에디치온 델타 한국문학 시리즈 Edition Delta Koreanische Literatur

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에디치온 델타 한국문학 시리즈

Koreanische Literatur

Edition Delta


Zehn koreanische Autorenporträts 김선우 Kim Sun-Woo 신달자 Shin Dal Ja 박희진 Park Hijin 마종기 Mah Chonggi 퇴계 Toegye (Lee Hwang/ Yi Hwang) 김훈 Kim Hoon 채만식 Chae Manshik 김유정 Kim Yujong 황석영 Hwang Sok-Yong 정영문 Jung Young Moon www.edition-delta.de


Edition Delta 에디치온 델타 한국문학 시리즈

Koreanische Literatur Herausgegeben von Juana Burghardt


Die koreanische Literaturreihe in der Edition Delta entstand dank der internationalen Kooperation mit dem Koreanischen Institut f端r Literatur端bersetzungen (KLTI) in Seoul

Edition Delta


Lyrik 김선우 Kim Sun-Woo Unter Pfirsichblüten eingeschlafen 신달자 Shin Dal Ja Morgendämmerung 박희진 Park Hijin Himmelsnetz 마종기 Mah Chonggi Augen aus Tau 퇴계 Toegye (Lee Hwang/ Yi Hwang) Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte, hing der Mond noch im Dachgesims

Prosa 김훈 Kim Hoon Schwertgesang 채만식 Chae Manshik Ein Frühlingstag im Paradies 김유정 Kim Yujong Kamelien 황석영 Hwang Sok-Yong UNKRAUT und andere Prosa 정영문 Jung Young Moon Mondestrunken


김선우 Kim Sun-Woo Unter Pfirsichblüten eingeschlafen Gedichte, zweisprachig: Koreanisch – Deutsch Aus dem Koreanischen übersetzt von Kang Seung-Hee und Kai Rohs. Herausgegeben und mit einer Zeichnung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 184 Seiten, 1 s/w Foto 15,6 × 15,6 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-23-4 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/kim-sun-woo-unter-pfirsichblueten-eingeschlafen/


김선우 Kim Sun-Woo Unter Pfirsichblüten eingeschlafen Aus dem Koreanischen von Kang Seung-Hee und Kai Rohs


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

도화 아래 잠들다 동쪽 바다 가는 길 도화 만발했길래 과수원에 들어 색(色)을 탐했네 온 마음 모아 색을 쓰는 도화 어여쁘니 요절을 꿈꾸던 내 청춘이 갔음을 아네 가담하지 않아도 무거워지는 죄가 있다는 것은 얼마나 온당한가 이 봄에도 이 별엔 분분한 포화, 바람에 실려 송화처럼 진창을 떠다니고 나는 바다로 가는 길을 물으며 길을 잃고 싶었으나 절정을 향한 꽃들의 노동, 이토록 무욕한 꽃의 투쟁이 안으로 닫아건 내 상처를 짓무르게 하였네 전생애를 걸고 끝끝내 아름다움을 욕망한 늙은 복숭아나무 기어이 피워낸 몇 낱 도화 아래 묘혈을 파고 눕네 사모하던 이의 말씀을 단 한번 대면하기 위해 일생토록 나무 없는 사막에 물 뿌린 이도 있었으니 내 온몸의 구덩이로 떨어지는 꽃잎 받으며 그대여 내 상처는 아무래도 덧나야겠네 덧나서 물큰하게 흐르는 향기, 아직 그리워할 것이 남아 있음을 증거해야겠네 가담하지 않아도 무거워지는 죄를 무릅써야겠네 아주 오래도록 그대와, 살고 싶은 뜻밖의 봄날 흡혈하듯 그대의 색을 탐해야겠네


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen Auf dem Weg ans Ostmeer standen die Pfirsichbäume in voller Blüte, ich ging in einen Obstgarten, weil ich Lust nach Farben hatte. Die Pracht der Blütenfarben, die aus ganzer Seele strahlten, erinnerten mich daran, dass meine Jugend, die sich nach einem frühen Tod gesehnt hatte, schon vergangen war. Wie gerecht ist die Schuld, die ohne sein Zutun schwer auf einem lastet. Auch in diesem Frühling fliegen auf unserem Stern Funken in die Luft, die wie Kieferpollen, vom Winde getrieben, über dem Sumpf schweben. Ich wollte nach dem Weg zum Meer fragen und ihn dann verlieren, jedoch ließ die Mühe der Blüten, in selbstlosen Kampf ihren Höhepunkt zu erreichen, meine Wunde eitern, die in sich verschlossen war. Unter den Blüten einesalten Pfirsichbaums, der sein Leben lang den Wunsch nach Schönheit nie aufgab, hob ich eine Grube aus und legte mich hinein. Wie jener, der sein Leben lang Wasser in die Wüste trug, um ein einziges Mal den Worten des Ersehnten begegnen zu können, empfange ich die Blüten, die in die Grube meines Körpers fallen, meine Liebe, meine Wunde muss wohl noch eitern, damit ihr stinkender Duft bezeugt, dass noch Sehnsucht bleibt. Ich muss Schuld ertragen, die ohne mein Zutun schwer auf mir lastet. An einem unerwarteten Frühlingstag, den ich mit dir sehr lange erleben möchte, muss ich dich um deine Farbe, als sei sie Blut, beneiden.


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

소낙비 내가 기르던 고양이가 어느날은 온종일을 날카로이 가릉거리다가 턱을 쓰다듬는 내 손끝을 날렵하게 깨물고  놀란 내가 등짝을 때려도 떨어지지 않던 날처럼 햇빛 드는 쪽창가에 앉아 배어나온 피를 할짝할짝 핥아먹던 날처럼 너를 안다가 나도 모르게 송곳니가 가려워져 너의 빗장뼈, 너의 목 언저리, 너의 귓불 깊숙하게 날랜 이를 박고 싶은 날처럼 소낙비 내린다 송곳니를 박으며 핏물을 할짝이며 쪽창에 몇방울 신산한 것이 되어 뭉쳐 있는 향그러운 비린내 소낙비의 어금니와 송곳니 사이로 내가 걸어 들어간다 얼음장을 끌어안고 산 것과 죽은 것 사이를 드나들던 겨울 연뿌리처럼 계절이 바뀌기 전에 몇광주리의 피를 들이켜야 했던 날들처럼 서로의 몸에 깊숙이 이를 박은 쪽창과 창틀처럼


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

Regenschauer Wie an jenem Tag, an dem meine Katze von früh bis spät fauchte und mir, als ich ihr Kinn streichelte, plötzlich in die Hand biss und sie nicht mehr losließ, obwohl ich ihr völlig überrascht auf den Rücken schlug, wie an jenem Tag, an dem ich mich an das sonnige Fensterchen setzte und mir das Blut leckte, wie an jenem Tag, an dem ich dich umarmen wollte, dann aber Lust verspürte, dir tief ins Schlüsselbein, in den Hals und ins Ohr zu beißen, weil mir plötzlich die Eckzähne juckten, geht ein Regenschauer nieder. Er beißt mit seinen Eckzähnen und leckt das Blut. Der Fischgeruch des Regens tropfte bitter ans Fensterchen. Zwischen den Backen- und Eckzähnen des Regenschauers kam ich hinein wie eine Lotoswurzel im Winter, welche die Kälte in die Arme nahm und in den Welten der Lebenden und Toten ein- und ausging, wie die Tage, die einige Körbe Blut leeren mussten, bevor eine neue Jahreszeit anbrach, wie die Fensterscheibe und der Fensterrahmen, die sich tief ineinander verbissen haben.


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

포도밭으로 오는 저녁 포도밭에 갔습니다 포도 철의 마지막 무렵이었습니다 포도밭 할머니가 전지가위와 바구니를 내주며 손수 담아오라 하였습니다 바구니를 건네주는 손바닥에 못이 많았습니다 십자가를 등짐 지고 야위어가는 포도나무 못자국 난 손바닥을 들여다보다 나는 자꾸 헛가위질을 하고…… 조심조심 걸어 들어온 포도밭 할머니가 단번에 잘라내야 덜 아프다고 가만히 일러주고 갔습니다 낡은 플란넬 앞치마에서 향유 냄새가 나는 듯하였습니다 못이 많은 늙은 손이 포도나무 발등을 쓰다듬고 갔습니다 바구니 속은 동굴처럼 어둡고 깊어 나는 자꾸 헛가위질을 하고…… 소스라치며 질겨진 포도나무 그늘로 향유 단지를 들고 오는 저녁이 보였습니다 포도나무가 흘린 피로 흥건하여진 포도밭 이랑이 따스하였습니다


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

Der Abend zieht in den Weingarten ein Ich betrat den Weingarten gegen Ende der Weinlese. Die betagte Winzerin überreichte mir eine Rebschere und einen Korb und bat mich, selbst Trauben zu lesen. Ihre Hand, die mir den Korb reichte, war voller Schwielen. Als ich auf die Hände der Weinstöcke voller Schwielen schaute, die auf dem Rücken das Kreuz trugen und immer magerer wurden, schnitt ich mich wieder und wieder ... Die Alte folgte mir mit behutsamen Schritten in den Garten und erklärte mir leise, man soll die Trauben mit einem einzigen Schnitt ernten, damit sie weniger Schmerzen haben. Dabei schien die alte Flanellschürze der Frau nach Duftwasser zu riechen. Ihre greisen, schwieligen Hände streichelten die Weinstöcke an den Füßen. Das Innere des Korbes war so dunkel und tief wie eine Höhle, und ich schnitt mich wieder und wieder ... Der Abend kam mit einem Krug voller Duftwasser in die Schatten der vor Schreck erstarrten Weinstöcke. Die mit dem Blut der Weinstöcke getränkten Furchen des Weingartens fühlten sich warm an.


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

귤들은 다 어디로 갔을까 골목길 돌아 나오다 누가 나를 불러 잠시 눈길 준 폐타이어 쌓인 창고 앞 조붓한 담장 아래 아기 어금니처럼 돋아 있는 귤싹 하나 만난다 지난 겨울 어느 늦은 밤 소주를 사러 점방 가는 길에 아무 생각 없이 뱉어낸 귤씨 하나가, 아니겠지 설마 그 귤씨 하나가 큰맘 먹고 사놓은 백개들이 귤 한상자 한겨울 밤 야금야금 까먹던 그 귤들이 더러는 맑은 오줌으로 몸 밖을 흘러나가고 사는 일이 서리 앉은 빨랫줄 같아, 푸념하면서도 하루를 견디게 한 어떤 열량이 되고 잔주름 생기기 시작한 눈가 지친 세포의 자살을 지연시키는 비타민이 되고 어두운 상자 속에 얼마 남지 않은 귤 몇알이 그래도 천연스럽게 댕글댕글 빛나던 힘 ! 귤껍질에 빼곡히 열린 구멍이란 게 실은 저의 중심을 향해 세상의 향기를 흐르게 한 통로는 아니었을까  보이지 않는 중심을 향해 몸을 맞대고 껍질을 벗겨내도 흩어지지 않던 귤조각 시고 달고 아린 저마다 다른 맛들이 열어둔 통로를 지나 중심으로 모이듯 귤 한상자 놓여 있던 겨울의 귀퉁이가 문득 밝아지고 알전구같이 흐릿한 창밖의 그늘이 외로운 귤알들로 빚어지곤 했던 것이다


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

Wo sind die Mandarinen geblieben? Als ich aus der Gasse kam, vernahm ich einen Ruf. Mein Blick blieb eine Weile bei der Altreifensammelstelle, vor der ich unter einer niedrigen Mauer ein Mandarinenkeimblatt entdeckte, das wie ein Milchzahn aus der Erde spross. War es vielleicht aus jenem Mandarinenkern entstanden, den ich an einem späten Winterabend beim Schnapskaufen gedankenlos ausgespuckt hatte? Jener Mandarinenkern? Im Winter hatte ich mir eine Kiste mit hundert Mandarinen gegönnt, die ich dann abends eine nach der anderen verschlang, bis sie mir als klarer Urin aus dem Körper flossen, während ich jammerte, dass das Leben wie ein Tanz auf einem gefrorenen Seil sei, gaben sie mir die nötige Wärme, um den Tag zu überstehen, und Vitamine, die den Selbstmord der ermüdeten Zellen aufschoben, durch den sich erste Fältchen um das Auge bilden. Die restlichen Mandarinen, die noch in der dunklen Kiste lagen, strahlten die strotzende Kraft der Natur aus! Waren die unzähligen Löcher der Schale nicht eigentlich Wege, durch welche die Weltdüfte in ihr Inneres strömten? Im nicht einsehbaren Inneren schmiegten sich die Mandarinenstücke dicht aneinander und hielten auch beim Schälen zusammen. Sauer und süß, sobald sich beide Geschmacksrichtungen auf offenen Wegen im Inneren trafen, erhellte sich unversehens eine Ecke des Winters. Der matte Schatten vor dem Fenster führte wie eine alte Glühbirne zum einsamen Mandarinenstapel.


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

입설단비(立雪斷臂) 2조(二祖) 혜가는 눈 속에서 자기 팔뚝을 잘라 바치며 달마에게 도(道) 공부 하기를 청했다는데 나는 무슨 그리 독한 비원도 이미 없고 단지 조금 고적한 아침의 그림자를 원할 뿐 아름다운 것의 슬픔을 아는 사람을 만나 밤 깊도록 겨울 숲 작은 움막에서 생나뭇가지 찢어지는 소리를 들으며 그저 묵묵히 서로의 술잔을 채우거나 비우며 다음날 아침이면 자기 팔뚝을 잘라 들고 선 정한 눈빛의 나무 하나 찾아서 그가 흘린 피로 따뜻하게 녹아 있는 동그라한 아침의 그림자 속으로 지빠귀 한마리 종종 걸어들어오는 것을 지켜보고 싶을 뿐 작은 새의 부리가 붉게 물들어 아름다운 손가락 하나 물고 날아가는 것을 고적하게 바라보고 싶을 뿐 그리하여 어쩌면 나도 꼭 저 나무처럼 파묻힐 듯 어느 흰눈 오시는 날 마다 않고 흰눈을 맞이하여 그득그득 견디어주다가 드디어는 팔뚝 하나를 잘라 들고 다만 고요히 서 있어 보고 싶은 것이다 작은 새의 부리에 손마디 하나쯤 물려주고 싶은 것이다


김선우

Kim Sun-Woo

Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

Sich im Schnee den Arm abhacken Huike, der zweite Patriarch des Zen-Buddhismus, hackte sich den Arm im Schnee ab und opferte ihn, um von Bodhidharma den Weg der Erleuchtung zu erlernen. Mein Verlangen ist nicht mehr so inbrünstig, ich sehne mich nur nach dem Schatten eines einsamen Morgens, danach, jemanden zu treffen, der die Tristesse der Schönheit kennt, und mit ihm bis tief in die Nacht in einer kleinen Lehmhütte dem Knacken der abbrechenden Fieberstrauchzweige zu lauschen, schweigsam die Schnapsgläser zu füllen und zu leeren, am nächsten Morgen einen Baum mit reinem Blick zu suchen, der sich einen Arm abhackt und diesen in der Hand hält, im runden Morgenschatten, wohlig durchblutet und mollig warm, einer hastig trippelnden Drossel zuzusehen, die mit ihrem rötlich gefärbten Schnäbelchen an einem entzückenden Finger pickte und wegflog, eines Tages genau wie jener Baum, bei dem der Schnee die Welt bedeckt, dort zu stehen, mir den Arm abzuhacken und diesen in der Hand zu halten, in aller Stille, und in den kleinen Vogelschnabel ein Stück meines Fingers zu schieben.


신달자 Shin Dal Ja Morgendämmerung Gedichte: Koreanisch (teilweise) – Deutsch Werkauswahl (1989-2007) mit einigen Originaltexte. Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Sophia Tjonghi Seo. Herausgegeben und mit einem Aquarell von Juana Burghardt. Einband, broschiert 169 Seiten 15,6 x 15,6 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-42-5 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/shin-dal-ja-morgendaemmerung/


신달자 Shin Dal Ja Morgendämmerung Aus dem Koreanischen von Sophia Tjonghi Seo


신달자

Shin Dal Ja

산과 바다 바다 앞에 서면 나는 그를 잊어 바로 어제 앞날을 약속한 애인을 밤사이 깨끗이 변절하듯 첫눈에 온몸에 전율이 이는 바다 앞에 서면 나는 산을 잊어 산에 들어서면 나믐 까맣게 바다를 잊어 (오직 당신밖에 없어요) 철석같이 맹서한 남자를 버리듯 큰 가슴으로 안아 주는 산에 들면 아 언제 바다를 사랑했는 듯 나는 냉정히 돌아서 버려 우람하고 따스한 산의 숨결이 인력으로 마구 날 이끌어들여

Morgendämmerung


신달자

Shin Dal Ja

Morgendämmerung

Berg und Meer Stehe ich am Meer, vergesse ich den Berg. Stehe ich am Meer, lässt mich sein Anblick am ganzen Körper erschaudern, und ich vergesse vollkommen den Berg, so wie man dem Geliebten, der gestern noch eine gemeinsame Zukunft versprach, über Nacht die Treue bricht. Gehe ich in die Berge, die mich mit ihren breiten Schultern umarmen, vergesse ich vollkommen das Meer, als hätte ich das Meer nie gemocht, so wie eine Frau ihren Geliebten im Stich lässt, dem sie ihre Treue fest versichert hat. Der Berg fesselt mich mit seinem gütig warmen Hauch, und ich werde von seiner magnetischen Kraft blindlings angezogen.


신달자

Shin Dal Ja

등잔 인사동 상가에서 싼값에 들었던 백자 등잔 하나 근 십 년 넘게 내 집 귀퉁이에 허옇게 잊혀져 있었다 어느 날 눈 마주쳐 고요히 들여다보니 아직은 살이 뽀얗게 도톰한 몸이 꺼멓게 죽은 심지를 물고 있는 것이 왠지 미안하고 안쓰러워 다시 보고 다시 보다가 기름 한 줌 흘리고 불을 켜보니 처음엔 당혹한 듯 눈을 가리다가 이내 발끝까지 저린 황홀한 불빛 아 불을 당기면 불이 켜지는 아직은 여자인 그 몸

Morgendämmerung


신달자

Shin Dal Ja

Morgendämmerung

Eine kleine Öllampe Eine kleine Öllampe aus weißlichem Porzellan, die ich auf dem Antiquitätenmarkt in Insadong günstig gekauft hatte, stand über 10 Jahre lang vergessen in einer Ecke meines Hauses. Eines Tages erblickte ich sie zufällig und schaute sie aufmerksam an. Unversehrt in ihrer perlweißen, bauchigen Form hielt sie immer noch den verrußten Docht. Irgendwie gerührt und mit leicht schlechtem Gewissen musste ich sie mir immer wieder ansehen. Dann füllte ich etwas Öl hinein und entzündete sie vorsichtig. Am Anfang verdeckte sie verlegen das Auge, aber im Nu erstrahlte das bezaubernde Licht und leuchtete bis in die Fußspitze. Ach, sie ist noch immer wie ein weiblicher Körper; wenn man ihn entzündet, wird er leuchten.

Insadong: Altes Stadtviertel von Seoul.


신달자

Shin Dal Ja

중년 (中年) 가지런히 수저를 놓는다 가지런히 신발을 벗는다 그렇듯 정성스레 그대를 본다 꽃도 새도 구름도 바람도 지금은 진심으로 만나지 않으면 공손히 깊숙이 조심스레 껴안지 않으면 안된다

Morgendämmerung


신달자

Shin Dal Ja

Das mittlere Alter Aufmerksam lege ich das Besteck zurecht. Aufmerksam stelle ich die Schuhe hin. So – voller Liebe schaue ich dich an. Den Blumen und Vögeln, den Wolken und auch dem Wind muss ich jetzt mit ganzem Herzen begegnen und alles hingeben, innig, behutsam umarmen.

Morgendämmerung


신달자

Shin Dal Ja

잎차 한잔 이렇게 찾아왔구나 모진 운명을 견디며 어둠 속을 더듬어 살아낸 어느 여인의 모습으로 고요히 오늘 내 가슴에 향기로 깊이 안기는 의지 견디는 만큼 향기 넘치지요 늦은 밤 한 철학자의 인생론을 읽으며 드는 잎차 한잔 이렇게 향기로 퍼지는 종말이기를

Morgendämmerung


신달자

Shin Dal Ja

Eine Tasse grüner Tee Du besuchst mich. Du erscheinst als jene Frau, die ihr hartes Schicksal verkraftet hat, in der Finsternis suchend überlebt hat. In der Stille fließt deine Willenskraft als duftendes Aroma tief in meine Sinne. »Je mehr Schicksal man überwindet, umso dufterfüllter das Aroma.« Spätabends lese ich die Biographie eines alten asiatischen Philosophen und trinke eine Tasse grünen Tee. Möge auch mein Leben so ähnlich enden: mit dem duftenden Aroma einer Tasse grünen Tees.

Morgendämmerung


신달자

Shin Dal Ja

소리 없는 말씀 아침에 일어나면 베란다 화분에 꽃 한 송이 또 피어 있다 밤의 깊은 침묵이 호올로 이끌어낸 붉은 전언(傳言) 한 마디 툭 내 이마를 때리니 꽃피는 공간에 나 서 있는 것 보인다 노래 한번 불러주지 못했는데 간밤 웅성거림 하나 없이 따뜻한 예감으로 내 가슴에 활짝 피어올라 기우뚱하는 나를 바로 세우는 저 몸집 연약한 그러나 당찬 말씀의 홀몸 길들이기 아침부터 나는 학습 중이다

Morgendämmerung


신달자

Shin Dal Ja

Morgendämmerung

Lautlose Worte Stehe ich am Morgen auf, ist im Blumentopf auf der Terrasse wieder eine Blüte aufgegangen. Eine rote Botschaft als Geschenk der tiefen Nachtstille, die mich aufrüttelt. Ich erkenne, dass mich ein Raum umgibt, in dem Blumen blühen können. Obwohl ich kein Loblied gesungen, und auch keinen Laut von mir gegeben habe, ist die Blüte in meinem Herzen mit diesem guten Omen aufgegangen und vertreibt meine Unsicherheit. Dieses zierliche Wesen, lautlos, aber wirksam wie ein kraftvolles Wort. Schon am frühen Morgen eine lehrreiche Erfahrung!


박희진 Park Hijin Himmelsnetz Gedichte: Koreanisch (teilweise) – Deutsch Werkauswahl 1960-2003 mit vielen Originaltexten. Aus dem Koreanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Doo-Hwan und Regine Choi. Herausgegeben und mit einer Zeichnung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 156 Seiten, 9 s/w Autorenfotos 15,6 × 15,6 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927468-21-0 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/park-hijin-himmelsnetz/


박희진 Park Hijin Himmelsnetz Aus dem Koreanischen von Doo-Hwan und Regine Choi


박희진

Park Hijin

사행시 안에 사행시 안에 지·수·화·풍이, 현실과 꿈이 있소. 영혼과 육체, 聖·俗성·속이 꼬리를 물고 도오. 사행시 안에 천·지·인 三才삼재의 조화가 있소. 사행시 삼백, 일언이폐지왈, 思無邪사무사라오.

Himmelsnetz


박희진

Park Hijin

Himmelsnetz

In einem Vierzeiler Der Vierzeiler verbindet Erde, Wasser und Mond, Wirklichkeit & Traum, Seele & Körper, Heiliges & Weltliches. Drei Elemente im Vierzeiler – Himmel, Erde und Mensch – in Eintracht. Dreihundert Vierzeiler, kurz gesagt: ...


박희진

Park Hijin

그의 시 그의 시에는 과거와 현재와 미래가 하나로 꿰뚫려 있다. 그리하여 일체 구두점이 안 찍힌다. 마치 저 自然자연이 그러하듯, 永遠영원이 그러하듯. 때로 그의 시는 전혀 안 보인다. 너무도 투명하여.

Himmelsnetz


박희진

Park Hijin

In seinen Gedichten fließen Vergangenheit Gegenwart und Zukunft ineinander darum gibt es keine Interpunktion wie die Natur so ist wie das Ewige so ist manchmal sind seine Gedichte unsichtbar weil ganz klar

Himmelsnetz


박희진

Park Hijin

사행시四行詩 네 개의 투명한 언어의 기둥으로 견고한 절을 짓고 싶어라 거기엔 다만 빛뿜는 고요만이 깃들일진저, 이 조용한 아침의 나라의

Himmelsnetz


박희진

Park Hijin

Vierzeiler Auf vier transparente Sprachsäulen möchte ich einen festen Tempel bauen. Dort soll allein die strahlende Ruhe wohnen. In diesem Land der Morgenstille.

Himmelsnetz


박희진

Park Hijin

일행시一行詩 일행시는 일행시는 일행시는 일행시는

單刀直入단도직입이다. 번개의 언어다. 점과 우주를 하나로 꿰뚫는다. 직관적 상상력의 산물이다. 시의 알파이자 오메가다.

Himmelsnetz


박희진

Park Hijin

Einzeiler Einzeiler machen keine Umwege. Eine Blitzsprache. Einzeiler treffen den Mittelpunkt des Universums. Einzeiler sind Erzeugnisse der intuitiven Phantasie. Einzeiler sind das Alpha und Omega des Gedichts.

Himmelsnetz


박희진

Park Hijin

Himmelsnetz

藝術예술은 사람들을 정화하나 고독하게 만드는 것.

詩시는 神秘신비다. 그러나 薔薇장미처럼 명확한 神秘신비다.

母國語 모국어를 여읜 詩人시인은 물을 여읜 물고기.

詩人시인은 움직이는 言語언어의 寺院사원.

詩人시인은 이미지 사냥꾼이다.

一行詩일행시는 詩시의 알파이자 오메가다.

詩人시인은 언어 속의 혼령을 불러내는 무당이다. 가을물처럼 맑고 티없는 文章문장을 쓰고 싶다.

詩가 언어의 무용이라면 무용은 육체의 詩다.


박희진

Park Hijin

Himmelsnetz

Kunst macht den Menschen rein, aber einsam.

Das Gedicht ist ein Geheimnis, klar wie die Rose.

Ein Dichter ohne Muttersprache ist wie ein Fisch ohne Wasser.

Der Dichter ist ein lebendiger Tempel der Sprache.

Dichter sind Jäger nach Bildern.

Einzeiler sind das Alpha und Omega des Gedichts.

Der Dichter ist ein Schamane: er ruft die Seele der Sprache an.

Ich will Sätze schreiben, rein und makellos wie Herbstwasser.

Ist das Gedicht Tanz der Sprache, dann wird Tanz das Gedicht des Körpers.


마종기 Mah Chonggi Augen aus Tau Gedichte Werkauswahl 1960-2010. Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Gwi-Bun Schibel-Yang und Wolfgang Schibel. Herausgegeben und mit einer Zeichnung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 123 Seiten 19,0 × 14,0 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-45-6 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/mah-chonggi-augen-aus-tau/


마종기 Mah Chonggi Augen aus Tau Aus dem Koreanischen von Gwi-Bun Schibel-Yang und Wolfgang Schibel



마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Augen aus Tau Ich ging in die bewaldeten Berge, wo längst der Herbst eingekehrt war. Ich stand da, in der Hand eine leere Schale. Als ich die Kälte der Nacht ausgehalten hatte, war klarer Tau in der Schale versammelt. Doch es war zu wenig, meinen Durst zu löschen. Wenn ich noch eine Nacht sammle, wird es dann genug sein? Wenn ich mehrere Tage in die Augen aus Tau blicke, werde ich dann ein Gedicht schöpfen, das rein ist und kühl? Den Durst, den unbestimmten, löschen? Noch vor dem nächsten Morgengrauen fiel mir statt Tau ein Herbstblatt auf die Schulter, und mit dem Ruf: Vergeblich! Vergeblich! zwang es mich in die Knie, eine schwere Last auf den Schultern. Erst als der Morgen kam, öffnete der Tau mir die Augen zur Klarheit und gab dem Herbstblatt dieser Nacht recht. – Lebe also mit offenen Augen. Blicke nach vorn, blicke zurück, blicke nach oben. Kannst du alles sehen? Du kommst und du gehst. Bis du alle deine Ichs gesammelt hast, und auch danach noch, lebe mit offenen Augen, wie der Wind oder das Meer. Während ich lebte wie der Wind oder der Berg oder das Meer, da sah ich die beiden Augen aus Tau. Und auch danach noch, vor dem Wind oder im Rücken des Meeres, sah ich die beiden offenen Augen aus Tau.


