Reisuasche issuu

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Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom - Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e.V. für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

Titel der Originalausgabe: The Gypsy Goddess © 2014 Meena Kandasamy Originalausgabe 2014 bei Atlantic Books Ltd. © 2016 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gestaltung & Satz: Leonard Keidel Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße ISBN 978-3-88423-520-1


Meena Kandasamy Reis und Asche Aus dem Englischen und mit einem Glossar von Claudia Wenner

Wunderhorn


- Z w e i t e r Te i l B R U T S T Ä T T E

3. Ko p fa b -Ge no sse n

Gopalakrishna Naidu hatte Gandhis gesamte Unerbittlichkeit geerbt, dessen Selbstgerechtigkeit fast vollständig und ein klein wenig von dessen Wunsch, die Menschheit zu retten. Als ihm klar wurde, dass er mit einer so wünschenswerten Mischung messianischer Merkmale ausgestattet war, schwang er sich für die Grundbesitzer von Nagapattinam zur Vaterfigur auf und übernahm die zeitlose Aufgabe, ihre begründeten und angemaßten Anrechte zu schützen. Wie es sich für selbst ernannte Helden gehörte, die so viel Verantwortung auf sich laden, erfüllte er alle nötigen Kriterien: er perfektionierte die Rolle eines Führers, der Hoffnung verkörperte, behauptete, den Wandel zu symbolisieren, während er zugleich an uralte Werte glaubte, und traf seine Wähler stets regelmäßig. Nachdem ich diesen kahl werdenden Mann mittleren Alters mit dreieinhalb beachtlichen Sätzen vorgestellt habe, trete ich als großmäulige Erzählerin und Roman-Schriftstellerin beiseite und lade Sie ein, ihn bei seinem Wahlkampf mitzuerleben. Als die Sonne den Himmel an einem schwülen Julinachmittag in Brand steckt, hält Gopalakrishna Naidus funkelnder

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Lustwagen (den die Dorfbewohner schlicht ›Lust‹ nennen, während diejenigen, die in ihm gefahren sind, ›Wagen‹ zu ihm sagen) vor Ramu Thevars Prunkbungalow, nach einer Fahrt durch die pittoreske Landschaft von Tanjore, die voller Seen und Flüsse und saftig grüner Reisfelder und tropischer Kokospalmen ist. In einer filmischen Weitwinkeleinstellung geht die Tür des aschfarbenen Ambassadors auf und man sieht erst Gopalakrishna Naidus rechte Hand mit den vielen Goldringen und dann taucht der Rest von ihm auf, gekleidet in makellose, handgesponnene, frisch gebügelte Baumwolle. Während Sie sich vergegenwärtigen, wie er von seinem Wagen zu seinem Bestimmungsort geht, sollten Ihre gespannten Ohren auf den Song im Hintergrund lauschen: einer von einer Million Million / majestätisch wie ein Löwe schreitet er / einer von einer Million Million / mit rotem rotem Kumkum auf der Stirn / einer von einer Million Million / um die Rebellion niederzuschlagen ist er gekommen. Auf Tamil gerappt klingt diese Musik ausgesprochen peppig, das müssen Sie mir glauben; was Sie hier sehen, ist Übersetzungstragik, während die Hauptfigur hinüberwechselt. Er nimmt Platz, wird angemessen begrüßt, trinkt den üblichen Filterkaffee und kommt ohne Trara zur Sache. Weil Gopalakrishna Naidu das zwanghafte Bedürfnis hat, seine eigene Stimme zu hören, und die anderen Grundbesitzer zudem auf den Junggesellenbariton gespannt sind, der den gesamten Distrikt befehligt und kontrolliert, richtet er als erster das Wort an den Krisenausschusssitzungsvorstand des Reiserzeugerverbands. Wirklichkeit und Kino wetteifern miteinander, als er das Wort ergreift: seine Zuhörer sind sichtlich begeistert, seine Rede ist scharf, und von den Schultern abwärts wirkt sein vom Machtrausch betäubter Körper reglos. Er beginnt mit einer Schnellfeuerattacke. Govinda Raja Naidu, seinen direkten Nachbarn und entfernten Cousin wählt er als erstes Opfertier. »Unser PetroleumGovinda erfüllt uns mit Stolz. Warum halten wir wohl heute diese Krisensitzung ab? Weil wir feiern wollen, was er erreicht

