Als sei ich von einem anderen Stern

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Der Verlag und Verena Stefan danken Marie-Elisabeth Morf, die in Montreal lebt und als Bibliothekarin beim dortigen Goethe-Institut gearbeitet hat. Sie hatte die Idee zu diesem Buch und hat es mit auf den Weg gebracht.

© 2011 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Cyan, Heidelberg Umschlaggestaltung: Ingrid Sauer, Cyan Umschlagfoto: Ellen Joachim in Shanghai, 1940 © 2011 Ellen Joachim Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda ISBN: 978-3-88423-356-6


J端disches Leben in Montreal

Als sei ich von einem anderen Stern Verena Stefan Chaim Vogt-Moykopf (Hg.)

Wunderhorn



Vorwort

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Verena Stefan

Vorwort Dieses Buch konnte nur in Montreal entstehen. Als Marie-Elisabeth Morf, die damalige Bibliothekarin des GoetheInstituts Montreal, mich im Jahr 2004 fragte, ob ich interessiert wäre, Interviews mit einigen deutschsprachigen, jüdischen Immigranten zu machen, damit ihre Leben dokumentiert würden, sagte ich sofort zu. In Montreal, in Quebec, in Kanada gehöre ich keiner der beiden Landessprachen und keiner dominanten Kulturgruppe an. Seit 1998 im Land, bin ich sehr viel kürzer hier, als meine GesprächspartnerInnen, die teilweise seit über fünfzig Jahren in Montreal leben. Obwohl mit einem kanadischen Pass ausgestattet, bin ich doch noch Immigrantin oder einfach Anwohnerin mehrerer Länder. Während ich an einem Manuskript über das Fremdsein schrieb, über das schrittweise Kartografieren einer neuen Stadt wie alle Fremden es tun, lernte ich eine wieder andere Stadt kennen, diesmal durch die Wege und Orte meiner jüdischen Gesprächspartner. Als Deutschschweizerin bin ich in einer speziellen linguistischen Situation aufgewachsen, mit einem gesprochenen Dialekt und einer geschriebenen Sprache. Die erste Fremdsprache, die wir lernen, ist die schriftliche Sprache, die keine Alltagssprache ist, sondern immer parallel dazu eine kunstmässig geformte. Mit diesem Projekt bot sich mir nach gut fünf Jahren in meinem freiwilligen sprachlichen Exil endlich die Gelegenheit, in Montreal in meinem Beruf und in der mir vertrauten literarischen Sprache zu arbeiten.


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Fragen, die um unterdrückte oder verbotene Sprachen und um das Hörbarmachen der eigenen Stimme kreisen, gehören einer Thematik an, die mich ein Leben lang begleitet hat. Seit den Anfängen der feministischen Bewegung und von meinem ersten Buch an sind sie auch ein literarisches Hauptthema geworden. Der Raum, in dem ich mich zunächst mit meinen jüdischen Gesprächspartnern traf, war eine Art Niemandsland. Wir sprachen deutsch und englisch miteinander. Ob ein Gespräch hauptsächlich auf deutsch oder auf englisch stattfand, hing davon ab, wodurch bei meinem Gegenüber das Verhältnis zur deutschen Muttersprache jeweils geprägt war. Jahrzehntelanges Brachliegen vermischte sich unter Umständen mit offener oder heimlicher Zuneigung oder Abneigung und mit Nostalgie. Zwischen einem aktiven mündlichen und teilweise schriftlichen deutschen Sprachgebrauch und dem vollständigen Ersetzen durch andere Sprachen kamen die verschiedensten Mischformen vor. In Montreal ist jüdischer Alltag präsent. Was in Deutschland the presence of the absent ist, die Präsenz eines abwesenden, lange gewachsenen jüdischen Lebens, ist hier sichtbar, hörbar, fühlbar. An die achtzig große, mittlere, kleine Synagogen oder shuls sind in der Stadt verteilt, unbewacht. Es gibt alteingesessene jüdische Geschäfte, Bistros, Cafés, Restaurants, Schmatteläden, Geschäfte für Haushaltswaren, Kurzwaren. Verblasste Inschriften, wie jene von Fisher & Co, Kurzwaren, auf dem Boulevard St- Laurent. Der legendäre SupermarktGemischtwarenladen Warshaw musste vor Jahren einem der seelenlosen Pharmaprix drugstores weichen. Es gibt kaum eine Zusammenkunft ohne jüdische Freunde und Freundinnen. Eine jüdische Frau bringt bei einem politischen Treffen Gebäckbrot und ein Töpfchen Honig mit. Für Rosh Haschana, sagt sie. Mit der süßen Essenszutat wird die Hoffnung auf ein süßes neues Jahr zum Ausdruck gebracht. Brot und Honig machen die Runde, alle essen davon. Was es in Montreal nicht mehr gibt, ist eine deutschsprachige jüdische Gemeinde. Dabei haben die »Jeckes«die jüdische Gemeinde Montreals mitbegründet. Noch in den sechziger Jahren existierte für kurze Zeit eine


