Zucker 23

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ZUCKER MAG Mach mit,

Mach‘s nach, Mach‘s besser

Free Art Magazin Issue 23

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INHALT 04 06 10 12 16

Elisabeth Wolf Lorenz Bethmann Jonathan Falk Stanley Sladge Nexus

Idee/Layout/Einband: Jonathan Falk & Elisabeth Wolf, Leipzig Kontakt: zucker.mag@web.de


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Elisabeth Wolf Surfer, 2005 05


Nachgemacht von Lorenz Bethmann

Als ich die letzten Kartons packe, sind es mehr und mehr Sachen, die noch verstreut liegen, von denen ich nicht weiß, wohin ich mit ihnen soll. Oder warum ich sie überhaupt mitnehmen sollte. Wenn man aus einer langjährig in Beschlag genommenen Wohnung auszieht, merkt man erst einmal, wie sesshaft man geworden ist. Ich glaube, ein Leben als Nomade würde mir guttun. Man sagt ja, Nomaden wüssten noch am ehesten, welche Dinge notwendig sind und welche nicht. Wie man sein Leben nicht vollmüllt. Letztendlich füllt man ja nur, damit es voll ist. Leute streiten über halbvolle oder halbleere Gläser, aber jeder würde ein volles gegenüber allen vorziehen. Halbleer. Zumindest habe ich die Auswahl. Eine kleine Figur, ein stilisierter Vogel mit einem übertrieben großen Schnabel und einer entfernten Ähnlichkeit mit einem Raben. Ein „Ünglücksrabe“ soll das darstellen. Sie hat ihn mir geschenkt, um mich über diverse Missgeschicke hinwegzutrösten, deren Zeuge sie wurde. Missgeschicke, die typisch für mich sein sollen. Er hat auch nur so kleine Stummelflügel, er würde nicht fliegen können, wenn es denn ein Vogel wäre. Nur unwahrscheinlich große Körner picken. Walnüsse und Avocados würden es für ihn wohl werden. Irgendetwas sehr großes und stabiles. Mit so einem Schnabel könnte man vermutlich auch Kokosnüsse knacken. Da sein restlicher Körper und seine Flügel aber so winzig sind, würde er wahrscheinlich den ganzen Tag überhaupt keine Nüsse knacken und nur mit den Kopf auf dem Boden schleifen und ziemlich bald 06


vor Hunger und Desillusionierung sterben. Ich entscheide, dieses weise Geschenk in die Kiste mit dem nachweisbar vollkommen unnützen Gerümpel zu legen, welches man ein ums andere Mal nicht wegwirft, weil man sich von der verblassenden Kopie der Emotionen, die man wohl einst gegenüber Dingen und den Personen, die einen damit bedachten, transzendiert fühlt. Staubfänger halt. Ich gehe nochmal vergeblich in die Küche, um mir einen Tee zu machen und kurz nach Betätigen des Lichtschalters festzustellen, dass sie ja den Wasserkocher mitgenommen hat und überhaupt auch keine Tassen oder die ehemals vielfältigen Teesorten zugegen sind. Was ich eigentlich wusste. Ich setze mich an den Küchentisch, der noch da ist und drehe mir eine Zigarette. Die Schwaden wirken seltsam verloren zwischen den kahlen Wänden und ähneln nicht entfernt den Wolken, die hier unzählige Male unter Gelächter und Musik und dem Klingen von einander treffenden Gläsern ausgestoßen wurden, sich im Raum verwebten und am nächsten Tag eine physische Erinnerung an die miteinander geteilten Erfahrungen, Meinungen, Themen und Minuten präsentierten. Jetzt sind es nur stinkende Schwaden in einem leeren Raum. Als ob das eigentliche Leben schon fort wäre und man nur die Staffage hinterher räumt. Ich mache die Zigarette aus. Sie schmeckt nicht. Vielleicht sollte ich aufhören. Schließlich werde ich in Zukunft einen nicht unerhebliche Menge mehr Zeit haben. Da kann man Sachen anpacken. Oder aufhören anzupacken. Das Lassen beginnen. Eigentlich ist es nicht mehr viel und eigentlich wollte ich schon fertig sein. Aber irgendwas ist ja immer. Die Kisten stehen in einer losen Ordnung auf dem zerkratzten Laminat, eine Kerbe ist bestimmt zweieinhalb Meter lang und entstanden, als wir uns auf den Stühlen durch den Raum gezogen haben, Kutscher und Pferd gespielt haben. Einzugpferd. Ein Zugpferd. Das war irgendwie sehr lustig, damals. Das war gleich am Anfang, da haben wir kaum eine Woche hier gewohnt. Zwischen den Kisten liegt noch allerlei mehr Tand, den ich irgendwie noch sortieren will, wobei ich jedes einzelne Stück vermutlich viele Minuten lang anschaue und mich erinnere, woher ich es ursprünglich habe, mir die Situationen vorstelle, in denen es eine Rolle gespielt hat und mir nach jeder so mühsam erkauften Entscheidung, es 07


