Franziska Streun – Mordfall Gyger

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Franziska Streun Mordfall Gyger


F端r Beat. Und seine Familie.


Franziska Streun

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Zytglogge


2. Auflage 2013 Alle Rechte vorbehalten Copyright: Zytglogge Verlag, 2013 Lektorat: Hugo Ramseyer, Bettina Kaelin Korrektorat: Monika K端nzi, Jakob Salzmann Cover und Umschlaggestaltung: Michael Streun, Thun Satz: Zytglogge Verlag Druck: CPI Books GmbH, Ulm ISBN 978-3-7296-0876-4 Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am Thunersee info@zytglogge.ch, www.zytglogge.ch


Inhalt

7 • Vorwort   11 • Zum Geleit   15 • Intro   21 • Die Eltern melden Beat als vermisst   24 • Zwei Häftlinge brechen aus dem Gefängnis aus   26 • Zwei Reiterinnen entdecken die Leiche   28 • Die Eltern erfahren von Beats Tod   32 • Die Polizei richtet ein Sachbearbeiterbüro ein   37 • Die Autopsie   46 • Beat und die Schule   52 • Beat will Bienchenmechaniker werden   61 • Der Fluch der Zigeunerin   63 • Heiler Horn ahnt Schlimmes   67 • Beat, der erste Sohn   71 • Bernhard, der jüngere Bruder   80 • Schwarzenegg und Eriz   86 • Beats letzter Tag   89 • Mit dem Budenplatz kommen die Erinnerungen   94 • Der Ohrfeiger   98 • Das entwendete Motorfahrrad von X. 104 • Zwei Verdächtige in Untersuchungshaft 113 • Die Kriminalpolizei wird professionalisiert 119 • Fahrzeug rammt Mofa 121 • Schreie auf dem Campingplatz 126 • Homosexuellenenszene als offenes Geheimnis 131 • Männer, die auf pubertierende Jünglinge stehen 136 • Schwulenspiele. Schwulenspiele? 153 • Die Medien


161 • Polizei nimmt Eltern ins Kreuzverhör 164 • War es der Vater? 175 • Die Beerdigung 180 • ‹Aktenzeichen XY ungelöst› soll helfen 182 • Viele offene Fragen 184 • Die Wege trennen sich 187 • Ein Brief, der verwirrt 195 • Der Schmerz bleibt 199 • Epilog 202 • Statistik 204 • Personenregister 207 • Dank


• Vorwort

Jedes Jahr, wenn die Schausteller an Pfingsten in Thun mit Wohnwagen, Putsch­ autos und Kinderkarussell auffahren, erinnere ich mich daran. Es war Pfingstsamstag, 9. Juni 1973. Ein sonniger Tag im Frühsommer. 14 Tage nach seinem 14. Geburtstag. Eigentlich hätte Beat Gyger seiner Grossmutter eine Nachricht überbringen sollen. Stattdessen ging er auf den ‹Budeler›, den Budenplatz, unweit seines Zuhauses im Dürrenastquartier. Am nächsten Morgen entdeckten zwei Reiterinnen seinen Leichnam. Bäuchlings lag er im feuchten Lindenbachgraben. Zwischen Riggisberg und Schwarzenburg. Ich war damals zehn Jahre alt. Die Nachricht und die darauffolgenden Gerüchte erschütterten meine Vorstellungen einer heilen Welt. Ein Mord in meiner Stadt, ich war schockiert. Bei jedem Besuch der Chilbi war ich nach diesem Ereignis als Kind verunsichert, ob auch mir etwas zustossen könnte. Rummelplätze rufen noch heute sofort meine Erinnerungen an jene Zeit wach. Dieser gewaltsame Tod an Beat Gyger hatte etwas Unheimliches an sich und regte meine Fantasien darüber an, was dem Achtklässler aus dem Obermattschulhaus im Gwatt in Thun an jenem Pfingstsamstag zugestossen sein könnte. Vor einigen Jahren erzählte mir Beats Bruder – Bernhard Gyger – seine Geschichte über die Tragödie in seiner Kindheit. Sofort überkam mich erneut das Gefühl des Unfassbaren, gepaart mit dem Versuch, nachfühlen zu können, wie dieses ungeklärte Tötungsdelikt ein Leben von einem Tag auf den anderen verändert und fortan prägt. Der Impuls, darüber ein Buch zu schreiben und damit das ­Vergessen dieses gewaltsamen Todes von Beat zu verhindern, war das eine; die Frage, ob er und seine Familie eine Spurensuche erlauben, das andere.

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Ich las Zeitungsberichte, stöberte in Archiven, sprach wiederholt mit der Familie und kontaktierte über 250 Personen: Klassenkollegen, Lehrer, Schausteller, Verdächtigte, Nachbarn, Befragte, Witwen von Polizisten, pensionierte Reporter. Zu Wort kommen der damalige Fahndungsleiter, der damals zuständige Untersuchungsrichter und Fachpersonen wie Psychiater und Schwulenaktivisten. Von der Polizei liess ich mich über die Fahndungsarbeit von heute informieren und hörte mir ihre Beurteilung der damaligen Polizeiarbeit an. Zugleich recherchierte ich ähnliche Mordfälle, setzte mich mit psychologischen Auswirkungen nach traumatischen Erlebnissen auseinander und verarbeitete mir vorliegende Akten und persönliche Notizen. Diese Dokumente hat ein mittlerweile verstorbener Polizist – ich nenne ihn Fahnder K. – zum Glück für sich angelegt. Heute bewahrt die Familie von Beat diese auf. Insgesamt umfasst der Fall Gyger über ein Dutzend Bundesordner. Die mir zur Verfügung stehenden Unterlagen füllen einen halben Ordner. Einige Personen wollten aus unterschiedlichen Gründen nicht über Beat Gyger und das ungeklärte Tötungsdelikt sprechen. Andere redeten zwar, doch sie stör­ ten sich daran, dass in alten Erinnerungen gewühlt und dieses Drama 40 Jahre später wieder zum Thema wird – und das sogar in einem Buch. Wiederum ­andere bezeichneten die Spurensuche als ausserordentlich wichtig. Gerne liessen sie ihre eigene Rückblende aufleben. Einige Verdächtigte, Zeugen und ­Befragte sind unauffindbar geblieben oder gestorben. Bei allen kontaktierten Personen, die den Fall damals aus der Nähe miterlebten, wurden mit dem Namen Gyger und den Wörtern ‹Budeler› oder Budenplatz Emotionen geweckt. Sofort spulte sich ihr persönlicher Film über die damalige Zeit ab. Der gewaltsame Tod an Beat Gyger liess niemanden kalt. Der Staatsanwalt hat das Gesuch der Familie um generelle Akteneinsicht für die Recherchen aufgrund der aktuellen Gesetzgebung und insbesondere aus datenschutzrechtlichen Gründen verweigert. Das muss akzeptiert werden. Damit wird jedoch verhindert, Äusserungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, Details der Fahndung an die Öffentlichkeit zu bringen und die Spurensuche mit 8


