Leben auf dem Mars

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Band 8 der »Reihe P«, herausgegeben von Joachim Sartorius, Hans Thill, Ernest Wichner

© 2011 Tracy K. Smith Erstveröffentlichung in den USA bei Graywolf Press © 2012 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Cyan, Heidelberg Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße ISBN: 978-3-88423-410-5


Tracy K. Smith

Leben auf dem Mars Gedichte englisch-deutsch Aus dem Englischen 端bersetzt von Astrid Kaminski

Wunderhorn


THE WEATHER IN SPACE Is God being or pure force? The wind Or what commands it? When our lives slow And we can hold all that we love, it sprawls In our laps like a gangly doll. When the storm Kicks up and nothing is ours, we go chasing After all we’re certain to lose, so alive— Faces radiant with panic.

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DAS WETTER IM ALL Ist Gott ein Wesen oder reine Kraft? Der Wind Oder was ihn erschafft? Wenn unsere Leben gemächlich Verlaufen und wir alles, was uns lieb ist, an uns halten, räkelt Es sich in unseren Schößen wie ein schlaffes Stoffpüppchen. Wenn Sturm Aufkommt und nichts uns mehr sicher ist, jagen wir all den befürchteten Verlusten hinterher, plötzlich so voller Leben – Mit vor Panik glühenden Gesichtern.

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ONE


Eins


SCI-FI There will be no edges, but curves. Clean lines pointing only forward. History, with its hard spine & dog-eared Corners, will be replaced with nuance, Just like the dinosaurs gave way To mounds and mounds of ice. Women will still be women, but The distinction will be empty. Sex, Having outlived every threat, will gratify Only the mind, which is where it will exist. For kicks, we’ll dance for ourselves Before mirrors studded with golden bulbs. The oldest among us will recognize that glow— But the word sun will have been re-assigned To a Standard Uranium-Neutralizing device Found in households and nursing homes. And yes, we’ll live to be much older, thanks To popular consensus. Weightless, unhinged, Eons from even our own moon, we’ll drift In the haze of space, which will be, once And for all, scrutable and safe.

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SCI-FI Nur noch Kurven wird es geben, keine Kanten mehr. Ausschließlich nach vorn ausgerichtete saubere Linien. Die Geschichte mit ihrem harten Rückgrat und Kapiteln Voller Eselsohren wird durch Nuancen ersetzt sein. Genau wie die Dinosaurier den Weg räumen Mussten für riesige Mengen an Eis. Frauen werden noch Frauen, die Unterscheidungen Aber hinfällig sein. Geschlechtliches wird, Nachdem es alle Bedrohungen überstanden hat, Nur im Gehirn noch ausgelebt und befriedigt werden. Sollten wir einen Kick brauchen, werden wir vor Spiegeln, Über und über von goldenen Lichtern verziert, ein Solo tanzen. Dem Ältesten unter uns wird dieses Leuchten bekannt vorkommen – Aber das Wort Sonne längst neu vergeben worden sein an einen Uran neutralisierenden Apparat, der zur Grundausstattung Von Wohnungen und Pflegeeinrichtungen gehören wird. Und natürlich werden wir, dank eines Volksentscheids, Viel länger leben. Schwerelos und ungehindert, Äonen selbst von unserem eigenen Mond entfernt, fluten Wir dann durch den Dunst des Alls, das ein und für alle Mal Erforscht und vollkommen sicher sein wird.

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MY GOD, IT’S FULL OF STARS 1. We like to think of it as parallel to what we know, Only bigger. One man against the authorities. Or one man against a city of zombies. One man Who is not, in fact, a man, sent to understand The caravan of men now chasing him like red ants Let loose down the pants of America. Man on the run. Man with a ship to catch, a payload to drop, This message going out to all of space. . . . Though Maybe it’s more like life below the sea: silent, Buoyant, bizarrely benign. Relics Of an outmoded design. Some like to imagine A cosmic mother watching through a spray of stars, Mouthing yes, yes as we toddle toward the light, Biting her lip if we teeter at some ledge. Longing To sweep us to her breast, she hopes for the best While the father storms through adjacent rooms Ranting with the force of Kingdom Come, Not caring anymore what might snap us in its jaw. Sometimes, what I see is a library in a rural community. All the tall shelves in the big open room. And the pencils In a cup at Circulation, gnawed on by the entire population. The books have lived here all along, belonging For weeks at a time to one or another in the brief sequence Of family names, speaking (at night mostly) to a face, A pair of eyes. The most remarkable lies.