doch mitzunehmen, vornehme, nicht alles mitzunehmen und mich bei dem nächsten Gegenstand nicht in Träumerei von Vergangenheit ziehen zu lassen. Ich werde das die ganze Nacht lang tun. Ein kleiner Zinnsoldat, denke ich. Aber es ist kein Zinn. Viel zu leicht dafür. Bei meinen Eltern habe ich früher einige wenige davon einmal gesichtet, als ich noch klein war. Ich glaube, es waren nie mehr als drei oder zwei. Die sollen sehr wertvoll gewesen sein. Wohl irgendwie alle handgemacht. Und handbemalt. Das war so Spielzeug für Kinder aus wirklich gutsituierten Familien. Bei dem ist aber so ein kleiner Zipfel an der Seite der Bodenplatte und er ist ansonsten fast vollkommen glatt an allen Seiten. Das war bei den echten, glaube ich, nicht so. Aber so was macht heute keiner mehr, die werden wahrscheinlich nur als Reminiszenz an die originalen Zinnsoldaten so hergestellt. Wie Musik von heute, die wie Musik aus den Achtzigern klingt, aber von heute ist. Einfach nur so als Erinnerung. Dass das irgendwie cool war. Und außerdem wirklich viel zu leicht, vielleicht waren die alten auch so glatt, aber an das Gewicht kann ich mich noch gut erinnern. Obwohl ich auch sehr klein war, vielleicht kam es mir auch nur so schwer vor, weil ich so schwach war. Vielleicht ist es ja wirklich wertvoll. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo ich den kleinen Soldaten her haben sollte. Vielleicht ist es ja wirklich so ein kleiner Soldat, der ganz wertvoll ist, denke ich. Obwohl der Zipfel wirklich eher für Plastik spricht.

Ich bin in der neuen Wohnung und es riecht nach Lavendel. Sofern ich das beurteilen kann, meine Erfahrungen mit Lavendel sind begrenzt. Aber es erinnert mich an etwas, ich glaube meine Mutter hatte immer so eine Lavendelseife. Wenn ich nach ihr ins Bad kam, hat es immer so gerochen, wie es jetzt riecht, ich bin also in meiner neuen Wohnung und sie ist sicher auch da. Und frisch gewaschen, nehme ich an. Der kleine Soldat und der Rabe sind auch da. Es könnte auch eine Krähe sein, bei dem Schnabel und den kurzen Stummelflügeln, die ihn flugunfähig machen, ist das schwer zu beurteilen. Jedenfalls habe ich es geschafft, mein ganzes Leben, also bis auf den Teil, den ich weggewor08