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hat, und weil wir diesem Braveheart gratulieren wollen. Sein Name hallt in alle acht Richtungen. Wenn die Kommunisten Plakate aufhängen, wird bald jeder im Distrikt sein Gesicht bestens kennen. Wer weiß, vielleicht wird er sogar auf Kinoplakaten zu sehen sein. Schließlich hatte unser Held, als er in Thevur über den Markt stürmte und Morddrohungen ausstieß, mehr Zuschauer als MGR in Nadodi Mannan.« Ein paar Grundbesitzer lachen nervös. Gopalakrishna Naidu fährt fort. »Bruder, dein Leichtsinn holt dich bald ein. Noch ehe das Wort ›Petroleum‹ in deinem Namen vertrocknet ist, bist du Hackfleisch. Gleichgültigkeit hilft uns nicht. Mit jeder kommunistischen Leiche ist unsere Ruhe dahin. Die Polizei hetzt uns wie Hunde. Die Kommunisten werden uns beschuldigen, wenn ihre lokalen Führer Thevur Kannan oder Sikkal Pakkirisamy sich aufhängen, und sogar wenn sie sich gegenseitig aufhängen. Man wird gegen uns prozessieren. Wenn diesen gemeinen Hunden etwas passiert, werden sechs Dörfer schnellstens in den Zeugenstand treten. Wollt ihr dann Geister rufen, die zu euren Gunsten aussagen? Ich sage nicht, dass ihr vor den Kopfab-Genossen Angst haben sollt. Im östlichen Tanjore bin ich derjenige, der ihren Hass am meisten verdient. Ich bin ihr Feind Nummer eins. Sie haben unsere eigenen Leute gegen uns aufgewiegelt, und deshalb müssen wir wissen, wann wir wagemutig sein können und wann besonnen.« An dieser Stelle fällt mir plötzlich auf, dass jeder Schurke, der Autorität hat , etwas streicheln muss, um seine Hände zu beschäftigen. Wie Vito Corleone und Blofeld ihre Katzen. Leider mag Gopalakrishna Naidu nur Hunde. Außerdem durfte sein Schäferhund Tommy nie auf seinen Schoß. Also verzichte ich auf diesen Einfall und auf meine Requisitensuche und kehre zur Geschichte zurück. Während wir abgeschweift sind, sind ein paar Dinge passiert, aber viel werden wir nicht verpasst haben. »Den nächsten Helden in unserer Mitte brauchen wir nicht vorzustellen. Seine Ländereien erstrecken sich über acht Dör-

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fer, aber da diese Null so sehr mit ihren männlichen Großtaten befasst ist, hat sie nicht einmal Zeit, sich der Landwirtschaft oder unserem sinnlosen Verband zu widmen.« Die zweite Zielscheibe ist Ramanuja Naidu. Gopalakrishna Naidu hat das schwache Selbstbewusstsein einiger Verwandter im Nu erschüttert und fühlt sich daher moralisch überlegen. Wen sucht er sich als nächsten aus? Nicht seinen Neffen Balakrishna Naidu. Nicht Murthy, seinen Sekretär, der rechts von ihm sitzt. Nicht Damu. Nicht Kittu. Auch nicht Perumal Naidu oder Narayanasamy Pillai oder Kothandam Pillai. Keine Marionette. Weder Pakkirisami Pillai aus Irukkai, die Lebensader für die Arbeitereinfuhr, noch das Vater-Sohn-Duo Porayar, beides Grundbesitzer, die in Kilvenmani wohnen (die Kommunisten hatten in Umlauf gebracht, der Vater sei ein routinierter Zuhälter). Auch nicht Andhakkudi Chinnaswamy Iyer, der im ganzen Distrikt berühmt dafür war, dass er die Unberührbaren, die seine Straße betraten, mit Steinen bewarf. Nicht Adikesavalu oder einen anderen Handlanger. Nicht seinen alten Feind Arumuga Mudaliar. Nicht den Schatzmeister Ramu Thevar. Und schon gar nicht das Großmaul Sambandhamoorthy Mudaliar oder seinen Sekretär Kaathaan Perumal. Nicht Kayarohanam Chettiar, dem Mirasdar-Geldverleiher von Nagapattinam. Sie alle müssen warten, bis sie an der Reihe sind. »Man sagt, Du bist jetzt Kommunist. Ich hoffe, das ist nur ein Gerücht.« Er wählt Ganapati Nadar aus. »Doch wer kann diese ungebildeten Leute daran hindern, zu sagen, was ihnen gerade einfällt? Sie haben ja guten Grund so zu reden. Alle Dörfer in Nagapattinam schmücken sich mit unserer Verbandsfahne, nicht wahr? Außer Kilvenmani, das Glück hat, weil es Dir gehört, und Pech, weil es voller roter Fahnen ist. Verzeih mir, Genosse Ganapati, wenn sich dir bei all dem Gerede der Magen umdreht, aber willst du uns allen Ernstes die Schau stehlen?« Ramu Thevar versucht zu vermitteln, doch Murthy, der Sekretär, bringt ihn mit seinen Blicken zum Schweigen. Als Gopalakrishna Naidus Freitag ist er dazu offiziell verpflichtet.