relevanten Informationen zu ergänzen. Froh bin ich, dass er detaillierte Gesuche teilweise bewilligen konnte, wie etwa das Ausleihen einiger Fotos und ­Originaldokumente (über die wir in kopierter Form verfügen). Dankbar bin ich für die fachliche Unterstützung des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern; im Speziellen Adrian Jossen, dem Dezernatschef-Stellvertreter. Mit seinem Beitrag zu den damaligen Fahndungsarbeiten aus heutiger Sicht hat er die Spurensuche um einen wichtigen Beitrag bereichert. Irritiert haben mich die Kontakte mit den pensionierten Fahndern. Keiner wollte Auskunft geben. Sie zeigten sich erbost darüber, dass dieser Fall aufgewärmt wird. Einige meldeten sich bei Witwen von Polizisten und Zeugen und rieten ihnen, sich mir gegenüber keinesfalls zu äussern. Überrascht und erstaunt hat mich, dass der Beitrag zum Fall Gyger aus der Fernsehserie ‹Aktenzeichen XY ungelöst› vom 13. September 1974 im Verlaufe der Recherchen vom Netz genommen worden ist. Durch wen dies erfolgte, liess sich nicht in Erfahrung bringen. Auf der Seite stand auf einmal: ‹Das mit diesem Video verbundene Youtube-Konto wurde aufgrund mehrerer Meldungen ­Dritter über Urheberverletzungen gekündigt.› Aus Vorsicht und vor allem, um keine damals Verdächtigten und Befragten in ihrem Persönlichkeitsschutz zu gefährden, sind nur wenige Personen namentlich erwähnt. Mit vollem Namen genannt sind die Familie Gyger und diejenigen Leute, die aufgrund ihrer offiziellen Funktion bereits damals öffentlich und in den Medien bekannt waren. Für alle übrigen und von mir kontaktierten Personen habe ich nach individueller Absprache deren Initialen eingesetzt. Nur die ­Leserinnen und Leser werden sie erkennen können, die ihre vollständigen Namen bereits von jener Zeit her kennen. Bei heiklen Fällen wollte ich die Identifizierung vermeiden. Deshalb sind einige Initialen verfälscht und vereinzelt fehlen Präzisierungen zur Funktion von damals oder sonstige Angaben zur Person. Namentlich genannt sind zudem Fachpersonen, die damals nicht in den Fall involviert waren, sich aber heute zu einem bestimmten Themenbereich bei der Spurensuche äussern. 9


Das vorliegende Buch erhebt keinen Anspruch darauf, den Fall aufzuklären. Ich kenne die Wahrheit nicht und bin weder Richterin noch Fahnderin. Und einzuschätzen, welche Aussagen wahr und welche erlogen, erfunden und beschönigt wurden, ist kaum möglich. Ich habe das Gehörte geordnet und gebe es in diesem Buch wieder – mit der ­Geschichte, den Erinnerungen und der Spurensuche. Darin eingeflochten sind auch Passagen und Informationen aus Originaldokumenten. Diese drei Ebenen habe ich um eine Fiktion, eine erfundene Perspektive aus der Sicht von Beat, erweitert. Wie die anderen Ebenen ist sie mit einer klar unterschiedenen Schrift erkennbar. Für diese fiktionale Ergänzung bin ich von einem mir vorliegenden Protokoll des damaligen und mittlerweile verstorbenen Einsatzleiters R. B. ausgegangen. Dieses enthält insgesamt 17 Einträge, die er zwei Tage nach dem Tötungsdelikt aufgrund der ersten Ermittlungen auf­ gelistet hat. Diese erfundene Ebene kann sowohl als mögliche These wie auch als Resultat der Recherchen verstanden werden – oder als Provokation und ­Anregung für eigene Theorien. Bernhard Gyger und seine Eltern können sich nicht mehr im Detail an die gemeinsamen Momente mit Beat erinnern, zu lange liege jener Pfingstsamstag zurück. Doch sie sagen zur fiktionalen Perspektive, dass es aus ihrer Sicht so und ähnlich gewesen sein könnte und dass sie ihn darin wiedererkennen würden. Mordfall Gyger: Auch nach 40 Jahren ungeklärt. Für viele unerträglich. Und unerklärlich.