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MEIN GOTT, ES IST VOLLER STERNE 1. Wir stellen es uns einfach nur größer, aber ansonsten wie ein Abbild Des bereits Bekannten vor. Einer allein gegen die Gesamtheit der Herrschenden. Oder einer allein gegen eine ganze Herde von Zombies. Ein Mensch, Der, genau genommen, gar kein Mensch ist, ausgesandt, um diese Karawane der Menschen zu verstehen, die ihn nun jagen wie Hummeln, die sich am nackten Hintern von Amerika vergehen. Ein Mensch auf der Flucht. Der Mensch mit einem Schiff, das zu entern, einer Ladung, die zu versenken ist, Diese Nachricht wird durch den gesamten Weltraum verbreitet ... Obwohl es sich Vielleicht auch eher um eine Art Leben auf dem Meeresgrund handelt: stilles, Sich selbst tragendes Sein, irgendwie haltlos heiter. Relikte eines altmodischen Designs. Manche mögen auch die Vorstellung Einer kosmischen Mutter, die durch die Sternengischt auf uns herunterschaut. Weiter so, blubbert sie aufmunternd, wenn wir Richtung Licht torkeln Und beißt sich auf die Lippen, wenn wir töricht am Riff hängen bleiben. Nur das Beste will sie, und wie liebend gern sie uns an ihre Brüste presste, Während gleichzeitig der Vater durch die angrenzenden Räume wütet, Phrasen mit der Wucht von Dein Reich Komme um sich schmeißend, Unberührt davon, wem wir als Beute und Fraß in die Klauen fallen. Manchmal stelle ich mir eine Stadtbibliothek in ländlicher Gegend vor. Lange Regale in großen, offenen Räumen. Und an der Ausleihtheke eine Dose Mit Bleistiften, an denen bereits die gesamte Bevölkerung herumgekaut hat. Die Bücher haben hier schon immer so gelebt, unter schnell wechselnden Familiennamen, im Wochenrhythmus mal vom einen, mal vom anderen gehegt, Erzählen sie ihre Geschichten (meist bei Nacht), einem einzelnen Gegenüber, Einem Augenpaar. Allerbemerkenswerteste Lügen.

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2. Charlton Heston is waiting to be let in. He asked once politely. A second time with force from the diaphragm. The third time, He did it like Moses: arms raised high, face an apocryphal white. Shirt crisp, suit trim, he stoops a little coming in, Then grows tall. He scans the room. He stands until I gesture, Then he sits. Birds commence their evening chatter. Someone fires Charcoals out below. He’ll take a whiskey if I have it. Water if I don’t. I ask him to start from the beginning, but he goes only halfway back. That was the future once, he says. Before the world went upside down. Hero, survivor, God’s right hand man, I know he sees the blank Surface of the moon where I see a language built from brick and bone. He sits straight in his seat, takes a long, slow high-thespian breath, Then lets it go. For all I know, I was the last true man on this earth. And: May I smoke? The voices outside soften. Planes jet past heading off or back. Someone cries that she does not want to go to bed. Footsteps overhead. A fountain in the neighbor’s yard babbles to itself, and the night air Lifts the sound indoors. It was another time, he says, picking up again. We were pioneers. Will you fight to stay alive here, riding the earth Toward God-knows-where? I think of Atlantis buried under ice, gone One day from sight, the shore from which it rose now glacial and stark. Our eyes adjust to the dark.

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2. Charles Heston wartet darauf, eingelassen zu werden. Er bittet zunächst höflichst darum. Beim zweiten Mal setzt er die Zwerchfellatmung ein. Beim dritten Mal greift er Zur Moses-Methode: Hocherhobene Arme, das Gesicht in apokryphes Weiß getaucht. Frisches Hemd, der Anzug sitzt. Er bückt sich leicht, als er ins Zimmer schleicht. Dann ist er hier, in voller Statur. Schaut sich um. Nicht ohne auf eine Geste von mir Zu warten, setzt er sich. Die Vögel beginnen mit dem Abendgeplauder. Unter uns Werden Kohlen angezündet. Falls vorrätig, nimmt er einen Whiskey, falls nicht, Wasser. Ich bitte ihn, ganz von vorn zu beginnen, trotzdem setzt er irgendwo mittendrin ein. Das war damals die Zukunft, sagt er. Bevor die Welt auf den Kopf gestellt wurde. Ein Held, ein Überlebender, die rechte Hand Gottes. Klar, sieht er die blanke Oberfläche vom Mond, wo sich für mich eine Sprache aus Klotz und Knochen sonnt. Er sitzt kerzengerade in seinem Sessel, dann atmet er hochtheatralisch ein Und aus. Soweit mir bekannt ist, war ich der letzte echte Mensch auf Erden. Gestatten Sie, dass ich rauche? Draußen legen sich die Stimmen. Flugzeuge starten oder landen, wer weiß. Ein Mädchen wimmert, dass es noch länger aufbleiben will. Über uns Fußstapfen. Ein Brunnen im Nachbargarten plappert vor sich hin, die Hauswände werden durchlässiger In der Nachtluft. Das waren noch Zeiten damals, nimmt er den Faden wieder auf, wir waren Pioniere. Und dann: Willst du hier wirklich um dein Leben kämpfen, während Die Erde auf Gott-weiß-was zusteuert? Ich denke an Atlantis, im ewigen Eis begraben. Eines Tages einfach von der Landkarte verschwunden, die Küsten, vor denen es lag, nun Starr und steif. Unsere Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit.

