Wainainas neues Kapitel

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Binyavanga Wainaina Mum, ich bin homosexuell (Ein verloren gegangenes Kapitel aus Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben) 11. Juli 2000. Das ist nicht die richtige Version der Geschehnisse. Hey, Mum. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter, an jenem letzten Nachmittag, bevor sie starb. Sie lag in ihrem Krankenhausbett. Kenyatta. Intensivstation. Station für kritische Fälle. Dortsein. Weil ich diesmal nicht weit weg in Südafrika sein und alles mit meiner chaotischen Art versauen werde. Ich komme rechtzeitig an und werde da sein, wenn sie stirbt. Mein Herz kommt rechtzeitig an. Ich halte die Hand meiner sterbenden Mutter. Ich hebe ihre Hand hoch. Ihre Hand ist von Diabetes geschwollen. Ihre Organe versagen. Hey, Mum. Ooooh. Meine Seele seufzt. Mein Herz! Ich flüstere ihr ins Ohr. Sie ist wach, hört zu, sanft ruhig liebend, mein Kopf innerhalb ihres Gesichtsfeldes. Sie ist so dick – meine Mutter, in dieser Welt, nahe der anderen, jeder Atemzug langsam, aber stetig, wie es sein soll. Atme ein. Sie kann alles aushalten. Ich werde flüstern, lauter, in meinem Seelen-Atem. In den ihren hinein. Sie wird zuhören, auch wenn sie nichts hört. Kann sie das? Mum. Werd ich sagen. Muum? Werd ich sagen. Er sticht sich so leicht ein, ein Atemzug, ein Laut aus meinem Mund, vermischt mit ihrem Atem, und sie atmet aus. Mein Herz schnappt scharf nach Luft und jetzt schreit meine Seele auf, so sehr verletzt, so ungemein wütend. „Ich hab dir nie mein Herz ausgeschüttet. Du hast mich nie drum gebeten.“ Nur meine Seele sagt das. Das. Nicht mein Mund. Doch ganz bestimmt ist das Zucken meines Herzens und meines Atems, hier, ganz nah bei ihr, bemerkt worden? Lässt sie mich an sich heran? Niemand, wirklich niemand hat das in meinem Leben zu hören bekommen. Niemals, Mum. Ich hab dir nicht getraut, Mum. Und. Ich. Sog scharf die Luft ein und schob sie als Klumpen zu meinem Nabel hinunter, und ließ sie langsam und fest aus meinem Mund entweichen, sauber und ohne Dellen, laut und klar über eine Schulter in ihr Ohr. „Mum, ich bin homosexuell.“


Juli 2000. Das ist die richtige Version der Geschehnisse. Ich lebe in Südafrika, habe meine Mutter seit fünf Jahren nicht besucht, obwohl sie krank ist, weil ich Angst habe und mich schäme, und weil ich dreißig werde und möglicherweise kein Visum für die Rückkehr habe, wenn ich hier weggehe. Ich tobe wie ein Wirbelsturm durch mein Leben, damit ich sie sehen kann. Doch sie ist in Nakuru, kollabiert, und sie schaffen sie mit ihren Nieren eilends in das Kenyatta Hospital nach Nairobi, wo es eine Dialyse-Maschine gibt und einen Tropensturm Experten, die sie erwarten. Verwandte eilen zu Besuch und die Organe versagen und Maschinen springen an. Ich hetze, wickle alles ab, um Südafrika verlassen zu können. Zwei Tage brauche ich noch, dann kann ich fort, kann abfliegen, da ruft mein Onkel mich am Morgen des 11. Juli 2000 an und fragt mich, ob ich sitze. „Sie ist nicht mehr, Ken.“ Ich werde in diesem Nanosekunden-Familientreffen nach meiner Auntie Grace rufen, damit sie eine Möglichkeit findet, weil ich mich dringend bei Baba ausweinen muss, aber sie sagen, dass er weint und in seinem 505er wie Blitz und Donner durch Nairobi kurvt und stundenlang unauffindbar ist, weil seine Frau gestorben ist. Vor drei Tagen hat er mir gesagt, dass es zu spät ist noch zu kommen und sie zu besuchen. Er hat mich angewiesen, die Möglichkeit, nach Südafrika zurückzukehren, nicht aufs Spiel zu setzen, um zu ihrer Beerdigung zu kommen. Ich soll besser nicht auf meine Künstler-Weise sorglos durch die Gegend reisen, ohne Papiere. Kenneth! Er runzelt am Telefon die Stirn. Ich könne keine Abschiebung riskieren, sagt er, und alles verlieren. Aber es ist doch meine Mutter. Ich bin neunundzwanzig. Es ist der 11. Juli 2000. Ich, Binyavanga Wainaina, schwöre ganz ehrlich, dass ich, seit ich fünf war, weiß, dass ich homosexuell bin. Ich habe nie einen Mann sexuell berührt. Ich habe in meinem Leben mit drei Frauen geschlafen. Mit einer erfolgreich. Nur einmal mit ihr. Es war erstaunlich. Doch am nächsten Tag konnte ich nicht. Nach dem Tod meiner Mutter wird es fünf Jahre dauern, bis ich einen Mann finde, der mich massiert und mir flüchtige, bezahlte Liebe schenkt. In Earl’s