Franziska Streun, Thun, Herbst 2013

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• Zum Geleit

Gedanken des Bruders In jedem Leben geschehen Dinge, die sich im Gehirn einbrennen, unauslöschlich sind und tiefe Spuren hinterlassen. Bei mir ist die Ursache eines solchen ­Ereignisses die Tötung an meinem Bruder. Pfingsten und Rummelplätze haben seither eine andere Bedeutung. Das Unfassbare hat das Besinnliche an Feier­ tagen und die Unbeschwertheit verdrängt. 40 Jahre sind seither vergangen – Beats gewaltsamer Tod ist weit entfernt und vordergründig vergessen. Oft gibt es jedoch Momente, in denen die damaligen Umstände und Gefühle unvermittelt hervortreten, Raum einnehmen und dominieren. Dies ist nicht nur bei mir so, sondern genauso bei meinen Eltern und bestimmt bei Mit­ wissern, Fahndern, Verdächtigten und den Tätern. Den Entschluss, irgendwann ein Buch über das Erlebte zu schreiben und meine Sicht darzulegen, hatte ich bereits vor 20 Jahren gefasst. Bisher fand ich jedoch immer wieder Gründe, es weiterhin aufzuschieben – es gäbe heute noch welche, es nicht zu tun. Trotzdem bin ich nun froh, dass Franziska Streun an mich herangetreten ist, um ein Buch über diese Tragödie zu schreiben, die 1973 das Leben vieler Menschen veränderte und beeinflusste. Die Recherchen würden nicht einfach sein, das war unserer Familie und ihr klar. Jedoch überraschte uns sehr, dass der Staatsanwalt die generelle Akteneinsicht für die Spurensuche verweigern musste. In jenen Jahren wurden die Akten nicht systematisch geordnet, sondern kreuz und quer in Bundesordnern und Kartons gesammelt und aufbewahrt. Ohne die Einwilligung aktenkundiger Personen kann heute keine Einsicht gewährt ­werden. Doch ohne das Wissen um den Inhalt der Unterlagen kann nicht ­gesucht werden! Da frage ich mich: Welches Gesetz und welches Recht schützt hier wen? 11


Es geht nicht um Schuld und Sühne, sondern vor allem um das Verstehen komplexer Zusammenhänge und die Gelegenheit, Betroffenen das Wort zu geben. Alle haben ihre eigene Sichtweise der Dinge. Viele haben vor langer Zeit zur Aufklärung der Tötung an meinem Bruder ihr Bestes gegeben und sind trotzdem an der Lösung des Falles gescheitert. Andere werden bis heute fälschlicherweise verdächtigt und leiden unter diesen Anschuldigungen. Für mich persönlich bedeutete der gewaltsame Tod von Beat, dass ich als 12-Jähriger aus einer unbeschwerten Jugend gerissen wurde und von einem Tag zum anderen erwachsen sein musste. Damals gab es keine Care Teams und keine psychologische Betreuung – im Gegenteil: Für unsere Familie war Spiessrutenlaufen angesagt. Alle wollten wissen, was passiert ist. Die Leute interpretierten, Mutmassungen und Gerüchte wurden zu vermeintlichen Wahrheiten und unsere ganze Familie fand sich mit Vorwürfen eingedeckt. Da waren noch die wahren Geschichten, welche die Lösung des Falles offenbar so schwierig machten. Zum Beispiel ein gestohlenes Mofa, das unauffindbar ist, dessen Gepäcktaschen (‹Sacochen› genannt) dagegen bei einem Einbruch an jenem Pfingstwochenende in der Baracke einer Kiesgrube liegen geblieben sind und erst später auf den Polizeiposten gebracht werden. Oder da ist das von meiner Mutter bestickte Taschentuch, das zwei Kriminelle finden, die in der gleichen Nacht aus dem Thuner Gefängnis ausbrechen. Die Analyse des eingetrockneten Blutes ergibt eine Übereinstimmung mit der Blutgruppe meines Bruders. Beat und einer der Ausbrecher hatten dieselbe (was laut Polizei, wie sie damals sagten, einer Trefferquote von eins zu einer Million entspreche). Oder da sind die beiden Rockertreffen, die in jenen Tagen in Thun stattfanden, und die gemachten Geständnisse, die widerrufen wurden. Und da gibt es den Drohbrief gegen eine junge Frau, die sich danach ins Ausland abgesetzt hat. Nicht zu ­vergessen sind die unentdeckten Ermittlungspannen, deren Behebung jedoch der Fahndung eine neue Richtung hätte geben können.

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Ich betone nochmals, dass es mir nicht um eine Verurteilung der Täter geht. Aber, das stimmt, der Wunsch nach der Wahrheit bleibt. Sie wäre für mich und für viele andere unendlich erlösend und befreiend. Bernhard Gyger, Gwatt, Februar 2013

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• Intro

Wütend ist er. Stocksauer. Trotzdem lächelt er. Stumm beendet Beat das Nachtessen, steht auf und verschwindet in sein ­Zimmer. Die Türe knallt zu. «Sei doch vernünftig, Beat, und benimm dich!», hört er noch. Die Stimme seiner Mutter. «Ich will auf den Budenplatz», protestiert er murmelnd, als ob er sich selbst in seinen Absichten bestärken wollte. Er zieht dem Frieden zuliebe die schönen Kleider an, die Mutter ihm aufs Bett gelegt hat. Doch er pfeift auf diese doofe abendliche Pfingstfahrt, zu der ihn die Eltern zum Geburtstag einladen. Immer dieses Müssen und Sollen. Er sitzt auf der Bettkante und starrt aus dem Fenster. Die Sonne blendet und lässt das blonde, bis auf die Schultern fallende Haar golden glänzen. Vater und Mutter verstehen ihn nicht – und Vater hat den jüngeren und ­gescheiteren Bernhard sowieso lieber als ihn. Dass er mehr und mehr die Schule schwänzt und die Noten wieder schlechter werden, verheimlicht er ihnen, wie vieles andere . . . Ich bin doch kein kleines Kind mehr . . . Mit welcher Ausrede könnte er sich davon schleichen? Er will dort hin. Schulkameraden sind da, vielleicht seine Kollegen. Schneller als erwartet, löst sich sein Problem in Luft auf. «Beat! Du? Kannst du Grossmutter rasch eine Notiz bringen? Ich habe ver­ gessen, ihr den Termin beim Augenarzt mitzuteilen.» Er horcht auf. Mutter steht vor der Türe. Die Gelegenheit! Die pack ich, denkt er. Einen kurzen Moment wartet er, dann tritt er aus dem Zimmer und stellt sich neben Bernhard, der am Tisch sitzt und liest und wie üblich vorgibt, als ob ihn die Reibereien zwischen Beat und den Eltern nicht interessierten. 15