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3. Perhaps the great error is believing we’re alone, That the others have come and gone—a momentary blip— When all along, space might be choc-full of traffic, Bursting at the seams with energy we neither feel Nor see, flush against us, living, dying, deciding, Setting solid feet down on planets everywhere, Bowing to the great stars that command, pitching stones At whatever are their moons. They live wondering If they are the only ones, knowing only the wish to know, And the great black distance they—we—flicker in. Maybe the dead know, their eyes widening at last, Seeing the high beams of a million galaxies flick on At twilight. Hearing the engines flare, the horns Not letting up, the frenzy of being. I want it to be One notch below bedlam, like a radio without a dial. Wide open, so everything floods in at once. And sealed tight, so nothing escapes. Not even time, Which should curl in on itself and loop around like smoke. So that I might be sitting now beside my father As he raises a lit match to the bowl of his pipe For the first time in the winter of 1959.

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3. Der große Irrtum könnte auch darin bestehen, anzunehmen, dass wir allein hier sind. Die anderen verschwanden wie sie kamen – eine kurze Irritation auf dem Radar – Wobei das All vielleicht schon immer ein einziger Verkehrsknotenpunkt war, Vor Energie, die wir weder sehen noch fühlen, schier aus den Nähten platzend, Sich gegen uns schleudernd, weit und breit Leben, Sterben, Sich-Entscheiden, Überall und tagtäglich werden Planeten sicheren Schrittes betreten, Die herrschenden Sterne respektvoll verehrt, auf ihre Monde, welche Das auch sein mögen, Steinchen geworfen. Klar, fragen sich auch die anderen, Ob sie die einzigen sind, nur wissend, dass sie es gerne wüssten, und dass es Dieses riesige schwarze Dazwischen gibt, in dem sie – wir – zuweilen aufblitzen. Vielleicht wissen es die Toten, wenn sich ihr Blick am Ende weitet Und sich über die grellen Scheinwerfer von einer Million Galaxien spannt, Die in der Dämmerung angeschaltet werden. Die Motoren heulen auf, Gehupe Ohne Unterlass, ein irres Leben. Ich würde es gerne alles genau eine Stufe Vor dem Wahnsinn einrasten lassen, wie ein Radio ohne Verstellknopf. Weit geöffnet, so dass alles auf einmal hereinfluten kann. Und dicht Versiegelt, so dass nichts mehr entrinnen kann. Nicht einmal die Zeit, Die sich von selbst einrollen würde und Schleifen legen wie Rauch. Ich säße dann jetzt vielleicht neben meinem Vater und er Zündete mit einem Streichholz seine Pfeife an, Die erste, die er im Winter 1959 geraucht hat.

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4. In those last scenes of Kubrick’s 2001 When Dave is whisked into the center of space, Which unfurls in an aurora of orgasmic light Before opening wide, like a jungle orchid For a love-struck bee, then goes liquid, Paint-in-water, and then gauze wafting out and off, Before, finally, the night tide, luminescent And vague, swirls in, and on and on. . . . In those last scenes, as he floats Above Jupiter’s vast canyons and seas, Over the lava strewn plains and mountains Packed in ice, that whole time, he doesn’t blink. In his little ship, blind to what he rides, whisked Across the wide-screen of unparcelled time, Who knows what blazes through his mind? Is it still his life he moves through, or does That end at the end of what he can name? On set, it’s shot after shot till Kubrick is happy, Then the costumes go back on their racks And the great gleaming set goes black.

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