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kleine shul um Julius Pfeiffer, dem der erste Text des Buches gewidmet ist. Montreal ist die älteste und mit ungefähr einhunderttausend Juden nach Toronto die zweitgrößte jüdische Gemeinde Kanadas. Während jede andere jüdische Sprachgruppe ihre shul hat, gibt es für die deutsche Juden nur noch ein Vacuum. Fragen, die Flucht und Exil, das Verhältnis zur deutschen Sprache, Geschichte und Kultur und die jüdische Identität betreffen, durchziehen die Lebensläufe von acht Menschen, die zwischen 1921 und 1973 in Deutschland geboren wurden. Die ältesten unter ihnen sind gerade noch während der Weimarer Republik eingeschult worden. Ihre Sozialisation fand nur halbwegs in Deutschland statt. Trotzdem tragen auch sie das Erbe einer illusorischen deutsch-jüdischen Symbiose in sich. Diese Emigranten haben von Kind oder von Jugend an ihr gesamtes Leben außerhalb des deutschen Sprachraums verbracht. Über Jahrzehnte konnten oder wollten sie ihre Muttersprache nicht mehr benutzen. Im Gespräch mit ihnen kommt die weit verzweigte Kultur des alten Mitteleuropas auf der geistigen Landkarte wieder zum Vorschein. Die jüdischen Emigranten haben in einer anderen Geografie und Kartografie gelebt. In ihren Erinnerungen sind Reiserouten und Fortbewegungsmuster zwischen Königsberg, Berlin, Prag, Wien und Amsterdam eingezeichnet, die mit dem Zweiten Weltkrieg und der Ära des Eisernen Vorhang verloren gingen. Bei allen Beteiligten sind im Exil neue Bindungen entstanden, Fäden von Wahlverwandtschaften, die über mehrere Kontinente reichen. Von dem, was mit der Flucht zu plötzlich so weit ausgespannt wurde, bleibt eine bestimmte Spannweite erhalten, federt nach. Freunde und Familie sind in alle Welt zerstreut. Manche Freundschaften, die in den Kriegsjahren in einem fremden Land entstanden sind, werden ein Leben lang weitergeführt. Man hält sich die Treue. Auch alte Bindungen werden wieder aufgenommen, Freundschaften aus Kindheit und Jugend, erste Lieben.


