die am 1. Januar in Kraft trat, ist noch in der Selbstfindungsphase. Mit ins Bild gehört: Metz war in seiner Geschichte einer dieser Spielbälle, um die sich Deutschland und Frankreich mehrfach zankten. Es ist möglich, die Stadt aus deutschem oder aus französischem Blickwinkel zu erkunden. Einen guten »Stadtbilderklärer« zeichnet es vermutlich aus, beide Perspektiven, auch deren verblasste Aspekte, sichtbar zu machen. On verra – man wird sehen.

Los Angeles, USA

Sich ein Bild machen

deten beim Erklären der mächtigen Ausmaße der Kathedrale sind der Schall, der sich in der Höhe des Raumes ausbreitet, und die wuchtigen Säulen, die wir – Hand am Stein – umkreisen. Die Begeisterung, mit der Estelle die riesigen Glasfassaden beschreibt, gestaltet über die Jahrhunderte hinweg von namenlosen Künstlern ebenso wie von Berühmtheiten wie Marc Chagall, scheint Peter nur aus höflichem Interesse zu teilen. Leuchtende Farben, Figuren von Heiligen, filigrane Muster – das Spiel mit dem Licht ist kaum in Worte zu fassen. Aber Estelle gibt ihr Bestes: »Wie kann ich gelb erklären, wie grün, wie rot?« will sie wissen. Peter muss selbst überlegen und sagt dann nur: »Ich glaube, jeder Blinde hat so seine eigenen Vorstellungen, was Farben sind. Das ist wohl genauso schwer zu beschreiben wie umgekehrt unsere Wahrnehmungen.«

Besuch beim unsichtbaren Nachbarn: Zur Dreifachblindstudie ins lothringische Metz. Von Marcus Bauer

Duft und Klang

Elefanten mit den Raubtierklauen. Ganz zu schweigen von den Phantasiegestalten. »Was das mit den Drachen auf sich hat, hab’ ich nie wirklich verstanden«, lässt uns Peter wissen. Ich denke darüber nach: Wenn man mir so ein Wesen mit Flügeln, Hörnern und Krallen nur beschreiben würde, ich könnte mir wohl auch kein Bild machen. Im Kirchenschiff wartet die nächste Herausforderung auf Estelle. Ihre Verbün-

Einfacher ist es wenige Meter weiter auf dem Marktplatz. Wir spazieren durch ein Stimmenwirrwarr zwischen den Kleiderund Gemüseständen herum, aus einiger Entfernung dringen Gerüche von frisch gebackenem Brot und gegrilltem Geflügel zu uns. Samstag ist Markttag. Auf drei Seiten schließt das Gebäude des Marché couvert den Marktplatz ab. Hier gibt es Käse, Kuchen, Fisch und Fleisch. Für Peter ist hier das Terrain ergiebiger. Die Eindrücke für Nase und Ohren ergänzen wir mit gezukkertem frittiertem Hefebrot für den Gau-

men. Auf die Vorspeise folgen eine Quiche lorraine und eine Fischsuppe – flankiert von einem kleinen Rotwein. Estelle und ich tragen uns ins Lernheft ein: Essen und Trinken sind wertvolle Helfer auf Blindenreisen. Besonders an Markttagen. Unser Weg führt uns weiter zum Fluss und hinüber auf die Moselinsel. Hier hat – an prominenter Stelle gleich neben dem Operntheater – der Stadtrat Ende des 19. Jahrhunderts den Temple Neuf bauen lassen. Der neoromanische Baustil und die dunkle Gesteinsfarbe kontrastieren mit allen umliegenden Gebäuden – wie man sagt, ein bewusster Abdruck im Stadtbild aus der Epoche unter deutscher Herrschaft. Geschichtliches gehört dazu, auch wenn die wechselnden Bodenbeläge und das Rauschen des Flusses für Peter eindrucksvoller zu sein scheinen. Den Gang hinüber zum Kaiserviertel sparen wir uns für einen nächsten Besuch auf. Statt durch die »unbequeme« deutsche Geschichte spazieren wir lieber durch die Gegenwart der Altstadteinkaufsstraßen. Auf dem Weg zurück zum Office de Tourisme warten schließlich noch Straßenmusikanten, Makronen, arkadenumrandete Plätze und mittelalterliche Gässchen auf uns. Allerdings nur en passant – hier bleibt festzuhalten: Weniger ist mehr! Nach zwei Stunden verabschiedet uns Estelle herzlich mit au revoir. Sie schmunzelt: »Jetzt hab’ ich’s die ganze Zeit so gut geschafft, das Wort ›sehen‹ zu vermeiden.« Peter lacht: »Kein Problem: auf Wiedersehen, Estelle, bis zum nächsten Besuch!« Lerne auch: Gemeinsam lachen hilft!


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