Vater sitzt vor seinem Teller, steckt sich die letzte Gabel in den Mund und schaut dabei den dreien zu. Beat sucht den Blick der Mutter und lächelt ihr zu. Er will freundlich sein, er weiss, sein Charme wirkt. «Einverstanden. Dir zuliebe.» Sie zwinkert ihm verschwörerisch zu. «Fahr vorsichtig und komm gleich wieder zurück. Du brauchst mit dem Velo dafür keine halbe Stunde», mahnt Vater. Beat schnappt den Notizzettel mit dem Arzttermin und steckt ihn in die ­rechte Gesässtasche. Er schlüpft in die weissen Schwedenzoccoli neben der Wohnungstüre. «Also, bis später», sagt er beim Hinausgehen, schliesst die Türe und eilt das ­Treppenhaus hinunter. Es ist das letzte Mal, dass Otto und Adelheid Gyger ihren Sohn und Bernhard Gyger seinen Bruder sehen. Das Ehepaar macht es sich auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem. Gleich ­beginnt die Kulenkampff-Sendung ‹Acht nach 8›. Eine der Lieblingssendungen von Otto und Adelheid Gyger. Bernhard geht in sein Zimmer. Kurz vor 20 Uhr. Pfingstsamstag, 9. Juni 1973. 14 Tage nach Beats 14. Geburtstag. Bernhard ist 12-jährig. Vater und Mutter sind 36 Jahre alt. Später werden die drei erfahren, dass Beat zum gut 200 Meter entfernten ­P faffenbühlweg stadteinwärts radelt und sein Fahrrad nach der Einmündung beim ersten Haus hinstellt, an der Gwattstrasse Nummer 35. Im Dürrenastquartier in Thun. Er geht ein paar Schritte, nimmt das gelbe Motorfahrrad der Marke ‹Staco›, das er sich entlehnt und dort versteckt hat, und fährt damit auf die Gwattstrasse und auf direktem Weg zum rund 800 Meter entfernten Rummelplatz. Die Schausteller haben ihre Anlagen auf der Lachenwiese eingerichtet. Dort, wo sich heute der Parkplatz auf dem Areal zwischen dem Hotel-­ 16


Restaurant Holiday und dem Lachenkanal befindet – und dereinst ein Hotel gebaut werden soll. Auf dem ‹Budeler› trifft Beat Kollegen an, unter anderem E. H., ein Mädchen aus der Schule. Mit ihr teilt er zwei Fahrten in einem Scooterauto. Sie kreischen und steuern andere Autos an, um diese zu stossen. Bei jedem Aufprall springen sie zurück, was die beiden kurz aus den Sitzen spickt. Vergnügt steuern sie wieder das nächste Gefährt an und werden selber von allen Seiten angefahren. Es ist ein milder Frühsommerabend. Die grosse Budenstadt ist voller Menschen jeglichen Alters. Viele sind Jugendliche, mit langen Haaren, in Lederjacken und Jeans, in Sommerkleidchen und Stöckelschuhen. Die farbigen Lichter blinken im Takt der Musik, das Geschrei und die Rhythmen werden zu einem hämmernden Klanggemisch und übertönen die Gespräche am Rande der Vergnügungs­ bahnen. Beat und E. H. steigen lachend aus und schlendern über den Platz, an Auto­ scooter, Hully-Gully-Bahn, Hurrican, Kettenflieger, Sky-Lab und Kinder­karussells vorbei. Beat verdrängt den Gedanken, dass er seiner Grossmutter die Notiz bringen sollte und die Eltern auf seine Heimkehr warten. Zwanzig Meter von der Scooterbahn entfernt versperrt ein Langhaariger Beat den Weg. Aus dem Nichts haut er ihm eine runter und sagt: «So, komm jetzt!» Beat verabschiedet sich von seiner Kollegin. «Tschau», sagt er nur und geht mit dem ein paar Jahre älteren Mann in Richtung Lachenkanal. Kurz nach 20.30 Uhr. Etwa um dieselbe Zeit trifft Otto Gyger auf dem Budenplatz ein. Im Gewimmel sucht er seinen Sohn. R. B. und S. M., ein Junge und ein Mädchen aus Beats Klasse, werden später ­aussagen, dass sie ihren Kameraden unabhängig voneinander an jenem Abend später noch gesehen haben, einmal alleine und einmal mit einem Unbekannten. Eine Frau wird der Polizei mitteilen, dass sie nach 22.30 Uhr beobachtet 17


habe, wie ein Jüngling an der Industriestrasse im Westquartier zusammen­ geschlagen worden sei. Zwei weitere Zeuginnen werden berichten, dass sie kurz nach 23 Uhr beim Campingplatz im Gwatt Schreie gehört hätten. E. H., das Mädchen aus dem Putschauto, ist die letzte Person, die mit Beat zusammen war, bevor sich seine Spur verliert. Die Begegnung zwischen Beat und dem Langhaarigen – die Leute werden ihn ‹Ohrfeiger› oder ‹Langhaar-Johnny› nennen – wird sie die nächsten Tage und Wochen unzählige Male schildern müssen. Gut ein Jahr später, am 13. September 1974, wird die Szene in der Fernsehserie ‹Aktenzeichen XY ungelöst› nachgestellt – einem letzten Akt der ­Hoffnung gleich, die Täter endlich zu finden.

Die Spurensuche beginnt. Nach ein paar Telefongesprächen spüre ich E. H. auf. Sie ist erstaunt, beginnt jedoch über jenen Abend und die Jahre danach zu berichten. Da ihre Mittagspause gleich endet, vereinbaren wir am Abend einen weiteren Termin, an dem wir beide mehr Zeit haben. Als ich erneut anrufe, will sie nicht mehr über ihre Geschichte reden. Sie habe nach unserem Gespräch mit einem pensionierten Fahnder telefoniert. Dieser habe ihr abgeraten, darüber zu sprechen. Trotzdem kann sie sich ­schliesslich durchringen und erzählt nach 40 Jahren, wie es für sie ­damals gewesen ist.