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Ganapati steht schockiert und schwer gebeugt da und beteuert hastig seine Loyalität und Hingabe. »Ich habe gebeten, dass die roten Fahnen entfernt werden – selbst gestern habe ich wieder darum gebeten und viele Male zuvor.« »Ach, und das sollen wir dir glauben. Der gesamte rote Stoff von Nagapattinam weht in diesem Dorf. Aber wie willst du das sehen? Deine beiden Ehefrauen halten dich in Trab .« Ganapati Nadar ist bestürzt über diese schroffe Attacke, sagt aber keinen Ton. Gopalakrishna, auf den ersten paar Seiten als Schurke vorgeführt und mit erfundenem Leben so ausgestattet, dass er als sachlicher Mann erscheint, hat mittlerweile die Initia­tive für seinen Dialog übernommen. »Du kannst sie wieder und wieder bitten. Du sorgst besser dafür, dass sie sich am Riemen reißen, sonst muss ich einschreiten und jedem Pallan und Paraiyan und Chakkili eine Lektion erteilen. Alle wissen, was mit den Unberührbaren in meinem Dorf geschah – Irinjiyur ist kommunistenfrei. Wenn sie auf unserem Land bleiben wollen, müssen sie unsere Regeln befolgen. Wenn sie uns nicht gehorchen wollen, können sie für immer im Untergrund bleiben, so wie ihr Genosse Chinnapillai. Wenn sie anderen keine Scherereien machen, können sie Kommunisten bleiben. Dein Problem ist, es bei der Bitte zu belassen. Aber sie gehorchen nicht und hören nicht auf dich. Sie geben Widerworte, weil du sie verhätschelt hast. Das geht nicht mehr lange gut. Geh zu ihnen und behandele sie so, wie man sie behandeln muss. Oder geselle dich zu ihnen, dann mach ich euch alle zusammen fertig. Verrat mir einfach die Namen der Unruhestifter. Wir knöpfen sie uns einzeln vor. Tote reden nicht und schreien nicht auf öffentlichen Versammlungen. Sie sind still und benehmen sich und sind ein gutes Beispiel für andere.« Es herrscht ein langes, ausgedehntes, dramatisches Schweigen. Froh darüber, dass Ganapati Nadar den Kopf hinhält, stimmt Ukkadai Muthukrishna Naidu, der andere Mirasdar in

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Kilvenmani, begeistert zu. Diese Ermutigung macht Gopalakrishna Naidu noch geschwätziger. »Die Kommunisten sollten wissen, dass ihre Erpressungstaktiken zwecklos sind. Sie lenken ihre Umzüge durch unsere Straßen und halten Versammlungen auf unserem Grund und Boden ab. Sie drohen offen mit Gewalt: in ihren Liedern und Parolen. Sollen wir uns von ihnen derartig terrorisieren lassen? Haben wir nicht die Pflicht, den Leuten das wahre Gesicht der Kommunisten zu zeigen? Nur weil wir ein paar Grundbesitzer mit weichen Knien in unserer Mitte haben, denen es in der Hose zuckt, heißt das noch lange nicht, dass wir uns von diesen Outcasts aus dem Konzept bringen lassen. Mit ein paar von ihren Führern ein Abkommen zu treffen und dann die Hände in den Schoß zu legen und zu schweigen, reicht nicht aus. Wir sind persönlich dafür verantwortlich, dass sie keinen von uns als Geisel nehmen. Wir tun, was erforderlich ist, werden aber den Forderungen dieser Kulis und ihrer Führer nicht nachgeben. Heute seid ihr alle zu mir gerannt gekommen, weil sie ein halbes Maß Reis mehr wollten. Wenn ihr es ihnen heute gebt, wollen sie morgen zehn Maß. Wenn ihr sie in eure Häuser lasst, wollen sie bald in euren Betten schlafen. Nichts, was wir ihnen geben, wird ihnen genügen, und deshalb ist es besser, ihnen gleich gar nichts zu geben. Sollen sie sich beklagen.« Er blickt jetzt im Raum herum, sieht sich die nickenden Köpfe an und ruft sie auf wie bei einer Preisverleihungszeremonie: »Petroleum-Govinda, Balakrishna, Ramanuja, Murthy, Kittu – ein Mordfall. Kothandam, Porayar – Vergewaltigungsfall. Ramu Thevar – Entführung und Mordversuch. Selbst Mudaliar-Ayya muss in jüngeren Jahren angeklagt worden sein. Vinayagam-Ayya ist im Moment nicht hier. Er hat uns mitgeteilt, dass er mich morgen besuchen wird. Kann noch irgendwer zählen, wie oft gegen ihn ermittelt wurde? Er hat jede Bewegung mitgemacht und ist jetzt in der Regierungspartei, genauer gesagt ist er der größte DMK-Politiker in unserer Gegend. Er ist kühn und unerschrocken, Prozesse erschüttern ihn nicht. Von