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Irgendwann haben sie aus unterschiedlichen Gründen wieder Kontakt zum Anfang ihres Lebens aufgenommen: zur Muttersprache Deutsch, zu Menschen, zu Orten. Dies geschieht zuerst mit großer Mühe und schmerzhaften Erfahrungen, danach teilweise auch mit wachsender Liebe. Diese stößt jedoch unter Umständen in der jetzigen Umgebung auf Widerstand, in ihren Familien, Gemeinden, Freundeskreisen. Deutsch ist tabu. Es soll verschwiegen werden. Im Jahr 2005 entstand an der Université de Montreal, im Centre canadien d’études allemandes et européennes – im kanadischen Zentrum für deutsche und europäische Studien- eine Diskussionsgruppe zum Thema Mémoire et Langage: interfaces d’identités judéo-allemandes: Sprache und Gedächtnis: Interfaces von deutsch-jüdischen Identitäten. Die Gruppe bestand aus zwei nicht-jüdischen deutschen Professorinnen, einem jüdisch-deutschen Postdoktoranden und einer nicht-jüdischen Deutschschweizer Schriftstellerin. Allen ging es darum, eine möglichst breit gefächerte Sichtweise auf die historischen, linguistischen und religiösen Faktoren, die die deutsch- jüdischen Identitäten bestimmen, zu entwickeln. Folgende Fragen interessierten uns besonders: Welche Verbindungen haben deutschsprachige Juden, die außerhalb deutschsprachiger Länder leben, zur deutschen Sprache und Kultur unterhalten? Wie hat sich diese in den Jahren, Jahrzehnten von Flucht und Exil verändert? Wie sieht sie heute aus? Woraus bestehen Erinnerungen? Welche Ausdrucksmöglichkeiten, sind heute daran geknüpft, sei es in sprachlicher Art, in Gewohnheiten, Gesten, Ritualen, Überlieferungen? Wie und in welcher Form sind die sprachlichen Erinnerungen bewahrt und unterdrückt worden? Wie und wodurch wurden sie wiederbelebt und transformiert? Wurde die deutsche Sprache an die Kinder weitergegeben, oder erwies sich dies als unmöglich und warum? Am wichtigsten war uns, die Frage nach den deutsch-jüdischen Identitäten im Plural zu stellen, um einen möglichst weit gesteckten Rahmen


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von Faktoren und Positionen abzustecken, einem Mosaik aus Bruchstücken von Ablehnung und Zugehörigkeit, wie sie im Lauf eines Lebens zusammengetragen, aneinander gelegt oder auseinander gehalten werden. Etymologisch betrachtet, suggeriert das lateinische Wort »Exil«, dass der ins Exil Gehende ein »Verbannter« ist, dass er aus seinem »Ursprungsland« »vertrieben« wurde. Von seinem Herkunftsland »entwurzelt«, aus seiner Kultur, seinem Volk, seiner Nation buchstäblich ausgestoßen, zum dauerhaften Verbleib im »Ausland« gezwungen. Daher wird in der westlichen Welt das Exil als Gewaltakt verstanden, der das identitäre Bewusstein peinigt. Der Exilierte »leidet« an einer zerbrochenen Identität. Anders gesagt, dieses Wort deutet auf ein gespaltenes Zugehörigkeitsgefühl und verbreitet somit den Eindruck, als ob es sich um ein negatives, jedenfalls nicht wünschenswertes Phänomen handeln würde. Chaim Vogt-Moykopf wies in der Gruppe darauf hin, daß das jüdische Denken noch ganz andere Perspektiven aufzeigt, indem er die Wurzel des Wortes »Galut« erklärte, das nicht nur Exil im oben beschriebenen Sinne, sondern auch »entdecken, entkleiden, sichtbar machen« bedeutet. So gesehen wäre der Exilierte nicht nur Opfer, sondern auch Forscher, Kundschafter, kurz gesagt, ein ständig im Umbruch begriffener Mensch. Die jüdische Identität bestünde demnach auch aus »aufgegebenen« und »verlassenen« Identitätsräumen. Sie wäre also für sich genommen eine im Exil beherbergte Identität und für einen Juden gäbe es demnach keine Identität jenseits dieses ständig fließenden Bewusstsein von Zugehörigkeit. Deutschsprachige Juden sind aufgrund des mitgebrachten deutschen Kulturerbes im jeweiligen Adoptionsland oft doppelt stigmatisiert worden. In ihrem Fluchtgepäck befand sich sowohl das verunstaltete Deutsch der Nazis, als auch die tief verwurzelte Liebe zu eben dieser Sprache und zur deutschen Literatur. Wenn sie unter Umständen in der neuen Heimat dafür angegriffen wurden, daß sie Bücher in der Sprache der Mörder lasen, so lautete das Gegenargument oft: Aber in dieser Sprache hat mir meine Mutter Wiegenlieder vorgesungen. Die deutsch-jüdische Identität passte weder in die deutsch- kanadische