E. H. besuchte im selben Schulhaus wie Beat die Klasse über ihm: «Eigentlich hielt ich mich nie auf dem Budenplatz auf, da meine Mutter eher Angst um mich hatte, wenn ich dort war. An jenem Abend schickte sie mich allerdings hin, um meinem Bruder einen Schlüssel zu bringen. Auf dem ‹Budeler› traf ich zufälligerweise Beat, der mich zu sich in das Putschauto einlud. Kurz darauf kam dieser Mann, ohrfeigte Beat und nahm ihn mit. Ich war schockiert. 18


Am Tag darauf erfuhr ich im Strandbad über den Lautsprecher von Beats Tod. Sofort begab ich mich zum Samariterposten beim Eingang, wo die Zeugen hingebeten wurden. Ich beschrieb der Polizei diese Szene – dann ging es los. Alle hatten nun Angst um mich, weil ich als Zeugin diesen Ohrfeiger beschrieben hatte. Die Untersuchungsbehörden leiteten Schutzmassnahmen für mich ein. Ungefähr während drei Monaten wurde ich ständig von der Polizei zur Schule und nach Hause begleitet, überall waren Polizisten um mich herum. Ich konnte mich nicht mehr wie andere alleine unbeschwert draussen aufhalten, mich mit Freundinnen, Kolleginnen und meinem Schulschatz treffen. Das war für mich alles andere als lustig und angenehm. Diese Szene mit dem Ohrfeiger musste ich immer und immer wieder erzählen. Ich war x-mal auf dem Polizeiposten und dachte jedes Mal: Jetzt reichts! Da ich ein Gespür für Gesichter habe und solche gut zeichnen kann – deshalb lernte ich später Herrencoiffeuse und Maskenbildnerin –, konnte ich den Ohrfeiger bestens beschreiben. Er hatte lange Haare, und an seinem Arm sah ich eine Tätowierung. Eine Zeitlang war es schwierig für mich, und ich wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Oft hatte ich Albträume und erwachte schreiend. Mir ging diese ganze Geschichte nahe, und ich verfolgte in den Medien, was geschah und was die Polizei herausfinden konnte. Es gab viele, sehr viele Gerüchte. Ich war verunsichert. Die ewige Polizeibegleitung und der Druck zu Hause, da alle Angst um mich hatten, belasteten mich. Ich wurde zusehends misstrauischer, fühlte mich merkwürdig und wusste nicht mehr, wem ich vertrauen konnte. Überall sprachen mich die Leute an, fragten mich aus und dachten, ich wisse, was mit Beat geschehen sei. Das störte mich je länger, je mehr. Als gut ein Jahr später diese Szene in der Sendung ‹Aktenzeichen XY ungelöst› erneut nachgestellt wurde, kam alles wieder hoch. 19


Irgendwann entschied ich, da war ich wohl schon über 20 Jahre alt, dass das alles meine Sache sei, und sprach mit niemandem mehr darüber. Das ständige Abblocken und Fernhalten von Dritten hat mich allerdings geprägt. Da der Mord nie aufgeklärt werden konnte, trage ich das Erlebte in mir und kann es nicht vergessen. Nach Beats Tod war ich oft auf dem Friedhof und an seinem Grab. Es zog mich magisch an. An der Beerdigung war ich allerdings nicht. Sie wurde mir bewusst verschwiegen, zum Schutz und aus Angst. Seit jenem Abend war ich nie mehr auf dem Budenplatz. Wenn die Schausteller in Thun sind, mache ich jeweils einen riesigen Bogen um ihn. Gegen jegliches ‹Putschzeugs› empfinde ich seither eine Abneigung. Meinen eigenen Kindern verbot ich, als sie klein waren, den ‹Budeler› aufzusuchen. Ich hatte Angst um die beiden und vor meinen Erinnerungen, gegen die ich mich noch heute wehre. Wenn ich an den Budenplatz denke, Krimis im Fernsehen schaue oder welche lese, fühle ich mich eigenartig. Diese Empfindungen kann ich mit keinem Menschen teilen. Niemand sonst hat als 15-Jährige so etwas erlebt wie ich. Diese ganze Sache begleitet mich seit 40 Jahren. Wir waren alle zu jung für das, was geschehen ist. Doch psychologische Hilfe habe ich deswegen nie beigezogen.»

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• Die Eltern melden Beat als vermisst

Als Beat nicht heimkommt, werden die Eltern unruhig. Gewöhnlich ist er abends daheim. Otto Gyger verlässt die Wohnung, um ihn zu suchen. Nach 20.30 Uhr. Insgeheim vermutet der Vater Beat auf dem Budenplatz, wo er sich trotz Verbot vielleicht aufhält. Vorher fährt er mit dem Auto jedoch zu Beats Grossmutter. «Ich habe ihn nur am Nachmittag gesehen, jetzt war er nicht hier», antwortet sie, als er nach ihrem Enkel fragt. Verärgert und verunsichert verabschiedet er sich gleich wieder und fährt zu den Schaustellerbuden. Seine Suche nach Beat endet erfolglos. Nach 21.30 Uhr. Otto Gyger fährt nach Hause und hofft, sein Sohn möge in der Zwischenzeit ­daheim sein. Doch er ist nicht da. Die Eltern werden je länger, je unruhiger. Adelheid Gyger hält es in der Wohnung nicht mehr aus. Sie geht nach vorne zur Hauptstrasse, um nach Beat Ausschau zu halten. Dort begegnet ihr eine Nachbarin. Auch sie hat nichts gesehen. Nach 22.30 Uhr. Als Beat nicht aufkreuzt, fährt Otto Gyger, diesmal mit dem Fahrrad, zum Lunapark. Adelheid Gyger ruft die Polizei auf dem Posten im Dürrenastquartier an und meldet ihren Sohn vorsorglich als vermisst. 23.05 Uhr. Otto Gyger findet Beat nicht. Mittlerweile hofft er, dass sein Sohn zu Verwandten ins Eriz gefahren ist oder – wenn auch ungern – dass er wie schon an der Auffahrt abgehauen ist. Adelheid Gyger ist gereizt und verunsichert. Sie drängt ihren Mann, gleich am frühen Morgen weiter nach Beat zu suchen. Erschöpft legen sie sich hin. Beide sind aufgewühlt und fühlen sich hilflos. 21


Zusammen mit Beats Bruder Bernhard besuche ich Adelheid Gyger in Bern, wo sie vor vielen Jahren hingezogen ist. Sie erzählt, wie sie jenen Abend und das Warten erlebt hat. Im Eingangsbereich der Wohnung hängt ein Bild von Beat und im Wohnzimmer eines mit Beat und Bernhard als kleine Kinder. Am Esstisch serviert sie uns Kaffee, Kekse, Brot mit Butter und Konfitüre.

