Meine Moderne

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Edition K端nstlerhaus


Edition Künstlerhaus, herausgegeben von Michael Buselmeier. Band 32 Die Edition Künstlerhaus ist eine literarische Reihe des Künstlerhauses Edenkoben, einer Einrichtung der »Stiftung Rheinland–Pfalz für Kultur«.

© 2011 Verlag Das Wunderhorn Rohrbacher Straße 18 69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten Erste Auflage Satz: Cyan, Heidelberg Druck: NINO Druck, Neustadt/Weinstraße ISBN: 978-3-88423-379-5


Martin LĂźdke

Meine Moderne Bausteine zu einer persĂśnlichen Literaturgeschichte

Wunderhorn



Kleines, auch wehmütiges Vorwort zu den Zeugnissen einer großen, aber vergangenen Zeit. In zweifelhaften Fällen entscheide man sich, das lässt sich von Karl Kraus lernen, für das Richtige. Der Fall, um den es mir hier geht, kann hingegen als unzweifelhaft gelten. Mir macht, um das offen zu bekennen, der Gedanke etwas zu schaffen, dass meine Lebenswelt langsam, dafür kontinuierlich hinter dem Horizont verschwindet, ähnlich wie das Ufer des Meeres, von dem man sich mit einem Schiff entfernt. Irgendwann bleibt noch ein grauer Streifen und dann, gute Frage, wohin geht dann der Blick? Nur noch nach vorn? Oder? Andere Frage: Wer, zum Beispiel, war Hans Erich Nossack? Um nicht von Ernst Weiß und Franz Werfel zu reden. Warum sehen viele meiner vielen Bücher nach nur einigen Jahrzehnten so uralt aus? Ich weiß, die Toten sind tot. Wenn auch offenbar nicht alle. Hans Fallada erfährt, fast schon vergessen, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod eine unerklärlich seltsame Wiedergeburt, weltweit. Dennoch, der Tod bleibt die größte Belastungsprobe für ein lebendiges Werk. Wenn nichts Neues nachkommt, muss das Vorhandene seine Beständigkeit erweisen. Das gelingt nur in den seltensten Fällen. Auch manch lebender Autor hat sich selbst überlebt, wie Gabriele Wohmann kürzlich in einem Gedicht klagte. Schon Peter Schneiders einst legendäre Erzählung „Lenz“, 1973 erschienen, wird heute allenfalls noch von Versorgungsempfängern in vager Erinnerung gehalten. Wer sich einmal den Tort antut, die Programme unserer berühmten Verlage, sagen wir S. Fischer um 1900, Rowohlt, etwa zwei Jahrzehnte später, oder Suhrkamp in den frühen Sechzigern des letzten Jahrhunderts durchzusehen, reibt sich verwundert die Augen. Fast alles Namen, die keiner mehr kennt. Größen von einst, vergessen. Nur einige, wenige Gestalten schaffen es, sich zu halten. Ich nenne sie die „Klassiker der Moderne“. Sie sind im Bildungskanon verankert, in der Schule Pflichtlektüre und sie gehören zum Grundbestand eines offen sichtbaren Bücherregals. Auch da bröckelt es. Der Kanon verändert sich. Wenn in der Schule Bernhard Schlink statt Brecht gelesen wird und im mittleren Management die Wahl zwischen Mario Götze und Mesut Özil mehr