fen habe, aus den kahlen Wänden hierher zu transportieren. In vielen verschiedenen Kisten, die ganz unten das enthalten, was drauf steht und weiter oben dann immer mehr ausfransen, bis es letztlich nur noch darum geht, das Ding unabhängig von Kategorien vollzustopfen. Ich habe mich in den kahlen Wänden sehr leblos gefühlt, ein bisschen wie die Schwaden, die durch meine unsere die andere Wohnung unoszilliert durch Musik und Gespräche zogen und sich letztendlich unbezeugt auflösten. Hier ist es viel besser und der kleine, alte Zinnsoldat aus Plastik, der gar nicht so wertvoll ist, weil er nicht so alt ist, wie ein Zinnsoldat sein müsste, um wertvoll zu sein und außerdem viel zu wenig aus Zinn besteht, von dem ich auch gar nicht mehr weiß, woher ich ihn habe, kann hier zinnbefreit seinen bewegungslosen Marsch fortsetzen. Ich weiß gar nicht, warum man Zinnsoldaten aus Plastik herstellen sollte, genau so wenig weiß ich, warum man Unglücksraben aus einem merkwürdig spröden Polymer formen sollte, die ein bisschen wie Krähen, aber eigentlich wie gar nichts aussehen. Aber manchmal frage ich mich, ob es früher schon solche Rabenkrähenunglücksvogelimitierfiguren gab, vielleicht nicht aus Polymer sondern aus Zinn. Vollständig aus Zinn. Sehr, sehr schwer waren diese bestimmt. Wenn es sie gab. Die Soldaten aus Zinn gab es, ich habe sie selbst erlebt, wenn ich mich nicht irre, weil ich damals zu klein war und sie mir nur so schwer vorkamen, weil ich selbst noch so schwach war. Einer ohne Zinn ist noch übrig und er hat auch diesen Zipfel an der Seite, der ihn verrät und er ist auch nicht so schwer und ich nicht mehr so klein, aber er erinnert mich daran, dass es so was einmal gab. Vielleicht gab es auch Unglücksraben aus Zinn, die wie Krähen aussahen und an Stummelflügelflugunfähigkeitssyndrom litten, aber das weiß ich nicht und werde es wohl auch nie erfahren. Gedanklicher Müßiggang ist nicht meine Art. Ich packe erst mal den Rest aus, denke ich, rieche Lavendel, während die Wände noch recht kahl sind und rauche wohl erst mal eine in der Küche.

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Vier Flure - Leben, Schein, Sein und Tod fielen mir vor die Füße. von Jonathan Falk

Der erste Weg zog sich empor und ich betrat ihn zögerlich. Er rief mir etwas nach, schon konnte ich sprechen. Schroffe Klippen lügen nicht. Der zweite war gnädiger. Er führte direkt ins Nichts und/oder in die Irre, ich hatte noch die Wahl. Sie wurden rund geleckt. Der dritte Gang ging da entlang, wo nie die Sonne scheint, wo man viel stirbt, so wie im harten Leben Kiesel zermahlen wurden. Möglich war die vierte Strecke. Opa stand und winkt und hofft, dass ich ihm auch ein Winken schenk‘. Sand floss auf uns herab. 10


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Evolution von Stanley

Sie war nicht die schönste Frau der Stadt Sie war ein Bastard Sie war geil wie ein blühender Apfelbaum Sie hatte es von ihrer Mutter geerbt (ihre Mutter war eine blasse Neandertalerin ohne Haare) Sie hatte mindestens sechs Väter Einer war ein besoffener, einbeiniger, bretonischer Soldat Einer war ein zwiebelfressender Skandinavier der mit seinen Fürzen die Wölfe vertrieb Einer war ein behaarter, warziger Russe der sie bis in die Ohnmacht schlug Einer war onanierender Römer mit Gelbsucht und Syphillis Einer war ein zahnloser Jude, der ihre Muschi befummelte und ihr in die Rosine rußte Der letzte war ein dummes, patriotisches YankeeSchwein mit nur einem Hoden Halleluja! 12


Sie hatte mindestens sechs Väter Sie hatte mindestens sechszigtausend Verehrer Alle waren sie impotent Alle waren sie in der Kneipe, als ich hereinkam Sie tanzte in einem Kreis in ihrer Mitte Keiner wagte sich ran Sie entglitt ihnen allen Ich trat in den Kreis, stellte mich in Positur wie ein Herrscher Sie tänzelte, wirbelte vorbei Ich packte zu, hielt sie fest Sie zerrte, aber sie kam nicht los Das Pack murmelte, kam näher Ich blickte sie an wie ein GOTT Sie verstummten Sie wichen zurück Sie traten in den Schatten, dünnten aus wie der Qualm einer Zigarette Ich zog sie grob an mich heran, packte mit der anderen Hand ihren Hintern „Jetzt tanzt du mit mir“, sagte ich „Alles, was du willst“, sagte sie „MUSIK“, schrie ich 13