Adelheid Gyger: «In diesen endlosen Stunden des Wartens verstärkte sich meine Sorge mit jeder weiteren Minute. Meine Gedanken kreisten. Mir kamen unendlich viele Dinge in den Sinn, und ich dachte, dass Beat vielleicht doch wieder abgehauen ist. Ich erinnerte mich daran, dass in Beats Schulhaus ein paar Tage zuvor am Fahrradunterstand etwas kaputtgegangen war. Beat hatte darauf geturnt und sich dabei die Hand verletzt. Zudem war er kurz davor mit dem Rad in eine Mauer gefahren und hingefallen. Beim Sturz hatte er sich auf die Unterlippe gebissen und ein Stück des oberen Schneidezahns war abgebrochen. Ich ging mit ihm gleich zum Arzt, doch der Riss in der Lippe musste nicht genäht werden. Jedes Mal, wenn die Schausteller in Thun gastierten, war Beat nervös, wie auf Nadeln. Eigentlich durften die Buben nur dorthin gehen, wenn wir Eltern es wussten und es ihnen erlaubten. Am Tag zuvor, es war sonnig und warm, schickte ich Beat und Bernhard an die frische Luft und sie durften auf den ‹Budeler›. Da ich in diesen Tagen besonders besorgt war, wenn sie dorthin gingen – wieso weiss ich nicht –, folgte ich den Buben mit dem Velo unbemerkt. Sie fuhren im Autoscooter und amüsierten sich, und ich kehrte beruhigt nach Hause zurück.»

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Bernhard Gyger: «In dieser Zeit wurde bei uns zuhause oft über die Schule und Beats Schulschwänzen gesprochen. Mir schien damals, als ob seinem Lehrer das Einfühlungs­vermögen gegenüber schwierigen Schülern wie ihm fehlte und Beat zusehends mehr rebellierte. Dass er an jenem Abend wieder abgehauen war und seinen Freiheitstraum verwirklichen wollte, wie ich zunächst annahm, überraschte mich nicht und schien mir damals als 12-Jähriger irgendwie logisch. Beat wird schon wieder zurückkommen, dachte ich. Jedenfalls ging ich an jenem Abend irgendwann schlafen und realisierte erst am nächsten Morgen, dass er noch nicht da war. Wir fuhren zu den Verwandten in die Schwarzenegg und ins Eriz, wo wir ihn vermuteten – jedoch vergeblich suchten. Beunruhigt kehrten wir nach Hause zurück, und bald darauf tauchte die Polizei bei uns auf.»

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• Zwei Häftlinge brechen aus dem Gefängnis aus

Gegen 3 Uhr. In der Nacht flüchten P. S. und W. K. aus dem ­Bezirksgefängnis auf dem Schlossberg in Thun. In den Akten werden sie als ­‹gemeingefährliche Rechtsbrecher› bezeichnet. Am Pfingstsonntag, nach dem Auffinden von Beats Leichnam, wird die Polizei die beiden sofort als mögliche Täter verdächtigen. W. K. hatte seine Ehefrau aufgesucht. Da sie sich vor ihm fürchtete, jagte sie ihn fort und alarmierte die Polizei. Gegen Mittag wird W. K. im Wald im Buchholzquartier in Thun verhaftet. Die Polizei wird mit ihm den Fluchtweg abgehen, den er und P. S. in der Nacht ­genommen haben. Dabei werden sie in der Pergola im ‹Wucherpark› – eine ­Parzelle am nördlichen Rand des Bonstettenparks neben dem Campingplatz im Gwatt – ein Taschentuch mit eingetrocknetem Blut und den Initialen B. G. ­finden. B. G. wie Beat Gyger. Die Mutter wird bestätigen, dass sie mehrere solche Taschentücher aus einem grösseren Stück Stoff hergestellt habe und dies eines von denen sei. Die Autopsie von Beats Leiche wird ein paar Tage später ergeben, dass die ­beiden Häftlinge fälschlicherweise verdächtigt worden sind. Der 14-Jährige ist umgekommen, bevor die beiden ausgebrochen sind. 19. Juli 1973. Eineinhalb Monate später wird die Polizei den zweiten Häftling in Lausanne ­fassen und inhaftieren. Sie lässt auch dessen Blut mit dem eingetrockneten im Taschentuch vergleichen. Die Analyse wird – im Gegensatz zu W. K. – ergeben, dass P. S. dieselbe Blutgruppe wie Beat Gyger hat und es dieselbe ist wie im ­Taschentuch: Rhesusfaktor null positiv. Ob das eingetrocknete Blut von Beat oder von P. S. stammt, lässt sich nicht eruieren.

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Die Polizei wird annehmen, dass sich Beat zu einem früheren Zeitpunkt in dieser Pergola aufgehalten haben muss. Sie ist ein beliebter Aufenthaltsort für Nachtschwärmer, Jugendliche und Liebespaare. Ob Beats Taschentuch mit seinem gewaltsamen Tod zusammenhängt, ist ­unklar. Der Polizei fehlen die Beweise.

Solche Details und vieles andere in Bezug auf Beats Tod wären ohne Akten des inzwischen verstorbenen Fahnders K. verborgen geblieben. Zum Glück hat er während Jahren Unterlagen für sich kopiert und eigene Notizen angelegt. Viele meiner Recherchen wären ohne sie gar nicht möglich gewesen und zahlreiche Zeugen hätte ich wohl nie herausgefunden. K.s private Akten repräsentieren leider nur einen Bruchteil der existierenden Akten und somit nur einen Bruchteil der gesamten Ermittlungsarbeit und -ergebnisse. Zudem spiegeln sie seine subjektive Wahl und individuelle Gewichtung der Fahndung wider. Gerade deshalb recherchierte ich so breit wie möglich und sprach mit möglichst vielen Personen. Bei gewissen ­Themen holte ich zusätzlich Meinungen von verschiedenen Beteiligten ein. Ihre persönlichen Erinnerungen sind zwar ebenfalls subjektiv. Als Summe vermitteln die Ergebnisse aber trotzdem ein umfassendes Gesamtbild und skizzieren die Umrisse der damaligen Situation. Übrigens: Das vorhin erwähnte Waldstückchen mit der Bezeichnung ‹Wucherpark› wurde nach dem langjährigen Parkwächter genannt, der Wucher hiess. Die Pergola, in der das Taschentuch von Beat Gyger gefunden wurde, gehörte zum Haus, in dem er und seine Familie in jener Zeit wohnte. Die Distanz ­zwischen Pergola und Haus beträgt nur wenige Meter.

