Lyrik Taschenkalender 2013

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Lektorat: Angelika Andruchowicz © 2012 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacherstr. 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gestaltung: Werner Ehrle, Cyan, Ehrle und Sauer GmbH Heidelberg Umschlag: s sans serif, Berlin Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße ISBN 978-88423-399-3


Michael Braun (Hg.)

Lyrik-Taschenkalender

2013

Wunderhorn



E ditorial Der Lyrik-Taschenkalender 2013 eröffnet ein kollektives Gespräch über Gedichte und präsentiert als erstes Ergebnis dieses Gesprächs einen kleinen Kanon der deutschsprachigen Lyrik. 17 zeitgenössische Dichterinnen und Dichter waren eingeladen, jeweils zwei Lieblingsgedichte deutscher Sprache auszuwählen und kompakt zu kommentieren. Der Herausgeber des Taschenkalenders stellt seinerseits alle beteiligten Autorinnen und Autoren mit je einem Gedicht vor. So ist ein poetisches Gemeinschaftsunternehmen entstanden, das der Fortsetzung harrt: » Viel hat von Morgen an / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,/ Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.« (Hölderlin) Heidelberg, im Frühjahr 2012 Michael Braun

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Walther

von der

Vogelweide

Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr! ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr? daz ich ie wânde ez waere, was daz allez iht? dar nâch hân ich geslâfen und enweiz ez niht. nû bin ich erwachet, und ist mir unbekant daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant. liut unde lant, dar inn ich von kinde bin erzogen, die sint mit worden frömde reht als ez sî gelogen. die mîne gespilen wâren, die sint traege unt alt. bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt: wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz, für wâr mîn ungelücke wânde ich wurde grôz. mich grüezet maneger trâge, der mich bekande ê wol. diu welt ist allenthalben ungenâden vol. als ich gedenke an manegen wünneclîchen tac, die mir sint enpfallen als in daz mer ein slac, iemer mêre owê.

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D ezember / J anuar

1. kw 31. Montag

Dezember

1. Dienstag

Januar

2. Mittwoch

Januar

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Walther von der Vogelweide war ein Berufsdichter ohne festen Wohnsitz an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert. Das ist fast alles, was wir von seinem äußeren Leben wissen. Nur einmal war er urkundenwürdig: Ein Ausgabenbeleg vom Jahr 1203 nennt ihn, weil er Geld für einen Pelzrock erhielt. Man nimmt an, dass er um 1170 geboren und um 1230 gestorben ist und aus dem Bayrisch-Österreichischen stammte. Am Wiener Hof wuchs er in den Minnesang hinein. Das Leben hat ihn herumgestoßen, von einem Herrn zum andern, wodurch er bitter und schroff wurde und immer mehr Distanz zwischen sich und die Welt legte. Am Ende gelang es ihm abzustreifen, was vergänglich und eitel war und als freier Herr dem Tod gegenüberzutreten. Das vorliegende Gedicht wurde von späteren Herausgebern als »Elegie« nur unzureichend überschrieben. Es besteht aus drei Strophen, von denen hier nur die erste abgedruckt wurde. Sie ist ein wehmütiger Abgesang an die Jugendzeit und auch an die Heimat, denn die archaische Form, die Walther seinen Versen gibt, das Metrum, ist das des Nibelungenlieds, dessen Verfasser ebenfalls im Österreichischen vermutet wird – die zeitlose Altersklage eines großen deutschen Lyrikers: »iemer mêre owê.« Kommentar: Michael Buselmeier

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J anuar

1. kw 3. Donnerstag

Januar

4. Freitag

Januar

5. Samstag / 6. Sonntag

Januar

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Konstantin A mes dreißig lenze zäh ich wheel, das stehet in einer urkundä, ich libee worte mit zween e drin, konsumier wegen dehmel teein nur mit feen, zween am besten teens, gestern z. beispiel war eine vielle drunter, die mehr zaehe war als zart, waere, fragt´ ich waere´s meeglich, dass de sterben gehest und in sechzehn, siebzehn jahren wiederkommst sie legte mich im aussermoralischen sinne ueber´s knee waehrenddessen musste ich von commander keen erzaehlen oder hölderlin und linné zitieren jetzt kann ich vierzehn tage nicht mehr siezen, mieze catleen, mein reh, was soll ich tun? (zaehl tee « 30.8.2009)