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ihm kann man lernen, dass man gute Arbeit leistet, wenn Klage gegen einen erhoben wird. Ein Prozess bedeutet, dass man ausgezeichnete Arbeit leistet.« Alle wirken erleichtert. Berauscht von den Zuhörern, die jedes seiner Worte bewundern, sagt Gopalakrishna: »Ein Prozess sollte uns keine Angst machen. Er zeugt von Führungsqualität. Heute werde ich so oft verklagt wie nie zuvor. Heute ­schimpfe ich mit Petroleum-Govinda, weil er leichtsinnig in Schwierigkeiten geraten ist. Morgen bin ich der erste, der ihm hilft. ­Warum? Weil ich über die Klägerpartei Bescheid weiß. Die Polizei klagt, Minister klagen, Ministerpräsidenten. Das geht endlos so weiter. Die Kommunisten haben im letzten Vierteljahr sechzehn Eingaben eingereicht. Sie haben eine Abteilung, die Artikel gegen die Regierung schreibt, und eine andere, die Memoranden an die Regierung schreibt. Ich weiß, dass sie ein paar Gangster beschäftigen, die den ganzen Tag nichts anderes tun als Polizeianzeigen für jeden Pallan und jeden Paraiyan zu schreiben, der ins Parteibüro gelaufen kommt. Die Lordschaften in unser Mitte, die eine englische Bildung genossen haben, mögen es versäumen, Protokolle unserer Versammlungen zu erstellen, doch sollten wir nicht vergessen, dass alle unsere Schritte akribisch als Strafanzeigen abgeheftet werden. Wenn man uns morgen unsere Ländereien abnimmt, uns zu Bettlern macht und ins Gefängnis wirft, dann können wir nicht die Politik oder das politische Programm dafür verantwortlich machen. Schuld daran ist einzig, dass wir uns nicht um unseren Schreibkram kümmern.« Srinivasa Naidu und Seshappa Iyer sind plötzlich voller Energie und kritzeln wie wild. Beide würden gerne ihr Unbehagen zum Ausdruck bringen, indem sie auf ihren Stühlen hin- und herrücken, wodurch die Leserinnen und Leser leichter nachempfinden könnten, wie unwohl sie sich fühlen, doch leider ist dies ein ländlicher Roman, und sich auf diese Weise wichtig zu machen, gilt in der tamilischen Kultur als unverschämt. Also sitzen sie still und warten bis die Tirade vorbei ist.