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• Zwei Reiterinnen entdecken die Leiche

10. Juni 1973. In der Nacht auf Pfingstsonntag sinken die Temperaturen. An diesem frühen Morgen ist es keine 13 Grad mehr. Beat ist nicht nach Hause gekommen. Die Eltern melden sich nach ihrer erfolglosen Suche nach Beat im Eriz erneut bei der Polizei. Auf dem Posten sind keine Meldungen eingegangen. Die Vermisstenanzeige wird definitiv. Gegen 9 Uhr. Zwei Frauen reiten von Mamishaus her auf der Staatsstrasse durch den Lindenbachgraben. Auf einmal scheuen die Pferde und zwingen die Reiterinnen zum Absteigen. Etwas oberhalb der nahe gelegenen Mühle Lindenbach entdecken die 44- und die 15-Jährige an der rechten Strassenböschung den leblosen ­Körper eines jungen Mannes. Sie melden ihren Fund dem Bewohner der Mühle. Dieser orientiert unverzüglich per Telefon die Polizei auf dem Posten in Schwarzenburg. Die Polizei sperrt das Gelände ab. Nichts wird berührt, alles jedoch fotografiert und gefilmt. Untersuchungsrichter Alan Kuster und der Gefreite S. vom Kriminaltechnischen Dienst aus Bern, kurz KTD, treffen ein. Die Fahndung wird eingeleitet. S. entnimmt der rechten Gesässtasche der Hose des Toten einen schwarzen Geldbeutel mit Fr. 6.75 in Münzen, eine Mitgliederkarte des Schweizerischen Ski-Verbandes, lautend auf Beat Gyger, Jahrgang 1959, Gwattstrasse 58a, 3604 Thun, sowie einen Notizzettel für einen Arztbesuch vom Samstag, 16. Juni. Der Lindenbachgraben ist rund 28 Kilometer vom Dürrenastquartier in Thun entfernt. Er befindet sich in einem ungefähr zwei Kilometer langen, ziemlich steil abfallenden, bewaldeten, engen Geländeeinschnitt unterhalb der Ortschaft Mamishaus und oberhalb des Talbodens bei der Wislisau. Die durch den 26


Graben führende Staatsstrasse verbindet Schwarzenburg und Riggisberg. Sie ist kurvenreich und im oberen und mittleren Teil vorwiegend in den Sand­ steinfelsen eingehauen. Entlang der Strasse fliesst der Lindenbach, der in der Wislisau in das Schwarzwasser mündet. Auf der gesamten Länge des Grabens befinden sich vier bewohnte Gebäude. Beim ersten Gebäude aus Richtung ­Mamishaus handelt es sich um die Mühle Lindenbach. Beat Gyger liegt kopfabwärts in Bauchlage im unteren Teil der talseitigen, ­steilen Strassenböschung im lichten Gehölz. Die Fundstelle mit den Koordinaten 596.625/183.775 befindet sich ungefähr 200 Meter oberhalb der Mühle und ausserhalb einer direkten Sichtverbindung. Der rechte Unterschenkel des Leichnams ragt in einem Winkel von ungefähr 90 Grad in die Höhe und stützt mit dem Fuss an einen am Boden liegenden Ast. Die Totenstarre ist bereits eingetreten. Der 14-Jährige trägt eine hellblaue Jeanshose mit breitem braunem Ledergurt, eine hellblaue Lumberjacke, einen Pullover mit dunkelblauer und weisser Querstreifung, eine weisse Unterhose und dunkelblaue, handgestrickte Socken. Beat Gyger trägt keine Schuhe. Seine Socken sind trocken und frei von Schmutz. Im Gelände sind keine Spuren sichtbar, die auf einen Kampf hindeuten. In der Böschung vom Strassenrand bis zur Lage der Leiche im leicht feuchten Boden ist dagegen eine Rutschspur zu erkennen. Auf der trockenen Asphaltstrasse, zirka fünf Meter oberhalb dieser Rutschspur und hart am talseitigen Fahrbahnrand, ist eine zwei Meter lange und ausgeprägte Brems- und Stoppspur eines Motorfahrzeuges zu sehen. Nach 11 Uhr. Zusammen mit einem Kollegen besucht Korporal F. N. aus Thun die Eltern in ihrer Wohnung und informiert sie über den Leichenfund.

Die Namen der beiden Reiterinnen liegen mir vor. Doch leider kann ich sie nicht ausfindig machen. Ob und inwiefern dieser Fund ihr Leben geprägt hat? Wie es ihnen wohl ­danach ergangen ist? 27


• Die Eltern erfahren von Beats Tod

Adelheid Gyger hat sich im Schlafzimmer verschanzt. Das Warten auf Beat und die lange Nacht ohne wirklichen Schlaf setzen ihr zu. Otto Gyger ist längst aufgestanden. Bernhard ist in seinem Zimmer. Es klingelt. Der Vater öffnet die Wohnungstüre, vor ihm stehen F. N. in Zivilkleidung und sein Kollege in Uniform. Otto Gyger holt die Mutter. Die beiden Männer warten im Wohnzimmer. Die Eltern ahnen Schlimmes. Die Mutter denkt sofort an die letzten Scherereien mit Beat, dass er Mopeds stahl, Boote entwendete und die Schule schwänzte, und erinnert sich an den bevorstehenden Termin beim Jugendrichter. Der Vater wirft sich vor, dass er seinem Sohn noch nicht wie geplant ein Mofa gekauft hat.