Court in London. Und ich werde frei sein und es meinem besten Freund erzählen, der mich mit seinem Verständnis überrascht, ohne zu verstehen. Ich werde ihm sagen, was ich getan habe, aber ich werde ihm nicht sagen, dass ich schwul bin. Ich kann das Wort schwul erst aussprechen, als ich neununddreißig bin, vier Jahre nach der kurzen Massagebegegnung. Heute ist der 18. Januar 2013, und ich bin dreiundvierzig. Wie dem auch sei. Ich werde kein Diabetes-Wirbelsturm sein, der Mum auf der Station für kritische Fälle im Kenyatta Hospital in Nairobi umbringt, bevor ich nicht vier Schritte unternommen habe, um in ein Flugzeug zu gelangen und später an ihrer Seite zu sitzen. Irgendjemand. Die Krankenschwester? Wird in der Nacht, bevor sie stirbt, in der Kälte des Kenyatta Hospital ein kleines Fenster offenlassen. Heute habe ich Geburtstag. Am 18. Januar 2013. Vor zwei Jahren, am 11. Juli 2011, hatte mein Vater einen schweren Schlaganfall und war nach wenigen Minuten hirntot. Genau elf Jahre nach dem Tag, an dem meine Mutter starb. Sein Herz schlug noch vier Tage, doch es gab nichts, was noch zu sagen blieb. Ich bin fünf. Er stand da, im Overall, plump, die Brust ein Eisenbahngleis aus verschwitzten Dellen und kleinen harten Haarperlen. Alles an ihm ist glattlangsam. Braunspuren an einem gesprungenen Zahn, dies endlos lange Lächeln. Für mich etwas Gutes, wie er sich so langsam bewegt, weil ich transparent bin für die Muster anderer Leute und so leicht stolpere und in die Schnauzereien blöder Leute falle und Angst kriege. Ein langes, einfaches Lächeln, und er hebt mich hoch und schwingt mich durch die Luft. Er riecht nach Diesel, und die Welt mit den Bewegungen all der anderen Leute ist verschwunden. Zum ersten Mal im Leben bin ich von allen anderen weg, und das ist herrlich, und dann wird ein Tunnel der Angst daraus. Da ist kein Ächzen in ihm, wie ein Traktor wird er jeden Hügel erklimmen, beständig. Wenn er weggeht, jetzt, mit mir, werde ich für immer mit ihm mitgehen. Ich weiß, dass meine Beine sich nie mehr bewegen werden, wenn er mich absetzt. Ich schäme mich so sehr, dass ich mir verwehre, mich festzuklammern. Ich springe von ihm fort


und gehe ihm für immer aus dem Weg. Über zwanzig Jahre, bin ich sehr ungeschickt dabei, Männer zu umarmen. Da wird dieses Gefühl wieder hochkommen. Stärker jetzt, gewisser. So um die sieben Jahre herum. Im Nakuru Golf Club, und ich zittere, weil da so ein anderer langsam-einfacher Golfspieler war, der mir die Hand geschüttelt hat. Nachher weine ich allein auf der Toilette, weil die Wiederholung dieses Gefühls mich plötzlich aufgerissen und einsam gemacht hat. Das ist kein sexuelles Gefühl. Es ist etwas sicheres, bestimmtes. Es ist überwältigend. Es will sich ein Zuhause schaffen. Wie ein Malariaanfall kommt es alle paar Monate über mich, schüttelt mich durch, dass es noch tagelang anhält und mich über Monate durcheinanderbringt. Ich tue nichts dagegen. Ich bin fünf, als ich mich in eine vage Zufriedenheit verkapsele, die von niemandem etwas erbittet. Geistesabwesend. Süß. Ich bin für alle Liebe dankbar. Oft gebe ich davon mehr als ich bekomme. Ich kann selbstsüchtig sein. Ich masturbiere viel, und ich erlaube mir nie, aufzubrechen und mein Herz keimen zu lassen. Männer fasse ich nicht an. Ich lese Bücher. Ich liebe meinen Dad so sehr, mein Herz lernt sich zu dehnen. Ich bin homosexuell. Copyright 2014 Binyavanga Wainaina/Verlag das Wunderhorn Copyright 2014 Übersetzung Thomas Brückner


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