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Interesse erweckt, als die Unterschiede zwischen Grass und Walser, wenn also der Distinktionsgewinn literarischer Bildung immer mehr schwindet, dann ist erst einmal einzugestehen, dass die Rolle, die Literatur heute noch in unserer Gesellschaft spielt, immer marginaler wird. Eine Randerscheinung. Deswegen wird nicht unbedingt weniger gelesen. Doch dieser Prozess beschleunigt wohl noch die Verschiebung des Horizonts. Die Richtung ist vorgegeben, es geht fast immer nur nach vorne, in die Zukunft. Der Blick ist auf das gerichtet, was kommen wird. Im gleichen Maße fällt das Alte, was vergangen ist, ‚hinten’ runter. Diese Horizontverschiebung wird jedem Leser im Laufe eines langen Lese-Lebens irgendwann einmal, mehr oder weniger schmerzlich, bewusst. Wenn er dann zurückblickt, anders als der Benjaminsche Engel der Geschichte, sieht er, die ungewisse Zukunft vor sich, hinter sich den Trümmerberg, seine Gewissheiten mehr und mehr verschwinden. *** Klar, die Welt war auch „Morgens um sieben“, also damals nicht in Ordnung. Aber es war noch das Gerüst erkennbar, in dem sich der Zerfall ihrer Ordnung beschreiben ließ. Und es war noch Hoffnung in der Welt, die sich nicht aufs Jenseits berufen musste. Der utopische Kern, der jeder großen (wie wir gerne sagten: bürgerlichen) Literatur innewohnt, glühte noch. Wenigstens ein bisschen. Ernst Bloch sprach mit einer prägnanten Formel von der Kunst als dem Vorschein einer besseren Welt. In den Jahren, in denen der größere Teil der folgenden Texte geschrieben wurde, leuchtete noch dieser Vorschein, wenn auch von Jahr zu Jahr schwächer und schwächer. Und als dann sogar Helmut Heißenbüttel, unbestrittener Cheftheoretiker einer experimentell-avantgardistischen Literatur und damit der diensthabende Fortschrittsapostel unseres deutschen Teilstaates, das Ende der Moderne verkündete und fröhlich zur Feier einer neuen Beliebigkeit aufrief, es war Mitte der achtziger Jahres des letzten Jahrhunderts, da ließ sich nicht länger übersehen, dass sich etwas an der Geschäftsgrundlage verändert hatte, beziehungsweise um mit Marx zu reden, die „Beleuchtung“ gewechselt worden war. Alles ist möglich, vom Sozialistischen Realismus über die Novelle und dem Sonett bis zur gereimten Parabel, deklarierte Heißenbüttel. Die geschichtsphilosophische Bindung der ästhetischen Form war

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endgültig aufgehoben. Habermas proklamierte kurz darauf seine „Neue Unübersichtlichkeit“. Und die Literaturkritik kehrte ziemlich ungeniert wieder zurück zum Geschmacksurteil. *** Deshalb habe ich hier Überlegungen aus einer kurzen Periode ausgewählt, die kaum zwei Jahrzehnte umfasst, von meinen ersten Schreibversuchen bis hin zum nicht mehr übersehbaren Zerfall der Moderne. Und ich habe das Vorhaben „Meine Moderne“ genannt. Mir geht es nämlich auch um einen Zusammenhang, der mit dem Begriff Horizontverschiebung angedeutet werden könnte. Nicht nur unser Handeln, auch unsere Wahrnehmung ist von einer Art Rahmen begrenzt. Bestimmte Zeitvorstellungen und -Strukturen definieren unseren Erfahrungshorizont. Was sich dahinter alles verbirgt, darüber machen wir uns selten Gedanken. Wir erleben es als natürliche Gegebenheiten. Um diesen Zusammenhang etwas deutlicher zu machen, möchte ich an meine Urgroßmutter, „die Oma Toni“, erinnern, zu deren Füßen ich einst, in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, zumal dann gerne saß, wenn dank einer „Stromsperre“ nur das spärliche Licht einer flackernden Kerze die, wie man sagte, von „oben verordnete“ Dunkelheit kaum durchbrach. Ich fühlte mich geborgen, doch etwas unheimlich war mir schon. Deshalb hockte ich gerne auf der Fußbank vor dieser alten Frau, die oft noch an ihrer Nähmaschine saß. Sie hatte, als das Licht ausging, die Arbeit unterbrochen. Bald begann sie zu erzählen, eigentlich immer von „damals“, ihrer Kindheit, ihrer Jugend, von den Kriegen, merkwürdigerweise auch immer wieder gerne von Turnfesten. Vom Turnvater Jahn schwärmte sie regelrecht. Je länger die Ereignisse zurücklagen, desto näher schienen sie ihr. Geboren war sie in den frühen fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in Apolda, einer kleinen thüringischen Stadt, gleich weit von Weimar und Jena entfernt. Sie hatte natürlich Leute gekannt, die Goethe persönlich gekannt hatten. Trotzdem war Goethe für sie viel weiter weg als ihr Idol Schiller, der für sie eine Art Held geblieben war. Sie hatte auch Kriegsteilnehmer von 1866 gekannt. Einer ihrer vielen Brüder war 1870/71 gegen Frankreich zu Felde gezogen. Und ihre Schwiegersöhne hatten vierzig Jahre später vor Verdun gelegen.