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Der lange Strom dieser Welt 1 Früh hat sich der Abend herabgesenkt; die Schatten der Berge werden länger, sie beginnen, den breiten Strom in Dämmerung zu hüllen. Die Wellen des alten Stroms scheinen nun kleiner, seine Staatszugehörigkeit und sein Name verblassen. Am Ufer des Stroms mit unbestimmter Staatszugehörigkeit habe ich mir einen Platz eingerichtet. Nun vergegenwärtige ich mir mein Handeln, das oft vom rechten Weg abkommt, und höre die Nacht hindurch dem plätschernden Wasser zu. So werden unsere Leiber mit unbestimmter Staatszugehörigkeit vom Wasser dieses Stroms, dessen Tiefe wir nicht kennen, einst durchnässt und – Ah! da die Menschen so durch das Wasser verbunden sind, erkennen wir: Wir alle sind Bürger derselben Heimat. Endlich weicht die schwer lastende Nacht, und das Dämmerlicht dringt vor. Abertausend Augen des Stroms blinken allesamt – seine Gewässer vermischen sich und reiben Körper an Körper. Ah! Dieses Glänzen des Stroms, das ich einst in der Jugend erlebt habe. So wandern wir vereint in eine Richtung; gewiss werden wir uns, selbst wenn wir uns einmal verirren, als Weggefährten wieder finden.


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

2 Ich verbrachte mehrere Tage allein am Ufer eines großen Stroms. Kein Fernseher, kein Radio, weder Literatur noch Kunst noch Musik. Alles, was da war, war die lebendige Natur. Zwischen Wasser und Felsen lebte Musik; am Tau im Gras, der anderen Taulippen begegnete, lebte Kunst. Gedichte lebten auf den Fühlern der Insekten, die ihren Weg über den Erdboden ertasteten; in deren langen, gemächlichen Wanderungen lebten Romane. Alles war in Bewegung. Wasser, Blätter und Wolken, Vögel und kleineres Getier, sie alle waren pausenlos in Bewegung. Die Regentropfen, das Zirpen der Insekten in der Nacht, das Sonnenlicht am Tag, das Mondlicht bei Nacht, die Farben des Stroms, all die Schatten waren in Bewegung. Diese Welt in Bewegung trieb mich aus meiner Umgebung fort und setzte mich selbst in Bewegung. Dem überließ ich mich ganz und begann zu atmen, es dem üppigen Laubwerk nachzutun, das atmet. Am Ende war ich im Stande, auch meinen Körper als etwas Lebendiges und Atmendes wahrzunehmen. Den komplizierten Befehlen meines besorgten Kopfes entronnen, wurde mein atmender Leib ruhiger. Meine Schultern wurden leicht, meine Augen klar, so dass sie in Spinnweben verborgene Früchte und die Liebeslieder schwirrender Insektenflügel erkennen konnten. Schließlich ging mir auf, dass alles auf der Welt eins geworden war und sich bewegte. Alles auf der Welt war eins. Es konnte nicht anders sein. So entschloss ich mich, die Unterscheidung von großen und kleinen Dingen aufzugeben, auch von sichtbaren und unsichtbaren Dingen, aufzugeben die Unterscheidung von lebendigen und toten Dingen. Dieser Entschluss fiel mir schwer. Als ich einige Tage darauf das Ufer des Stromes, wo es keine Spur menschlichen Lebens gab, verließ, nahm ich Abschied. Da kam der Strom auf einmal wortlos auf mich zu und setzte mir ein paar reine, klare Tropfen aus seinem langen Lauf ins Herz. So wurde ich selbst zum Strom.


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Der Weg War der hoch aufragende, prächtige Leuchtturm nur Einbildung? Der Hafen, nach dem ich mich sehne, liegt durchnässt im eiskalten Regen, und – kann ich es auch noch nicht glauben – es soll einen Weg über den endlosen Ozean geben. Du, die du mit mir alt wirst, hörst du? Die Meeresbrise war weich wie ein verhüllter Leib, und wenn die kleinen, kalten Wellen aufeinander trafen und sich grüßten, wenn das Licht des in Nebelschwaden gehüllten Hauses verblasste, dann wurde das dunkle Blau draußen allmählich heller. Du, die du mit mir den Abend empfängst, hörst du? Am Anfang waren wir alle neu. Erinnerst du dich an die wunderbare Neuheit jener ersten Male? Das blutende Meer frischte bei steigender Flut auf, als eilte es japsend, mit dünnem, kurzem Atem herbei. Ich merkte nicht, dass ich am Leben war. Dort draußen horcht jemand mit gespitzten Ohren. Das ferne Tor zum Meer geht auf, uns zu empfangen; es durchquert dieses Leben, die Kälte ohne Obdach. Du, die du den Weg mit mir gehst, hörst du?


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Mein Haus Der Fische Wohnung ist das Wasser. Der Vögel Wohnung ist der Himmel. Meine Wohnung ist die Erde oder ein leeres Boot. Die Fische schlafen im Murmeln der Flüsse. Die Vögel schlafen im Hof des Mondes. Ich schlafe in einem zitternden Leib, den die Erde kühlt. Die Fische, die ihre Augen nie im Leben schließen, schlafen tief in ihren Träumen mit geschlossenen Augen. Die Träume schlafender Vögel fallen auf Bäume und wecken die schlafenden Bäume in mondloser Nacht. Im Traum der Vögel duften die Bäume. Mein Haus ist das Ohr der Erde, wo sich jeder Klang zum Spielen einfindet. Mein Haus ist der Schweiß der Erde, das in Wasser gelöste Salz, das von Besorgnis, Freude und Fieber kommt. Nach dem nackten Fleisch – Symbol des Glücks – zurück von langer Wanderung. Mein Haus ist die Erde, ein Boot auf dem Land, das von den Wellen der Rebellion der Erdbewohner schwankt. Mein Haus ist ein Fischerboot in Gefahr.


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Waldbestattung Ich suchte die Stelle im Wald auf, an der mein guter Freund bestattet ist; da winkte mir ein reizvoller Wacholderbaum, zu dem mein Freund vielleicht eine besondere Beziehung hatte. Zögernd näherte ich mich ihm und streichelte den Fuß seines Stamms. Ich hörte sein stockendes Sprechen der letzten beiden Jahre vor seinem Tod nicht mehr und empfand auch nicht die schmerzhafte Einsamkeit, die sich wie ein blauer Schatten um ihn verbreitet hatte. Ich verneigte mich und machte mehrmals eine tiefe Verbeugung, als wollte ich seine Asche berühren. Seine Stimme war vielleicht schon auf der Wanderschaft, nur die Baumblätter zitterten. Nirgends fand ich einen Platz, um meine leeren Augen, meine leeren Hände, mein leeres Herz anzulehnen. Dort, hinter dem Tempel Jeondeung auf der Insel Gangwha, standen verstreut einige Bäume, um deren Hals schmutzige Bänder geschlungen waren, die dich zu umarmen schienen. Erst ein knappes Jahr war vergangen, doch das kleine Namensschild aus Plastik war schon verwischt. Wird diese verlöschende kleine Seele von der Stimme, die aus dem buddhistischen Kanon rezitiert, aufwachen und später in der Abendstille beim Glockengeläut einschlafen? Sterben und Leben sind verworrene Angelegenheiten, jedenfalls Staub der Erinnerung. Es war schon Mittag. Nächstes Jahr, wenn ich lebe, werde ich vielleicht wiederkommen. Um mir die Gestalt des Baumes genau zu merken, drehte ich meinen Kopf den Strahlen der Sonne zu. Da sah ich meinen Freund, der mit munterem Blick beide Hände hob und lachend dastand. Jawohl, so ist das, mein Freund; gut sieht sie aus, deine Gestalt, die das Sehnen überwunden hat.


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Die Wasserlilie Sieh doch, wie schnell die ganze Zeit vergangen ist! Das Wasser, das sich nicht leicht beruhigt, kommt im Karma der Seelenwanderung als Regen wieder auf die Erde herab. Nur das feinste, gedankenreiche Wasser verlässt diese Bahn; es wird Nebel, um am Ende seines Lebensweges als weiße Wasserlilie, die zu träumen scheint, wiedergeboren zu werden. Was habe ich gesagt? Habe ich nicht gesagt, selbst hohe und tiefe Gedanken könnten sich nicht mit deiner Stirn und nicht mit deinem schwellenden Herzen messen? Die Wasserlilie, die heute aufgeblüht ist, vermisse ich schon den halben Tag. In meiner Umgebung fühle ich mich allmählich unwohl, so als wären beschämende Gerüchte über mich im Umlauf. Anzeichen deines nahenden Kommens verbreiten sich überall. Ist nun die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen? Sieh nur, alles ist zu schnell vorbeigegangen.


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Wasserbestattung

für Tong-gyu mit seiner Windbestattung, aus dem Ausland

Du hast von Anfang an studiert, was man nicht sieht; daher passt der unsichtbare Wind am besten. Ich dagegen habe im Studium Leichen seziert – deshalb werde ich die innersten Teile meines Körpers hergeben müssen. Wasser, durchsichtiges, ganz und gar durchsichtiges, bloßes Wasser – in solches Wasser muss ich einst, gut sichtbar, hinabgelassen werden. Gebt mir also eine Wasserbestattung. Nicht im Ausland, sondern dies eine Mal in koreanischer See, im Ostmeer oder im Gelben Meer oder im Südmeer, irgendwo, aber nicht zu weit draußen, irgendwo nahe der Küste, so, wie meine Reise das ganze Leben lang verlief – an einem dunstigen Abend, mit einem alten Holzboot, das richtungslos dahintreibt, während die Dämmerung wieder einmal ihr Haupt auf das stille Meer senkt und weint, wie beim Tod eines rechtschaffenen Mannes, der seine Schwäche und Unwissenheit nicht verbirgt. Gebt mir eine Wasserbestattung. Eingehüllt in die verschwitzte Schuluniform meiner frühen Jugend in Krieg und Armut, die Last schwerer Einsamkeit einfach an meine Füße gebunden, so lasst mich, in der Mitte einer Moritat, nicht irgendeiner Trauermusik, ohne Geräusch einfach hineingleiten. Es wird plötzlich kühl und still um mich werden.


마종기

Mah Chonggi

Augen aus Tau

Nach etlichen Tagen sanften Schaukelns und langen Träumens werden mich Schwärme von Fischen jeder Art, wie sie in Korea oft auf dem Abendtisch stehen, Degenfische und Makrelenhechte, verspeisen, mein Fleisch verspeisen. Wenn diese dicken Fische, von Fischern gefangen, im Hafen ankommen, werden sogar die nach Fisch riechenden Augen der Verkäuferinnen auf dem Fischmarkt aufleuchten. Unterdessen werde ich eine gedankenvolle Wolke geworden sein oder eine schön gefiederte Seemöwe, die über dem Meer fliegt; gebt mir also eine Wasserbestattung. Ist mein Fleisch schließlich zum Fleisch all jener Neffen und Nichten geworden, und spielen sie, durch die Gassen rennend, hier und dort, so wird die Zeit des dichten Nebels, in dem ich mein ganzes Leben lang gewandert bin, vorbei sein, und ich werde endlich meine glänzenden Augen öffnen.


퇴계 Toegye (Lee Hwang/ Yi Hwang) Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte, hing der Mond noch im Dachgesims Gedichte Werkauswahl 1515-1570. Deutsche Fassungen von Tobias und Juana Burghardt auf der Grundlage der Vorarbeit von Doo-Hwan und Regine Choi. Mit einem Nachwort von Tobias Burghardt. Herausgegeben und mit einer Zeichnung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 125 Seiten, 1 s/w Autorenfoto 15,6 × 15,6 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-34-0 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/toegye/


퇴계 Toegye (Lee Hwang/ Yi Hwang) Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte, hing der Mond noch im Dachgesims Deutsche Fassungen von Tobias und Juana Burghardt auf der Grundlage der Vorarbeit von Doo-Hwan und Regine Choi



퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

FRÜH ERWACHT IM SEEHAUS. NACH »MONDNACHT IM TEMPEL JEONGHAEUON1« VON SO DONGPA Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte, hing der Mond noch im Dachgesims, und ich schreckte aus dem Traum von der Heimat auf. Innerhalb des Bongkuan2 herrscht Stille, die Morgensonne scheint auf die blühenden Bäume, der Garten duftet nach abgefallenen Pflaumen, zwischen den Steinen rauscht frisches Quellwasser, und ich frage mich: Woran grenzt das Land der Unsterblichen? So schön kann das Jadehaus der Unsterblichen Yodae nicht sein! Die Hofküche versorgt uns mit erlesenen Speisen und wir borgen den Fischern Orchideenöl und Kerzen3. Alt und krank dichte ich gern, auch ohne meine Trinkbrüder, und mein Frühling dämmert in der staubigen Pfauenburg dahin. Die weißen Wolken erinnern an das Lesehaus auf dem Berg Jisan38, dort nisten klagende Kraniche in den alten Pinienbäumen, gefrorene Zuckerrüben verrotten auf dem verwitterten Feld, Pracht, Herrlichkeit und Schande gleichen jenem Wolkendunst, während Reichtum und Adel unerträglich erdrückend wirken. Die Sonne geht auf, im Wald singt schon die ganze Vogelschar, als beschimpfte und verlachte sie uns wie die Dichtermönche.

1 Jeonghaeuon – In diesen Tempel wurde So Dongpa (1036-1101), eigentlich Su Shi, bekannter chinesischer Dichter der Song-Dynastie, vorübergehend strafversetzt. 2 Bongkuan – Während der Han-Dynastie war es die königliche Bibliothek. Später nannte man so den Treffpunkt der Gelehrten. 3 Orchideenöl und Kerzen – Geschenke des Königs.


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Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

TOEGYE* Rückkehr in die Einsamkeit hält gesund, Rückkehr zum Lernen bereitet Mühe im Alter, zum Bach zog ich erst kürzlich und betrachte sein Fließen, dabei denke ich jeden Tag über mich nach.

* Toegye – Bedeutet »Rückkehr zum Bach« und ist zugleich die Bezeichnung eines Baches in seiner Heimat.


퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

AM ELFTEN ABEND TRANK ICH MIT MEISTER NONGAM IM MONDSCHEIN UNTER DEM APRIKOSENBAUM UND DICHTETE IM STIL VON SO DONGPA Eines Abends im Spätfrühling des vergangenen Jahres blühten die Blumen enttäuscht, weil der Mond fernblieb. Jetzt, mitten im Frühling, baden Blumen und Bäume im hellen Mondschein, der Wind weht vom Fluss her. Wir sitzen am Ufer und trinken vergnügt Wein, alle Sorgen schmilzen wie Schnee im lauen Wasser. Wie lang ist der göttliche So Dongpa schon verschwunden? Hinter dem Pavillonvorhang singe ich seine Worte aus Jade. Aber der Mond im Becher ändert sich nie. Himmlischer Wind und froher Mut beschwingen das Herz des Berauschten, der im Flusspavillon nächtigt, weil er nichtmals im Traum zum roten Osttor des Königspalastes zurück will.


퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

PINIENWALD IN DER SCHNEENACHT Nachts weht ein kalter Wind über die weiße Erde und trägt das Flötenspiel der Bergleere durch den Pinienwald, das ist die Melodie des Einsiedlers vom Mo-Berg, ich schließe die Zimmertür und lausche dem Klang.


퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

MITTERNACHTS AM DO-BERG. NACH DONNER UND REGEN GING DER MOND HERRLICH HELL AUF Im Blitz- und Donnergetöse knacksten und knirschten die Bäume, plötzlich herrschte Stille und der Mond ging herrlich hell auf, ich hadere nicht mehr mit dem unergründlichen Willen der Götter, sitze im leeren Zimmer und erkenne mich in meinen Gedanken.


퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

LESEN GLEICHT DEM BERGWANDERN Man sagt, Bücherlesen gleiche dem Bergwandern; Bücherlesen gleicht dem Bergwandern, bestätige ich jetzt, ob tief oder flach, das Tal verrät die Mühe des Aufbruchs, beim Rasten und Wolkenschauen enthüllt sich das Rätsel. Gelangt man an die Quelle, erkennt man den Ursprung, mühsam müsst ihr den höchsten Gipfel erklimmen, mich bedrückt, schon schwach und alt zu sein und euch nicht mehr begleiten zu können.


퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

IN EINER MONDNACHT ERWACHTE ICH IN MEINEM ZIMMER AM BACH UND SANG FÜR DIE PFLAUMENBLÜTE Auch im Traum schimmert die Eishaut im Schnee vom Gunoksan-Gipfel, wo der Unsterbliche lebt, im Mondlicht begegne ich dir wach, während du den sanften Wind in ein mildes Lächeln einhüllst.


퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

AUF DIE STILLE DES WASSERS LAUSCHEN Vor mir plätschert ein Bach, in der Ferne strömt ein Fluss, viele hören nur die Musik, wer lauscht der Stille?


퇴계

Toegye

Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte,...

BÜCHERLESEN Bücher sind Herzgedanken aus tausend Jahren, zwar weiß ich, dass es nicht leicht ist, sie zu lesen, aber darin begegne ich den großen Unsterblichen, die Worte in ihren Werken betreffen auch mich.


김훈 Kim Hoon Schwertgesang Roman Aus dem Koreanischen übersetzt von Heidi Kang und Ahn Sohyun. Herausgegeben und mit einer Zeichnung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 196 Seiten, 4 Landkarten 19,0 × 15,0 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-22-7 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/kim-hoon-schwertgesang/


김훈 Kim Hoon Schwertgesang Aus dem Koreanischen von Heidi Kang und Ahn Sohyun



김훈

Kim Hoon

Schwertgesang

Die Klage des Schwertes D ie verlassenen Inseln standen alle in voller Blüte. Im Abendrot

leuchtende Bäume ließen die Inseln wie Wolken anschwellen. Sie lösten ihre im Meer verankerten Fesseln und verschwammen in der Dämmerung des Horizonts. Als die Vögel vom Festland auf die Inseln zurückkehrten, zog sich das Abendrot auf der Wasseroberfläche zum Horizont zurück und verschwand. Die beginnende Dunkelheit saugte die entfernten Inseln auf, und am Morgen schickte die aufgehende Sonne sie als erste in die Welt zurück, so dass die fernen Inseln immer zuerst verschwanden und auch zuerst wieder auftauchten. Wenn die untergehende Sonne die im letzten Abendglanz glitzernden Schuppen des Wassers einsammelte, färbte sich das Meer schwarz, und die hohen Wellen brandeten in der Dunkelheit tosend gegen die Klippen. Die Sicht schwand an der Mauer aus Finsternis, und die mit zahlreichen Feuerwaffen, Schwertern und Speeren ausgestattete feindliche Flotte setzte auf den nicht mehr auszumachenden schwarzen Wellenkämmen hinter dem Horizont ihre Segel. Ich konnte den Grund für die Angriffslust des Feindes nicht begreifen, und auch der Feind hatte wohl keine Vorstellung von meiner abgrundtiefen Feindschaft. Die nicht einzuschätzende Kampfbereitschaft beider Seiten spannte sich über das Meer, ich spürte nur die Feindschaft, doch ich verfügte über keine Flotte. Ich wurde am ersten Tag des vierten Mondmonats im Jahre Jongyu (1597) aus der Haft in Seoul entlassen. Damals jagten sie ein Gespenst. Die gerichtliche Untersuchung war eine Farce. Die Beamten haben mir beim Verhör eigentlich keine einzige Frage gestellt. Ich fand die Art, wie sie mit mir sprachen, grotesk. Sie verkleideten die angeblichen Vorwürfe als stichhaltiges Geflecht aus Bekundungen ihrer Loyalität und Aufrichtigkeit, dabei wurde der Zustand der Marine nicht berücksichtigt. Gefesselt am Folterstuhl musste ich den Spuk über mich ergehen lassen. Die grundlosen Schläge, die meinen Körper peinigten, hätten mir fast die Knochen gebrochen. Zwischen dem Wissen um die Sinnlosigkeit der Szene und meinen Schmerzen, bei denen mir schwarz vor Augen wurde, verlor ich mehrmals das Bewusstsein. Gleich nach meiner Entlassung fand ich Zuflucht in einem ärmlichen Viertel vor dem Südtor.


김훈

Kim Hoon

Schwertgesang

Der Erste Minister, der Gerichtspräsident und andere hohe Beamte schickten ihre Diener, um sich kurz nach meinem Wohlergehen zu erkundigen. Mich, den Schwerverbrecher, konnten sie ja nicht persönlich besuchen. Ich machte die Erfahrung, dass es in der Welt keinen Trost gibt. Nach einem Monat, in dem ich meinen geschundenen Rücken bei kleinen Dorfbeamten in Gesindekammern ausgeheilt hatte, traf ich im Stützpunkt von Sunchon, das unter dem Kommando von Kwon Yul stand, im Süden ein. Das war mein Dienstantritt als einfacher Soldat. Der Ostwind, der von Hansan, Kojedo und Kosong mit dem Duft nach feuchten Bäumen herüberwehte, ließ Verwesungsgeruch aufsteigen, der schließlich vom Blütenduft der Inseln überlagert wurde. Die Küste der Provinz Kyongsang war mit Leichen übersät, denen der Kopf oder die Nase abgetrennt worden waren. Im Kugel- und Pfeilhagel der Kämpfe nahmen sich unsere Soldaten Zeit, den toten Feinden die Köpfe abzuschlagen; die Japaner schnitten ihren Opfern die Nasen ab. Sie salzten sie ein und lieferten sie bei ihren Dienststellen als Beweisstücke ihrer Tüchtigkeit ab. Deshalb wurden allen Toten auf dem Meer die Köpfe oder Nasen abgeschnitten, denn daran erkennt man ihre Herkunft nicht. Die Hauptmänner der Festungen flohen schon, bevor sie eingenommen wurden. Die Feinde, die den Hafen überfielen, töteten auch alle Frauen und Kinder der in den Bergen versteckten Flüchtlinge und schnitten ihnen ebenfalls die Nasen ab. Sie starben also nur, weil sie eine Nase im Gesicht hatten. Aus eigener Beobachtung weiß ich, wie es im Krieg zugeht. Die koreanischen Seeleute zogen die Leichen ihrer Landsleute, die auf dem Meer trieben, mit Bootshaken an Deck und köpften sie. Manche hatten dafür Hackmesser an Bord. Die kopflosen Leichen wurden wieder ins Wasser geworfen. Die Anzahl der Köpfe oder Nasen sicherte die Beförderung der Befehlshaber beider Seiten, denen feierlich formulierte Urkunden überreicht wurden. Die Flut trieb die unzähligen Leichen von den Stränden der Kyongsangküste bis Sunchon und zur Bucht von Posong, wo sie bei Ebbe anschwemmten. Da sie sich leicht bewegten, schienen sie noch zu leben, aber aus der Nähe betrachtet, wimmelten in ihnen die Maden. Krebse und Muscheln bohrten sich in die Wunden. Von den Steilhängen stießen Adler im Sturzflug auf die Körper nieder. Während meiner einmonatigen Rückreise zum Südmeer verbrachte ich die Nächte mit unruhigen Fieberträumen in halb verfallenen


김훈

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Schwertgesang

Gästezimmern verlassener Amtsstuben oder auf dem Lehmboden, gemeinsam mit Knechten, die noch nicht geflohen waren. In den Dörfern überwucherte Unkraut die Dächer, der indische Flieder blühte üppig und die noch überlebenden Bauern opferten kleine Kinder, um sich zu ernähren. Das Glöckchen meines Pferdes weckte manchmal das gespenstische Aufblitzen aus eingefallenen Augenhöhlen unterhalb der Chrysanthemen. In Kure wechselte ich das Pferd. Es war ein abgezehrtes Lasttier mit räudigem Fell und lahmte schon am Berghang. Schwankend und mit großer Mühe hatte es trotzdem das Plateau erreicht und brach danach zusammen. Sein Tod war still wie ein natürliches Sterben. Es streckte die Beine mit den abgenutzten Hufeisen von sich und hauchte mit geöffneten Augen seinen letzten Atem aus. Diese toten Augen schauten mich eine Weile an, und ich sah, wie sich mein struppiges Haar in ihnen spiegelte. Ich ließ das tote Pferd am Wegesrand liegen und ging zu Fuß nach Sunchon. Als ich die Küste erreichte, wehte ein klebriger Wind, der vom Gestank verrottender Makrelen getränkt war. Nach meiner Meldung im Stützpunkt von Sunchon ging ich gleich am ersten Tag an den Strand Richtung Yosu. Das Meer war in seiner unermesslichen Weite, der ich nun wieder gegenüberstand, eine klare Überforderung, und ich hatte kein einziges Schiff. Einige Leichen hatten sich im Uferschilf verfangen. An den Resten der Uniformen war zu erkennen, dass es Koreaner waren, denen man die Köpfe abgeschlagen hatte. Vom Stützpunkt wurden ihre Köpfe der Regierung überbracht, damit sie in der Erfolgsstatistik des Krieges aufgeführt wurden. Als mein Blick auf die durchgeschnittenen Hälse fiel, musste ich an meinen zerzausten Kopf denken, der sich in den Augen des Pferdes gespiegelt hatte. Was auch mit den Köpfen geschehen mochte, für die Gefallenen war mit dem Tod auf jeden Fall der Lebenskampf beendet. War dieser endlose Krieg im Grunde nicht ein sinnloses Spiel? Hatte die Welt letztendlich keinerlei Sinn? Tief im Innern, irgendwo in meinem Knochenmark, meinte ich die wimmernde Klage des Schwertes zu vernehmen – zing, zing, zing. Der kalte Schweiß lief mir den Rücken herab. Flimmernd wogte das schwarze Meer.


김훈

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Schwertgesang

Aprikosenblüten im Nebel I m Winter wogte der heranziehende Meereswind auf und ab und

bewegte die Rettichblätter, die an der Lehmmauer der Kaserne zum Trocknen aufgehängt wurden. Im Hafen knarrten die vertäuten Boote die ganze Nacht hindurch. Wenn sich der Wind legte, hörte man bei Flut die Brandung der Wellen. Im letzten Windhauch meinte ich, ein leises Geräusch zu hören, als löse man einen Seidenfaden aus dem Kokon. Am Meer ging es mir immer so. Der Wind war es nicht; es klang wie etwas Fernes, das mit den Wellen über den Horizont kam. Es war wie das Knabbern eines Heuschreckenschwarms auf dem Feld oder wie das Nagen der Ratten im Saatgut. Für eine Sinnestäuschung war das Geräusch viel zu deutlich, aber sobald ich es wahrnahm, wurde es vom Wasserrauschen übertönt, lebte aber wieder auf, sobald der Wind abflaute. Selbst in stillen Nächten, in denen kein Wind wehte und das mondbeschienene Meer spiegelglatt war, hörte ich jenes unbegreifliche Geräusch vom Horizont her – sagak, sagak, sagak. Die Halluzinationen, die mich im Morgengrauen vor kaltem Schweiß frösteln ließen und aufweckten, verfolgten mich Tag und Nacht. Wenn ich sie im Dunkeln abgeschüttelt hatte, waren sie mit dem auffrischenden Wind wieder da. Eine Bucht war ein äußerst gefährlicher Stützpunkt, weil sie keine Flucht auf das offene Meer bot. In Nächten, in denen ich mich nach einer Schlacht mit den Überlebenden der Truppe auf eine unbewohnte Insel zurückzog, überfiel mich die Halluzination wie ein unsichtbarer Schneesturm. Im Morgengrauen, wenn ich mich schweißnass hin- und herwälzte, hörte sich das Geräusch wie das Rudern von abertausend feindlichen Booten an, die über den dunklen Horizont meine wehrlose Küste ansteuerten. Bei genauem Hinhören kam es nicht nur von Tsushima hinter dem Horizont, sondern auch von Uiju am Yalu-Fluss, wohin sich die Regierung zurückgezogen hatte – sagak, sagak, sagak. Das Geräusch wehte über sämtliche Bergketten und Flusstäler bis zum Südmeer. In Nächten mit starkem Wind stießen die Boote im Wasser aneinander, dann weckte ich meine Soldaten und schickte sie zum Strand hinunter, um die Boote an Land zu ziehen. Am Meer hatte ich immer kalte Schweißausbrüche und fühlte mich sehr matt.