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noch in die jüdisch-kanadische Realität und Geschichtsschreibung hinein. Sie fiel dazwischen in ein Niemandsland, in dem es weder einen historischen noch einen gesellschaftlich anerkannten narrativen Bezugsrahmen gab, der es den Emigranten möglich gemacht hätte, ihre Geschichte ganz – das heißt inklusive der Beziehung zur deutschen Sprache und Kultur erzählen zu können. Dies fiel umso mehr ins Gewicht, da die Muttersprache das einzige Gut war, das Flüchtlinge garantiert mit sich nehmen konnten, selbst wenn sie alles andere zurücklassen mussten. In die Arbeit an diesem Buch sind viele inspirierende Begegnungen und viel Zeit eingeflossen. Im Lauf von fünf Jahren musste ich die Arbeit einige Male aus finanziellen und krankheitsbedingten Gründen unterbrechen. Zu Beginn haben Elisabeth Morf und ich Vertreter verschiedener Montrealer Institutionen aufgesucht und andere in Deutschland angeschrieben, um Gelder zu beantragen. Das Projekt fand überall großes Interesse. Doch weder das Deutsche Auswärtige Amt, noch die Kulturförderung der Partnerschaft Bayern-Quebec, noch die Kulturstiftungen von VW, BMW oder Mercedes Benz waren bereit, es finanziell zu unterstützen. Die jüdischen Institutionen in Montreal reagierten mit Ablehnung auf die Tatsache, daß die Interviews auf deutsch geführt wurden und die Veröffentlichung in einem deutschen Verlag geplant war. So haben sich in der Entstehungsgeschichte des Buches jene Widerstände, Ablehnungen und Stigmatisierungen wiederholt, die deutsche Juden im Exil erfuhren. 2008 konnte ich Chaim Vogt-Moykopf als Co-Autor gewinnen. Dank seiner Zugehörigkeit zum Thorajudentum bringt er Aspekte jüdischer Identität zur Sprache, die mir nicht zugänglich sind. Mit seinen Interviews kommen zudem Angehörige der Nachkriegsgeneration zur Sprache. Somit ist ein generationenübergreifendes Buch entstanden, das vom assimilierten bis zum Thorajudentum Einblick in die Vielfalt jüdischen Lebens gibt.