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Jene Zeit - das war ihre Zeit. Die Eisenbahn, die Erfurt mit Berlin verband. Der Gasstrumpf, der erstmals künstliches Licht brachte. Dann das elektrische Licht, Fahrrad, Auto, Telefon, Flugzeuge, auch der erste Zeppelin, der auf einer großen Wiese am Rande der Stadt gelandet war. Immer wieder erzählte, rezitierte sie Schillers Balladen. Sie war über neunzig Jahre alt, aber die „Kraniche des Ibykus“ waren ihr noch immer präsent. Eine Glockengießerei in Apolda, in der auch die größte Glocke des Kölner Doms gegossen worden war, hatte Schiller Anregung und Vorbild für seine wohl populärste Ballade geliefert. Diese Welt, von der sie mir erzählte, das war ihre Welt. Den Zweiten Weltkrieg nahm sie nur notgedrungen noch zur Kenntnis. Die Lebensspanne meiner Ur-Großmutter deckt also ziemlich genau jenen Zeitraum ab, der in der ästhetischen Theorie als Moderne firmiert: von den „Fleurs du Mal“ bis zum „Endspiel“, von Baudelaire bis Beckett. *** Louis Aragon erinnert in diesem Zusammenhang an Ereignisse, die wie Blitze aufleuchten und eine ganze Generation prägen, ihre Denkweisen bestimmen, ihre Assoziationsräume begrenzen. Das gemeinsame Erlebnis, etwa im gleichen Alter, verbinde. Das mag die Dreyfus-Affäre gewesen sein oder Neil Armstrongs Botschaft vom Mond. Auch die „poetische Mentalität einer Epoche“ lasse sich darauf zurückführen. „Sie entsteht inmitten der unendlich variierenden Umstände jener paar jähen Blitze“. Aragons Überlegungen beziehen sich auf die (Vor-) Geschichte des Surrealismus, die er am Horizont seiner Generation ablesen möchte. Unser Rezeptionsvermögen scheint an diesen Horizont gebunden. Unser Wissensbestand bleibt zeitbezogen. Unsere Kapazitäten lassen sich offenbar nicht beliebig vergrößern. Was sich nach vorn eröffnet, Platz für die Zukunft schafft, muss hinten, in der Vergangenheit, entsorgt werden. Dabei sind quantitative Vergleiche sicher ebenso problematisch wie räumliche Übersetzungen dieser temporalen Prozesse. Zudem stand, ästhetisch betrachtet, die Moderne stets unter dem Diktat des Neuen. Hinzu kommt, dass wir immer auch mit Ungleichzeitigkeiten leben, die das alles noch weiter komplizieren. Johann Peter Hebel erzählt im „Unverhofften Wiedersehen“ die Geschichte einer Frau,