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Schwertgesang

Im Sommer 1597 zerstörten die Feinde die Flotte der drei Provinzen Kyongsang, Cholla und Chungchong vor Chilchonryang, nördlich von Kojedo. Zum Frühjahrsbeginn jenes Jahres wurde ich im Marinestützpunkt verhaftet. Im Kampfgeschehen um Kadok war ich nicht mit Leib und Seele dabei. Der Kampfwille des Feindes hatte sich nicht auf mich übertragen. Im Gefecht fühlte ich mich wie ein Bauer, der fleißig Unkraut jätet. Als ich die Flotte vom Kampfgebiet um Kadok abgezogen und zu unserm Stützpunkt in Hansan gebracht hatte, warteten die Häscher schon am Kai. Sie fesselten mich so fest, dass die Stricke fast in die Knochen schnitten. Yi Sunshin, der Großadmiral der Flotte der drei Provinzen, wurde angeklagt, die Regierung beleidigt, den König hintergangen und den Angriffsbefehl nicht befolgt zu haben. Bevor ich in den Käfigwagen für meinen Abtransport nach Seoul stieg, übergab ich meinem Nachfolger Won Kyun die Flotte, die Truppen, den Proviant, die Schusswaffen, das Pulver, Speere und Schwerter, alle Gefangenen und Verwaltungsunterlagen. Won Kyun konnte meinen baldigen Aufbruch kaum abwarten. Ohne die Anzahl und den Zustand der einzelnen Posten zu überprüfen, setzte er seinen Stempel unter das Dokument. Seit dem zweiten Kriegssommer (1593) war ich im Stützpunkt in Hansan stationiert. Die Truppen und das Material, das ich Won Kyun übergab, war alles, was das Hauptquartier in den dreieinhalb Jahren aufgebracht hatte, und machte über achtzig Prozent der koreanischen Marinebestände aus. Diese achtzig Prozent gingen in der Seeschlacht vor Chilchonryang verloren. Sie trieben als verbrannte Schiffsplanken und als Leichen ohne Köpfe und Nasen auf dem Wasser. Die Schlacht dauerte nur eine Nacht und einen Tag. Wie ich später erfuhr, griffen über eintausend feindliche Schiffe in strahlenförmiger Umklammerung an, während Won Kyun die Soldaten, die den ganzen Tag vom Stützpunkt in Hansan nach Kojedo ruderten und davon überanstrengt waren, in einer geschlossenen Reihe mitten in die japanische Formation schickte. Ich kannte seinen außerordentlichen Kampfgeist. Er glaubte, jeder Kampf würde sich zu seinen Gunsten entscheiden, und hoffte, aus jeder Schlacht als Gewinner hervorzugehen. Er hatte sich weder im Griff, noch konnten ihn andere aufhalten. Ich selbst beschwichtigte ihn manchmal, indem ich ihm zahlreiche Köpfe


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überließ. Sein brodelnder Kampfgeist und seine wütende Raserei ließen ihn die Flotte in die Arme der feindlichen Formation treiben. Won Kyun, der seine Rüstung und alle Waffen verloren hatte, flüchtete sich in die Berge der Insel Kojedo. Als er sich keuchend unter dem Schatten eines Baumes ausruhen wollte, traf das Schwert eines Feindes, der ihm an Land gefolgt war, seinen fülligen Körper. Lee Okki, der Admiral von Cholla, fiel, während Choe Ho, der Admiral von Chungchong, mit seinem Schiff versank. Als ich den Marinestützpunkt verließ, wurde ich von Schiffsbesatzungen und Soldaten, die vor dem Wagen hockten, unter großen Klagen verabschiedet. Won Kyun räumte den Weg, indem er mit der Peitsche auf sie einschlug. Er rief ihnen zu: „Hört auf zu heulen! Die Feinde können euch hören.“ Won Kyun hatte ein Paket mit ausgesuchten Delikatessen wie getrocknete Stachelrochen und Seetang auf den Wagen laden lassen, die für einflussreiche Persönlichkeiten in Seoul bestimmt waren. Sein Inhalt war genauso trocken wie unser Abschied. „Es wird ein langer Weg.“ „Viel Glück im Kampf.“ Die Ochsen brauchten neun Tage und Nächte, um den Wagen nach Norden zu ziehen. Wenn Mahlzeiten anstanden, spähten die Schergen nach Rauchsäulen der Dörfer, in die sie einfielen, um die Speisekammern zu plündern. Es gab nicht viele Dörfer, deswegen luden sie für die nächste Mahlzeit Proviant auf den Wagen. Da der Verantwortliche zur Eile antrieb, wurde sogar nachts kaum Rast gemacht. Die Regierung hatte es anscheinend eilig, mich hinrichten zu lassen. In meinen Fesseln wurde ich hin- und hergerüttelt. „Missachtung der Regierung und Verweigerung des Angriffsbefehls …“ Ich hegte keine Hoffnung zu überleben. Ich wünschte nur, dass Verhör und Folter meinen Tod nicht zu lange herauszögern würden. Wenn die Welt jeden, der ihr im Weg stand, umbringen wollte, war ich in meiner völligen Machtlosigkeit zum Sterben bereit. Mein Tod stand für mich fest. Der Weg schlängelte sich um das Gebirge, hinter dem sich der weitere Verlauf verbarg, aber das Ziel des unüberschaubaren Weges führte zum König, zur Regierung und zu den Richtern. Mein lebenslanger Krieg würde nun mit meinem Tod sein Ende finden. Ich hatte mein unabwendbares Ende vor Augen, verstand aber nicht, warum ich bei genauem Hinhören feindliche Ruderschläge am dunklen


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Horizont deutlich vernahm – sagak, sagak, sagak. Als der Wagen in Seoul einfuhr, nachdem wir bei Mapo den Fluss überquert hatten, versuchte ich mehrmals, das Geräusch abzuschütteln. Es fiel ein leichter Frühlingsregen, und auf der Flussinsel Pamsom im Han blühten die Aprikosen.


채만식 Chae Manshik Ein Frühlingstag im Paradies Roman Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Yunhui Baek. Herausgegeben und Umschlaggestaltung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 214 Seiten 22,0 × 14,0 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-47-0 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/chae-manshik-ein-fruehlingstag-im-paradies/


채만식 Chae Manshik Ein Frühlingstag im Paradies Aus dem Koreanischen von Yunhui Baek



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Ein Frühlingstag im Paradies

DIE ANKUNFT DES ALTEN YOON IKON Eines Tages, als das Erntedankfest schon vorbei war und es früh

dämmerte, kam der gut betuchte Alte Yoon Ikon, dessen Name überall in Gyedong bekannt war, gerade nach Hause und stieg vor dem Torhaus seines Hauses aus der Rikscha. Ob der Rikschakuli gestern Abend schlecht geträumt oder mit seiner Frau gestritten hatte, wissen wir nicht, jedenfalls hatte er heute einen ausgesprochen schlechten Tag. Nachdem er mit seiner Rikscha den steilen Weg von ungefähr 40 Metern hinaufgelaufen war, hing ihm, ohne zu übertreiben, im wahrsten Sinne des Wortes die Zunge aus dem Halse heraus, denn der Alte Yoon Ikon hatte “eine ansehnliche Figur” von über neunzig Kilogramm. Dies hatte das Mädchen Chunshim mit Erstaunen festgestellt, als er vorgestern mit ihr in Jingogae spazieren gegangen war und sich auf eine Waage vor der West-Apotheke an der Rückseite der Hauptpost gestellt hatte. Der Rikschakuli, der nicht viel mehr wog als ein Hirsekorn, schaffte es aber dank seiner jahrelangen Erfahrung im Umgang mit seiner Rikscha, den schwergewichtigen Alten Yoon Ikon bis zu seinem Hause, dessen imposantes Eingangstor kaum kleiner als das Südtor war, hinaufzuziehen. Obwohl er fast seine ganzen Kräfte, die er einst aus der Brust seiner Mutter gesogen hatte, verbraucht hatte, gelang es ihm sogar noch, ordnungsgemäß den Vorhang aufzuziehen und dem Alten die Kniedecke vom Schoß zu nehmen. Der Alte Yoon Ikon erhob mühsam seinen Hintern vom schmalen Sitzbrett, stieg schwankend aus und wäre beinahe umgekippt. “Mensch!”, herrschte er den Rikschakuli danach in einem vorwurfsvollen Ton an. “Hättest mir ruhig beim Aussteigen helfen können, anstatt so dumm rumzustehen und mich nur anzuglotzen!” In Wirklichkeit stand der Rikschakuli ganz und gar nicht bloß rum und starrte ihn nichtsnutzig an, sondern er hatte nur ein wenig verschnauft und sich den Schweiß von der Stirn gewischt. Die Grobheit des Alten ließ ihn sich aber ein wenig schuldig fühlen, so dass er ihn geschwind beim Arm ergriff. Der Alte Yoon Ikon war wirklich ein Riese, als er so vor dem Rikschakuli stand. Ungelogen brauchte man beide Arme, wenn nicht sogar drei, um seine Taille zu umarmen. Zu


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seinem Körpergewicht passte auch seine Größe von über 180 cm. Die Rikscha neben ihm sah wie ein Kinderspielzeug aus, und sein Körper war so stattlich, dass er das ganze Eingangstor seines Hauses ausfüllte, wenn er es passierte. Sein Gesicht aber hatte noch eine jugendliche Frische. Schon seit dreißig Jahren reiste der Alte Yoon Ikon nach Buan und Byonsan, um sich dort mit Hirschgeweihsprossen sowie Blut von Schweinen und Rehen zu versorgen. Diese Medizin hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, denn sein Gesicht war rosig und glatt mit einem dichten schneeweißen Bart. Ja, er war ein beeindruckender Mann mit jugendlichem Gesicht und ergrautem Haar. Eine imposante Erscheinung! Die Augen waren etwas hochgezogen wie bei einem Phönix, sein Blick wachsam und scharf, die Nase wohlgeformt, seine Ohrläppchen lang und der Mund groß. Jeder Zug in seinem Gesicht versprach ein langes Leben in Wohlstand, eine hohe Stellung und viele Söhne. Wie alt mochte er sein? In diesem Jahr war er 72 geworden. Vorsicht, tun wir das nicht allzu voreilig als alt ab! Der Alte litt zwar an Herzverfettung und leichtem Asthma, er erfreute sich aber ansonsten bester Gesundheit und konnte es mit jedem Dreißigjährigen aufnehmen, worin auch immer! Sein Äußeres war von bestechender Extravaganz! Er trug einen Anzug aus Ramie, die innen und außen glänzte, seinen Kopf zierte ein vornehmer Rosshaarhut aus Tongyong, in dem ein Innenhut steckte. In seinen ledernen, pechschwarz glänzenden Schuhen trug er dicke baumwollene Boson-Strümpfe. Mit der rechten Hand umfasste er einen Weidenstock mit einem silbernen Knauf, der wie ein Hundekopf aussah, in der Linken hielt er einen 34-fach gefalteten dicken Fächer. Nur ach, wie schade, dass dieser stattlich aussehende Herr kein hohes Amt besaß. In früheren Zeiten hätte man ihn ohne Frage für das Oberhaupt einer Provinz halten können. Heute jedoch erdreisteten sich gewisse Leute mit losem Mundwerk, ihn einen Narren zu schimpfen, und für die Geschäftsleute der Bonbonläden aus Osaka und Tokio war er sogar ein bonbonlutschender Karamellgeneral. Es war zum Heulen! Nun aber öffnete er die beiden vorderen Lagen seines Gewandes, das daraufhin wie von selbst aufging, und knotete die Schnur seines blauen kleinen Geldbeutels auf, der lustig und kitschig an seiner Taille herunterbaumelte.


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Chae Manshik

Ein Frühlingstag im Paradies

“Was willste denn haben?” Ich stamme selbst aus der Provinz Cholla und kann Ihnen sagen, dass die Sprache der Leute dort ein bisschen unbedacht und unvorsichtig ist. “Ganz wie Sie wollen!”, antwortete der Rikschakuli und machte eine schnelle, tiefe Verbeugung. In den vor der Brust verschränkten Armen hielt er noch immer die Kniedecke. Wenn er mit vornehmen Gästen um das Fahrgeld verhandelte, pflegte er immer diese Art von Bescheidenheit an den Tag zu legen. Natürlich erwartete er aber von seinen Gästen eine großzügige Entlohnung! “Wie du meinst! Dann kannst du jetzt gehen.” Der Alte Yoon Ikon blickte den Rikschakuli kurz an, wandte seinen Kopf ab und schnürte den Geldbeutel, den er vorhin aufgeschnürt hatte, wieder zu. Der Rikschakuli blickte verblüfft umher und überlegte, sich am Hinterkopf kratzend, ob der Alte etwa einen Zahlungsaufschub meinte? “Ja, soll ich denn morgen wiederkommen?” “Morgen? Wieso willst du denn morgen wiederkommen?” Wegen einer anderen Sache hatte der Alte Yoon Ikon schon den ganzen Tag schlechte Laune, und dieses Feilschen um das Fahrgeld strapazierte langsam seine Nerven, so dass sich sein Gesichtsausdruck allmählich verzog. Ja, er fühlte sich geradezu belästigt von diesem Rikschakuli. Und was unseren Rikschakuli angeht, natürlich wollte er morgen wiederkommen, um sein Fahrgeld zu verlangen! Aber so direkt und unhöflich konnte er das dem Alten nicht sagen. Er war wirklich in einer verzwickten Lage, vor allem, weil er seine Gedanken nicht aussprechen konnte. Der Alte Yoon Ikon drehte sich langsam um, in dem festen Glauben, dass er alles geklärt und erledigt habe. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was in dem Rikschakuli wirklich vorging! Dieser fand die ganze Sache langsam zeitraubend, ohnehin hatte er heute schon so wenig verdient, dass ihm die Luft wegblieb. Warum sich dieser Alte so verhielt, wusste er nicht, jedenfalls hatte er kein Verständnis dafür. Nun, egal! Wenn der sich weiterhin so dämlich benahm, entging ihm ganz gewiss sein schwerverdienter Arbeitslohn, und so entschloss er sich, etwas gegen diesen unsinnigen Wortwechsel zu tun. “Äh, ich habe das Fahrgeld gemeint...”, murmelte er. Seine eben noch feste Entschlossenheit war schon wieder verflogen, und er brachte nur


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eine vorsichtige Andeutung heraus. “Das Fahrgeld?” “Ja!” “Wovon sprichst du denn, Mensch?” Der Alte Yoon Ikon trat jähzornig einen Schritt auf den Rikschakuli zu und wollte schon tätlich werden. “Hast du nicht gerade gesagt, ich soll es machen, wie ich will?” “Das stimmt.” “So war es! Genau! Ich sollte es so machen, wie ich will. Du hast mir die Entscheidung überlassen, stimmt’s?” Der Rikschakuli kam nun endlich dahinter, was für einen Charakter der Alte hatte. Das war so unglaublich, dass ihm die Spucke wegblieb! Sollte es etwa kein Scherz sein? Normalerweise hätte er laut gelacht, aber vor diesem vornehmen Herrn brachte er nur ein verzagtes Grinsen hervor. “Ich habe dich so verstanden, dass ich das Fahrgeld nicht zu zahlen brauche. Es hieß doch, dass ich es so machen kann, wie ich will. Deshalb habe ich dir auch gesagt, dass du gehen kannst.” Der Rikschakuli war sich immer noch nicht ganz sicher, ob der Alte nicht vielleicht doch scherzte. Dann sah er aber in sein Gesicht und hörte dazu noch seine Stimme. Da wusste er, dass es ganz und gar kein Scherz war. “Na ja! Ich glaubte, einen anständigen und ehrlichen Kerl vor mir zu haben, der einen alten Mann wie mich mal umsonst befördert! Was fällt dir eigentlich ein! Du lügst ja, dass es zum Himmel stinkt. Na, wie sagt man doch gleich: Redet man mit gespaltener Zunge, wird man zwei Väter haben! Wer weiß, was deine Mutter so alles getrieben hat!” Der Rikschakuli war sich nicht ganz sicher, was der Alte mit diesem konfuzianischen Schimpfwort meinte. Seine Mutter aber zu beschuldigen, sie habe ein liederliches Leben geführt, ging entschieden zu weit. Er war jetzt ohnehin schon gereizt genug, weil der Alte versuchte, ihn um sein Fahrgeld zu prellen – ob nun im Scherz oder im Ernst. Zu allem Überfluss bezeichnete er ihn jetzt auch noch als Lügner und brachte darüber hinaus noch seine Mutter ins Spiel. Wer konnte das ertragen? Einem Fahrgast, der ihm vor seiner bescheidenen Strohhütte einen solchen Blödsinn erzählen würde, hätte kräftig eins aufs Maul bekommen.


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“Mein lieber Herr, springen Sie doch bitte nicht so mit mir um! Geben Sie mir schnell ein paar Scheine und ich gehe.” Der Rikschakuli fühlte sich schikaniert, zwang sich aber dazu, sich zu beherrschen und blieb weiter höflich. “Ein paar Scheine” klang in den Ohren des Alten Yoon Ikon aber in etwa wie das Donnergetöse des Lumpen Hitler. “Was? Ein paar Scheine? Was meinst du damit überhaupt?” “Ich meine einen Schein, einen Won-Schein! Hehehe...” Der vertrauensselige Rikschakuli ereiferte sich und geriet ins Stottern. Darauf erwiderte der Alte: “Hat man so etwas schon gehört? Das höre ich zum ersten Mal in meinem Leben. Erst überlässt du es mir, wie viel ich bezahle, und dann verlangst du einen Won von mir. Ich bin sprachlos! Aber nein, lass nur... Lieber ziehe ich einem Leprakranken die Knoblauchsaat aus der Nase und esse sie, als mit deiner Rikscha schäbig umsonst zu fahren! Also, wie viel willst du haben? Raus mit der Sprache!” Der Rikschakuli nannte bescheidene 50 Zon. Wenn er mehr verlangte, so fürchtete er, müsse er vielleicht auf das ganze Fahrgeld verzichten und das angesichts dessen, dass ihm ja auch noch der Verdienst durch andere Fahrgäste entgangen war. Den Alten Yoon Ikon ließ dies alles völlig kalt. “Habe ich richtig gehört? 50 Zon? Willst du dich mit mir anlegen? Sagst einfach so 50 Zon, als wäre das Kinderkram?” “Aber das ist doch gar nicht viel. Immerhin habe ich Sie vom Volkstheater bis hierher gefahren.” “Eben, das ist es ja! Dieser Katzensprung soll mich 50 Zon kosten?” “Mein Herr, ich habe doch nicht viel dafür verlangt! Ein vornehmer Herr wie Sie sollte eigentlich noch ein schönes Trinkgeld drauflegen.” Letzteres überhörte der Alte Yoon Ikon wohlweislich. Er drehte sich zur Seite und schnürte den Geldbeutel, den er gerade erst auf- und wieder zugeschnürt hatte, zum zweiten Male auf und nahm zwei Zehner heraus. Mit dem Fingernagel kratzte er über den Münzrand. Man konnte sich nie sicher sein, sagte er sich, vielleicht hatte er ja versehentlich zwei Fünfziger herausgenommen. “Hier hast du 20 Zon. Eigentlich schulde ich dir ja nur 15 Zon. Fünf Zon sind für dich. Kauf dir Reiswein davon oder was auch immer. Ist mir egal!”


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“Das ist zu wenig!” “Zu wenig? Du meinst, 20 Zon seien zu wenig? Hör mal, auf dem Lande bekommst du dafür einen Acker von zehn Quadratruten. Das ist ein ganz schönes Stück!” Dann geh doch selbst mit deinen 20 Zon aufs Land und kauf dir einen Zehn-Quadratruten-Acker und lass deine Familie drei oder vier Generationen lang und bis zum Verhungern betteln. Das wollte er dem Alten sagen und sich dann umdrehen, aber er verkniff es sich nur knapp. “Legen Sie noch 10 Zon drauf. Sie waren immerhin ziemlich schwer...” “Was? Jetzt nörgelst du auch noch an mir herum! Du hast gut reden. Weißt du eigentlich, wie unbequem es in deiner kleinen Rikscha für mich war? Hast du schon einmal gesehen, dass schwereren Leuten in Zügen oder Bussen mehr Fahrgeld abgeknöpft wird?” “Haha, nein, aber...” “Also, was ist jetzt? Nimmst du das Geld oder nicht? Wenn nicht, dann kaufe ich mir ein schönes Stück Fleisch davon und mache mir ein köstliches Abendbrot.” “Wenn Sie mir noch einen Zehner draufgeben könnten... Ein so vornehmer Herr wie Sie kann mich doch nicht einfach so stehen lassen.” “Vornehm, sagst du? Wenn ich mal so vornehm wäre, wie du sagst, dann müsste ich die Reisfelder auf dem Lande verkaufen! Du liebe Zeit! Noch so ein Kerl wie du und ich wär’ mit meinem Leben am Ende!” Noch so einen Fahrgast wie dich und ich fiele in Ohnmacht, wollte der Rikschakuli am liebsten entgegnen. Der Alte Yoon Ikon band seinen Geldbeutel wieder los, schnürte ihn auf und nahm ein Fünf-Zon-Stück heraus. Es ärgerte ihn mächtig und es tat ihm um das Geld sichtbar Leid, aber er konnte nicht anders. So hartnäckig wie dieser Kerl darauf bestand! “So, das ist jetzt endgültig genug! Hier hast du 25 Zon und du bekommst keinen Zon mehr, selbst wenn du deinen Hals an meinem Gürtel aufhängst!” Der Rikschakuli nahm die drei Münzen, zwei große und ein kleines Kupferstück, ergriff seine Rikscha, murmelte ein unverständliches Dankeschön und machte sich eiligst aus dem Staube, noch bevor der Alte Yoon Ikon mit seinem Gerede fertig war. “Ja ja! Ich hätte nicht auf dieses Weibsstück hören sollen, dann wäre


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mir dieser Kerl erspart geblieben, und ich hätte auch noch fünf Zon gespart. Chunshim ist an allem schuld, weil sie zu mir gekommen ist und mir so frivol in den Ohren gelegen hat mit diesem Liedwettbewerb! Nur deshalb bin ich doch dorthin gegangen.” Der Alte Yoon Ikon brummelte Beschimpfungen über Chunshim vor sich hin, die sie zwar nicht hörte, aber trotzdem völlig unbegründet waren. War er etwa zum Liedwettbewerb gegangen, weil Chunshim ihn dazu überredet hatte? War es nicht vielmehr so, dass sie ihm nur davon erzählt hatte, weil sie stolz auf ihre Schwester Yunshim war, die dort ein Instrument spielte? Natürlich war es der Alte Yoon Ikon gewesen, der im Gegenteil das Mädchen dafür zu begeistern versucht hatte, ihn zum Liedwettbewerb im Volkstheater zu begleiten. Und wie froh war er, dass sie ihm davon erzählt hatte. Hätte sie das nicht getan und er am nächsten Tag von der Aufführung erfahren, hätte er sich wahnsinnig geärgert und vor lauter Ärger mit dem Fuß gestampft!


김유정 Kim Yujong Kamelien Erzählungen Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Yunhui Baek. Herausgegeben und Umschlaggestaltung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 220 Seiten 22,0 × 14,0 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-50-0 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/kim-yujong-kamelien-2/


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DIE GOLDMINE Es war die letzte Nacht eines Monats, in der es mondlos düster war.

Im Himmel steckten die Sterne wie verstreute Sesamkörner. Doch dank dieser Sterne war das Unterholz des Kiefernwaldes schummerig erkennbar. Es war einer der entlegensten und abgeschiedensten Orte der Welt innerhalb des rauhen Steilgebirges. Schon ein Rauschen von irgendwoher ließ das Herz pochen. Ein Tiger könnte es sein, Herr Tiger! Alles lag aber ruhig und still. Die kühle Luft war schneidend, was ein Zeichen dafür war, dass sich der Herbst schon dem Ende zuneigte. Die taubenetzten Herbstblätter fielen raschelnd ans Gesicht und befeuchteten es. Ggongbo machte auf der Graswiese unabsichtlich ein Nickerchen, während sein Kopf auf dem quergestellten Rucksack krumm dalag. Als er dann die Augen aufschlug, musste er ein wenig schaudern, weil er im Freien war. Ihm gegenüber hockte sein älterer Bruder reglos vor sich hin. „Bruder, wollen wir nicht mal so langsam wieder anfangen?“ „Es ist noch nicht an der Zeit. Obwohl es kalt ist, gehen wir es mal langsam an...“ Unter dem Schirm der Dunkelheit waren nur die strotzenden Stimmen der beiden Menschen zu hören, aber es klang sanft. Im Hintergrund erklangen Metallstöße. Ob der ältere Bruder Werkzeug reparierte? Ggongbo krümmte sich und schloss die Augen, um weiter-zuschlafen. Die Kleider waren wegen der nächtlichen Feuchtigkeit auf dem Feld völlig durchnässt. Sein Unterkörper fühlte sich stumpf an, als wäre er einfach abgefallen, gleichwohl schmerzte er erbarmungslos pochend. Er stand prompt wieder auf, gähnte und schauderte vor Kälte. Von irgendwoher waren leise zurückhaltende Schritte zu hören, die wieder verschwanden. Ggongbo kam dann blitzschnell zu sich, rollte angespannt mit seinen Augen. „Kommt jemand hierher, oder?“ „Das war vielleicht bloß der Wind. Wie könnten die denn Bescheid wissen?“ Diese Antwort, die Ggongbo von seinem Bruder bekam und ihm versicherte, dass dieser vollkommen gelassen war, beruhigte den


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Jüngeren doch sehr. Für Ggongbo war es ermutigend, dass sein Bruder bei ihm war, auch für den Fall, dass ein paar Kerle vor ihm auftauchten. Der Jüngere zog seinen Kragen zusammen und schaute umher. Ein großer bedrohlich rauer Fels stand spitz empor, als wolle er an den glänzenden Himmel stoßen. Auf beiden Schulterseiten dieses großen Felsens lagen einige kleinere, rund geformte Felsen, die wie schwarze Wolken aussahen. Dann tauchte plötzlich in der Luft ein grässlicher Schädel auf, bei dem man nicht erkennen konnte, ob er ein nächtliches Traumbild oder etwa ein Tiger war, und schaute herum. Alle Richtungen rund um dieses Dorf wurden von derartigen Bergen gesäumt. Der Wind ließ ständig die Herbstblätter herumwirbeln. Einsam und gottverlassen floss das Quellwasser immerfort rauschend. Es schien, als ob gleich von dem schwarzen Bergrücken ein Tiger mit seinen Feuer funkelnden Augen zum Vorschein kommen würde. Ggongbo bekam urplötzlich Gänsehaut, als wäre er in eine Falle gegangen, aus der er sich nicht befreien konnte. Er zuckte aus Verlegenheit mit der Schulter. „Na, so ein fürchterliches Bergdorf“, knurrte er. Jedes Bergdorf ist so. Als er seinen Gedanken weiter nachhing, führte er sich eine furchterregende Erinnerung blitzschnell vor Augen. Es war genau zur selben Zeit im vergangenen Jahr. Auch an jenem Tag war Ggongbo wie heute heimlich aufgebrochen, um Erz abzubauen. Er stieg auf einen der steilsten Berge in der Nähe von Höyang, das als raues, abschüssiges Gebiet bekannt war, fremd und gottverlassen wie dieses. Ggongbo, Dopal und noch drei Freunde waren zusammen unterwegs. Der rieselnde Regen, der schon früh am Abend angefangen hatte, hörte einfach nicht auf. Der Wind pupste und schlug den Regen gegen die fallenden Blätter, und das wiederholte sich immer wieder. Alle waren dermaßen erschöpft, dass sie nicht einmal den Mund aufmachen konnten, sie fröstelten lediglich. Die riesengroßen Felsen, die gleich auf sie zu stürzen drohten, standen ihnen dickschädelig immer wieder im Weg. Als sie in der Dunkelheit um die schroffen Felswände herumgingen, lief ihnen der Schweiß nass herunter. Dazu pochte ihnen das Herz, weil sie nicht wussten, wann ein Tiger plötzlich vor ihnen erscheinen konnte. Wenn er an jene Zeit zurückdachte, hatten sie doch Gott sei Dank ohne besondere Vorkommnisse den Felsen in Besitz nehmen können.