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Unsere Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen erhielten jeweils die Abschrift der Interviews zur Ansicht und Stellungnahme. Einwände und Korrekturen haben wir in neuen Gesprächen diskutiert und sie in den Text eingefügt. Danach begann die Umarbeitung und Umschreibung in eine Lebensgeschichte, die in der dritten Person erzählt wird. Diesen Text haben wir den jeweiligen Personen erneut zur Diskussion vorgelegt und, wenn nötig, weitere Änderungen, Einschübe, Streichungen vorgenommen. Mit jedem Arbeitsvorgang und jedem Gespräch hat sich die emotionale Situation für die interviewte Person verändert. Aus dem Fundus der Erinnerungen tauchten manche Bruchstücke nur nach mehreren Zusammenkünften auf. Lange Vergessenes, tief Vergrabenes kam zum Vorschein, wenn es auf Deutsch zur Sprache kam. Auch wenn Vieles scheinbar ohne Mühe erzählt wurde, löste es unter Umständen bei einer ersten Lektüre, schwarz auf weiß, andere Reaktionen aus. Alte Wunden brachen auf. Die noch erlebten Schrecken der Naziherrschaft in der Jugend, die Angst auf der Flucht, der Schmerz um ermordete Familienangehörige und um auseinander gerissene Familien wurden wieder lebendig. Hass auf die Nazis, auf die Deutschen, Liebe zu Deutschland, seiner Sprache, seiner Kultur, Scham- und Schuldgefühle als nichtjüdische Deutsche – das waren Emotionen, die für die Befragten zwischen den Interviews und während der Lektüre aufbrachen und ihre Zeit einforderten. Alle legen wir uns im Lauf des Lebens eine Narration zurecht. Sie entsteht mit dem Leben selbst und damit, wie wir aus unserem Leben berichten, was wir mitteilen können und wollen, was wir verschweigen, geheim halten, wegsperren und damit, wie wir mit der Zeit Ereignisse, Episoden und auch Erinnerungen umformen und verändern. Memory is a bad editor, heißt es auf Englisch. Erinnerung taugt nicht zum Überarbeiten. Wenn unter Umständen ein Zeitabschnitt von dreißig bis sechzig Jahren in einer Zweitsprache, hier meistens Englisch, gelebt wird und plötzlich Interviews ganz oder teilweise in der Ursprache der Kindheit geführt werden, gerät die zurecht gelegte Narration durcheinander, lässt


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sich nicht mehr nahtlos in vertrauten Satzstellungen, Idiomen und Bonmots erz채hlen. Mit diesen Portraits werden die Vielschichtigkeit, die Widerspr체chlichkeiten und die Tabus sichtbar, mit denen deutschsprachige j체dische Menschen in Montreal gelebt haben und es weiterhin tun.


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Die letzten Jeckes Deutsche Juden in Kanada Outremont, rue Davaar, 2. September 1997, 7 Uhr morgens. Etwa 30 Menschen tröpfeln durch den Eingang eines alten unauffälligen Hauses. Gleich neben der Tür flackern Kerzen. In dem gedämpften Licht überlagern sich die Schatten der Besucher auf den mit weißen Laken verdeckten Spiegeln. Die ersten Männer legen ihre Gebetsriemen an und nuscheln Segenssprüche in gehetzter Folge. Auf dem Kaminsims liegen Kondolenzschreiben. Einer der schwarzumrandeten Briefe lässt sich auch aus größerem Abstand entziffern: »Leider hat es sich nicht ergeben, dass ich Ihren Mann noch persönlich kennenlernen konnte. Aus mündlichen und schriftlichen Berichten habe ich aber doch soviel erfahren, dass ich mir ein Bild von seinem bewegten Schicksal machen kann...« Unterzeichnet vom stellvertretenden Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland. Einer in der Runde beginnt mit dem Kaddisch. Alle Anwesenden wiegen ihre Oberkörper im gleichen sanft getragenen Rhythmus, manche haben den Tallit, ihren Gebetsschal, über den Kopf gezogen. Das aus der zweiten Tempelperiode stammende, in aramäisch gesprochene Gebet klingt noch andächtiger als sonst. Die Trauernden rezitieren es so deutlich, als sorgten sie sich, der Tote könnte sie möglicherweise nicht verstehen. Verstanden hat Julius Pfeiffer vieles nicht, von dem, was er durchmachen musste und was der deutsche Diplomat im Beileidsschreiben an die Frau des Toten als »bewegtes Schicksal« bezeichnet. Zum Beispiel, dass er