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Er wählt seine letzten Zielscheiben aus. »Seht euch die Brahmanen unter uns an. Beim geringsten Anzeichen von Unruhe laufen sie davon. So viele haben ihre Agraharams verlassen und sind in die Stadt geflüchtet. Eine exklusive Straße nach der anderen liegt verlassen da. Sie haben zu viel Angst und können dem Feind nicht ins Gesicht schauen. Wir sind stärker und tapferer. Wir sind mit Fleisch groß geworden, wir sind Männer. Wir müssen nicht nach Delhi, Kalkutta oder London gehen. Wir können hier bleiben und kämpfen.« Mindestens drei Grundbesitzer, die von Gopalakrishna Naidu Prügel eingesteckt haben, können bezeugen, dass er in absoluter Hochform ist. Anscheinend kommen keine weiteren Vorwürfe und Degradierungen. Niemand sucht nach Erklärungen. Keiner bietet welche an. Unaufrichtig wie alle diplomatischen Despoten und mit der nötigen Dosis Ehrerbietung begibt er sich nun ins sichere Gefilde der Regierungspolitik: Wir müssen uns der neuen, von der Landesregierung auferlegten Bewässerungssteuer widersetzen, weil sie den Kleinbauern das Genick bricht. (»Sie besteuern den Grund und Boden, sie besteuern das Wasser, will die Partei der aufgehenden Sonne demnächst das Licht besteuern?«); da die Düngemittel nicht die versprochene Wirkung haben, müssen wir Sondereinsatzgruppen verlangen, die die Qualität offiziell kontrollieren (»Heutzutage geben die Firmen mehr für die Werbung als für die Produktion ihrer Erzeugnisse aus«); wir müssen die Verschiebung der Brunnenbohrungen im Distrikt verurteilen (»Diese Regierung besteht aus Totengräbern: Erst wenn sie Tote sieht, macht sie sich an die Arbeit.«) Derbe Worte in Verbindung mit dem ausgiebigen Gebrauch des Pluralis Majestatis bewirken die richtige Reaktion: Die Stimmung ändert sich merklich, und der Schwenk der Kamera über unseren Tisch mit den Snacks zeigt andere Grundbesitzer (und deren Handlanger), die voller Bewunderung mit großen Augen vor sich hinstarren, in entsprechenden Abständen vor sich hinkichern, sprachlos wirken oder emphatisch Zustimmung signalisieren. 48


Nach dieser erfolgreich hergestellten, auf Zustimmung basierenden Kameradschaft, begibt sich Gopalakrishna Naidu auf die nächste Stufe. Um Wut zu erzeugen, verschärft er seinen mehrgleisigen Angriff auf die Ineffizienz hirnloser und rückgratloser Regierungsbeamter. Dass Vinayagam Naidu, der kommunale DMK-Vorsitzende, nicht anwesend ist, schafft eine Atmosphäre, die ihm die Sache erleichtert. »Wie kann man nur gezwungen werden, den Preis für das Korn stabil zu halten, wenn sich die Preise für Dünger täglich vervielfachen? Warum wurde der Rat der Planungskommission nicht befolgt, jeden Doppelzentner Reis um fünfzig Rupien zu erhöhen? Wenn wir jedes Mal vor Gericht gehen müssen, um unsere Rechte geltend zu machen, wozu haben wir dann eine Regierung in Madras? Warum träumen diese Minister davon, in der nächsten Saison eine Million Morgen Land zu bewirtschaften, und, noch wichtiger, wo sind diese Millionen Morgen Land? Wissen sie nichts von unseren Schwierigkeiten? Haben sie vergessen, dass dieser Dämon von Kommunismus unsere Ländereien verwüstet hat? Wäre es ihnen egal, wenn wir nichts mehr zu essen hätten, solange wir der Zivilbevölkerung all unser Korn zur Verfügung stellen? Könnte Madras auch nur einen Tag überleben, wenn es ebenso in Dunkelheit getaucht würde wie Nagapattinam und mit denselben langen Stromausfällen geschlagen wäre? Halten sie unsere Leute für Prostituierte und Zuhälter und Kleinkriminelle, die die Schwärze der Nacht brauchen, um Verbrechen zu begehen? Hat ihre Polizei uns je beschützt? Wenn je ein Mann in Khaki einem Vater geboren wäre, würde er sich dann nicht lieber die Zunge ausreißen und vor Scham sterben als zu lächeln, wenn die Kommunisten die Polizei in jeder Sitzung wild beschimpft? Wie können wir erwarten, dass impotente Männer uns beschützen, die nicht einmal sich selbst schützen können?« Sie machen sich über diese Rede lustig und sehen mich an, als sei ich ein von ihm beauftragter Ghostwriter. Sie fragen mich, ob ich ihn dazu gebracht habe, diese Rede tagelang mit mir einzuüben. Sie weisen auch darauf hin, dass Fragen nor­malerweise nicht derart spontan hintereinander ­heraussprudeln. 49


Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein. Wie mache ich jetzt reinen Tisch? Wie alle Schriftsteller­ Innen vor mir bitte ich Sie um Ihr Vertrauen. Jede Eigenheit Gopalakrishna Naidus wurde eigens für diesen Roman sorgfältig recherchiert und dokumentiert – ich könnte einen Zertifikatskurs darüber anbieten, wenn sich jemand fände, der mich fürs Unterrichten bezahlt. Diese zornige Rede von der Stange hat es ihm tatsächlich ermöglicht, sich als Kommunalpolitiker zu etablieren. Wenn man ihn (ohne sarkastisch oder dumm zu klingen) auf seine Fähigkeit atemlos zu streiten anspräche, dann würde er freundlicherweise zugeben, dass dies wirklich ein Pluspunkt sei. Ich hoffe, das war überzeugend. Jetzt würde ich gern in Ramu Thevars Wohnzimmer zurückkehren und mit meinem Bericht fortfahren. Gopalakrishna Naidus Trommelfeuer von Fragen wird immer noch akribisch von Seshappa Iyer notiert, dem Schriftführer des Reiserzeugerverbands. Durch Übung listig und von Beruf Anwalt wird er später alles phrasenhafte Geschwätz, das Gopalakrishna Naidu ausgespuckt hat, in statistisch fundiertes, brandeiliges, höchstwichtiges Juristensprech voller Aufzählungszeichen ummünzen, als Memorandum von Forderungen an die Regierung. Seine juristische Erfahrung, sein Englisch und seine Beziehungen, die er gekonnt spielen lässt, machen ihn für den Reiserzeugerverband unverzichtbar. Iyer, der keinerlei Charme hat, jedoch weiß, welchen Einfluss er ausübt, ist der einzige, der Gopalakrishna Naidu unterbricht. »Man leckt keinem den Handrücken, der Honig auf dem Handteller hat«, sagt er. »Wir sind keine Hunde, die vom Lecken leben«, erwidert Gopalakrishna Naidu scharf, bekommt aber den sprichwörtlichen Wink mit. Jetzt nimmt er eine Hure namens Geschichte zu Hilfe und gewappnet mit seiner persönlichen Tragödie rasch in die Rückblende: Sein Vater starb vor Schmach, als Parolen brüllende

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Land­arbeiter auf einer Demonstration ihre Latschen durch die Luft schwenkten. Seine Mutter, die mit seinem frühen, unerwarteten Tod (der sich genau genommen 713 Tage nach dem provozierenden Umzug ereignete) nicht zurechtkam, beging Selbstmord (es war ihr sechster und letzter Versuch), indem sie ihren pulverisierten Diamantnasenring trank. »In unserem Kampf haben wir Opfer gebracht. Die Kommunisten waren uns zahlenmäßig überlegen, aber wir bringen es fertig, sie zu bekämpfen. Zwar haben wir Geld, und die Politiker stehen zu uns, doch wir tun einfach nicht genug. Wir wissen nicht, wie lange der gute Wille noch vorhält. Die Kommunisten werden jeden Tag stärker. In der Chakravarti-Druckerei lassen sie für zehn Rupien eintausend Flugblätter und Plakate drucken und beschämen uns überall. Wir haben die Pflicht, das öffentliche Interesse zu schützen. Wir müssen verhindern, dass die kommunistische Propaganda in uns einsickert und uns von unseren eigenen Leuten trennt. Haben unsere Kulis vergessen, dass das Land, auf dem ihre Hütten stehen, unser Eigentum ist? Haben sie sich klargemacht, wenn sie Ansprüche auf unser Land erheben, dass sie nur dort sind, um für einen geringen Lohn die Reisfelder zu bestellen? Nein, sie glauben es gehört ihnen! Wir kümmern uns um sie, wie um unsere eigene Familie, doch sie betrachten uns als Gegner. Die Kommunisten haben gefährliche Ideen in die Köpfe dieser Unberührbaren gepflanzt. Jetzt treten sie im Wahlkampf gegen uns an. Diese Leute sind die ersten Opfer des Kommunismus, weil sie völlig ungebildet sind. Sie machen sich keine Sorgen wegen des nicht maskierbaren Gestanks nach Kochschnecken und Schweiß, der überall in ihrem Wohnviertel herrscht, so dass ihr Cheri eine Meile gegen den Wind stinkt. Doch sie sind auf die rote Fahne fixiert. Als vor fünfundzwanzig Jahren die erste rote Fahne gehisst wurde, begann unser Niedergang. Damals fuhr der Teufel in diese Leute. Sie wurden einer Gehirnwäsche unterzogen und man brachte sie dazu, an Blutvergießen zu glauben.

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