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Immerhin gingen fünf Kerle in eine über dreißig Menschenlängen tiefe Grube hinein und schon in weniger als einer Stunde hatten sie sogar zwei Säcke Erze ergattert. Das Problem lag aber in der Verteilung des Gewonnenen, um jedermann gerecht zu werden. Da Ggongbo mit der Goldsuche bemerkenswerte Erfahrungen gemacht hatte, übernahm er die Aufgabe bereitwillig. Ungefähr nach Augenmaß verteilte er die Beute in fünf gleichgroße Anteile, indem er sie jedem Einzelnen nacheinander hinlegte. Aber wo gibt es denn auf der Welt solch einen törichten Kerl? „Du meinst also, dass das hier eine gerechte Verteilung ist!“ Aus einer dunklen Ecke meldete sich einer der Kerle zu Wort, was eher eine Schelte sein sollte. Er versuchte seinterseits sogar seinen hitzköpfigen Charakter dadurch zu unterstreichen, dass er Rotze ausspuckte. „Wie denn sonst?“ Ggongbo wandte sich verdutzt in die Richtung, aus der das Wort kam. Es gab schließlich eine Übereinkunft, nach der die Beute immer verteilt wurde, und es hatte keinen Sinn, Einwände gegen die Art und Weise dieser Praxis zu erheben. „Na, für mich ist nur das?“ „Gibt es denn hier jemanden, der mit Erz übergossen worden ist?“ „Pah, wer hat diese Grube überhaupt ausgesucht?“ „Das zählt doch nicht. Weil es Gold gab, haben wir es abgebaut und es uns aufgeteilt!“ „Du meinst also, dass das hier nicht zählt? Hättest du ohne mich hierherkommen können? Ja?“ „Sieh dir mal dieses blöde Subjekt an, willst du allein das Ganze an dich reißen, wie ein geizhalsiges Schwein?“ Auf dieses Wort von Ggongbo hin griff der Kerl ihn hitzig an. Er ging Ggongbo mit robusten Händen an den Kragen, griff ihn fest und schwang ihn wie verrückt. Anscheinend unterschätzte der Kerl Ggongbo einfach maßlos, nur weil er von klein war und schmächtig aussah. Auch Ggongbo konnte nicht anders, als entschieden gegen ihn anzutreten, weil er mitten im Regen stand und bis zum Ersticken von ihm bedrängt wurde. Sobald er reflexartig einen Erzstein in die Hand bekam, schlug er damit auf seinen Schädel. Daraufhin stöhnte dieser


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wie ein Ochse und warf Ggongbo auf einen breiten Stein nieder, setzte sich auf Gggongbo, griff spontan eine Hacke und schlug ihm damit hart gegen die Rippen. Zum Glück wurde Ggongbo dabei nicht getötet, aber er verspürte noch heutzutage ab und zu eine Nachwirkung jener Verletzung, so dass er sich hin und wieder nicht unbehindert bewegen konnte. Denn Ggongbo wurde an der linken Schulter stark verletzt. Ihm war dabei sogar schwindlig geworden. Es war klar, dass der Kerl ihn töten wollte, es war eine nur allzu gute Gelegenheit, die sich ihm hier in einem so tief entlegenen Bergdorf bot. Als der Kerl zum dritten Male einen gezielten Schlag auf die Brust von Ggongbo abgab, dachte er, er sei jetzt wirklich unwiderruflich tot. Das war ein unerträglicher und heikler Moment. In diesem Augenblick jedoch stürzte Dopal, so robust und groß wie eine Eingangstür, wie vom Himmel herab, stürzte sich über ihn wie ein fliegender Tiger. Kaum hat er den Kerl gepackt, hob er seine Taille mit beiden Händen von hinten hoch und warf ihn den Abhang hinunter. Ob der Kerl dabei überlebt hatte oder gestorben war, wusste man bis heute nicht. Jedenfalls kehrte Ggongbo auf dem Rücken von Dopal mit den Erzgesteinen in sein Dorf zurück. Den Zipfel des jetzigen Lebens, den Ggongbo heute mit sich herumtrug, verdankte er also den Händen von Dopal, die ihn zu jener Zeit beschützt hatten. Daher war es gar nicht grundlos, dass Ggongbo Dopal als „älteren“ Bruder bezeichnete und sich dementsprechend ihm gegenüber respektvoll verhielt. Das Bergdorf hatte nun genauso wie damals eine entstellte Fratze. Als Ggongbo sich umsah, führte er sich die schaudernden Erlebnisse jener Zeit vor Augen. Er saß jetzt kraftlos da und saugte emsig an seiner Zigarette. „Erst wärmen wir uns mal den Körper auf. Und dann wollen wir langsam anfangen, okay?“ Dem Anschein nach fror auch Dopal, denn er klopfte seinen fröstelnden Körper ab. Es sah so aus, dass er mit der Vorbereitung des Werkzeugs schon fertig war. Die Arbeit konnte begonnen werden. Er ging auf die andere Seite, stöberte in seinem Rucksack, nahm Reiswein und eine Schweinshaxe heraus und kehrte zu ihm zurück. „Zumindest sollte der uns doch ein wenig aufwärmen!“ Er öffnete den Flaschendeckel mit den Zähnen und fuhr dann fort:


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„Na, dann trinken wir ihn so. Wie sollte man ihn aufwärmen?“ „Wärmen wir ihn doch auf!“ „Wie soll das denn gehen? Wir könnten entdeckt werden, wenn wir Feuer machen!“ „Machen wir ein Feuer zwischen den Felsspalten.“ Der Jüngere richtete sich auf und scharrte ein paar dürre Blätter zusammen. Der Ältere knickte Kiefernäste ab, bis seine Arme schließlich gefüllt waren. Es gab eine Spalte zwischen zwei Felsen, die wie eine Stehwand ausgeweitet war. In diese Lücke gingen die beiden hinein und machten ein Feuer. „Hmm, das schmeckt ja wunderbar.“ Der Ältere leerte sein Glas in einem Zug und versetzte sich damit in eine berauschte Stimmung. Mit einem Messer schnitt er das Schweinefleisch in Scheiben und kaute es laut schmatzend. „Hast du vorhin das Weib in dem Gasthaus gesehen?“ „Ja, wieso?“ „Und, was hast du gesehen?“ „...“ „Ein Prachtweib ist das! Wirklich erste Sahne!“ Er schmunzelte und seine Augen blinzelten dabei im Feuerlicht. Er war in einer Lebenslage, in der er viele Monate und Jahre hindurch immer unterwegs sein musste. Heute nach Westen und Morgen nach Osten, so gab es keine Bergwerke in ganz Choson, in die er seine Nase nicht gesteckt hatte. Wann kann ich mal so ein Weib treffen und einen gemeinsamen Haushalt führen, dachte er bei sich und seufzte kummervoll und bemitleidete sich selbst. „Ein Weib sollte man haben!“, bemerkte Dopal unangebracht und zusammenhanglos aus Verlegenheit. „Ich weiß nicht...“, entgegnete Ggongbo und schaute ihm direkt ins Gesicht. Bislang war er mit ihm zusammen unterwegs gewesen, aber so etwas war noch nie vorgekommen, warum dachte er plötzlich an eine Frau? Merkwürdig! Obwohl auch Ggongbos Gedanken zurzeit öfter darum kreisten. Man wusste nicht, ob es daran lag, dass der Herbst schon zur Neige ging, aber woran die beiden alleinstehenden Männern dachten, wenn sie zusammensaßen, war immer nur das. „Bruder, willst du heiraten?“ „Gibt es irgendwo irgendein Weib?“


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„Vielleicht?“, zögerte Ggongbo zunächst, dann verfiel er in Gedanken. Wie es wäre, wenn er ihm seine jüngere Schwester gäbe. Seine Schwester ist zwar mit einem Bauern aus einem Ort in der Nähe von Chungju verheiratet und hat sogar zwei Kinder. Aber sie hat ein ganz tadelloses Gesicht. Wenn ich ihm das Ding gäbe, würde er sich sehr freuen und wir wären wieder quitt. „Bruder, soll ich dir meine jüngere Schwester geben?“ „Deine jüngere Schwester?“ „Sie ist sehr hübsch. Wenn du sie siehst, wirst du dich auf der Stelle in sie verlieben.“ Dopal verharrte verblüfft, wartete auf ein nächstes Wort von ihm. Über sein dunkelrotes Gesicht, das im lodernden Feuerlicht glitzerte, huschte ein zufriedenes Lächeln. Über die Schwester und ihren guten Ruf hatte er schon viel gehört. Jedesmal, wenn über sie gesprochen wurde, hatte er heimlich von ihr geträumt, aber er konnte nicht darüber sprechen. „Was meinst du?“ „Ich weiß nicht, kann man das mit einer Frau machen, die eine eigene Familie hat?“, fragte Dopal zögernd und trotzdem hoffnungsvoll. Dann verschüttete er sogar die Hälfte seines Reisweins, als er dem Jüngeren einschenken wollte. „Ich kann sie ja herauslocken, wer könnte was sagen?“ Ggongbo gab sich ziemlich selbstsicher. Für Dopal war es eine sehr erfreuliche Aussicht. Er verschränkte seine Arme fest und schloss die Augen, versank in Gedanken. Auch ich werde endlich einmal ein Weib in meinen Arm nehmen! Vielleicht ist seine Schwester doch hübsch. Sie könnte sicher eine schön mollige und einfühlsame Frau sein. Bestimmt ist sie so eine Frau. Dopal richtete sich prompt auf, aber zögerte ratlos, dann hockte er sich wieder hin, als hätte er es sich wieder anders überlegt. „Wann willst du hingehen?“ „Immer langsam, wir bringen das hier erst fertig, dann gehen wir morgen hin.“ Klappt die Arbeit heute ganz gut, ist man morgen bereit, den Ort zu verlassen. Die Chungchong-Provinz war so weit entfernt, über die Grenze der Gangwon-Provinz noch fünf oder sechs Wegstunden zu Fuß. Ggongbo hatte sich eigentlich ausgedacht, dass sie in einem


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strammen Tagesmarsch übermorgen in aller Frühe bei seiner Schwester vorbeikommen und dann zu einem anderen Bergwerk gehen könnten. Aber es war noch lange nicht ausgemacht, dieses ersehnte Gold zu ergattern. „So ein Mist, wann erwartet mich einmal das große Glück?“ Ggongbo beklagte sein Schicksal, während er an seinem Schweineknochen nagte und ihn dann wegwarf. „Keine Sorge, irgendwie wird’s schon gehen. Wer weiß, ob heute Goldsteine herausquellen, glaubst du nicht?“ „Wie schön wäre es. Dann könnten wir endlich sesshaft werden.“ „Na, klar. Es ist ja keineswegs das Tun, womit man sich gerne beschäftigt.“ Sie hatten unzählige Male so miteinander gesprochen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie das Gold gleich verteilen, ein Haus kaufen, ein Weib erwerben, Schnaps trinken und bequem leben würden, ganz unabhängig davon, wer von ihnen auf das Golderz stoßen sollte. Aber sie waren diesem noch nicht begegnet, so dass ihre Worte bisher nicht eingelöst werden konnten. „Die Zeit ist gekommen, der Hahn kräht. Wollen wir langsam losgehen?“ Dopal richtete sich bereitwillig auf. Als er den Rucksack auflud, schaute er Ggongbo an. Ggongbo, der vor dem Feuer fröstelte und anscheinend wieder unter einem Rückfall seiner damaligen Verletzung litt, kam ihm bemitleidenswert vor. „Du da, ich mache es alleine und bringe es hierher, du kannst hier vor dem Feuer sitzen bleiben, ja?“ „Ach was, ich gehe mit.“ Ggongbo hob den Rucksack nur zaudernd hoch. Sie drückten das Feuer mit den Füßen aus und verließen die Stelle. Auf dem Berg war ein Durchgang, durch den man ein Tal entlang schräg hinaufsteigen konnte. Links und rechts wuchsen Tannen-, Pinien-, Kastanien- und Ahornbäumen dicht beeinander. Unter ihnen rollten Kieselsteine. Überall türmten sich raue Felsen. In pechschwarzer Dunkelheit stiegen sie umhertappend den Berg hinauf. Wegen des Taus des dicht belaubten Waldes wurden die ungefütterten Sommerhosen völlig nass. Jedesmal, wenn sie die Füße auf den Boden setzten, klebten sich die nassen Klamotten zischend an die Haut, wobei die Kälte den


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Körper durchdrang. Und der erbarmungslose Wind wehte ständig herunter. Er blies durch die verwelkten Blätter hinterlistig hindurch. Er heulte und knallte mit all seiner wuchtigen Kraft. Ggongbo, der Dopal folgte, zitterte unaufhörlich vor Kälte. Was für ein Blödsinn das ist! Die Goldsuche, die einzige Arbeit auf der Welt, von der man die Finger lassen musste, von der man nicht leben sollte. Wieso muss es ausgerechnet Gold sein? Warum muss man dies unbedingt tun? Wo es auch noch des Öfteren passiert, dass sich die Leute untereinander totschlagen. Eigentlich habe ich keinen getroffen, der als Goldsucher harmlos gewesen wäre. Er bekam erneut Gänsehaut am ganzen Körper, während er sich jene Zeit aus seiner Vergangenheit vor Augen führte, und wie jedes Mal erstarrte er. Dann schwebte im gegenüberliegenden Bergwald ein großes Licht. Ein Tiger! So erschrak Ggongbo und rannte zu Dopal, seine Taille ergreifend. „Was ist das?“, bebte Ggongbo vor Angst. „Was?“ „Sieh mal da, es ist schon wieder verschwunden.“ „Du phantasierst bloß, es ist gar nichts.“ Dopal antwortete unfreundlich und stieg unbekümmert weiter auf. Ggongbo beruhigte sich ein wenig, da Dopal sich so tollkühn verhielt, aber irgendwie war ihm nicht ganz behaglich zumute. Ggongbo wusste nicht, warum er sich heute dauernd beängstigt fühlte. Der Körper war schlapp und sein Mund brannte vor Fieber. Er musste sich irgendwie angesteckt haben, ansonsten ginge es ihm nicht so schlecht. „Du, das geht nicht mehr. Komm auf meinen Rücken.“ So ließ sich Ggongbo bereitwillig und schweigsam auf dem Rucksack von Dopal tragen, als der ihm seinen Rücken anbot. Ggongbo schaute von ihm herunter und umher und beneidete ihn, der einen so strotzend gesunden Körper hatte, der ihn ohne jegliche Klage den Berg mit leichten Schritten hinauftragen konnte. Erst als Dopal keuchte, als wäre er unter der glühendsten Sommersonne gewandert, erreichte er mit vollgeschwitzter Stirn den Berggipfel. Dopal ließ Ggongbo vom Rücken herunter, atmete pustend aus und wischte sich den Schweiß ab. Es fehlt uns nur noch eine kurze Strecke, laufen wir ein wenig hinunter, wir sind gleich dort, dachten sie. Es war genau um Mittag gewesen, als sie in dieses Dorf gekommen waren. Sie wollten dabei eigentlich nur an einem Gasthäuschen vorbei-


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gehen, aber dann hatten sie unerwartet auf das Wort der Gastwirtin hin die Ohren gespitzt. Hinter dem Berg, erzählte sie, gebe es ein Goldmine, eine Wunder-Schatzkiste, aus der Gold nur so herausquelle. Zurzeit sei es zwar kurzfristig stillgelegt, aber die Arbeit sollte bald wieder aufgenommen werden, wenn die Erlaubnis für die Benutzung von Sprengstoff vorliege. Und es sei Tag und Nacht bewacht, um Golddiebstahl zu verhindern. Aber Dopal zweifelte daran, wer könnte so spät in der Nacht verhindern einzuschlafen –, und sie gingen unbekümmert hinunter. Ggongbo stieß zwei Mal mit der Hand den Hintern von Dopal an, um zur Besonnenheit zu ermahnen. Man weiß ja nie, was passieren wird. Sie stiegen links und rechts schauend leise hinab. Sie gingen fünf Minuten weiter, dann stießen sie in der Tat auf eine große Grube. Auf dem Bergabhang lag ein Fels wie ein Strohstapel und neben diesem noch einer, so dass sie gegabelt beieinanderlagen. Zwischen diesen war eine Grube ausgehoben worden, von einer Steinmauer umgrenzt. Die Breite betrug weniger als eine volle Spanne beider Arme und die Länge ungefähr drei Spannen beider Arme. Einer von ihnen zündete ein Streichholz an, beleuchtete das Innere der Grube und schätzte, dass die Tiefe ungefähr vier Menschengrößen betrug. Weil die Grube nur grob ausgepickt worden war, hatten die Kerle nicht einmal den Gesteinschutt richtig ausgeräumt. Das lag vielleicht daran, dass sie die Erze heimlich abgebaut hatten. Alle Leitern waren abgenommen, so gab es nur noch glatte Steinwände. Die beiden schauten noch einmal rings herum. Man konnte wegen der Dunkelheit nicht einmal vor den eigenen Füßen was sehen, aber es sollte hier sicherlich weit und breit kein Mensch sein. Sie beruhigten sich und nahmen aus dem Rucksack die harzigen Kiefernäste heraus und zündeten sie an. Zuerst kroch Dopal bäuchlings in die Grube hinunter. Ggongbo stieg mit einer Fackel in der Hand vorsichtig und langsam hinterher. Als nur noch eine Menschenhöhe zum Absteigen blieb, rutschten Dopals Füße ab, und er fiel abrupt hinunter. Er stürzte zu Boden, aber stand gleich wieder auf. Noch vor der Morgendämmerung sollte das Gold schnell abgebaut werden. „Du, mein lieber junger Bruder, wo genau soll ich es abbauen?“ „Ich weiß nicht, Moment mal.“


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Der Jüngere hielt das Licht auf die Erzadern und musterte sie. Er war bei der Goldsuche als ausgebuffter Experte sehr bekannt. Nach schnellen Blicken stellte er fest, dass in der Mitte fast alles abgebaut war und an den beiden Rändern erneut eine Ader langsam zum Vorschein getreten war. „Älterer Bruder, du kannst dort drüben in der Ecke abbauen.“ Der jüngerer Bruder gab ihm die Anweisung und kam selber in diese Ecke. Aber er traute sich doch nicht, in die Rinne hineinzugehen. Die hölzernen Grubenpfeiler, die über eine Menschenlänge hoch ausgebaut worden waren, sahen so gefährlich aus, als könnten sie gleich über ihm zusammenfallen. Unten war einigermaßen sorgfältig mit kleinen Steinchen ein Grund gemauert worden, aber oben gab es lediglich aufeinander gestellte große Steinen. Wenn diese auseinanderfallen, stirbt er, ohne einen Piep zu machen. Ggongbo geriet eine Weile lang ins Grübeln, aber kam dann zu dem Entschluss, dass es nicht anders geht. Eine Grimasse ziehend nahm er Hammer und Steinmeißel aus dem Rucksack. Niemand wusste, wie die Grube ausgehoben worden war, jedenfalls war die Rille so schmal, dass er nicht einmal den Körper richtig platzieren konnte, geschweige denn arbeiten. Gezwungenermaßen streckte er seine beiden Beine zu den hölzernen Trägerpfosten aus und fing auf dem Bauch liegend damit an, fest zu hämmern. In der Felsengrube war die Luft noch stickiger als sonst. Man hörte nur das dumpfe und schwere Stoßen, das vom Einschlagen der Steinmeißel in die beiden Felswände herrührte. Es donnerte nur so in den Ohren. Ungefähr nach einer Stunde war außer schuttähnlichen Gesteinen bis jetzt nichts zum Vorschein gekommen. Wieder vergingen fünf Minuten, danach zehn Minuten. Genau in diesem Augenblick geschah es. Ggongbo nahm schwitzend in seiner engen Rille liegend ein Stück Erzgestein ab. Ein kleiner Stein wie ein kleines hölzernes Kopfkissen. Er schaute ihn sanft an, indem er ihn unter das Licht stellte. Der Stein war ein glitzerndes Stück, sein Glanz chaotisch, aber prächtig. Könnte es etwa sein, dass er Blei enthält? Er stellte ihn quer auf einem Stein und brach ihn mit dem Hammer entzwei. Das war ein Goldstein, der so geschmeidig war, dass er nicht leicht in Stücke zerbröselte! Er hielt ihn sich wieder vor die Augen, die er nun schlitzartig klein machte. Eine Weile lang blickte er ihn sehr scharf an. Sein Herz bubberte


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und pochte aus ahnungsvollem Vorgefühl. Schon allein das Gold, das in diesem Gestein steckte, könnte schätzungsweise über zehn Unzen wert sein. Eintausend Won sind das! Eintausend Won! „Was ist‘s, was hast du da?“ Dopal stürzte hastig zu ihm herüber. „Gold“, antwortete Ggongbo schwermütig. Dopal nahm den Stein forsch und hielt ihn sich nah vor die Augen. Das war Gold, locker und kinderleicht zu biegen. Auch wir haben jetzt unser großes Los gezogen! Er tanzte ruckartig und schwenkte seinen Hintern hin und her. „Komm hier heraus, ich mache jetzt weiter.“ Er hob den Jüngeren abrupt hoch, brachte ihn hinaus und setzte sich an die Stelle, wo Ggongbo gearbeitet hatte. Auch der Ältere streckte nun seine beiden Beine zu den hölzernen Trägerbalken aus und legte sich bäuchlings in die Lücke. Da er groß war, bereitete ihm das mehr Schwierigkeiten, aber er war immerhin kräftemäßig dem Jüngeren überlegen. An die enge Rille steckte er den Steinmeißel und schlug mit dem Hammer keuchend auf ihn ein. Ggongbo blieb vor ihm stehen und zog ein langes Gesicht. Ja, die Stimmung war verdorben. Wenn es um die Goldgewinnung ging, war er doch ein Lehrer und der ältere Bruder hatte die Arbeit stets unter seiner Regie ausgeführt. Was traut sich der Grünschnabel, so zu pfuschen, er ist ja nicht einmal in der Lage, ein Stückchen Stein fachgerecht abzunehmen. Er erkannte schnell, dass mit dem Verhalten seines ältereren Duzbruders irgendetwas nicht stimmte. Dopal schien sich offensichtlich verändert zu haben, nachdem er das Gold gesehen hatte. „Du, gibst du mir mal die Hacke!“ Der Ältere schrie ihn an, ohne auch nur den Kopf zu heben. Der Jüngere antwortete nicht und blieb schweigsam. Der Jüngere fand es zum Kotzen, dass er sich so gebärdete. „Hey, du, gib mir die Hacke, schnell. Was stehst du so entgeistert herum?“ Dopal schaute ihn mit aufgerissenen Augen an. Der Jüngere nahm still die Hacke, die an einer Ecke stand, und reichte sie ihm. Und dann blieb er wieder wie angewurzelt stehen. Je schlechter sich der ältere Bruder ihm gegenüber verhielt, desto mehr wuchs sein Widerstand. Der angeberische Gesichtsausdruck von Dopal, sein unangebrachtes


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Verhalten, nur weil er kräftiger als Ggongbo war, das Überschreiten seiner Kompetenz – das alles konnte Ggongbo nicht wirklich ertragen. „Ich habe wieder etwas herausgebrochen, siehst du, wie kräftig ich bin?“ Sein älterer Duzbruder schlug unaufhörlich prahlend die Spitzhacke nieder. Dopal sah wie ein Schwein aus, das sich auf einen Futtertrog stürzt. Alles aufraffend nahm er sogar zwei handtellergroße Erzsteine ab. Mehr konnte er jetzt wirklich nicht mehr wegschaufeln, ohne sich böse zu überanstrengen. Dann krachte es. Unter seinen kräftigen Fäusten stürzten abrupt gleich mehrere hölzerne Pfeiler ein. Als Ggongbo dem älteren Bruder, der großen Stolz auf seine körperliche Kraft zeigte, ruhig nachsah, beobachtete er, wie Dopal noch einmal ins Innere des Schachtes ging. Ziemlich sicher wollte Dopal unbedingt soviel Gold wie möglich zusammenraffen. So kränkte es Ggongbo, dass Dopal nicht gerne seine Anwesenheit sehen zu wollen schien. Als Dopal dann erneut prahlte und bemerkte: „Pass auf, Mensch, du taugst hier gar nichts, selbst wenn Hunderte von deiner Sorte herkommen sollten“, überfiel Ggongbo ein kalter Schauder. Früher einmal hatte ihm der ältere Bruder das Leben gerettet, aber diesmal konnte es in demselben Bergdorf gut sein, dass Dopals Faust seinem Leben ein Ende setzte. Als Ggongbo die Fäuste seines älteren Bruders ruhig anschaute, verglich er unweigerlich seine Mitleid erregenden, hageren Fäuste mit denen von Dopal. Er zitterte lediglich innerlich. Dann zog sich Ggongbo mit einem Ruck gewaltig erschrocken zurück. Gleichzeitig mit seinem Notschrei zerbröckelte der Ausbau. Die mittleren Teile der Pfosten lösten sich irgendwie. Die rauen Steine drückten Dopal die Unterschenkel und Oberschenkel nieder. Das Fleisch wurde dabei sicherlich zerquetscht. Er konnte sich, auf dem Bauch liegend, nicht bewegen, stöhnte vor unerträglichem Schmerz. Dennoch war es ein Glück, dass er dabei überlebte. Zwar rollte genau über ihm ein fürchterlich großer Stein herunter, aber er blieb an den Kieselsteinen hängen, die ein weiteres Fallen verhinderten. Wenn dieser Stein auf ihn gefallen wäre, wäre er zermalmt worden. „Du, hol mich hier bitte raus.“ Sein älterer Bruder konnte sich nicht mehr bewegen und flehte ihn mit erschöpfter Stimme an. Und dann erneut:


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„Mein Bruder, sonst sterbe ich, ja?“, so bat er um sein Leben. Dopal war nur noch in der Lage, seinen Kopf aufzurichten, sonst schien er all seine Bewegungsfreiheit verloren zu haben, auch die der Hände. Der Jüngere näherte sich ihm behände und gelangte über die umgekippten hölzernen Pfosten zur Kopfseite Dopals. Sobald Ggongbo drei Goldgesteine, die vor dessen Füßen lagen, aufgegriffen hatte, zog er sich im Nu zurück. Und dann stieg er hastig die Grube hinauf, ohne dabei zum tränenden Gesicht von Dopal zurückzuschauen. „Du, Kerl!“ Sein Fluchen war gerade noch zu hören, als fürchterlich knallende Geräusche zugleich verrieten, dass weiter unten alles zusammenbrach. Dann hörte man das Zuschütten und Rascheln. Danach war es still. In diesem Augenblick war der Jüngere schon ein gutes Stück hinaufgeklettert. Als er den Eingang erreichte, schaute er in alle Richtungen, kam heraus und verschwand wie ein Schatten. Die Gestalt von Dopal war nicht mehr zu sehen. In der Dunkelheit lagen die großen Steine überall verstreut herum. An der einen Seite des Eingangs blinzelte das fast erloschene Feuer in einem Krug hin und wieder auf. Und der starke Wind heulte auf, während Sand zischend in die Grube hineinsprudelte. Aus: Chosonjungangilbo, 2.3.1935-9.3.1935


황석영 Hwang Sok-Yong UNKRAUT und andere Prosa Erzählungen Aus dem Koreanischen übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik, Torsten Zaiak und Martin Tutsch. Herausgegeben und Umschlaggestaltung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 223 Seiten 23,6 x 15,6 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-36-4 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/hwang-sok-yong-unkraut-und-andere-prosa/


황석영 Hwang Sok-Yong UNKRAUT und andere Prosa Aus dem Koreanischen von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik, Torsten Zaiak und Martin Tutsch



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Winterlicht Jenen Winter verbrachte ich in „Paks Bergvilla“. Ich hatte meine Frau,

die mit einem glücklichen Traum schwanger ging, in dieses tiefe Tal mitgeschleppt; es muss demnach Mitte November gewesen sein, die Zeit, wenn das herabgefallene Laub sich weiß mit Reif überzieht. Mitten im Wald standen acht winzige Bungalows. Es waren äußerst schlichte Bauten, die außer einem einzigen Wohnzimmer nur noch eine enge Diele und eine Toilette hatten. Sie waren wie geschaffen für Liebespärchen oder verschwiegene Paare, die am Wochenende eine Nacht dort verbringen wollten. Doch von außen boten die von Wald umgebenen Bungalows mit ihren weißen Wänden und roten Dächern einen Anblick wie aus dem Märchen. Ich fühle mich in einsamen Bergtälern oder in der freien Natur zwar nicht direkt unwohl, bin aber auch nicht so verrückt danach, dass ich unbedingt dort wohnen möchte. Es war halt nur so, dass wir uns praktisch mit leeren Händen zur Heirat entschlossen hatten und so blank waren, dass wir keine Wohnung finden konnten. Nachdem alle Kosten beglichen waren, hatten wir gerade noch ein paar tausend Won übrig. Eine eigene Wohnung wäre sowieso undenkbar gewesen, aber das reichte nicht mal als Schlüsselgeld, und da in der Stadtmitte auch die Monatsmieten unverschämt hoch waren, hatten wir keine Bleibe gefunden. Da erinnerte sich meine Frau an „Paks Bergvilla“, und wir machten uns, ohne lange zu überlegen, mit unseren beiden Koffern in die Berge auf. Wir besorgten uns einen Petroleumkocher, Töpfe und Schüsseln und erstanden eine große Öllampe. Nachdem das erledigt war, konnten wir uns gerade noch ein bisschen Proviant leisten. Um Reis kaufen zu können, kritzelte ich Nacht für Nacht irgendwelche erbärmlichen Manuskripte zusammen. Beim Schreiben hörte ich immer wieder meine Frau im Schlaf reden; anfangs kamen mir dabei sentimentale Gedanken, weil sie mir leid tat, dass sie trotz allem ihrem Mann vertraute und nicht von der Seite wich. Im Spätherbst merkten wir dann, dass es seinen guten Grund hatte, dass die Bungalows so billig vermietet wurden. Als der Winter mit großen Schritten näherrückte, tobte der Wind, als wollte er das Dach