«Hat Beat einen Unfall gehabt?», fragt er als Erstes. Die beiden Polizisten senken den Kopf. Fahnder F. N. bricht die Stille und informiert die Eltern darüber, dass Beat zwar gefunden worden sei, jedoch nicht mehr lebend. Adelheid Gyger: «An diesen Moment erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre. Ich schluckte mit Mühe, ging ohne Worte ins Badezimmer, starrte mich im Spiegel an und dachte unaufhörlich: Das kann doch nicht wahr sein! Das kann nicht sein. Ich wollte weinen, doch ich konnte nicht. Keine Träne. Weshalb ich auf diese Nachricht so und nicht anders reagiert habe, weiss ich selber nicht. Der Rücken schmerzte mich. Ich war völlig verkrampft, stand unter Schock und konnte kaum atmen.»

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Otto Gyger: «In der letzten Zeit waren wir wegen Beat oft aufgewühlt und nach dieser schlaflosen Nacht erst recht. Als die Polizisten vor der Haustüre standen, dachte ich natürlich nicht an eine solche Tragödie und realisierte im ersten Augenblick gar nicht die Dimension ihrer Nachricht. Beats Tod war eine Katastrophe, das kann ich gar nicht wirklich beschreiben. Ich war überfordert, und die Tränen überwältigten mich. Wie in Trance ging ich mit den Polizisten mit.»

Die Mutter bleibt zu Hause. Die Schwiegereltern sind auf dem Weg zu ihr. Fahnder F. N. fährt mit dem Vater nach Schwarzenburg zum Polizeiposten. Otto Gyger merkt nicht, dass F. N. am Fundort der Leiche vorbeifährt. Am Abend jenes Pfingstsonntages werden bereits Journalisten vom ‹Blick› vor der Haustüre stehen. Adelheid Gyger: «Ein Reporter hatte die Kamera im Anschlag. Ich erinnere mich an das Objektiv vor meinem Gesicht. Leider weiss ich nicht mehr, ob ein oder zwei oder mehr Leute vor unserer Haustüre standen. Ich schrie: ‹Es gibt keine Fotos! Und keine Aussagen!›»

Otto Gyger: «Den Bericht am Tag darauf zu lesen, war ein ohnmächtiges Gefühl. Obwohl ich keine Aussagen erlaubt habe, werde ich im Artikel zitiert.»

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1. Eintrag im Protokoll von Fahnder R. B. über Beat Gygers letzten Tag: 07.30 – 09.55 Uhr, Schulbesuch Der nachfolgende Abschnitt ist die erste von insgesamt 17 fiktionalen, erfundenen Ebenen aus der Perspektive von Beat. Sie ergänzen die 17 Einträge in einem Protokoll des damaligen Einsatzleiters in Thun. Korporal R. B. hat es zwei Tage nach Beats Tod geschrieben, basierend auf den bis dahin vorliegenden Zeugenaussagen und Ermittlungsergebnissen. So könnte es gewesen sein: Halb acht. Der Lehrer verteilt das letzte Diktat. Wieder eine Zwei. Beat hebt den Pultdeckel und schiebt das Blatt voller mit rotem Stift geschriebenen Korrekturen unbeachtet darunter. Er schaut aus dem Fenster. Der Lehrer kommentiert die Proben und erklärt Grammatikregeln. Beat hört nicht zu. Ruhelos rutscht er auf dem Stuhl hin und her und überlegt, ob er in letzter Zeit nicht doch zu weit gegangen ist. Vielleicht hätte er die Typen nicht gegeneinander ausspielen sollen. Die Sonne scheint ins Klassenzimmer, auf Beat, auf sein Pult. Ihm ist heiss. Sein Blick schwenkt durch die Klasse. Die meisten Jungen und Mädchen schreiben auf, was der Lehrer befiehlt zu notieren. Mit dem Ellbogen stupst er Willi neben sich an, der sogleich ausrutscht, was einen Strich auf dem beinahe voll geschriebenen Blatt hinterlässt. Genervt dreht er den Kopf zu ihm hin und raunt: «Lass mich!» Beat verzieht kurz die Mundwinkel und will ihm zulächeln. Doch Willi hat den Kopf bereits wieder abgedreht und schreibt. Er schaut auf den Pausenplatz. Ihn nerven Vater, Mutter, der Lehrer. Alle, alles. Die Erwachsenen haben keinen Schimmer. Wozu brauche ich eine Schule, wo ich doch selber schon Geld verdiene, denkt er und ärgert sich langsam doch darüber, dass der Lehrer ihn wie immer übersieht.

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Die Pausenglocke. Endlich sind die ersten beiden Lektionen überstanden. Auf den kirchlichen Unterricht, der gleich folgt, pfeift er. Die Kollegen ren­ nen aus dem Zimmer, die Mädchen hinterher. «Heute um acht. Beim Camping!» Mit diesen Worten haben sich die Jungs gestern von ihm verabschiedet. Beinahe eine Drohung. «Wieder mal einen schönen Ausflug zum Chalet . . .», sagten sie und zwinkerten ihm zu. Doch er will nicht. Nicht mehr. Er wird einfach nicht hingehen. Sollen sie ohne ihn fahren. Als Beat auf den Pausenplatz hinaustritt, spielen vier seiner Klasse gegen vier Jungs aus der unteren Fussball. Mönä, Yvä und Marä tuscheln in der Ecke, stecken die Köpfe zusammen und kichern. Wie üblich – Mädchen­ getue. Connä und Ursi kokettieren mit Jungs vor der Schulhaustreppe. ­Sollen sie doch . . . Beat stellt sich neben Wäde an den Rand des Pausenplatzes und streicht sich die blonden Haare aus dem Gesicht. «Na, läufts?» – «Logisch. Wieso nicht?» Wortlos schauen die beiden Verbündeten dem Fussballspiel zu. Manchmal schweift ihr Blick über die Wiese hinüber zum Campingplatz und zum Bonstettenpark. Viertel nach zehn. Als es zum Pausenende klingelt, leert sich der Platz langsam. Die Klasse geht zur Kirche gleich am anderen Ende des Parkplatzes beim Schulhaus. Der Unterricht beginnt. «Ich komme gleich», ruft Beat. Wäde beachtet seine Worte nicht. Weder die Klasse noch die Lehrer kümmert es, ob Beat da ist oder nicht. Sie fragen sich höchstens, wie er das Schuljahr schaffen soll.

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