Ich wirbelte sie herum löste ihre Verspannungen bis sie weich wurde wie Seide Ihre Augen glänzen Ich nahm sie auf den Arm & trug sie hinauf In der dreckigen, chaotischen Stube warf ich sie aufs Bett Mit einem Ruck riss ich ihr die Kleider vom Leib Mit einem Ruck riss ich mir die Kleider vom Leib „Huuuu“, sagte sie Ich drückte sie heftig in die Laken Arbeitete mich in sie hinein & arbeitete Ich arbeitete schwer Ich schwitzte Endlich wurde sie weit und weich Sie wurde mein Wie ich ihr in die Rosine rußte brachte sie bereits Verse zur Welt Erschöpft lag sie da, blutend Die Verse tropften zu Boden Sie war nicht die schönste Frau der Stadt Ich erdrosselte sie fraß sie auf mit ihren Missgeburten Ich ließ nur ein halbwegs geratenes Kind am Leben & nannte es Gutes Deutsch 14


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Rote Flora Hamburg Schanze Oben schiebt sich der Protest zwischen 1000 Bullen durch die Gefahrenzone Unten im Keller in einem dunklen Loch dröhnen und donnern die Bässe ein Tarnnetz an der Decke rote Striche an den Wänden kreuz und quer riesige Boxen dichter Nebel derber Sound Oben wissen die Polizisten schon längst nicht mehr wo sie hinhauen sollen Sie sind verwirrt schlagen um sich wie Kinder Knüppel verprügeln Klobürsten die der Protest über den Köpfen schwingt Alle in schwarzen Stoff Unten schießen elektrische Töne durch die Ohren direkt ins Gehirn alles gerät durcheinander alles scheint mir in diesen Wirren ganz klar zu sein

Oben auf der Straße Betrunkene und Dealer Mädchen in leuchtgrünen Hosen die ihre Seele feilbieten Oben fragt ein Tourist Wo ist die Revolution? Sie hat Feierabend Sie verkriecht sich in die Bars in die Keller geht tanzen trinken reden Unten frag ich ihn: Und? Gibt es eine reale Chance die Rote Flora so zu erhalten wie sie ist? Ich sprech es nicht aus das hemmt nur Doch glaube ich nicht daran Alles wird irgendwann aufgekauft und verbaut

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Er schaut mich ernst an In seinen braven Augen sehe ich seinen Kampf Ich sehe sehr viel Liebe Dann ein fester Blick und ein klares Ja!

Oben herrscht der Kapitalismus die Hurerei der Kn체ppel Unten stellen wir das immer wieder fest Oben herrscht ein System aus Egoismus und Feindseligkeit Unten best채tigen wir uns immer wieder unsere Freundschaft Und dazwischen Beton

(Hamburg/ Rote Flora/ Schanzenviertel/ Gefahrengebiet/ 10.01.14/ Pepe New)

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Dies ist die zweite von drei Ausgaben im Themenkreis „Mach mit, mach‘s nach, mach‘s besser“, erschienen am 1. April 2014, Zucker Magazin, Leipzig, Ausgabe 23. Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe „Mach‘s besser“ ist am 21. Mai. Wir danken allen teilnehmenden Künstlern. ZUCKER ist ein 2008 gegründetes Magazin. Die Redaktion präsentiert regelmäßig, thematische Arbeiten aus verschiedenen, künstlerische Bereichen. Das Magazin erscheint vierteljährlich als PDF im Internet. Unser digitales Archiv und Netzwerk erreicht man unter: issuu.com/zucker oder facebook.com/zucker.mag Wer das Magazin künstlerisch, organisatorisch oder in Sachen Bekanntheit unterstützen möchte, wende sich an die oben genannte Adresse. Wir freuen uns über jede Zuschrift. Außerdem danke ich allen Lesern für Ihr stetes Interesse am Projekt.

ISSN 2191-6985

Jonathan Falk, Herausgeber



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