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fortblasen, und da es keinen Strom gab und die Sonne gerade mal vier, fünf Stunden am Tag in unser Tal schien, wurde Brennholz unsere größte Sorge. Es gab keine Möglichkeit, Briketts heraufzuschaffen; die Feuerstelle war auch von jeher mit Holz befeuert worden. Die Vermieter hatten bereits im Herbst ihren Schuppen mit Kiefernzapfen, Laub und Holz gefüllt, so dass aus ihrer Villa stets der bläuliche Rauch von verbranntem Laub aufstieg. Ein-, zweimal kauften wir von ihnen Feuerholz, doch das war maßlos teuer und schon nach kurzem Heizen aufgebraucht. Schließlich erstand ich beim Trödler eine Indianeraxt für Bergsteiger und eine Sichel. Wenn ich nur einen halben Vormittag lang Schweiß vergoss, hatten wir für drei, vier Tage reichlich Brennholz, aber weil ich mich ungeschickt anstellte, verletzte ich mich öfters und fiel einmal sogar vom Baum, worauf ich mich mehrere Tage nicht bewegen konnte. Natürlich durfte ich mich auch nicht vom Förster erwischen lassen. Obendrein war auch noch der Gebirgsbach, aus dem wir unser Trinkwasser holten, im Nu zugefroren, und es war eine Plackerei, jeden Morgen die dicke Eisschicht aufhacken zu müssen. Als ich einmal mit einem Eimer Wasser in jeder Hand den glatten, abschüssigen Weg hinabstolperte, rutschte ich aus und fiel hin. Das Wasser ergoss sich auf meine Kleider und ich musste, zitternd wie eine vom Regen durchweichte Feldmaus, noch einmal Wasser holen. Der Bauch meiner Frau wurde immer runder, und meine Erzählungen kamen immer öfter mit der Bemerkung zurück, sie seien nicht zu veröffentlichen. Um diese Zeit wachten an allen Straßenecken Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Die Türme der Panzer blickten kalt und stolz auf die Straßen hinab. Für uns war der Winter fürchterlich kalt und schrecklich lang. Andererseits trug der Schnee, der in jenem Winter ungewöhnlich reichlich fiel, auch dazu bei, dass wir uns weniger einsam fühlten. Verwandelt nicht der Schnee die ganze Welt wieder in ein unbeschriebenes Blatt? Als ich eines Morgens erwachte, hatte es die ganze Nacht hindurch geschneit, das Tal war völlig abgeschnitten und Himmel wie Erde erstrahlten in blendender Helligkeit. Ich spürte durch die Matratze hindurch die eisige Kälte des Bodens, kauerte mich unter der Decke wie ein Embryo zusammen und schlotterte. „Uff, warum ist das Zimmer so kalt?“ „Ich hab gestern abend nur ein bisschen eingeheizt. Es ist kein Holz


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mehr da.“ Meine Frau, die am Fenster stand und in die schneebedeckte Landschaft hinaussah, hatte kaum ausgeredet, da tat sie mir schon etwas leid. „Ich hab mal ausgesetzt, weil ich mir die Hüfte verrenkt hab; ist es schon alle? Dann hol ich gleich neues.“ „Überall liegt Schnee.“ „Haben wir Wasser?“ „Ich war sparsam mit dem, was du gestern geholt hast; ein Eimer ist noch da.“ „Heut müssen wir uns wohl mit Schnee waschen. Frühstücken wir erst mal, dann muss ich Holz holen.“ „An solchen Tagen sind immer viele gekommen, was meinst du?“ Wenn es stark geschneit hatte, standen oft noch unverheiratete Freunde mit Schnapsflaschen bewaffnet vor der Tür, um sich bei uns die richtige Wanderlaune zu holen; das war uns manchmal schon lästig. Andererseits: waren das nicht treue Freunde, die sich von den rutschigen, steilen Wegen nicht abschrecken ließen, uns zu besuchen? Wir brieten uns etwas übriggebliebenen Reis auf und aßen ein einfaches Frühstück. Das Fenster war dick mit Eisblumen zugefroren, die ein prächtiges Muster bildeten. Ich wickelte meine Frau in die Wolldecke ein und ging hinaus zum Holzsammeln. ‚Es war einmal ein Holzfäller, dem begegnete unterwegs ein Reh, das von Jägern gehetzt wurde. Ach, rettet mich, mein Herr!’ Es ist eine Tatsache, dass das Leben uns nicht die geringste Illusion gönnt. Wir betrügen uns lediglich selbst. Eine schöne Schneelandschaft gefällt zwar dem Betrachter, der zum Vergnügen hergekommen ist, und auch uns stimmte sie sanfter als der Anblick des kahlen Waldes, aber der Schnee schnitt uns von der Wasserversorgung ab und das machte uns Kopfzerbrechen. Mit einem langen Strohseil und meiner Indianeraxt ausgerüstet, stieg ich den Berggrat hinauf. Der Schnee lag so hoch, dass ich bis über die Knöchel einsank. Überall verliefen kreuz und quer Tierspuren. Vielleicht waren es Dachsjunge, die ins Tal gekommen waren, um Müll zu durchwühlen. Einmal war eine Wildkatze, vom Fischgeruch angelockt, zu dem flachen Felsen gekommen, auf dem Fisch getrocknet worden war, und hatte die ganze Nacht lang geheult. Die scharfen


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Konturen der Bäume waren sanft und stumpf geworden; die sonnigen Stellen des Tales strahlten in blendendem Weiß, die dunkleren wie mit Violett vermischt. Jeder Zweig war so dick mit Schnee beladen, dass er sich unter der Last beugte; hin und wieder war zu hören, wie sich ein auffliegender Vogel von einem Ast abstieß und Schnee aufwirbelte. Ich stieg hinauf in den höheren Teil des Tales, wo Bäume von mächtigem Umfang dicht an dicht standen. Diese Stelle war verhältnismäßig eben und von Berggraten eingeschlossen, so dass man nicht leicht gesehen werden konnte; man musste nur achtgeben, dass man beim Holzfällen keinen Lärm machte. Genau unterhalb lag nämlich der „Feenpavillon“ Seonnyeo-gak. Ich hatte vor, trockene Zweige zu sammeln. Wenn ich nur solche Zweige abhackte, deren Nadeln schon gelblich verfärbt waren, konnte ich im Handumdrehen eine reichliche Ladung zusammenbekommen. Ich stieg vom Pfad hinab in den Wald, blieb aber plötzlich stehen. Ausgerechnet heute war mir in diesem Waldstück, in dem ich schon oft gewesen war, jemand zuvorgekommen. Von einem Feuer aus feuchtem Laub stieg dichter Rauch auf. Zwischen den Bäumen war der gekrümmte Rücken eines Mannes sichtbar. Anscheinend hatte er ringsherum den Schnee und das nasse Laub weggeräumt und dann von weiter unten trockeneres Laub zusammengescharrt. Der Platz, an dem er hockte, und die nähere Umgebung erschienen in gelbliches Licht getaucht. Er hatte auch schon viele Zweige abgebrochen und aufgestapelt; ab und zu hörte man ihn knackend einen Zweig zerbrechen. Nach seinem Feuerchen zu schließen, hielt der Mann sich schon längere Zeit dort auf. Wenn er nicht gar ein Förster war, oder ein Dieb oder ein Spion ... Jedenfalls konnte ich nicht wie vorgehabt ans Werk gehen und drehte erst mal eine Runde um den Waldrand, bis ich zu dem Schluss kam, dass ich diesen Ort besser meiden und noch weiter hinaufgehen sollte. Gerade als ich mich davonmachen wollte, rief mich unerwartet der Mann. „Heda ... hallo!“ Mitten in den Bergen von einem Unbekannten angesprochen zu werden, hat schon etwas Beunruhigendes; noch dazu hatte ich als Holzdieb ohnehin kein unbeflecktes Gewissen. Ich drehte mich um, legte die Hand auf die Brust und fragte: „Meinen Sie mich?“ Der Mann lächelte, als wollte er zeigen, dass er nicht feindlich


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gesonnen sei. „Na, Sie sind mir einer ... Wen soll ich denn sonst hier mitten im Wald rufen?“ „Und was wollen Sie von mir?“ entgegnete ich lustlos. „Wie’s ausschaut, wollen Sie mit der Axt da Holz schlagen ...“ Er hatte noch nicht ausgeredet, als mir schon ein unfreundliches ‚Kümmer dich um deinen Kram’ in den Sinn kam. Jetzt hatte ich nämlich die Gewissheit, dass er auf keinen Fall ein Förster war. Er hatte seine Strickmütze bis über die Ohren herabgezogen und trug einen schwarz gefärbten Anorak und eine Cordhose mit ausgebeulten Knien. Um die Augen und auf den Wangen zeigte er deutliche Anzeichen von Trunkenheit; vom Alter her mochte er so um die vierzig sein. „Was kümmert Sie denn das, wer hier Holz schlägt“, entgegnete ich trotzig. „Ach, nun werden sie doch nicht gleich sauer ... Ich bin doch ein ganz gewöhnlicher Mensch; kümmern Sie sich nicht um mich und schlagen Sie in aller Ruhe Ihr Holz“, gab er zur Antwort und schob sich dabei die Mütze etwas aus dem Gesicht. Sein Lachen, bei dem er viele Zähne entblößte, erschien mir recht gutmütig, so dass ich meine unnötig scharfe Antwort schon bereute. Meine Axt schlenkernd, stieg ich in das Waldstück hinab. Dort suchte ich mir mit Bedacht einen dickeren Baumstamm als sonst aus und begann auf ihn einzuhauen. Man muss ja immer wieder dieselbe Stelle treffen, aber weil ich mit der Axt ungeübt war, schlug ich ständig daneben. Als ich besonders unglücklich danebentraf, rutschte mir die Axt aus der Hand und flog ein gutes Stück davon. Hinter mir hörte ich den Mann lachen. „He, wollen Sie nicht ein Glas mit mir trinken?“ Er hob eine schon halb geleerte Literflasche Schnaps und einen Pappbecher in die Höhe. Ich wischte mir die schweißnasse Stirn und das vom Schnee benetzte Gesicht mit dem Ärmel ab und entgegnete: „Ihnen schmeckt’s ja.“ „Ich bin schon beschwipst hergekommen. Wenn ich Sie so mit der Axt hantieren seh, stellen Sie sich ja ziemlich ungeschickt an, aber wenn Sie ein Gläschen mit mir trinken wollen, dann mach ich Ihnen alles hier zu Kleinholz ... nun kommen Sie schon her.“ Mehr noch als der Gedanke an Schnaps zog mich die offenherzige Schlichtheit des Mannes irgendwie an, und weil ich auch neugierig war, was für ein Mensch das sein mochte, der an einem solchen Ort


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ganz allein seinen Schnaps leerte, hieb ich meine Axt mit Wucht in den Stamm und richtete mich auf. Er scharrte einen Haufen Laub zusammen und breitete ihn aus, um mir einen Sitzplatz zu schaffen. Mitten im Schnee ein Lagerfeuer und Schnaps dazu – das hatte schon seinen Reiz. Der Mann legte Streifen von getrocknetem Seelachs aufs Feuer und stocherte darin herum, um sie zu rösten. Dann reichte er mir einen Becher Schnaps. „Wohnen Sie hier in der Nähe?“, fragte er mich. „Deshalb bin ich ja zum Holzhacken hergekommen.“ „Aha, so ist das. Sie sind der erste, den ich seit vier Tagen hier treffe. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie fad mir war ... Aber Sie sehn nicht aus wie einer, der oft Holz hackt, dafür sind Ihre Hände zu weich.“ Ich leerte den Becher, den er mir angeboten hatte, und trank gleich noch einen zweiten. Der Mann deutete mit eigenartig glänzenden Augen ins Tal hinab. „Wohnen Sie zufällig in dem Haus da unten?“ Dabei deutete er auf das elegant geschwungene Ziegeldach des Seonnyeo-gak. Von hier hatte man einen guten Ausblick auf den weiten Hof und die weiße Steintreppe vor diesem Haus. Auf dem Parkplatz war noch nichts los. Meine Anspannung löste sich allmählich. „Nein. Wir wohnen da drüben, in den Bungalows.“ „Bungalows? Ach, Sie meinen die Siedlung mit den paar Spielzeughäusern. Da haben Sie sich ’nen schlechten Platz ausgesucht. Da lebt sich’s ziemlich unbequem.“ Ich goss mir noch einen Becher Schnaps ein und riss ein Stück vom Seelachs ab. Der Alkohol am hellichten Tag verbreitete eine wohlige Wärme. „Wir sind da eingezogen, weil die Miete billig war. Es gibt kein Wasser, keinen Strom, mit Briketts heizen kann man auch nicht – unbequem ist gar kein Ausdruck.“ „Ich komm schon seit ein paar Jahren her; hier scheint die Sonne drei, vier Stunden und das war’s. Trotzdem haben Sie Glück gehabt. An so ’nem Ort kann man innere Sammlung finden, glauben Sie mir. Sind Sie verheiratet?“ „Ja …“ Der Mann leerte noch einen Becher, rülpste und schnitt eine Grimasse. „Wenn man mit Frau kommt, ist so’n Ort doch ideal. Aber wenn Sie soviel Zeit haben, haben Sie ja wohl keine Stelle.“


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Anscheinend wollte mich der Mann im Gegenzug für die paar Becher Schnaps gern ausfragen, aber weil ich genug intus hatte, war ich auch in der passend lockeren Stimmung. „Ich ... lebe vom Schreiben.“ „Schriftsteller also, na, das ist doch ein schöner Beruf, eine schöne Arbeit.“ Jetzt war die Reihe an mir zu fragen. „Und Sie trinken zum Spaß mitten im einsamen Wald Ihren Schnaps?“ Diese Frage beschäftigte meine Neugier am meisten; doch der Mann, dem der Rausch allmählich in den Kopf stieg und die Augenlider schwer wurden, blickte bloß trübsinnig drein. „Wie ... Spaß?“ Einen Augenblick starrte er geistesabwesend vor sich hin, als sei ihm etwas eingefallen, dann wurde seine Miene wieder ernst. Er stocherte im Feuer, verzog wegen des Rauchs das Gesicht und murmelte: „Ich warte auf jemand.“ „Hier?“, fragte ich leicht spottend. „Haha, auf ’nen Saufkumpan wohl.“ Doch der Mann sah nicht so aus, als mache er Witze. „Seit drei Tagen bin ich schon hier.“ „Wie, Sie haben hier drei Nächte in der Kälte gesessen?“ „Nee, nachts schlaf ich da unten im Dorf und morgens komm ich rauf und bleibe hier, bis es Nacht wird.“ „Ja, wollen Sie hier Hasen fangen, oder was?“, zog ich ihn weiter auf, aber er wurde nur noch betrübter, verzog seine wulstigen Lippen zu einem wirklich grotesken Schmollen und begann zu weinen. Aber das dauerte nur einen kurzen Moment, dann schniefte er tief und wischte sich mit seinen groben Händen die Wangen ab. Mir wurde es langsam peinlich, dass ich mir ein paar Becher Schnaps hatte aufdrängen lassen und dafür schon am frühen Morgen irgendwelches Säufergerede anhören musste. „Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll. Sie schreiben doch Romane, da verstehen Sie so jemand wie mich bestimmt. Ich bin ja so einsam.“ Es wäre aber auch schäbig gewesen, ihn einfach stehenzulassen. Der Mann murmelte mit weinerlicher Stimme: „Ich warte da ... auf meine Frau.“ „Sind Sie hier verabredet?“ „Schön wär’s. Ich halt mich schon drei Tage hier versteckt, um sie abzupassen. Abends wart ich natürlich näher am Parkplatz.“ „Wo ist Ihre Frau Gemahlin denn?“


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„Das Weib ist mir vor ein paar Tagen dorthin weggelaufen.“ Er deutete auf den „Feenpavillon“. Ich wusste wohl, dass dort Nacht für Nacht Fräuleins zusammenströmten, die zwar nicht wie die Feen im Märchen vom Himmel herabgestiegen, aber doch fast so schön wie im Märchen waren. Der Mann kramte aus seiner Tasche einen Zettel hervor und hielt ihn mir unter die Nase. „Sehn Sie, ich hab meinen Abschied bekommen. Zwanzig Jahre lang hat das Militär mich ernährt. Bis letztes Jahr hab ich als ewiger Oberfeldwebel da draußen Dienst geschoben. Sowie ich Hauptfeldwebel geworden bin, hab ich meinen Abschied eingereicht. Vor drei Jahren hab ich endlich geheiratet. Aber das Weibsstück ist mir weggelaufen und hat den Kleinen im Stich gelassen, wissen Sie. Ich bin mit dem Kleinen überall rumgezogen und hab ihm viel Mühe und Kummer gemacht. Zuletzt musst ich ihn dann doch ins Waisenhaus geben, jetzt hab ich ’nen Gemüsehandel. Von irgendwem hab ich gehört, dass das Weib jetzt in dieser Kisaeng*-Wirtschaft ist. Wo ... wollen Sie mal sehn?“ Wieder durchstöberte er seine Tasche und förderte ein Foto zutage. „Das ist meine Frau.“ Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich das Foto. Der Oberfeldwebel, wesentlich wohlgenährter als jetzt, und ein Mädchen in Schuluniform mit zwei Zöpfen waren in einem herzörmigen Rahmen Schulter an Schulter abgebildet. Darunter stand: „Liebe auf ewig!“ Die Frau hatte große Augen und war mit ihrem offenen, unschuldigen Lächeln eine echte Schönheit. Der Mann betrachtete das Bild noch einmal, dann verstaute er es sorgfältig in seiner Tasche und fragte: „Wie gefällt sie Ihnen?“ „Sie ist wirklich hübsch.“ „Alle haben mich um sie beneidet. Aber wenn ich dran denke, dass das Weibsstück da unten ... mit den Männern ... alle möglichen Sachen treibt, dann könnt ich verrückt werden.“ Ich konnte ihm nichts entgegnen. Plötzlich ergriff er meine Hand. „Wenn ich das Weib zu sehen bekomm, erstech ich sie womöglich.“ Ich überlegte noch, was ich darauf sagen sollte, als er schon fortfuhr: „Nein, das nicht. Dazu hab ich doch nicht genug Bosheit im Leib. Wenn ich sie zu sehen bekomme, werden mich alle Kräfte verlassen ... auf den Knien werd ich sie anflehen ... dass sie zu mir zurückkommt.“ Die letzten Worte brachte er nur noch schluchzend hervor, das Gesicht


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zwischen den Ärmeln vergraben. Ich überlegte, ob ich ihm etwas über das Leben erzählen sollte, hatte aber nicht den Mut dazu. Es kam mir vor, als sei ich nicht berechtigt, über dieses Thema zu reden, wo ich das wahre Leben noch gar nicht kennengelernt hatte. In solchen Augenblicken wünschte ich mir, ein wahrer Schriftsteller zu sein. So konnte ich nur grob werden. „Also hören Sie mal. Mit Weinen erreichen Sie doch nichts, oder? Lassen Sie sich doch von so einer nicht zum Narren halten. Sie müssen sie vergessen und irgendwo eine einfache Frau finden, mit der Sie Ihr Kind großziehn können; was wollen Sie denn mit der noch anfangen? Ist doch verlorene Liebesmüh.“ „Nein, nein. Auf keinen Fall. Ich liebe auf der ganzen Welt einzig und allein die Mutter meines Buben.“ „Na ... fangen Sie nicht damit an ... Sie haben wohl ein bisschen zu tief ins Glas geschaut. Kommen Sie, gehn wir. Kommen Sie mit zu mir, schlafen Sie sich gut aus und dann ... können Sie heimgehen.“ Ich wusste kein Mittel, mit dem besoffenen Kerl fertigzuwerden. Schließlich griff ich ihm unter die Arme, um ihn einfach fortzuschleifen, aber er sträubte sich und machte sich völlig steif. Im Stillen verfluchte ich den bockigen Kerl unzählige Male. „Lassen Sie mich los, loslassen!“, protestierte er strampelnd. „Lassen Sie mich um Himmels willen in Ruhe, sag ich.“ Auch mir wurde die Sache lästig – er hatte mich zwar gerufen, um mir sein Herz auszu-schütten und sich seine Last von der Seele zu reden, aber jetzt wurde ich offensichtlich nicht mehr gebraucht. Ich ließ ihn stehen, zündete mir in einiger Entfernung eine Zigarette an und wartete, dass seine Erregung nachließ. Schließlich stand der Mann auf und klopfte seine Kleider ab, dann pinkelte er mitten in den Schnee. Gegenüber vorhin schien er sich deutlich beruhigt zu haben. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Wie sieht’s aus? Wollen wir gehen? Wenn Sie noch ein Gläschen trinken möchten, dann kommen Sie doch in meine bescheidene Hütte. Meine Frau macht Ihnen gern eine warme Suppe.“ „Danke sehr, aber ich muss ins Dorf zurück.“ Er wirkte so klar wie ein Epileptiker nach einem überstandenen Anfall. „Das ist eine gute Idee. Tun Sie das.“


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Wir zwei Trunkenbolde rutschten durch den Schnee den Berggrat hinab. Wo der Weg zu den Bungalows vom Weg ins Dorf abzweigte, riss er die Hand zum Gruß hoch. „He, Herr Schriftsteller, machen Sie aus meiner Geschichte einen Roman.“ „Na, selbstverständlich“, gab ich zurück, etwas verblüfft über seine sonderbare Munterkeit. „Sie gehen doch nach Hause?“ Damit verabschiedeten wir uns. Bis dahin hatte ich nicht im Entferntesten daran gedacht, die Geschichte dieses Burschen zu verwenden. Berauscht vom morgendlichen Schnaps legte ich mich hin, wachte erst am späten Nachmittag wieder auf und musste notgedrungen vom Vermieter auf Pump Holz kaufen, um einheizen zu können. Es schneite wieder. Als es dämmerte, sah ich die Arbeiter des Seonnyeo-gak mit großem Radau die Zufahrtsstraße vom Schnee räumen. Vom frühen Abend an riss dann die Reihe der Taxis, die „Unterhaltungsdamen“ brachten, nicht ab, und als es ringsherum stockdunkel geworden war, begannen die Touristenbusse heranzurollen. Auf dem Heimweg war ich spätabends ein paarmal solchen Touristenbussen oder Autos von Reisegesellschaften begegnet. Hinter den Fensterscheiben waren die ausdruckslosen Gesichter von bebrillten, mit Kameras bewaffneten Männern aus unserem östlichen Nachbarland blitzartig aufgetaucht und gleich vorbeigerauscht. Manchmal sangen sie auch im Chor und händeklatschend irgendwelche unverständlichen Lieder. Wenn die Sperrstunde nahte, glitten Taxis, jeweils besetzt mit einem dieser Männer und einer der „Prinzessinnen“, hinaus in die Dunkelheit. Die Stadt schien irgendwo dort unten in der Tiefe festzustecken. Irgendwie war ich an diesem Abend so durcheinander, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte, und Lust zum Schreiben hatte ich auch nicht. Aber in Wirklichkeit fürchtete ich mich davor. Gegenüber im Tal, wo der Seonnyeo-gak stand, strahlten wie jede Nacht die Glühlampen und ertönte bis morgens früh die Musik der Tanzkapelle. Ich löschte unsere Öllampe. Dann im Dunkeln kam es mir so vor, als hörte ich auf dem Dachvorsprung einen gerade wachgewordenen Vogel mit den Flügeln schlagen. Ob er aus den fernen Bergen herbeigeflogen war? Oder hatte irgendein Herumtreiber unter diesem ärmlichen Dach sein Nest gebaut? Plötzlich hatte ich die alberne Vorstellung, es sei


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womöglich der legendäre Vogel aus dem Schneegebirge, von dem die buddhistischen Fabeln erzählen. Der Vogel, der jede Nacht vor Kälte zittert und verkündet, ein Nest bauen zu wollen, sobald es tagt, der aber alles wieder vergisst, wenn es tatsächlich Morgen wird. Der sich tagsüber sagt: Wozu soll ich für meinen vergänglichen Leib ein Nest bauen? Und der es jede Nacht aufs Neue bereut. Es war ein sehr milder, angenehmer Tag etwa eine Woche später. Meine Frau wusch am Bach, der endlich vom Eis befreit war, die Wäsche. Ich kam gerade aus dem Bungalow, um eine Ladung Holz zu holen, als ich auf der Treppe unsere Hauswirtin traf, die aufgeregt gestikulierte. „Wohin wollen Sie denn so eilig?“, grüßte ich sie. Sie sah mich mit weit geöffneten Pupillen an. „Ja, da ist jemand gestorben, hab ich gehört.“ „Wo denn?“ „Da drüben, im Wald hinter dem Seonnyeo-gak hat er sich aufgehängt, heißt es.“ Ich hielt den Atem an. „Wann soll das passiert sein?“ Die Frau schnitt eine Grimasse und spuckte aus. „Wer weiß das schon? Im Winter findet man ja sogar welche, die schon einen Monat tot sind.“ Vor dem Feenpavillon war ein weißer Krankenwagen zu sehen, den Frauen und Kinder umringten. Eine Trage wurde den Hang herabgebracht, gefolgt von einem Polizisten. Die Trage war mit einem weißen Tuch bedeckt. „Ts, ts, sich aufzuhängen ...“, murmelte ich unbewusst. Auf der Treppe stehend, rührte ich mich nicht von der Stelle, bis die Trage in den Krankenwagen eingeladen wurde. Ich war nicht in der Lage, hinabzugehen und mich zu vergewissern. Es war auch gleich, wer der Tote war. Der Wagen mit dem Leichnam fuhr langsam ab. Der Nordwind wehte die ganze Nacht und unsere Hütte rumpelte und knarrte, als wolle sie fortfliegen. Ich saß bis Tagesanbruch bei gelöschter Lampe neben meiner friedlich schlafenden Frau, die ich nicht zu wecken wagte, und wartete, dass es hell wurde.


정영문 Jung Young Moon Mondestrunken Roman Aus dem Koreanischen übersetzt von Philipp Haas und Lee Byonghun. Mit einem Nachwort von Philipp Haas. Herausgegeben und Umschlaggestaltung von Juana Burghardt. Einband, broschiert 191 Seiten 19,0 × 15,0 cm 17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 20,00 sFr Edition Delta, Stuttgart ISBN 978-3-927648-43-2 www.edition-delta.de/koreanische-literatur/jung-young-moon-mondestrunken/


정영문 Jung Young Moon Mondestrunken Aus dem Koreanischen von Philipp Haas und Lee Byong-hun



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Jung Young Moon

Mondestrunken

Ich mache erneut eine Pause, obwohl mich B diesmal nicht unterbrochen hat.