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»auf Grund des § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933« im Alter von nur 27 Jahren »in den Ruhestand versetzt« wurde. Seine Karriere als Richter hatte gerade begonnen, in Düsseldorf, nach einem glänzenden Examen. Erst wenige Monate im Amt, leitet er am 15. März 1933 eine Verhandlung, als ein Anwalt mit einem Hakenkreuz am Revers in den Saal spaziert. Julius Pfeiffer unterbricht die Sitzung und fordert den Gefolgsmann Hitlers auf, sein Parteiabzeichen abzulegen: »In meinem Gericht wird keine Politik gemacht.« Es war die letzte Sitzung des jungen Juristen. Nachmittags sitzt er bereits im Zug nach Amsterdam, vor eben der staatlichen Autorität auf der Flucht, die er noch 24 Stunden vorher verkörpert hat. Die Beter sind vom Wohn- ins Esszimmer gewechselt. Ein Tallit ersetzt die Tischdecke und ein Enkel des Verstorbenen rollt die Thorarolle aus, die die Pfeiffers nach der Shoah aus dem Familienbesitz nach Kanada retteten. Wie in der Synagoge, so werden auch während der siebentägigen Trauerwoche, die der Beerdigung folgt, im Haus des Toten aus den fünf Büchern Mose die entsprechenden Wochenabschnitte gelesen. Noch bevor der Vorbeter mit der Lesung beginnt, blättert einer der Anwesenden wie zufällig in den Propheten:«...we eise makom menuchati...Wo ist ein Haus, das ihr mir erbauen könntet, und wo ein Ort, an dem ich Ruhe fände?« Ruhe findet der 1907 im rheinischen Essen geborene Jude jedoch selten in seinem Leben. »Die nächsten sieben Jahre kamen mir wie die sieben mageren biblischen Jahre vor«, kommentiert er diese Zeit später des öfteren. Deutschland wenigstens, glaubte er hinter sich gelassen zu haben. Nur einmal noch, heimlich, kehrt er 1936 zurück, um seine Jugendfreundin Flora Weyl unter die Chuppa zu führen. Dies war nur möglich, weil es nach jüdischem Ritus für die Gültigkeit der Trauung keiner Ehe vor dem Standesamt bedarf. Der junge Pfeiffer hat Glück. Er kommt während dieser Reise in keine Kontrolle und kehrt unbehelligt nach Amsterdam zurück. Seine Frau wird ihm kurz darauf ins holländische Exil nachfolgen. Am 10. Mai 1940 haben ihn die Deutschen allerdings wieder eingeholt, verkünden nahes Artilleriefeuer und das Radio die bevorstehende Kapitulation. Weil die Familie - zwischenzeitlich sind die Söhne Itzchak und


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Manfred geboren - noch der Überzeugung ist, dass die Nazis sich »wenigstens Frauen und Kindern gegenüber ritterlich« verhalten, soll der Vater alleine fliehen. Julius Pfeiffer gelingt es, sich mit dem Fahrrad nach Ijmuiden durchzuschlagen und von dort aus, ein Schiff nach England zu ergattern, eines von drei kleinen Booten, das jüdische Kaufleute den Flüchtlingen kostenlos zur Verfügung gestellt haben und das einzige, das die englische Westküste erreicht. Die beiden anderen werden von einem deutschen U-Boot versenkt bzw. aufgebracht, die Überlebenden in Konzentrationslager deportiert. »Ha Shem Yenachem Etchem.., der Allgegenwärtige tröste Euch inmitten der übrigen, die um Zion und Yeruschalaim trauern.« Das Morgengebet ist zu Ende. Die Besucher nähern sich der Reihe nach den beiden Söhnen des Toten, die auf schlichten Schemeln, stoppelbärtig, übernächtigt und in eingerissenen Kleidern die Trostformel entgegennehmen. Manche der Anwesenden setzen sich, erzählen aus dem Leben des Toten und seiner Familie. Wo denn die Thora herstamme, aus der man soeben gelesen habe, will einer der Trauergäste wissen. »Die hat mein Großvater meinem Vater ins Exil nachgeschickt, bevor auch er sich nach Holland absetzte«, antwortet Manfred, der ältere der beiden Söhne des Toten. Und Sydney Pfeiffer ergänzt: »Ganze Nachmittage durchstöberte mein Großvater Salomon die Straßen Amsterdams, um einen vertrauensvollen Menschen und ein Versteck aufzutreiben.« Die Geschichte dieser Schriftrolle beginnt noch während des ersten Weltkrieges. Salomon Pfeiffer hatte, während er für Kaiser und Vaterland sein Leben aufs Spiel setzte, gelobt, eine Thora in Auftrag zu geben, falls er die Kämpfe heil überstehen würde. So kam das Herzstück des jüdischen Gottesdienstes über den Rabbiner Carlebach in Köln, der sie bei einem Schreiber in Polen bestellte in die Familie nach Düsseldorf. Schließlich fand sich auch jemand, der bereit war, sie zu verbergen. Die Rolle musste allerdings zuvor entsprechend präpariert werden. Der Großvater entfernte die Etzei Chaim - zu Deutsch Baum des Lebens - das sind die beiden Holzstäbe, auf die das Pergament mit der Heiligen Schrift aufgenäht wird. So konnte die Thora als »Poster« getarnt sogar Hausdurchsuchungen überstehen. Da der alte Pfeiffer seiner Familie jedoch nicht mehr die