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J anuar

2. kw 7. Montag

Januar

8. Dienstag

Januar

9. Mittwoch

Januar

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»Das dreißigste Jahr« ist nicht erst seit Ingeborg Bachmanns Erzählung traditionell das Schlüsseljahr im Leben eines Künstlers, es fordert unabweisbar auch von einem Dichter, der alles Konventionelle dekonstruiert, einen Akt der Selbstvergewisserung. Auch der systematisch an der Sabotage der herrschenden Grammatik arbeitende Sprachanarchismus des Saarländers und Wahl-Berliners Konstantin Ames (geb. 1979) versucht eine Positionierung eines Künstler-Ich mit seinen »dreißig lenzen«. In schöner Mimesis repetiert und parodiert Ames den Tonfall des Barock. Das vanitas-Thema wird aufgenommen, aber auch hedonistisch transformiert; die Vergänglichkeits-Topoi (»waere´s meeglich, dass de sterben gehest«) werden nur vordergründig in das vergnügliche Sprachspiel mit der Doppelung des Vokals »e« aufgelöst. Konstantin Ames praktiziert eine zwischen Alltagswitz, Kalauer, hohem Ton und Sprachresteverwertung balancierende Wortakrobatik, die ihren Sprachstoff unablässig grammatischen Zerreißproben unterzieht. Durch die unablässige Verwandlung und Überschreibung des Wortbestands mit dem Doppel-E entsteht hier ein schöner semantischer Entgrenzungseffekt: Im Gedicht, so scheint es, reden plötzlich mehrere Sprachen und Dialekte durcheinander: das Englische (»wheel«, »teens«) ebenso wie das Sächsische (»meeglich«) oder auch das Mittelhochdeutsche. Auch sehr unterschiedliche Dichtungskonzepte werden herbeizitiert: Hölderlin und Richard Dehmel. Ein polyglottes Sprachvergnügen. Kommentar: Michael Braun

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J anuar

2. kw 10. Donnerstag

Januar

11. Freitag

Januar

12. Samstag / 13. Sonntag Januar

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G ottfried K eller

Abendlied Augen, meine lieben Fensterlein, Gebt mir schon so lange holden Schein, Lasset freundlich Bild um Bild herein: Einmal werdet ihr verdunkelt sein! Fallen einst die müden Lider zu, Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh; Tastend streift sie ab die Wanderschuh Legt sich auch in ihre finstre Truh. Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn, Bis sie schwanken und dann auch vergehn Wie von eines Falters Flügelwehn. Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld Nur dem sinkenden Gestirn gesellt; Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, Von dem goldnen Überfluss der Welt!

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J anuar

3. kw 14. Montag

Januar

15. Dienstag

Januar

16. Mittwoch

Januar

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Das Gedicht Gottfried Kellers entdeckte ich in meiner Schulzeit. Es nistete sich ein, besonders die letzten beiden Zeilen. Die schlichten Fügungen mit ihrem für jede Strophe identischen, innere Festigkeit ausstrahlenden Reim, verband ich mit Dortchen Schönfund, dem jungen Mädchen in Kellers Roman »Der grüne Heinrich«. Dortchen ist ganz im Diesseits verankert, wählt aber den Friedhof als ihren Lieblingsort, um ihre Endlichkeit zu erinnern. Sie schmückt dort die Gräber. Keller verfasste diese Zeilen allerdings sechzigjährig – »auf dem Abendfeld«. Die Gedanken der ersten drei Strophen: Die mit dem Sehsinn, dem Gesichtssinn, vernetzte Seele, ihr Verlöschen. Die Nachbilder, wie die »Augengespenster« bei Goethe. Die vierte Strophe: Carpe diem – abschiedsbewusst die Welt, ihren Glanz, in großen Schlücken aufnehmen. Die Wucht der Lichtschwemme zulassen, ihr gewachsen sein, sich ihrer würdig fühlen. Kein Verbergen der Augen, keine Verwahrung des Blicks. Der Welt ganz vertrauen, sie nicht als Sandkorn für die Augen begreifen. Nur von dieser einen ausgehen. Ein helles, heiteres Gedicht, selbst »ein Schein«, eine »Leuchte«, wie man die Augen früher auch nannte. Das Augenlicht des Dichters, das auf uns fällt. Kommentar: Dorothea Grünzweig

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