Dann denke ich darüber nach, wie ich die Geschichte, die ich erzähle, an ein Ende bringen kann. „Da näherte sich mir plötzlich jemand und fing an, auf das Meer hinausblickend ein Lied zu singen, als ob es für mich wäre. Er sang voller Inbrunst, wie ein richtiger Sänger. ‚Ganz wie ein richtiger Sänger‘, dachte ich mir. Freilich war es kein Lied, das sich dafür eignete, einfach so am Meeresstrand gesungen zu werden. Ich sah mir den Sänger an und dachte, dass es gut zu ihm passen würde, wenn er blind wäre. Aber er hielt seinen Blick gerade nach vorne gerichtet. Und an irgendeiner Stelle mitten im Lied hörte er plötzlich zu singen auf. Daraufhin sah er mich an, als könnte er nur meinetwegen nicht weitersingen. Und dann lief er rasch davon. ‚Was für seltsames Volk es nicht gibt!‘, dachte ich mir.“ „Warst nicht vielmehr du es, der das Lied gesungen hat?“, fragt B. „Nach einer Weile sah ich, dass der Kerl, der mich vorhin nach dem Weg gefragt hatte, wieder die Treppe heraufkam. Als er ganz oben angekommen war, stellte ich mich plötzlich vor ihn hin und wollte ihn fragen: ‚Habe ich Sie erschreckt? Genau das war nämlich meine Absicht, und wie ich sehe, ist es mir auch gelungen.’ Danach wollte ich ihn, falls er nicht allzu erschrocken dreinschaute, noch fragen: ‚Haben Sie die Möwen gesehen, besonders die über dem Wasser schwebenden Möwen?’ Zweifellos hätte er darauf wirres Zeug geantwortet: Das Meer, dieses Licht, die nach dem Aufruhr des Herzens sich legenden Wellen... Die Drohgebärden von vorhin würde er diesmal unterlassen. Wir würden uns ein bisschen unterhalten. Er würde vor allem über das Meer sprechen. Und an jeden Satz würde er ein ‚Verstehen Sie, was ich meine?’ anhängen. Und ich würde erwidern: ‚Ich verstehe gut, warum Sie über das Meer sprechen. Am Meer macht man sich Gedanken über das Meer. Das ist ganz natürlich. Es ist eben schwer, sich am Meer Gedanken über einen See zu machen. Auch wenn es natürlich sein kann, dass man sich an einem Meer, das wie ein See aussieht, Gedanken über einen See macht. In diesem Fall könnte man sich sagen, dass dieses Meer mehr einem See gleicht als einem Meer.‘ Er würde einfach weiter über das Meer reden. Dann würde er plötzlich das Thema wechseln und von etwas erzählen, das ihm wiederfahren ist. ‚Es war doch offensichtlich, dass ich keinerlei Absicht hatte, zu attackieren’, würde er sagen. ‚Wen denn attackieren?’, würde ich fragen, woraufhin er meinte: ‚Na, jeden, alles.’ Und dann würde er plötzlich aufhören zu sprechen, so als wüsste er nicht mehr, warum er sich überhaupt mit mir unterhielte, würde


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mich kurz ansehen und dann, ganz ohne zu grüßen, einfach weggehen. Ich würde ihn da am Ellbogen packen und zurückhalten, jedoch würde mir nichts Rechtes einfallen, was ich sagen könnte. Da würde er mich anders als vorhin mit stechendem Blick ansehen. ‚Ohne Zweifel‘, würde ich mir sagen, ‚legt er dieses bedrohliche Gehabe absichtlich an den Tag, denn es stimmt ja, dass mir seine Drohgebärden in Wahrheit gefallen.‘ In Wirklichkeit aber kam er sehr langsam die Treppen herauf, da ihn das Treppensteigen offenbar anstrengte. Als er schließlich ganz oben angekommen war, fragte ich ihn nichts. Er schnaufte heftig und entfernte sich. Er ließ mich zurück, entfernte sich von mir. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, sagte mir aber, dass nicht zu wissen, was man tun sollte, gar nicht so schlimm war, wie man meinte.“ „Na, da hast du dir ja wieder mal eine tolle Geschichte ausgedacht, von der du selbst gar nicht weißt, was für unerwartete Wendungen sie nimmt!“, sagt B. „Und jetzt erzähle ich dir, was auf dem Weg hierher passiert ist. Als ich die Gegend in der Nähe des Parks erreichte, traf ich auf einen Hund. Es war ein Hund, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er lag am Straßenrand platt auf dem Bauch. Er zitterte aber nicht vor Kälte, denn kalt war es ja nicht. Ich blieb also eine Weile vor ihm stehen. Er sah gebannt zu mir herauf. Ich starrte mit demselben Blick zurück. Und ich sah ihn mir genau an. Ich fand, dass er wirklich ganz wie ein Hund aussah. Als ich meinen Kopf zur Seite drehte, drehte auch er seinen Kopf zur Seite. Irgendein Passant sah zu uns herüber. Ich blickte wieder hinunter zu dem Hund. Und er sah wieder zu mir herauf. Ich sah hinunter zu dem zu mir aufblickenden Hund und fand, dass dieser Hund nach nichts als nach Hund aussah. Er lag immer noch da, richtete sich nicht auf. ‚Schafft es dieser Hund denn von alleine, sich aufzurichten?‘, dachte ich. In dem Augenblick richtete sich der Hund auf. Dabei sah er mich immer noch an. Ich aß gerade etwas in Papier Eingewickeltes.“ Ich mache eine kurze Pause. „Was denn?“, fragt B. „Tintenfischtentakel. Weil ich nämlich manchmal in Papier eingewickelten Tintenfisch als Imbiss mit mir herumtrage.“ „Ach so? Hab ich da was nicht mitgekriegt? Soviel ich weiß, isst du doch gar keinen Tintenfisch.“ „Der Bursche sah mich immer noch an. Der Sabber floss ihm aus dem Mund. Und er blinzelte. Aber gebellt oder mit dem Schwanz gewedelt hat er nicht.“ „Und dann?“ „Dann hab ich zu dem Hund gesagt, dass er mal bellen solle, und dass ich


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ihm, wenn er wirklich bellte, sehr wohl einen Tentakel abgeben könnte. Der Hund bellte aber nicht. Also schwenkte ich einen Tintenfischtentakel vor seinen Augen hin und her und meinte zu ihm: ‚Da du ja nicht gebellt hast, darfst du auch nicht daran denken, das hier zu fressen!’ Der Bursche bewegte seinen Kopf synchron mit dem schwankenden Tintenfischtentakel hin und her, bellte aber nicht.“ „Und dann?“ „Dann hab ich den Burschen Tintenfisch kauend ruhig angeschaut. Er sabberte wieder drauflos und sah mir zwinkernd dabei zu, wie ich ihm Tintenfisch kauend ruhig zusah. Da wurde mir plötzlich bewusst, dass ich gerade dabei war, die Beine von irgendetwas im ganzen Stück zu essen, aber dieses Bewusstsein führte zu keiner neuen Einsicht. Ich sah wieder den Hund an, der von meinen Tintenfischtentakeln abbekommen wollte. Ich hätte ihm ja ein, zwei Beinchen abgeben können, aber ich tat es nicht. Weil ich mir dann nämlich gedacht hätte, dass, was ich esse, auch die Hunde fressen. Nein, der Grund war vielmehr, dass ich mir gedacht hätte, dass ich aß, was auch die Hunde fraßen. Nein, auch das war nicht der Grund, weshalb ich dem Tier nichts abgab. Ich gab ihm bloß so nichts ab. Ich hatte eben keine Lust, ihm was abzugeben.“ „Und dann?“ „Der Bursche stand sabbernd und zwinkernd, aber doch ruhig vor mir da. Ohne zu bellen, ohne mit dem Schwanz zu wedeln und ohne sich von der Stelle zu rühren. Also fragte ich mich, ob es sich bei dem Hund vielleicht um einen Hund handelte, der sich zwar aufrichten, sich aber nicht fortbewegen konnte. „Und dann?“ „Dann ging ich ganz ruhig von dort weg. Nein, da war noch was, ehe ich wegging. Ich dachte mir, dass ich nun also weggehen und diesen bemitleidenswerten Hund alleine zurücklassen musste. Aber da spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz im Knie und konnte mich keinen Schritt wegbewegen. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr rühren. Im Gesicht spürte ich krampfartige Zuckungen. Und mir wurde ganz schwarz vor Augen. Es kam mir so vor, als hätte ich irgendeine Grenze erreicht. Darauf reagierte ich irgendwie, hätte ich eigentlich reagieren müssen...“ „Wie reagieren?“ „Ich konnte überhaupt nicht darauf reagieren!“ „Wie ging es also weiter?“ „In dieser schwierigen Lage dachte ich über meine enormen Schwierigkeiten


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nach – was freilich keine Hilfe war – und fragte mich: Was, wenn tatsächlich ich derjenige bin, der hier auf genau diese Art und Weise in der Klemme steckt, wenn ich selbst es bin und also kein anderer als ich – was um Himmels Willen mache ich denn dann?!‘ Dabei betrachtete ich den ruhig dastehenden Hund, ohne meine Augen von ihm abzuwenden. Und dann sagte ich mir: ‚Sieh einer an, vor mir steht ein Hund und sieht mich mit erwartungsvollem Blick an.‘ Denn genau das war ja der Fall: Ein Hund stand vor mir und sah mich mit erwartungsvollem Blick an. Und ich dachte auch darüber nach, wozu all die Wiederholungen von all den unsinnigen Gedanken, Wörtern und Sätzen, die ich mir ausdachte, eigentlich gut waren. Und irgendwann – vielleicht hatten die Gedanken und das Verhalten ja geholfen – verschwand der Schmerz und ich konnte wieder gehen. Ich ging aber nicht gleich wieder. Ich blieb eine Weile so stehen und prägte mir alles, was mir da eben wiederfahren war, gut im Gedächtnis ein, um es später im Falle noch größerer Schwierigkeiten abrufen zu können.“ Sie fragt diesmal nicht Und dann?, sondern sieht mich nur an. „Dann ließ ich den Burschen, den ich sabbern und zwinkern gemacht hatte, einfach so stehen und ging weg. Und zu guter Letzt rief ich ihm noch ein paar Worte zu: ‚Bleib, wo du bist, und sabber rum, wenn es dir Spaß macht – und auch, wenn es dir keinen Spaß macht!‘ Als ich dann aber, nachdem ich schon ein ordentliches Stück gegangen war, zurückblickte, trottete er irgendwohin weiter.“ „Du willst mir also weismachen, dass dir das alles während deines Spaziergangs passiert ist?“ „Ja. Ich hab den Burschen, der mir unbedingt folgen wollte, jedenfalls nicht davon abgehalten.“ „Irgendwie kommt mir vor, dass du gar nicht von den Dingen erzählst, die wirklich passiert sind.“ Einen Augenblick lang sage ich gar nichts und rekapituliere, was ich vor kurzem erzählt habe. Es fühlt sich für mich nun nicht mehr so an, als wäre es wirklich passiert. „Außerdem weiß man gar nicht, worum es in deiner Erzählung überhaupt geht“, sagt B. „Weil ich nichts Bestimmtes erzählen wollte.“ „Wenn es darum geht, nichts Bestimmtes zu erzählen, bist du wirklich unschlagbar.“ B sieht mich an, als würde sie mich verstehen, oder würde es jedenfalls versuchen.


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„Möchtest du was essen?“, fragt sie und sieht mich an. „Ich weiß nicht. Ich kann schon essen“, sage ich und sehe sie an. „Isst du also oder isst du nicht?“ „Ich hab nicht gesagt, dass ich esse, nur, dass ich essen kann.“ Eine Weile lang sagt B nichts. „Was essen wir denn? Worauf hast du denn Lust?“, fragt B. „Egal was.“ Sie aber steht nicht von ihrem Platz auf, um etwas Essbares zu holen. „Ach, lass nur. Lass uns gar nichts essen“, sage ich. „Oder möchtest du eine Tasse Tee?“ „Das ist eine gute Idee!“ Sie steht auf und geht in die Küche. Bald darauf kommt sie mit Tee und Gebäck zurück. „Aber du weißt doch, dass ich kein Gebäck esse.“ „Das Gebäck ist für mich. Aber weshalb isst du eigentlich kein Gebäck?“ „Weißt du denn nicht, dass ich Diabetes habe?“ „Ich hatte keine Ahnung.“ „Ich habe es allerdings selbst erst neulich erfahren.“ „Ist es schlimm?“ „Kein besonders schlimmer Grad. Aber es kann sich jederzeit verschlimmern. Bitte, pass gut auf, dass ich das Gebäck nicht anrühre und auch nicht anschaue, ja, nicht einmal daran denke!“ Sie steckt sich ein Stück Gebäck in den Mund und schenkt dann den Tee in die Tassen. Ich trinke einen Schluck von dem Tee. „Ein guter Tee! Finde ich jedenfalls. Auch wenn ich nicht allzu viel von Tees verstehe“, sage ich. „Es ist kein besonders guter Tee.“ „Aber auch kein besonders schlechter.“ „Ich habe diesen Tee selbst auf einer Teeplantage gepflückt.“ „Auf einer Teeplantage?“ „Ich bin in den Süden zu einer Teeplantage gefahren.“ „Mit wem?“ „Mit einer Freundin.“ „Jemand, den ich kenne?“ „Mit einer Freundin, die du nicht kennst.“ „Wann denn?“ „Vor einiger Zeit.“


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„Davon hast du mir gar nichts erzählt!“ „Wir sehen uns heute das erste Mal seither.“ Ich trinke noch einen Schluck Tee. „Schmeckt nicht schlecht“, sage ich. „Es gibt bessere Tees.“ Ich schaue eine Weile durchs Fenster nach draußen. Auf der Gasse draußen ist alles ruhig, nichts Vorübergehendes fällt ins Auge. „Nach meinem Spaziergang von vorhin stand ich an einer Straßenecke und dachte mit geschlossenen Augen darüber nach, wie es wäre, wenn ich erblinden würde“, sage ich. „Neulich hab ich im Fernsehen eine Sendung über einen Blinden gesehen. War interessant. Er sieht die eigene Hand vor Augen nicht und hat doch das Dach seines Hauses repariert. Er ist über eine Leiter auf das Dach gestiegen und hat das Dach neu gedeckt.“ „Jetzt hast du also das Thema gewechselt...“ „Und Fahrrad fahren kann er auch! Er schwankte zwar, aber umgefallen ist er nicht. Und er hat alleine einen Säugling aufgezogen.“ „Hat er keine Frau?“ „Die Frau hat die beiden verlassen, als das Baby sechs Monate alt war.“ „Aber was soll ich machen, wenn ich wirklich das Augenlicht verliere?“ „Dann kannst du die Nacht nicht mehr vom Tag unterscheiden.“ „Wenn man an einer Ampel wartet und jemand sieht einen von der Seite mitleidig an, bemerkt man das auch nicht mehr!“ „Flecken auf der eigenen Kleidung bemerkt man auch nicht mehr!“ „Und wenn einem ein schäbiger Bettler, der selbst kaum noch etwas sieht, die Hand hinhält, bemerkt man es auch nicht!“ „So etwas nicht zu bemerken, ist ohnehin besser.“ Aus der Entfernung ist schwach der Lärm von Bauarbeiten zu hören. „Jetzt wird sich auch diese Gegend hier sehr verändern, nicht wahr?“, meine ich. „So ist es.“ „Ich weiß noch, wie ich durch die Felder lief, bevor die Fabriken kamen. Wie ich nach vierblättrigem Klee suchte und in dem sumpfigen Schilfgebiet herumlief.“ „Zu der Zeit stand doch überall Schilf im Überfluss!“ „Nicht überall. Das Schilf stand nur in Gegenden, wo ein Fluss ins Meer mündete. „Wirklich?“ „Zu einer bestimmten Zeit im Jahr – es war wohl im Herbst – hatten die


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Fischer am Fluss alle Hände voll zu tun, die an die Flussmündungen heraufgewanderten Aale aus dem Wasser zu fischen.“ „Wirklich?“ „Aal schmeckt wirklich lecker. Und gibt einem Kraft!“ „Ich bin, wann immer ich Zeit hatte, auf den Hügel hinauf und hab mir alles von dort oben angeschaut. Den Fluss und das Meer, in das er mündet, das Flussdelta und die Flamingoschwärme, die das Delta jedes Jahr zur selben Zeit besuchten: Es war ein beeindruckendes Schauspiel, dieser Tanz der Flamingos in Formationen.“ „Es gab dort Flamingos?“ „Na klar! So viele, dass der ganze Himmel voll davon war.“ „Na, ich hab jedenfalls nie welche gesehen.“ „Versteh ich nicht, wie du diese vielen Flamingos übersehen konntest. Aber weißt du eigentlich, warum die Flamingos pink sind?“ „Keine Ahnung.“ „Es kommt daher, dass sie sich hauptsächlich von rosafarbenen Garnelenlarven ernähren.“ „Wirklich?“ „Na klar.“ „Als Student hab ich auf dem Hügel, von dem man aufs Meer runtersieht, Gedichte von Yeats gelesen. Es war der ideale Ort dafür.“ „Eher andersrum: Über seine Gedichte lässt sich gut sagen, dass man sie an einem solchen Ort gelesen hat.“ „Dabei bin ich immer wieder eingeschlafen. Nein, ich bin nicht richtig eingeschlafen, ich schloss einfach nur die Augen und überließ den Körper ganz jenem Moment der Behaglichkeit, da der ganze Körper von der herandrängenden Schläfrigkeit erfasst wird. Der Moment kurz vor dem Einschlafen, wenn am ganzen Körper ein Prickeln zu spüren ist.“ Wir saßen eine Weile schweigend da. „Der Plan, den Fluss an der Mündung aufzugraben und einen Kanal zu bauen, wurde fallen gelassen.“ „Stimmt. Dabei wäre es eine feine Sache gewesen, an diesem neu gebauten Kanal den vorbeifahrenden Schiffen zuzusehen.“ Ich denke an den Kanal, der nie gebaut werden wird. „Weißt du noch, wie wir manchmal auf den Hügel über dem Fluss gestiegen sind?“, fragt B. „Dort haben wir uns auch zum ersten Mal geküsst!“


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„Haben wir das? Daran erinnere ich mich nicht mehr.“ „Ich erinnere mich jetzt noch daran. Während ich an deinen Lippen hing, habe ich eine deiner Brüste gestreichelt. Und mir dabei gedacht: ‚Das ist also eine der Frauenbrüste, die ich bislang nur vom Hörensagen kannte.’ ‚Kleiner, als ich dachte’, dachte ich. Und obwohl mir zwei Stück in Wirklichkeit schon reichten, dachte ich mir: ‚Also nur zwei Stück.’“ „Der letzte Satz kommt mir vor, als hättest du ihn dir nur ausgedacht.“ „Stimmt, den hab ich mir tatsächlich nur ausgedacht.“ „Wir schauten da in den blauen Himmel und sprachen über das, was vor uns lag. Über unsere Pläne und Wünsche.“ „Ich glaub nicht, dass es so gewesen ist. Sowas wie Pläne und Wünsche hatten wir damals gar nicht.“ Ich empfinde jene Zeit, von der wir sprechen, als viel zu fern. „Meist hab ich dort gedankenversunken aufs Meer hinausgestarrt“, sage ich. „Das Meer ist gedankenversunken gut anzuschauen.“ „Und ab und zu ging ich hinunter ans Flussufer und schaute den Dingen nach, die auf dem Fluss weggeschwemmt wurden, um dabei diese Dinge im Geiste auch treiben zu lassen.“ „Wieso sprechen wir eigentlich plötzlich über die Jugendzeit?“ „An eins erinner ich mich noch: An einem Regentag hab ich vom Hügel aus gesehen, wie durch eine Lücke in der Wolkendecke eine helle Lichtsäule über der Bucht stand!“ B hat inzwischen die Augen geschlossen. „Dann und wann denke ich an diese Zeit zurück. Daran, wie wir damals waren“, sagt B und öffnet die Augen. „Wie wär’s, wenn wir mal etwas zum Essen in einen Korb packen, um auf diesem Hügel mit Meerblick ein Picknick zu machen?“ „Und eine Flasche Alkohol!“ Aber nachdem ich es ausgesprochen habe, kommt mir diese Geschichte vom Picknick mit Alkohol dann wie eine sehr traurige Geschichte vor. „Als ich um die dreißig war, hab ich mir mal vorgestellt, wie es sein würde, wenn ich eines Tages tatsächlich doppelt so alt und also sechzig Jahre alt würde. Jetzt, wo ich wirklich sechzig werde, fällt mir das wieder ein“, sagt B. „Ist es nicht lustig, dass auch die menschliche Sprechstimme altert? Wenn ich mich sprechen höre, denke ich mir manchmal: ‚Das ist ja die Stimme eines alten Menschen!’“ Eine Weile lang sitzen wir da, ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile steht


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B auf, geht ins Schlafzimmer und kommt mit etwas in der Hand wieder heraus. „Beim Aufräumen des Schreibtischs hab ich dieses Foto entdeckt“, sagt B. Sie reicht mir ein Foto herüber. Zwei Mädchen stehen auf einem Hügel, eine Pinie bildet den Hintergrund. „Wer ist das?“ „Das bin ich. Sieht aber nicht wie ein Foto von mir aus. Versteh ich gar nicht. Dass ich so ein Foto gemacht hab. Komisch, dieser Hintergrund! Und auch der Gesichtsausdruck wirkt verkrampft.“ „Ist das neben dir nicht deine ältere Schwester?“ „Stimmt.“ „Da erinnere ich mich plötzlich wieder an deine Schwester. Und daran, wie sie gestorben ist.“ „Das ist schon lange her.“ „Ja, es ist lange her.“ „Aber wie war das nochmal, woran ist sie eigentlich gestorben? Ich kann mich nicht mehr erinnern.“ „Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben. Ganz plötzlich.“ „Stimmt, so war’s! Auch ich bin etwas erschrocken, als ich diese Nachricht gehört habe. Jemand, den man gekannt hat. Weil sie so plötzlich gestorben ist. Auch wenn ich nur vom Hörensagen weiß, dass sie ein paar Tage vorher noch blendend ausgesehen haben soll.“ „Es war ein furchtbarer Schock.“ „Habt ihr in eurer Familie nicht alle ein schwaches Herz?“ „Keine Ahnung.“ Ich sehe mir die Gesichter auf dem Foto genau an. Von den beiden Personen auf dem Foto ist die eine schon gestorben und die andere noch am Leben. Dabei sehen die Gesichter auf dem Foto gar nicht so aus, als gehörten sie zu Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensverläufen. „An manches von dem, was deine Schwester gesagt hat, erinnere ich mich bis heute. Sie hat unvergessliche Dinge gesagt.“ „Was für Dinge denn?“ „Irgendwelche Dinge eben.“ Wir unterhalten uns wie Schauspieler auf einer Theaterbühne. „Doch nichts, was sie über mich gesagt hat?“ „Nein.“ „Ich erinnere mich an ein Erlebnis mit deiner Schwester. Es ist etwas, was mir immer, wenn ich an deine Schwester denke, einfällt. Wir waren an jenem Tag


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draußen auf den Feldern. Es war Nacht und es wurden Feuerspiele gespielt. Vielleicht war es ja am Neujahrstag. Da setzte irgendjemand mit einer Fackel das Feld in Brand. Es ging Wind und das Feuer breitete sich schlagartig auf die Umgebung aus. Und irgendwie fing der Rock deiner Schwester Feuer.“ „Das ist wirklich passiert? Davon hatte ich keine Ahnung.“ „Keine Ahnung? Du musst doch auch dabei gewesen sein!“ „Wohl kaum. Wenn ich dabei gewesen wäre, wüsste ich doch wohl davon!“ „Ich weiß nicht mehr, ob sie Brandwunden am Gesäß davongetragen hat oder nicht.“ „Mir sind nie Spuren von Brandwunden an ihrem Hintern aufgefallen.“ „Jedenfalls hab ich mir von da an immer diese Narben von kleinen Brandwunden am Hintern deiner Schwester vorgestellt. Von wegen, dass es sich also, wenn jemand am Hintern Narben von Brandwunden hätte, bei dieser Person um deine Schwester handeln müsste.“ „Na, sieh mal einer an. Hattest du meine Schwester etwa gern?“ „Klar hab ich sie gern gehabt.“ „Und mich hast du auch gern gehabt, wie?“ „Klar hab ich dich gern gehabt.“ „Sie hat mir mal gesagt, dass sie dich mochte.“ „Zu mir hat sie das nie gesagt.“ Ich gebe mir Mühe, mich in jene Zeit zurückzuversetzen. „Einmal bin ich ihr zufällig auf der Straße begegnet. Während es um uns dunkler und dunkler wurde, sind wir uns da eine Zeit lang gegenübergestanden“, sage ich. „Und?“ „Ich hab ihr da eine Frage gestellt.“ „Welche Frage hast du gestellt? Was hast du sie gefragt?“ „Ich hab sie gefragt, wo sie herkommt. Darauf meinte sie, sie käme vom Markt. Da wusste ich nicht mehr, was ich noch sagen sollte. Damals war ich jedes Mal, wenn ich deiner Schwester begegnet bin, furchtbar aufgeregt. Auch in jenem Moment fühlte ich meine Hände feucht werden. Es war eine Situation, die einem Schneid abverlangte, und also fragte ich mich, was dieser sogenannte Schneid eigentlich war.“ „Damals hast du über solche Sachen nachgedacht?“ „Das war in dem Augenblick alles, woran ich denken konnte! Sie und ich, wir sagten beide kein Wort und sahen einander nur an. Wir wussten nun einmal beide nicht recht, was wir sagen sollten. Aber sie hatte da etwas in der


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Hand. Also hab ich sie gefragt, was sie da in der Hand hielt.“ „Und was hat sie gesagt?“ „Sie hat mich gefragt, wonach es denn aussähe. Ich hab gesagt, dass ich es nicht erkennen könnte. Da hat sie gemeint, es wäre Fisch. Sie hat aber nicht gesagt, was für ein Fisch. Weil ich sie nicht danach gefragt habe. Sie blickte vorsichtig in die Papiertüte, in der der Fisch war, und meinte, der wäre fürs Abendessen. Ein wenig roch es auch nach Fisch. Ich sagte: ‚Also gibt es bei euch zu Hause heute Fisch zum Abendessen, für die ganze Familie?‘ Daraufhin nickte sie.“ „Und was ist dann passiert?“ „Dann haben wir uns verabschiedet. Ich blieb noch eine Weile an der Stelle stehen und sah ihr nach, wie sie sich entfernte.“ „Ist das alles?“ „Ja. Ich hab sie nur gefragt, was sie da in der Hand hielt, nichts weiter. Dennoch ist mir diese Erinnerung unvergesslich. Diese bedeutungslose Erinnerung. Die Erinnerung an die Geschehnisse jenes Abends, an dem eigentlich gar nichts Besonderes geschehen ist, außer dass wir, was wir uns zu sagen hatten, nicht herausbrachten.“ Ich nehme noch einen Schluck von dem Tee, der in der Zwischenzeit ganz kalt geworden ist. „Ich möchte auch gern mal zu der Teeplantage fahren, auf der du warst.“ „Jetzt ist dafür nicht die richtige Zeit. Es war natürlich auch zu der Zeit, als ich dort war, nicht die richtige Zeit, aber es ist ja auch nicht weiter schlimm, wenn es nicht die richtige Zeit ist. Auch wenn es natürlich besser ist, wenn es die richtige Zeit ist.“ Von draußen vor dem Fenster hört man die Rufe fahrender Händler, die auf ihren Lastwagen Waren zum Verkauf anbieten. Wir drehen die Köpfe und sehen durch das Fenster nach draußen. „Es wäre schön, wenn ich eines Tages so im Schaukelstuhl sitzend und die Geräusche von draußen auf der Gasse hörend über dem Gedanken, was ich heute Abend denn essen soll, friedlich entschlafen würde“, sagt B. „Was isst du denn heute Abend?“ „Das weiß ich noch nicht.“ Ich möchte mich jetzt auf den Heimweg machen und stehe von meinem Platz auf. „Ich muss jetzt gehen.“ B hält mich nicht zurück. Sie sagt nicht, dass ich noch zum Essen bleiben soll.