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Adresse des Mannes hinterlegen konnte - alle Angehörigen waren längst interniert - wurde das Detektivspiel nach der Befreiung zur berühmten Suche der Nadel im Heuhaufen. Flora Pfeiffer fand sie nach Kriegsende per Zufall im Geschäft eines Handwerkers, unter einem Haufen Tapetenrollen. »Ha Shem Yenachem Etchem...«, was denn aus dem Großvater geworden sei, meldet sich schüchtern ein anderer der Anwesenden. »Den haben die Nazis in Auschwitz vergast«, antwortet es aus der Runde. Ob man ihn alleine deportiert habe, wird weitergefragt. »Oh, da kennen Sie die Deutschen aber schlecht«, sagt Manfred Pfeiffer mit einem deutlich bitteren Unterton:«die haben nur paarweise verfrachtet. Wenn einer der Ehepartner nicht da war, sind sie anderntags wiedergekommen. Ordnung muss schließlich sein.« Fort Lennox, Quebec, September 1942. Die absterbenden, sattroten Ahornblätter verwandeln die Ile-aux-Noix in einen Flickenteppich, untrügliches Zeichen für den nahenden, strengen, kanadischen Winter. Es ist bereits der dritte Herbst seit seiner Internierung und das Leben noch chaotischer als vor der Flucht. Julius Pfeiffer hat seither kein Lebenszeichen von der Familie erhalten, keinen einzigen Brief, nicht einmal eine Nachricht vom Internationalen Roten Kreuz. Er sitzt zusammen mit ein paar deutschen Kriegsgefangenen, strammen Nazis, katholischen Missionaren, fanatischen Kommunisten und ultraorthodoxen Talmudstudenten im sogenannten Lager I. Das 10 Meilen von der US-Grenze gelegene Fort, einst strategisch wichtiger Außenposten der französischen Kolonialmacht, fiel 1760 an die Engländer, die es nur noch im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg benutzten. Seit 1880 ist die Festung unbewohnt. »Die Kanadier waren froh, so einen Ort zu haben. Sie glaubten sich gut vorbereitet«, erzählt einer der Trauernden, dessen Vater mit im Lager war, »weil London durchgetickert hatte, dass lauter hochgefährliche Deutsche, Elitesoldaten und Chefideologen der Nazis unterwegs seien.« Als dann scharenweise dünne und bleiche Gefangene in schwarzen Kaftanen, mit langen Bärten, Schläfenlocken und dicken Brillengläsern von Bord gingen, war die Verwirrung perfekt: »Die Einen haben den Braten gerochen und sich verschaukelt gefühlt. Die meisten Kanadier sahen in den Juden jedoch


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