Zehn koreanische Autorenporträts 김선우 Kim Sun-Woo 신달자 Shin Dal Ja 박희진 Park Hijin 마종기 Mah Chonggi 퇴계 Toegye (Lee Hwang/ Yi Hwang) 김훈 Kim Hoon 채만식 Chae Manshik 김유정 Kim Yujong 황석영 Hwang Sok-Yong

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KIM SUN-WOO,

geboren 1970 in Gangneung, Provinz Gangwon, studierte an der Gangneung-Universität Koreanisch auf Lehramt. 1996 debütierte sie mit zehn Gedichten in der renommierten Literaturzeitschrift »Kunstschaffen und Kritik« (Changjakkwabipyong) und im Jahr 2000 mit dem Band »Wenn sich meine Zunge weigert, in meinem Mund eingesperrt zu sein«. Nach ihrem Lyrikerstling erhielt sie einen Förderpreis der DaesanKulturstiftung, mit dem sie ihren zweiten Band »Unter Pfirsichblüten eingeschlafen« schrieb, der 2003 erschien und im Folgejahr 2004 mit dem 49. Hyundae-Munhak-Preis für zeitgenössische Literatur ausgezeichnet wurde. Die Autorin schloss sich der Lyrikgesellschaft »Sihim« (Poetische Kraft) an, veröffentlichte in zahlreichen Literaturzeitschriften und schreibt eine Kolumne für die Tageszeitung Hankyoreh. 2007 erschien ihr dritter Lyrikband »Wer ist in meinem Körper eingeschlafen?«, für den sie den 9. Cheon-Sang-Byeong-Lyrikpreis erhielt. Ihre Gedichte wurden auch ins Japanische, Englische und Schwedische übersetzt. Kim Sun-Woo überschreitet mit ihrem unverwechselbaren weiblichen Stil die Grenzen des Feminismus, weil für sie die Gebärmutter das Symbol des Körpers ist, der den Kreislauf vom Anfang und Ende des Lebens darstellt und in dem die Geheimnisse des Universums verborgen liegen. Sie versteht den Körper, in dem Lebende und Tote sowie der Alltag und das Göttliche verschmelzen, als einen Tempel. Ihre Gedichte entspringen buddhistischem Gedankengut. Die koreanische Literaturkritikerin Kim SuIh charakterisierte die junge Lyrikerin wie folgt: »Kim Sun-Woo ist eine Schamanin, die im Tempel des Körpers ein Fest des Lebens zelebriert.« Auf die Frage, warum sie immer wieder den Frauenkörper zum Gegenstand ihrer Lyrik macht, antwortete Kim Sun-Woo in einem Interview: »Weil ich selbst eine Frau bin und die Weiblichkeit für mich ein wichtiges Schlüsselwort ist, das mehr als ein biologisches Merkmal bedeutet, um mein Dasein zu verstehen. Deshalb richtet sich mein Blick zwangsläufig auf den Frauenkörper. Für mich ist ein gutes Gedicht wie die Mutterbrust, die das hungrige Kind stillt.« Neben ihren Gedichten veröffentlichte sie die drei Essaybände »Wenn unter dem Wasser der Mond aufgeht« (2002), »Die Dinge« (2003) und »Zuckersüße Küsse in meinem Mund« (2007), das Märchen »Prinzessin Bari« (2003), die Kolumnensammlung »Wer liegt noch in der Reisschüssel außer uns?« (2007) und den Roman »Ich bin Tanz« (2008).

SHIN DAL JA,

geboren 1943 in Korea, ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten zeitgenössischen Dichterinnen in Korea. Zu ihren Werken zählen 15 Gedichtbände, der Roman »Die Frau, die über Wasser geht« und zahlreiche Essays. Der erste Gedichtband »Die Weiheschrift« erschien 1973. Den Durchbruch schaffte sie mit ihrem Roman, von dem 1,2 Millionen Exemplare verkauft wurden. Shin hat für ihre Werke zahlreiche literarische Preise erhalten. Der jüngste


Gedichtband mit dem Titel »Das Papier« erschien im März 2011. Die Lyrik von Shin Dal Ja zeichnet sich durch eine schlichte Ausdruckweise mit einfachen, vertrauten Wörtern aus. Ihre Sprache ist offenherzig, lebhaft und voller Rhythmik. Shin erschafft mit schlichten Worten anschauliche Bilder zu alltäglichen Themen wie Liebe, Leidenschaft, Einsamkeit, die buddhistische Lehre und Schicksal. Die koreanischen Leser finden in ihren Gedichten nicht nur die gemeinsame Vergangenheit des letzten Jahrhunderts wieder, sondern auch die sinnliche Schönheit der koreanischen Sprache und die traditionelle Ästhetik der Melancholie. Gerade darin bestand jedoch die Herausforderung, ihre Gedichte ins Deutsche zu übersetzen. Die in vielen mehrdeutigen Formulierungen versteckten Hintergründe ihrer Gedichte, die den koreanischen Lesern wohl bekannt und verständlich sind, mussten für die deutschen Leser mitgeliefert werden, ohne dass ihre Gedichte auf Kosten der Verständlichkeit die Rhythmik und die poetische Ausdruckskraft einbüßten. Diese Auswahlkriterien haben die in Frage kommenden Gedichte sehr eingeschränkt. Ich habe in erster Linie Gedichte aus den folgenden fünf Bänden ausgewählt: »Trauer des Wahnsinns« (1989), »Die krumme Handschrift der Mutter« (2001), »Nun bin ich euch begegnet« (2003), »Eine Beziehung mit vielen Wörtern« (2004), »Die leidenschaftliche Liebe« (2007). Und die Gedichte, die zwischen 1989 und 1999 entstanden und aus verschiedenen Quellen wie Zeitschriften und Internet entnommen sind, habe ich im 2. Kapitel aufgeführt. Die früheren Gedichte, die vor allem im Band »Trauer des Wahnsinns« enthalten sind, handeln von der Tragik der unglücklichen Liebe, die sie selbst in einer Beziehung zu einem verheirateten Mann erlebt hat. Leidenschaft, Einsamkeit, Schmerz und Verzweiflung im Licht der Moralvorstellung der koreanischen Gesellschaft in den 1970er-Jahren lassen Shin sich selbst als einen hilflosen Vogel sehen, umgeben von Dunkelheit, Kälte und Sturm, der sich wünscht, eines Tages endlich hoch und weit frei fliegen zu können. In ihrer nachfolgenden Schöpfungsphase widmete sich Shin dem Schicksalhaften des Lebens. Im Alter von 35 Jahren wurde sie selbst als Frau eines plötzlich durch Schlaganfall querschnittsgelähmten Mannes und dreifache Mutter mit einem schweren Schicksalsschlag konfrontiert. In zahlreichen Gedichten, besonders in »Bodhisattva mit tausend Händen und tausend Augen«, hat sie ihr Schicksal und ihre Verzweiflung anschaulich beschrieben. Aber die charakterstarke Dichterin versuchte beharrlich, ohne in Depression oder Ressentiment zu versinken, einen Ausweg zu finden und das Schicksal zu überwinden. Die Kraft und die Weisheit zum Durchhalten schöpfte sie vor allem aus ihrem christlichen Glauben, aber auch aus der buddhistischen Lehre, die beispielsweise in den Leitsätzen wie »Alles Leben ist leidvoll« oder »Alles Seiende ist unzulänglich« wiederzufinden sind. In ihren späten Gedichten sind die Spuren ihrer ständigen Auseinandersetzungen verschwunden ‒ und die Dichterin widmet sich insbesondere dem Thema der Heilung und Versöhnung nach


buddhistischer Einsicht. Mit großem Feingefühl schrieb sie zahlreiche Gedichte mit Motiven des »buddhistischen Geistes des Mitleids und der Barmherzigkeit«, der »Weisheiten« (prajna in Sanskrit), »der Idee der Leere« und »Nirwana«. Darin versucht sie, die Welt und sich selbst stets durch einen entsprechenden positiven Gedanken zu betrachten. Für ihre Gedichte »Der kleine Buddhatempel in jener Straße« und »Auch in der Leere gibt es Futter«, die von unzähligen koreanischen Lesekreisen mit besonderer Begeisterung rezitiert werden, wurde sie mit dem Preis für moderne buddhistische Literatur ausgezeichnet. Shin ist mit insgesamt 2,7 Million verkauften Exemplaren und zahlreichen Preisen ‒ kurz vor der deutschen Erstveröffentlichung wurde ihr der renommierte Daesan-Lyrikpreis 2011 verliehen ‒ nicht nur eine erfolgreiche Dichterin, sondern gehört durch zahlreiche Interviews und Vorträge zu den präsentesten Intellektuellen in der koreanischen Öffentlichkeit. Trotz ihrer Berühmtheit versucht sie jedoch, den Menschen stets nahe zu bleiben und mit ihnen Freude, Trauer und Hoffnung zu teilen. Sophia Tjonghi Seo (Nachwort der Übersetzerin von Shin Dal Ja)

PARK HIJIN wurde 1931 in Yonchon geboren. Seine ersten 14 Lebens-

jahre fielen noch ganz in die japanische Kolonialzeit (1910-1945). Im wohlhabenden ländlichen Elternhaus wurde die klassische chinesische und koreanische Bildung vermittelt. In der Schulzeit fand seine Begegnung mit der europäischen Literatur, u.a. Rilke, Yeats, Baudelaire, Valéry und Elliot, noch auf Japanisch statt, d.h.: in japanischen Übersetzungen. Korea befand sich in der letzten Phase der japanischen Kolonialzeit, als die Kampagne gegen die koreanische Kultur ihren Höhepunkt erreichte, der Gebrauch des Koreanischen auch privat verboten war und selbst koreanische Familiennamen japanisiert wurden. Später nannte sich Park Hijin einen durch seine Schulbildung und Sprache »durch und durch japanisierten Knaben«. Erst in der Studienzeit entdeckte er bei der Lektüre koreanischer Dichter die ganze Schönheit seiner Muttersprache und die eigene Identität als Koreaner. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Beginn seines Vierzeilers »Ohne Titel 무제« besser verstehen: »Gott sei Lob und Dank, dass ich im Land der Morgenstille / als Dichter der koreanischen Sprache geboren bin!« Aus diesem Bewusstsein erwuchs sein Schreiben in der koreanischen Sprache, der Sprache eines Landes, das von der politischen Landkarte hatte ausradiert werden sollen. Er arbeitete nach seinem Anglistikstudium an der Koryo-Universität als Englischlehrer am Dongsong-Gymnasium in Seoul und gewann als junger Dichter viele Bewunderer, die ihm teilweise bis heute verbunden sind. Während sich viele andere koreanische Dichter nach wie vor der gesellschaftlich engagierten Literatur verschrieben haben, ging Park Hijin einen anderen Weg. Als sich das Militärregime in den 1960er-Jahren


verfestigte, entzog er sich dem öffentlichen Kulturleben: er lehnte den Vorsitz des Koreanischen Dichterverbandes ab, gab mit Freunden die zwölfbändige »Anthologie der 1960er-Jahre« heraus und zog sich aus der Literaturszene zurück. 1965 gründete er als erster koreanischer Dichter einen Lese- und Dichterkreis, der seither jeden Monat Teilnehmer aus verschiedenen Kreisen der Gesellschaft anzieht und im Jahre 2005 die 300ste Sitzung feierte. Im Gefolge dieser Initiative gründeten andere Dichter ähnliche Kreise. Er verfolgte seinen Rückzug in die schöpferische Unabhängigkeit mit aller Konsequenz, gab bereits mit 53 Jahren den Schuldienst als Englischlehrer auf und lebt bescheiden und zurückgezogen als Junggeselle, ein ungewöhnlicher Status in seiner Generation, wie im »Epitaph des Dichters 어느 시인의 묘비명« beschrieben: »Ich wünschte zu Lebzeiten, unsichtbar zu leben, / und so lebte ich auch …« Es mutet leicht widersprüchlich an, dass er beim heutigen Lesepublikum in Korea nicht mehr so bekannt zu sein scheint, aber mit etlichen anerkannten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, darunter 1976 mit dem WoltanLiteraturpreis, 1988 mit dem Preis für moderne Dichtung, 1991 mit dem Preis des Koreanischen Dichterverbandes sowie 1999 mit der BogwanKulturmedaille und dem Sangwha-Poesiepreis. Im Juni 2007 wurde Park Hijin als ordentliches Mitglied in die angesehene Koreanische Kunstakademie gewählt. Zudem wirkte er durch diverse Initiativen in die Gesellschaft hinein. In den vergangenen 20 Jahren ging sein äußerer Rückzug einher mit einer zunehmenden Hinwendung zu ostasiatischem Gedankengut des Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus und Pungryudo. Davon zeugt die vorliegende Auswahl: etwa im leitmotivisch wiederkehrenden Streben nach Reinheit, im Schweigen, das oft im Schweigen des Buddha gipfelt, in der Hinwendung von außen nach innen und im taoistischen Einswerden alles Seienden und aller Gegensätze, eine Denkbewegung, mit der seine Gedichte gerne ausklingen: »In seinen Gedichten // fließen Vergangenheit Gegenwart und Zukunft ineinander / … wie die Natur so ist wie das Ewige so ist« (»In seinen Gedichten 그의 시«). Auch die unscheinbarsten Naturerscheinungen »lassen uns im Jetzt die Ewigkeit erkennen« (»Lob der Magnolien 목련송(木蓮 頌)«). In diesen Zusammenhang gehört auch der oft auftauchende Gedanke des Pung ryu do (Weg des Pneuma), einer koreanischen Naturphilosophie, die alles Leben vom Fließen des Pneuma (Qi / Chi) im All herleitet. Park Hijin versucht, »im Jetzt die Ewigkeit« durch viele Formen einzukreisen: in Langgedichten wie »Hände« oder »Die Zunge«, in Sonetten und koreanischen Vierzeilern. In den letzten Jahren zeigt sich bei ihm eine wachsenden Tendenz zur Reduktion: bis hin zu vielen Einzeilern. Sie knüpfen an die chinesische und koreanische Tradition der kurzen Bildgedichte oder einzeiligen Vier-Zeichen-Sprüche (Sa ja song o) der chinesischen Klassiker an, wie sie in Korea noch an traditionellen Gebäuden wie Palästen und Yangban-Häusern zu sehen sind. Gemeinsam ist ihnen ein lehrreicher Ton, der Park Hijin selbst in die Reihe der Lehrer und Meister stellt. Dass er die


Rolle des Dichters durchaus in diesem Sinne begreift, zeigen die zahlreichen Gedichte über vorbildliche Persönlichkeiten, u.a. Rilke, Tagore, Tschakan und Dostojewski, deren Verehrung, ganz in ostasiatischer Tradition, ein Grundton seines Dichtens ist. Daneben ist in seinen Gedichten buddhistisches Gedankengut unmittelbar oder ungenannt gegenwärtig, wie es besonders von der buddhistischen Schule des Hwa om (Sanskrit: Blumen om) vertreten wird: staunendes Schauen aller Erscheinungen des Lebens und Lob der Schöpfung. Seine sympathische Definition des Menschen lautet: »ein Tier, das lobpreisen kann«, zuweilen mit feinsinnigem Humor unterlegt, doch erst »großes Bejahen und Lobpreisung« ermöglichen das unbegrenzte Gedicht. Sein Hauptthema ist überhaupt der Akt des Dichtens und die dichterische Existenz. Sie nährt sich aus dem schon im Taoismus und Konfuzianismus dominierenden Ideal des Su do Ja (Weg des Tao-Übenden): einer mönchischen Lebensform wie in Europa etwa bei den frühchristlichen Eremiten und russischen Pilgern. Dichten als lebenslange und existentielle Aufgabe, als religiöse Verbindung von Himmel und Erde, wobei der Dichter mitten in der Zehnmillionenstadt Seoul wie auf einer »Niemandsinsel« lebt, durch Meditation und freiwillige Askese nach Tugend und Erleuchtung strebt und somit Autorität als Lehrer und Meister gewinnt. Dieses Ideal, dem sich Park Hijin verschrieben hat, evoziert er in seinen Künstlergedichten, was ihm zuweilen kritische, aber auch einfühlsame Stimmen beschert. Gerade diese Haltung mit dem Anflug eines verschwiegenen Lächelns und das daraus erwachsene Schreiben macht seine besondere Originalität unter zeitgenössischen koreanischen Dichtern aus. Wer Park Hijin in seiner kleinen Wohnung aufsucht, trifft auf eine zunächst verwirrende Vielfalt kleiner Kunstobjekte, die nur ein Liebhaber gesammelt haben kann. Im Mittelpunkt aber nimmt ein Buddhakopf den Blick gefangen. Das lässt an sein vierzeiliges Kurzgedicht »Der Buddhakopf 불두佛頭« denken: der Gegensatz vom lauten Gewirr der Megalopolis zur Stille seiner Behausung unter dem Blick des Buddha. Und vor dem breiten Fenster seines Hinterzimmers entfaltet sich das majestätische Panorama des Pukhan-Bergmassivs, das zu strenger Konzentration einlädt. Wir kennen ihn als schweigsamen Menschen, sogar in seinem Lesekreis. Er mischt sich kaum unter die Leute, scheint auch wenig umgänglich und liebenswürdig, lacht fast nie, setzt sich abseits, weniger jedoch aus Bescheidenheit, sondern eher, um seine Ruhe zu wahren. Er ist eine sehr gesammelte Existenz und möchte diese innere Sammlung lieber nicht durch Banalitäten zerrinnen lassen. Aber sobald er seine oder andere Gedichte vorträgt, die er mitunter interpretiert, und über Dichtung spricht, ist er begeistert. In der freien Natur fühlt er sich besonders wohl, z. B. bei dem im Frühling und Herbst stattfindenden Poesiefest am Berg Si san jä, wenn sich sein Dichterkreis auf dem Pukhan am Rande von Seoul an einer einsamen


Stelle versammelt. Dort werden dem Berggeist – eine Konzession an die schamanistische Tradition – würdevoll Speisen und Getränke dargeboten. Die Teilnehmer tragen eigene Gedichte und Lieder vor, um anschließend fröhlich miteinander zu essen und zu trinken. Hervorzuheben sind seine Lesungen im Wald, dem passenden Ort für seine Naturgedichte. Sein Engagement für die Aufwertung der koreanischen Pinie ist bemerkenswert. Nicht zufällig hat er ihr den Lyrikband »Meine liebe Pinie« mit Zeichnungen gewidmet. Er möchte die Anerkennung der Pinie, welche die koreanische Berglandschaft beherrscht und als Symbol der Aufrichtigkeit und Beständigkeit sogar Eingang in die koreanische Hymne gefunden hat, als Landesbaum neben der Landesblume Hibiskus. Seine Initiative hat schon Parlamentsebene erreicht. Vor wenigen Jahren hat Park Hijin am Rande eines buddhistischen Mönchsfriedhofes die eigene Grabstele enthüllt, die von ehemaligen Schülern entworfen und gestiftet wurde. Sie soll später seine Urne bergen. Auf der Rückseite steht das Gedicht »Der Durchgang 통로通路« eingraviert. Park Hijin gehört zur älteren Dichtergeneration im heutigen Südkorea und ist dort ein Klassiker der Moderne. Sein Gesamtwerk umfasst 25 poetische Einzeltitel und erscheint seit 2004 im Verlag Shi ua Jinshil, Seoul, bisher 4 Sammelbände Lyrik. Seine Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die chronologische und teilweise zweisprachige Werkauswahl lädt dazu ein, den Weg dieses unverwechselbaren Dichters kennenzulernen. Doo-Hwan und Regine Choi (Nachwort der Übersetzer von Park Hijin)

MAH CHONGGI gehört zur bekannten koreanischen Dichtergeneration

von Kim Kwang-Kyu, der ihn sehr schätzt und empfiehlt. Vielleicht sieht er in dem Arzt und Dichter einen koreanischen Gottfried Benn mit anderen lyrischen Tonlagen. Die Übersetzer Gwi-Bun Schibel-Yang und Wolfgang Schibel vermerken treffend dazu: »Für den in einer musischen Familie aufgewachsenen jungen Mann war die Begegnung mit Leid und Tod im Medizinstudium schockierend. Seine erste, 1960 erschienene Gedichtsammlung ist von diesem äußeren und inneren Drama erfüllt. Trotz drastischer Schilderung des physischen Verfalls ist Mahs Ton anders als der, den 1912 der junge Arzt Gottfried Benn in der Gedichtsammlung MORGUE zur Empörung des Publikums anschlug. Mahs starke Empathie und die Imagination des gewesenen Lebens, die in die Vorstellung eines Fortlebens mündet, lassen ihm die Sterbenden zu Freunden werden. Durch die Begegnung mit dem Tod wandelt sich Mahs Blick auf das Leben und sein Verhältnis zu sich selbst; den Tod vor Augen, beschwört er die Hoffnung: ›Dies ist kein Schlussakt‹.« Der Lyriker Mah Chonggi wurde 1939 in Tokyo geboren, wo sein Vater, ein berühmter Kinderbuchautor, einige Jahre als Literaturkritiker und Herausgeber einer Literaturzeitschrift arbeitete. Seine Mutter war Ballett-


tänzerin. Er wuchs in Seoul und im Süden Koreas auf. Sein künstlerischer Leitstern wurde die Poesie, während er Medizin an der Yonsei-Universität in Seoul studierte und für seinen ersten Lyrikband den Yonsei-Literaturpreis erhielt. Wegen seiner politischen Überzeugung wurde er 1965 in Untersuchungshaft genommen. 1966 ging er in die USA und arbeitete dort als Radiologe bis zu seinem Ruhestand 2002. Seither lebt er sowohl in Florida als auch in Seoul und ist Vorsitzender der koreanischen Gesellschaft für Literatur und Medizin oder auf Reisen. Seine neun Gedichtbände erschienen fortlaufend in Korea, wo er als Auslandskoreaner mit seinem vielschichtigen und vieldeutigen anderen Blick gerne gelesen wird und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Die Übersetzer haben bei ihrer Arbeit »ein Charakterbild des Dichters gewonnen, das folgende fünf Züge aufweist: eine starke soziale Einbindung, die Empathie und Engagement für den Nächsten nährt; ein weit aufgespanntes Bewusstsein, das ferne Räume wie auch nächste Details zu erfassen versucht; ein konkretes, dingliches Denken, das sich nicht durch Abstraktion zum Allgemeinen erhebt, sondern dieses durch lebendige Imagination repräsentiert; das Verlangen nach einer individuellen Mission und einer persönlichen Identität, das sich seiner selbst immer wieder vergewissern muss; die gegenteilige Neigung, sich selbst zu relativieren, ja beinahe aufzulösen. Man darf diese Charakteristika vielleicht mit koreanischen Traditionen, die in Mahs Generation noch lebendig waren, in Verbindung bringen – etwa das erste mit dem konfuzianischen Familien- und Sozialethos, das zweite mit der Naturphilosophie des Taoismus, das dritte mit animistischen und schamanistischen Vorstellungen, das vierte mit der Pflege der persönlichen Ehre und des sozialen Status, das fünfte schließlich mit der buddhistischen Verneinung des allzu Menschlichen.« Eine interessante literarische Entdeckung also, auch für deutschsprachige Leser.

TOEGYE, eigentlich Lee Hwang oder Yi Hwang, geboren 1501 in Ongyeri

bei Andong, Provinz Kyongsanpukdo, war der jüngste von sieben Brüdern und einer Schwester. Schon als kleiner Junge brachte ihm sein Onkel Yi-Ho die Lehrgespräche »Lunyü« von Konfuzius näher. Und er begeisterte sich für die Gedichte des großen chinesischen Dichters Do Yeonmyong (365427), auch Tao Yuanming oder Tao Qian genannt, des berühmten Meisters der fünf Weiden. So eiferte er ihm nach und schrieb seine ersten Gedichte. Mit 14 Jahren entstand beispielsweise sein Hanshi-Vierzeiler »Der Krebs«, der den »Auftakt« in dieser chronologischen Werkauswahl bildet. Als er 20 Jahre alt war, vertiefte er sich in das »Buch der Wandlung« (I Ching) und setzte sich mit neokonfuzianischen Schriften auseinander. Er verließ seine Heimat im Südwesten der koreanischen Halbinsel und ging 1523 zum Grundstudium der Geisteswissenschaften nach Seoul, das er 1528 mit der Jinsa-Prüfung abschloss. Er begann im Anschluss daran seine


Amtslaufbahn als Inspektor und war »Im Dienst der Königs unterwegs«, wie das zweite Kapitel lautet. Er bereiste dabei mehrere Provinzen und besuchte die geschichtsträchtigen Ortschaften berühmter Dichter und Gelehrter, worüber er bisweilen gerne schrieb. Mit 33 Jahren lebte er erneut in Seoul und legte im Folgejahr die geisteswissenschaftliche Staatsprüfung in Literatur, Geschichte und Philosophie ab, die ihn zum gehobenen Dienst in der königlichen Regierung der Choson-Dynastie befähigte. Als seine Mutter starb, kehrte er in das Dorf seiner Kindheit zurück und trauerte drei Jahre, bevor er mit 39 Jahren seine königlichen Amtsgeschäfte wieder aufnahm. Er verabscheute die machthascherischen Intrigen am Königshof – einer seiner Brüder wurde ein Opfer einer großangelegten politischen Säuberungsmaßnahme – und war für seine moralische Integrität und unbestechliche Diensttreue bekannt, zumal er zu unterschiedlichen Anlässen die Hauptstadt verließ, um seine festen Grundsätze weiterhin wahren zu können. Mit 43 Jahren genoss er ein Freijahr – »Die Zeit im Lesehaus«, wie das zweite Kapitel heißt, in dem er sich am Rand der Hauptstadt weiterbilden sollte und vom König mit allerlei Speisen und Trank beliefert wurde. Seine poetischen und philosophischen Zwiegespräche mit chinesischen und koreanischen Klassikern spiegeln sich gerade in jenen Gedichten wider. Aber vor allem wuchs die innerer Zwiespältigkeit, sowohl Dichter und Philosoph, der allzu gerne in der ländlichen Heimat leben möchte, als auch königlicher Amtmann im Bann der Hauptstadt zu sein. Schließlich zog er sich mit 49 Jahren in »Das ersehnte Landleben« zurück, wie das dritte Kapitel überschrieben ist. Toegye folgte seinem großen Vorbild Konfuzius, um als Privatgelehrter zurückgezogen in seiner Heimat zu leben. Dort gründete er in Dosan bei Andong die Privatakademie »Dosan-Seowon« für konfuzianisches Gedankengut, die dann als »Toegye-Schule des Denkens« bekannt wurde und vier Jahrhunderte eine führende koreanische Akademie war. Bis zu seinem Tod 1570 wurde Toegye wiederholtermaßen zu immer höheren Ämtern berufen, aus denen er sich regelmäßig alsbald wieder entlassen ließ. Im Verlauf seines bewegten Lebens diente er den folgenden vier Königen: Jungjong (1506–1544), Injong (1544–1545), Myeongjong (1545–1567) und Seonjo (1567–1608). Er zählt mit dem jüngeren Dichter und Philosophen Yulgok (1536-1584), eigentlich Lee Sukheon oder Yi I, zu den großen Denkern des koreanischen Neokonfuzianismus und gleichzeitig zu den bedeutenden koreanischen Dichtern des 16. Jahrhunderts, die ihre Werke noch mit chinesischen Zeichen schrieben, die erst später in koreanischen Lautzeichen transkribiert worden sind, danach ins Koreanische. Sein Werk umfasst mehr als zweitausend Gedichte und mehrere hundert philosophische Schriften. Für diese Werkauswahl haben Doo-Hwan und Regine Choi die Textgrundlage akribisch erarbeitet, aus der die deutsche Fassung anschließend entstanden ist. Nun können 53 Gedichte des koreanischen Denkers Toegye erstmals hier entdeckt und bekannt werden.


Eine bemerkenswerte Eigenheit seiner Poetik ist die Lehre des Pung ryu do, »der Kern der drei Lehren, nämlich Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus« (Choi Chi Un), eine tiefsinnige koreanische Naturphilosophie, deren traditionelle Spuren Toegye nicht allein nur sucht, sondern selbst als Pungryudo-Meister gestaltet und vorlebt, was ihm besonders im vierten Kapitel »Lehrer in der Heimat« gelingt. Dabei verquicken die poetischen Motive der Gestaltlosigkeit, Abgeschiedenheit und Vervollkommnung durch Nichttun des Daoismus, der großen Leere und des Sitzens im leeren Raum der zen-buddhistische Betrachtung mit jener Klarheit und wachen Helle der konfuzianischen Erkenntnis. Er versöhnt sozusagen die Rationalität Li mit der Lebensenergie Qi und erlangt ein metaphysisches Herzdenken, das sowohl ethische als auch ästhetische Früchte nach sich trägt. Toegye spricht mitunter in der Stimme des Wassers oder der Pflaumenblüte und verleiht Felsen, Hochtälern und Flüssen neue Bezeichnungen, die noch heute gelten. Interessant sind zudem die Pavillon-Gedichte, die einerseits den Namen im Titel führen und andererseits eine landschaftsverbundene Architektur aufweisen, die mit den Jahreszeiten und augenblicklichen Naturereignissen als Lebensraum der Poesie korrespondiert. Nicht allein den Denker Toegye, sondern gerade auch den Dichter Toegye gilt es zu beachten. Tobias Burghardt (Jadeperlen)

KIM HOON, 1948 in Seoul geboren, studierte Anglistik an der KoreaUniversität. Ab 1973 war er als Journalist für die Tageszeitung Hankook Ilbo tätig und wurde als Essayist, Kritiker und Romancier bekannt, der mit mehreren renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. In seinen Romanen behandelt er vorwiegend historische Stoffe. Sein zweiter Roman Schwertgesang (2001) erreichte in Korea eine Millionenauflage. Seit 1994 übersetzen Ahn Sohyun und Heidi Kang gemeinsam zeitgenössische koreanische Romane und Erzählungen. SCHWERTGESANG kreist um die legendäre Figur des koreanischen Großadmirals Yi Sunshin, der 1598 die japanischen Invasoren besiegte und seitdem als der Retter Koreas verehrt wird. Kim Hoon erzählt aus der Perspektive des Protagonisten von seinen letzten zwei Lebensjahren. Der ereignisreiche Roman verarbeitet meisterhaft Zeitgeschichte, ist jedoch kein historischer Roman, sondern der atmosphärisch dichte Erlebnisbericht eines berühmten Seehelden, der strategische List, Edelmut und aufrichtige Menschlichkeit vielschichtig in Verbindung bringt. Manche Beschreibungen gehen auf die überlieferten Kriegstagebücher von Yi Sunshin zurück, in denen sich die menschliche Tragödie widerspiegelt, die jeder Krieg bedeutet, und wechseln mit seinen Betrachtungen über Leben und Tod ab. Der Name von Yi Sunshin wird mit dem Schildkrötenschiff (Kobukseon) verbunden, dem ersten gepanzerten Kriegsschiff der Welt, das bei seinen siegreichen Seeschlachten von 1597 und 1598 von entscheidender Bedeutung war. Der


erfolgreiche Roman wurde mit dem renommierten Literaturpreis Tongin 2001 in Seoul ausgezeichnet und für das Fernsehen verfilmt. In Korea ist Kim Hoons Schwertgesang (Kalui Norae) ein Bestseller, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Die lektorierte Romanübersetzung ins Deutsche wurde 2011 mit dem Daesan-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

CHAE MANSHIK, der koreanische Romancier, Essayist, Literaturkritiker

und Dramatiker, wurde am 17. Juni 1902 im damaligen Okgu, heute: Gunsan, Jeollabuk-do (Südkorea), als fünfter Sohn wohlhabender Bauern geboren und starb am 11. Juni 1950 in Seoul an Tuberkulose, weniger als eine Woche vor seinem Geburtstag, noch keine ganzen 48 Jahre alt. Den Roman »Ein Frühlingstag im Paradies« (Taepyong-Chonha) schrieb er im Jahr 1938. Der Autor beschreibt darin detailreich, sarkastisch und pointiert-ironisch zwei Herbsttage desselben Jahres aus dem Leben einer reichen koreanischen Großfamilie, deren Oberhaupt der 72-jährige Geizkragen Yoon Ikon ist. Sein von ihm selbst nur oberflächlich reflektiertes Leben steht im Mittelpunkt des Romangeschehens. Zwar stammt er ursprünglich aus einer armen Familie, aber als Erbe seines plötzlich zu Wohlstand gekommenen und später ermordeten Vaters unternimmt er alle möglichen Dinge, um sich selbst und seine Familie so zu positionieren, wie es seinen Wünschen entspricht, nämlich als sozial angesehene Adelsfamilie mit historischer Legitimation. Indes ist das Paradies – der Originaltitel »Taepyong-Chonha« bedeutet so viel wie »Frieden unter dem Himmel« –, in dem sich der Alte Yoon zu leben wähnt, nur eine Schimäre, denn die Familie steuert auf den materiellen Ruin ebenso unentrinnbar zu, wie moralische Werte generell verfallen. Während der Alte Yoon krampfhaft versucht, seinen Besitz zu wahren und zu vergrößern, indem er Wuchergeschäfte betreibt und pfennigfuchserisch Einsparungen jeglicher Art vornimmt, verprassen die männlichen Nachkommen rücksichtslos den Familienbesitz, um sich ihrem dekadenten und ausschließlich auf Vergnügen ausgerichteten Leben hinzugeben, wohingegen sich die meisten Frauen der Großfamilie lediglich an einen bescheidenen Lebensstil zu halten haben. Obwohl der Erzählrahmen des Romans wegen der damaligen Zensur keine direkte politische Kritik zulässt, gibt uns das Werk in einer ungewohnt offenen Art einen einzigartigen Einblick in die koreanische Gesellschaft während der letzten Choson-Epoche, in der Korea 36 lange Jahre von Japan besetzt worden war. Chae Manshik heiratete im Jahr 1920 und studierte ab 1922 Englische Literatur an der renommierten Waseda-Universität in Tokyo, wo er auch als Fußballer aktiv war. Er unterbrach sein Studium aber im Herbst 1923 wegen des großen Erdbebens in der japanischen Kantō-Ebene auf der japanischen Hauptinsel Honshū, das die Hafenstadt Yokohama und weite Bereiche des benachbarten Tokyo zerstörte, und kehrte in seine koreanische Heimat


zurück. 1924 wurde sein erster Sohn geboren. Gleichzeitig veröffentlichte er als literarisches Debüt die Kurzgeschichte »Auf drei Pfaden«. Anschließend war er als Berichterstatter für einige Tageszeitungen tätig, darunter »Dong-a Ilbo« und »Chosun Ilbo«. Ab 1936 widmete er sich nach seinem Umzug nach Kaesong ganz dem Schreiben. 1938 wurde er von den japanischen Besatzern vorübergehend inhaftiert und unter Auflagen wieder freigelassen. Chae Manshik wurde Vater von insgesamt vier Söhnen, von denen der dritte als Dreijähriger 1945 starb, und einer Tochter, nach deren Geburt 1947 seine Ehefrau starb. Die eigene Erkrankung an Lungentuberkulose zwang ihn in seinen allerletzten Lebensjahren, das Haus der Familie zu verkaufen, um alle Arztkosten, auch für den ältesten Sohn, der an Paratyphus litt, bezahlen zu können. Unter seinen rund 200 Werken, die er in einem Vierteljahrhundert obsessiv zu Papier brachte, sind »Gebrauchsfertiges Leben« (1934), »Trüber Strom« (1938) und »Mein idiotischer Onkel« (1938) diejenigen, die ihn schließlich als Schriftsteller berühmt gemacht haben und für die zu wünschen ist, dass sie in der Zukunft auch im deutschsprachigen Raum vorgestellt werden. Übersetzungen seiner erzählerischen Werke liegen auf Chinesisch, Englisch, Französisch und Japanisch vor. Mit dieser ersten deutschen Übersetzung eines literarischen Werkes von Chae Manshik ist die Hoffnung verbunden, den deutschsprachigen Leser an der tragikomischen Welt des Alten Yoon teilhaben zu lassen und ihn auf die fremde koreanische Kultur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neugierig zu machen. Yunhui Baek (Nachwort der Übersetzerin von Chae Manshik)

KIM YUJONG

wurde am 11. Januar 1908 im Dorf Chung-ni, das in unmittelbarer Nähe von Chuncheon, der Hauptstadt der Provinz Gangwondo, liegt, geboren. Er wuchs in bäuerlichen Verhältnissen auf. Mit 7 Jahren verstarb bereits seine Mutter, mit 9 Jahren, als auch sein Vater starb, verwaiste er mit seinen Geschwistern und lebte bei nahen Verwandten in Chuncheon, das damals den japanischen Namen Shunsen trug, weil Korea ab 1910 Teil des Japanischen Kaiserreiches (bis 1945) war. Er lernte in der Schule die chinesische Kalligraphie. Nach seiner Schulzeit studierte er in Seoul an der heutigen Yonsei-Universität und begann zu schreiben. Mit 22 Jahren litt er an einer wiederkehrenden Rippenfellentzündung und bekam drei Jahre später die Diagnose Lungenerkrankung. Er schrieb rund 30 Erzählungen, die er meist noch zu Lebzeiten zwischen 1933 und 1936 in Literaturzeitschriften und Wochenschriften veröffentlichte. Eine melancholische Grundstimmung durchzieht sein erzählerisches Werk, das sich mit dem bäuerlichen Landleben, seinen knorrig-erdigen Gestalten und derben Sitten sehr gut auskennt, die er bisweilen äußerst düster, aber eben auch mit ironischer Verspieltheit vorführt. Kim Yujong starb am 29.


März 1937 an Lungentuberkulose. Die ausgewählten Kurzerzählungen, die hier erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen, stellen einerseits die Lebensgeschichte des koreanischen Schriftstellers Kim Yujong dar, andererseits spiegeln sie die Sozialgeschichte Koreas der 1930er-Jahre – also während der japanischen Kolonialzeit – auf eindrucksvolle und ausdrucksstarke Weise wider. Kim Yujong gilt in Korea als sehr bedeutender Schriftsteller, und es erstaunt demnach nicht, dass sein restauriertes Geburtshaus zu einem Literaturhaus mit regelmäßigen Kurzgeschichten-Wettbewerben, Symposien und literaturpädagogischen Veranstaltungen geworden ist und sogar die dortige Eisenbahnstation in Chuncheon seinen Namen trägt. Sein Erzählwerk wurde ins Chinesische, Englische und Vietnamesische übersetzt. Die Motivation, dieses Werk ins Deutsche zu übersetzen, ist allerdings nicht allein seinem literarhistorischen Ruhm geschuldet, sondern auch der geistesgeschichtlichen Bedeutung seiner Kurzerzählungen, die vielfältige Themen verarbeiten, und der einzigartigen Darstellung sozialer Milieus. Darüber hinaus ermöglicht die Lesbarkeit seiner Texte einen Zugang zur koreanischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, und dieser stellt wiederum eine gute Voraussetzung für ein tiefere Verständnis der koreanischen Gegenwartskultur dar. Kim Yujong gehörte zum »Club der neun Personen« (»Guinhoe«), in welchem die Schriftsteller die Ansicht vertraten, dass man Literatur als rein literarische Werke zu betrachten habe und diese nicht für soziale oder politische Zwecke gebraucht werden dürfe. Gleichwohl hat sich Kim Yujong aber in seinem kurzen Leben in sozialer Hinsicht leidenschaftlich engagiert; beispielsweise richtete er in seinem Heimatort Chuncheon die Abendschule »Gumbyonguisuk« ein, an der er armen Kindern Unterricht erteilte. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in der vorliegenden Übersetzung vollständig auf Fußnoten und Anmerkungen verzichtet. An dieser Stelle gilt mein Dank den Gutachtern, deren Empfehlungen ich diesbezüglich und auch in anderen Hinsichten gefolgt bin. Ich gehe davon aus, dass immer wiederkehrende koreanische Bezeichnungen – z.B. Dynastiebezeichnungen wie Choson oder Währungsbezeichnungen wie Zon und Won – ohne Weiteres vom Leser erschlossen werden können. Der Titel der Kurzerzählung »Kamelien« hätte in der vorliegenden Übersetzung beinahe »Stumpflappige Fiebersträucher« genannt werden sollen, weil für Kim Seonyong, der die gesammelten Erzählungen von Kim Yujong als Herausgeber betreute, die Kamelien die Blüten des gelben Stumpflappigen Fieberstrauches bezeichnen. Für die deutschsprachige Ausgabe habe ich mich dennoch an die Geläufigkeit des Originalausdrucks gehalten, weil im Deutschen der Gattungsname der Kamelien schlichtweg griffiger ist. Yunhui Baek (Nachwort der Übersetzerin von Kim Yujong)


HWANG SOK-YONG gehört zu den herausragenden Schriftstellern der

zeitgenössischen koreanischen Literatur. Dies liegt wohl daran, dass seine Texte einerseits ein sehr breites Themenspektrum haben und andererseits nie das Leben der Leute aus den Augen verlieren, die im Abseits der Gesellschaft stehen. So stehen nicht selten unterdrückte und entfremdete Menschen aus den untersten Schichten wie wandernde Tagelöhner, Prostituierte, Bettler oder Soldaten mit katastrophalen Kriegserfahrungen im Zentrum seiner Prosa. Das Schreiben von Hwang Sok-Yong ist eng mit seinen eigenen Lebenserfahrungen verbunden. Er selber erlebte die beiden Kriege in Korea und Vietnam. So ist es kein Zufall, dass gerade das Thema Krieg immer wieder behandelt wird. Die vorliegenden Erzählungen zeigen die Versuche Hwangs, Geschichte in verschiedensten Formen und an unterschiedlichsten Schicksalen darzustellen. Zeittafel 1943 Hwang Sok-Yong, mit eigentlichem Namen Hwang Su-Yong, geboren am 14. Dezember in Changchun in der Mandschurei 1945 Unmittelbar nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft: Umzug nach Pjöngjang, der Heimat seiner Mutter 1947 Umzug nach Seoul 1950-53 Korea-Krieg 1962 Frühling: Hwang Sok-Yong geht freiwillig von der Schule ab und reißt von zu Hause aus. Bis Oktober wandert er durch den Süden des Landes Im November erhält er den Literaturpreis für Nachwuchsschriftsteller der renommierten Literaturzeitschrift Sasanggye für die Erzählung An der Felswand 1964 Teilnahme an der Demonstration gegen die Gespräche zwischen Korea und Japan. In einer Gefängniszelle lernt Hwang Sok-Yong einen Brückenbauarbeiter kennen und geht mit ihm in den Süden des Landes. Nach der Arbeit als Tagelöhner studiert er, um Mönch zu werden, in mehreren Tempeln den Buddhismus 1966-69 Militärdienst in Vietnam 1970 Ersten Preis beim Literaturwettbewerb der Zeitung Chosun-Ilbo für die kurze Erzählung Die Pagode. Veröffentlichung der Erzählung Der Heimgekehrte 1971 Veröffentlichung der Erzählungen Falsche Blume, Lineal, In der Fremde 1972 Veröffentlichung der Erzählungen An meinen Bruder, Kamelauge, Ein Mensch wie du und ich und des Romans Die Geschichte des Herrn Han 1973 Veröffentlichung der Erzählungen Unkraut, Der Weg nach Sampo, Nachtschicht, Der Berg der Gräber. Ferner und einsamer Ort, Schweine bringen Glück 1974 Veröffentlichung der Erzählungen Die zarten Hände einer Frau, Der Traum eines starken Mannes 1975 Veröffentlichung der Erzählung Der wandernde Sänger und des Dramas


Wilde Chrysantheme 1976 Veröffentlichung der Erzählungen Die Vögel von Molgaewol, Die Gleise, Winterlicht 1977 Veröffentlichung der Erzählung Der Hahnenkamm blüht und verblüht 1978 Umzug nach Gwangju 1980 Gwangju-Aufstand 1981 Veröffentlichung der Dramensammlung Der Falke vom Jangsan-Kap. Auf »Empfehlung« der »Ermittlungskommission des Gwangju-Aufruhrs« zieht Hwang Sok-Yong auf die Insel Jeju 1982 Rückkehr nach Gwangju 1984 Erscheinen des zehnbändigen Romans Jang Gilsan nach zehnjähriger Veröffentlichung in der Zeitung Hanguk-Ilbo 1985 Illegale Veröffentlichung des Berichts über den Gwangju-Aufstand Über den Tod hinaus, über die Finsternis der Zeit hinaus. Teilnahme am »Kulturfestival der Dritten Welt« in Westberlin 1987 Veröffentlichung der Erzählung Das Tal 1988 Veröffentlichung der Erzählung Leidenschaftliche Liebe und des zweibändigen Romans Der Schatten der Waffen 1989 März: Besuch Nordkoreas auf Einladung des »Literatur- und Kunstverbandes« 1990 August: Teilnahme an der »Versammlung aller Völker« in Pjöngjang 1989-91 Aufenthalt in Berlin als Gastschriftsteller der Akademie der Künste 1991 Ab November: Aufenthalt in den USA als Gastschriftsteller der Long Island Universität 1993 April: Rückkehr nach Südkorea. Hwang Sok-Yong wird verhaftet und wegen seines Besuches in Nordkorea zu einer Gefängnisstrafe von 7 Jahren verurteilt 1998 Freilassung aus dem Gefängnis nach der 5 Jahren Haft 2000 Erscheinen des zweibändigen Romans Der alte Garten. Für diesen Roman erhält Hwang Sok-Yong die beiden Literaturpreise Danjae und Yisan 2000 Erscheinen des Romans Der Gast, wofür er den Daesan-Literaturpreis erhält 2000 Teilnahme an dem Sondergespräch »Korea: geteiltes Land, geteilte Literatur?« auf der Frankfurter Buchmesse 2000 Erscheinen des Romans Simcheong. Der Weg des Lotos 2003 Literaturpreis Korea Arts & Culture Education Service für den Roman Simcheong 2004 Manhae-Preis für Literatur 2004-07 Aufenthalt in London und Paris 2007 Baridegi. Roman 2008 Hesperus. Roman 2010 Der Traum von Gangnam. Roman Ins Deutsche übersetzte Werke von Hwang Sok-Yong 2005 Ein Mernsch wie du und ich. Erzählung. Aus dem Koreanischen von Kang


Seung-Hee und Torsten Zaiak, in: Koreanische Erzählungen, dtv, München 2005 Der ferne Garten. Roman. Aus dem Koreanischen von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak, dtv premium, München 2005 Die Geschichte des Herrn Han. Roman. Aus dem Koreanischen von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak, dtv premium, München 2007 Der Gast. Roman. Aus dem Koreanischen von Young Lie, Katrin Mensing und Matthias Augustin, dtv premium, München 2011 UNKRAUT und andere Prosa. Erzählungen. Aus dem Koreanischen von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik, Torsten Zaiak und Martin Tutsch, Edition Delta, Stuttgart

JUNG YOUNG MOON, der

1965 geborene südkoreanische Autor, ist Vertreter einer Autorengeneration, die erstmals Mitte der 1990er-Jahre, also bereits nach der mühsam erkämpften Demokratisierung des bis 1988 autoritär regierten Landes, literarisch in Erscheinung trat. Sie tat dies als inhomogene Gruppe, die im Unterschied zu den Generationen vor ihr kein gemeinsames politisches oder gesellschaftliches Ziel verfolgte: Weder knüpften die jungen Autorinnen und Autoren an den existenzialistisch geprägten Humanismus der südkoreanischen Nachkriegsliteratur an, noch an die dissidentische Minjung-Literatur der 1980er-Jahre. Jung teilt mit vielen seiner Schriftstellerkollegen das Selbstverständnis des literarischen Einzelgängers, das auch mit einer skeptischen Haltung gegenüber dem Literaturbetrieb und seinen Mechanismen einhergeht. Eine sehr grundlegende Skepsis bringen viele Autoren dieser Generation auch der südkoreanischen Gesellschaft als Ganzes und den von ihr geformten Menschen entgegen: Seit den 1990er-Jahren begegnen wir in der koreanischen Erzählliteratur immer häufiger sich selbst und ihrer Umgebung entfremdeten, apathischen und illusionslosen Charakteren. Verortet sind die Romane und Erzählungen im spätkapitalistischurbanen Umfeld, meist in der Megacity Seoul, wo sich die Protagonisten oft nur im engsten Kreise bewegen. Der Terminus sowae 疎外 als eine dem englischen alienation nachempfundene Lehnbildung dient der koreanischen Literaturgeschichtsschreibung als Bezeichnung der seelischen Befindlichkeit dieser Protagonisten ebenso wie als Schlagwort, das einen bestimmten Typus von zeitgenössischer Prosa charakterisiert. Selbst unter diesen entfremdeten Antihelden der neuen koreanischen Erzählliteratur nimmt sich der namenlose Ich-Erzähler von Jung Young Moons viertem, im Jahre 2004 bei dem Verlag Munhakdongne erschienenem Roman »Mondestrunken« wie ein Außenseiter aus. Fern von den urbanen Zentren schlägt sich der geschiedene Vater zweier erwachsener Söhne als Tagelöhner durch, macht sich auf der Schafweide eines Bekannten nützlich und verdingt sich als Feldarbeiter bei der Chinakohlernte. Viele Aspekte der Biografie dieses kauzigen, an den äußersten Rand der


Gesellschaft gedrängten Sonderlings bleiben dem Leser im Dunkeln. Der große Handlungsbogen seines zunehmenden physischen und psychischen Verfalls, der die sechs Kapitel des Romans inhaltlich lose zusammenhält, vollzieht sich innerhalb eines nicht klar definierten Zeitrahmens. Auch ist das Unabwendbare an seinem Schicksal, der Weg in Obdachlosigkeit und Verwahrlosung, für den Leser kausal nicht nachvollziehbar, zu erklären nur durch sein starrsinniges, destruktives Wesen selbst. Doch Jungs Roman hat auch heitere, grotesk-verspielte, absurde und meditative Momente. Sein entscheidendes Merkmal sind gerade die inhaltlichen Sprünge und formalen Brüche, die es dem Leser gestatten, die einzelnen Kapitel auch als voneinander unabhängige Erzählungen zu lesen. Auf formaler Ebene findet der Verfall des Protagonisten eine Entsprechung in der Degeneration des Ich-Erzählers zu einer abstrakten Textfigur, vergleichbar den Textfiguren der Beckettschen Molloy-Trilogie. Der nicht-linearen, nicht-kausalen Erzählweise wegen wurde der Roman von dem Kritiker Ryu Bo-Seon mit dem Attribut »dekonstruktiv« versehen. Der Autor bestätigt in Interviews seinen Hang zu formalen Experimenten, der in einem Desinteresse am konventionellen Erzählen wie auch an »konkreten Geschichten« gründet. Wie viele seiner Kollegen nennt Jung als eine Inspirationsquelle populärkulturelle Einflüsse und insbesondere auch Filme. Auch eines der zentralen Motive von »Mondestrunken«, jenes des sich durch die Landschaft bewegenden, sinnierenden Subjekts, ist offenkundig der Filmgeschichte entliehen: Die Schauplätze dreier Kapitel des Romans liegen mehrheitlich auf und an der Straße. In der Art eines literarischen Road Movie sind das ›Unterwegs‹ des Protagonisten, die Autofahrten und Rasten am Straßenrand, die Aufenthalte an Raststationen beschrieben. Nicht von ungefähr findet sich in der Episode »Pierrot Lunaire« beiläufig in den Dialog eingestreut eine offene Bezugnahme auf Ingmar Bergmans »Wilde Erdbeeren« – gleichsam ein nordischer Vorläufer der Gattung Road Movie – die mit der thematisch verwandten Episode auf spielerische Art und Weise in Beziehung tritt. Ein wenig exaltierter erscheint die titelgebende Reverenz an Arnold Schönbergs Vertonung von Albert Girauds Gedichtzyklus »Pierrot Lunaire«, auf den in der gleichnamigen ersten Episode Bezug genommen wird. »Mondestrunken« ist das erste jener »drei mal sieben« Gedichte, die Schönberg im Jahre 1912, gut ein Jahrzehnt vor der Erfindung der Zwölftontechnik, als Auftragsarbeit vertonte. Schönberg verstand ›seinen‹ Pierrot als Inbegriff des von seinen schöpferischen Antrieben an die Abgründe des eigenen Wesens getriebenen Künstlers und vermochte sich mit dem Stoff auf Anhieb zu identifizieren. Der mondestrunkene Pierrot von Jungs Roman ist als lächerlicher Griesgram, der im nächtlichen Regen mit rutschenden Hosen durch das Niemandsland entlang der Überlandstraße irrt, vom mitleiderregenden Vorbild der literarischen Vorlage jedenfalls nicht wesentlich weiter entfernt.


Der Zitate und Bezugnahmen kein Ende, nimmt Jung darüber hinaus auch bei angloamerikanischen Erzählern Anleihen. Im Brotberuf des Übersetzers hat er selbst eine Handvoll Bücher englischsprachiger Autoren ins Koreanische übertrage, unter anderem auch den vielgerühmten Raymond Carver. Offenkundige Anleihen nimmt er weiters beim Absurden Theater von Autoren wie Eugène Ionesco und Samuel Beckett, der mit seinem Prosatext »Molloy« auch für das finster-groteske letzte Kapitel »Gemurmel« Pate gestanden zu haben scheint. Verneinung und Tod sind, wie Son Jeong-soo konstatiert, die zentralen Begriffe in Jungs Werk, zu denen der Kritiker jedoch auch den Humor zählt. Jung Young Moon selbst nennt als seinen zentralen Begriff das mu 無 der buddhistischen Philosophie, also die Vorstellung einer ›positiven‹ Leere, die zugleich Aufhebung der Leere ist – östliches Pendant zum westlichen Begriff des Nichts und im modernen bzw. zeitgenössischen Diskurs davon oftmals nicht genau unterschieden. Als Schilderung eines eigentümlichen Zwitters aus heiterem Gleichmut und qualvoller Ohnmacht oszilliert auch Jungs Roman zwischen diesen Polen von ›positiver‹ Leere und ›negativem‹ Nichts. Er funktioniert über weite Strecken in der Art eines literarischen Vexierbilds, das erst im letzten Abschnitt endgültig kippt: Irgendwie an einen ins Rot der Abenddämmerung getauchten Meeresstrand gelangt, bettet sich der erschöpfte Ich-Erzähler in einer surreal anmutenden Sterbeszene auf einer flachen Sandmulde zum Sterben. Auf dem weiten Weg an diesen Meeresstrand begegnet der Protagonist seiner eigentlich trostlosen Lage mit kauzigem Humor, mit einem Hang zum sarkastischen Kommentieren, zur grotesk-detailverbohrten Schilderung von Nichtigkeiten, aber auch zur gelassenen Naturbeobachtung, aus der der dieser Natur Entfremdete zu seiner eigenen Überraschung Trost zu schöpfen vermag. Es sind vielleicht diese unspektakulären stillen Momente, dank derer der Roman – der ernsten Thematik zum Trotz – über weite Strecken von einem eigentümlich heiteren Gleichmut geprägt ist. Was den Wahrnehmungen des Protagonisten zugrunde liegt, ist der ›intuitive‹ Buddhismus der einfachen Leute, der die absichtslose Hingabe an den Augenblick als ideale Seinsform betrachtet, ohne dieses Ideal gleich zum Prinzip zu erheben. Jung Young Moons Roman »Mondestrunken« lässt sich so als bisweilen grotesk überzeichnete Charakter- oder Milieustudie ebenso lesen wie als Versuch des Auslotens der Grenzen zwischen Sprache und Sprachlosigkeit, sowie stellenweise auch als ein seltener Versuch der Reflexion östlichen Denkens mit den Mitteln experimenteller Prosa. Philipp Haas (Nachwort des Übersetzers von Jung Young Moon) Zum innovativen Roman »Mondestrunken« von Jung Young Moon wurde im Jahr 2012 ein vielbeachteter Essaywettbewerb des Koreanischen Instituts für Literaturübersetzung (KLTI) an deutschsprachigen Universitäten mit einem Lehrstuhl für Koreanistik durchgeführt.


Edition Delta 에디치온 델타 한국문학 시리즈

Koreanische Literatur Einen der schönsten Titel für einen Gedichtband fand ich in der Edition Delta: Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte, hing der Mond noch im Dachgesims. Poetisch und einprägsam. Matthias Ulrich (Noxiana)

김선우 Kim Sun-Woo Unter Pfirsichblüten eingeschlafen

Gedichte, zweisprachig: Koreanisch – Deutsch. Übersetzt von Kang Seung-Hee und Kai Rohs. ISBN 978-3-927648-23-4

신달자 Shin Dal Ja Morgendämmerung Werkauswahl 1989-2007

Gedichte: Koreanisch (tw.) – Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Sophia Tjonghi Seo. ISBN 978-3-927648-42-5

박희진 Park Hijin Himmelsnetz Werkauswahl 1960-2003

Gedichte: Koreanisch (tw.) – Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Doo-Hwan und Regine Choi. ISBN 978-3-927648-21-0

마종기 Mah Chonggi Augen aus Tau Werkauswahl 1960-2010

Gedichte. Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Gwi-Bun Schibel-Yang und Wolfgang Schibel. ISBN 978-3-927648-45-6


퇴계 Toegye (Lee Hwang/ Yi Hwang) Als der Hahn im Dorf am Fluss krähte, hing der Mond noch im Dachgesims

Gedichte 1515-1570. Deutsche Fassungen von Tobias & Juana Burghardt auf der Grundlage der Vorarbeit von Doo-Hwan und Regine Choi und mit einem Nachwort von Tobias Burghardt. ISBN 978-3-927648-34-0

김훈 Kim Hoon Schwertgesang

Roman. Aus dem Koreanischen von Heidi Kang und Sohyun Ahn. ISBN 978-3-927648-22-7

채만식 Chae Manshik Ein Frühlingstag im Paradies

Roman. Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Yunhui Baek. ISBN 978-3-927648-47-0

김유정 Kim Yujong Kamelien

Erzählungen. Aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Yunhui Baek. ISBN 978-3-927648-50-0

황석영 Hwang Sok-Yong UNKRAUT und andere Prosa

Erzählungen. Aus dem Koreanischen von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik, Torsten Zaiak und Martin Tutsch. ISBN 978-3-927648-36-4

정영문 Jung Young Moon Mondestrunken

Roman. Aus dem Koreanischen von Philipp Haas und Lee Byong-hun und mit einem Nachwort von Philipp Haas. ISBN 978-3-927648-43-2

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