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die am Ende eines langen Lebens vor dem Leichnam ihres Bräutigams steht, der einst bei einem Grubenunglück verschüttet worden war. Hebel verdeutlicht den Zeitraum, der zwischen den beiden Ereignissen vergangen ist, mit einem ganzen Katalog historischer Geschehnisse. Der Bräutigam, gleichsam balsamiert, war, über alle die Jahrzehnte hinweg, jung geblieben, seine Braut hingegen zu einer alten Frau geworden. Michel Serres, der französische Philosoph, Mathematiker und Kunsttheoretiker, berichtet von einer ähnlichen Geschichte. Einige Brüder, um die sechzig Jahre alt, stehen am Sarg ihres Vaters, eines ehemaligen Bergführers, und wollen nun einen Toten von dreißig Jahren begraben. Der Vater war vor einem halben Jahrhundert in eine Gletscherspalte gestürzt und im tiefen Eis gleichsam konserviert worden. Jetzt stehen die alt gewordenen Söhne vor dem Körper eines jungen Mannes, der ihr Vater war. Die Spanne der Ungleichzeitigkeit, die in diesen Fällen beschrieben wird, deckt sich jeweils mit der einer entsprechenden Horizontverschiebung. Um Robert Gernhardt zu zitieren: „Mein Gott, ist das beziehungsreich. Ich glaub, ich übergeb’ mich gleich“. Denn nicht genug damit, dass sich unser Bildungsbestand fortwährend umwälzt, er muss sozusagen auch tagtäglich neu gedeutet werden. Denn jeder neue Tag erneuert nun einmal auch unsere ganze Vergangenheit. Erst die kopernikanische Wende hat das ptolemäische Weltbild ins rechte, also richtige Licht gerückt. Der Zweite Weltkrieg hat dem Ersten sogar erst seinen Namen gegeben. Wenn die Zukunft offen ist, könne die Vergangenheit nicht verschlossen sein, meint dazu A. C. Danto. *** Die Ereignisse, die für meine Generation wie Aragons „Blitze“ aufleuchteten, der 17. Juni 1953, der Ungarn-Aufstand, der Mauer-Bau und der Mauer-Fall, Kennedys Ermordung, Filme wie Bergmanns „Schweigen“, Goddards „Außer Atem“, Bogdanovichs „Last Picture Show“, „Rio Bravo“ und Constantin Costa Gavras „Z“ (Drehbuch: Jorge Semprun), Kinderladenbewegung und überhaupt ’68, die Schleyer-Entführung und Ermordung, damit sind solche „Blitze“ bezeichnet, also Momente eines Erfahrungshorizonts. Dazu gehören dann natürlich auch Figuren wie Adorno und Beckett, Brigitte

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Bardot und Romy Schneider, Habermas, Gadamer, die Beatles und Bob Dylan. Meine Lebenswelt. Erst in ihrem Horizont sind ‚meine’ Bücher verortet. Aus diesem Zusammenhang gelöst, fehlt ihnen, nach meinem Empfinden, möglicherweise etwas Entscheidendes. Ich habe, anders gesagt, in Becketts Warten auf Godot auch meine eigene Situation deuten können. Aber ich habe Kaf ka damals auch anders gelesen als heute, und, beispielsweise, Camus in einen unziemlich engen Zusammenhang mit James Dean gestellt. *** „Meine Moderne“ ist Geschichte geworden. Für die jüngeren Zeitgenossen ein Stück Literaturgeschichte, die sie in aller Regel kaum mehr interessiert. Für die älteren ein Stück Lebensgeschichte, in der sie ihre eigene Biographie spiegeln können. Und überhaupt? Die Literatur einer Epoche, die sich jetzt vielleicht, mit Richard Wagner, auf die Formel bringen lässt: „Ich schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit. Du siehst, mein Sohn, zum Raum ward hier die Zeit.“ Frankfurt am Main, im Sommer 2011

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Vladimir Nabokov: Die Kunst des Lesens. „Wer liest, sollte liebevoll auf Kleinigkeiten achten.“ Andernfalls sollte er es lassen. Nichts gegen den „Mondschein der Verallgemeinerung“, zeigt er sich erst, nachdem „die sonnigen Kleinigkeiten“ zusammengetragen wurden. Denn, so Nabokov, „Stil und Aufbau machen das Wesen eines Buches aus; große Ideen sind dummes Zeug.“ Wer liest, sollte sich also auf die „Oberfläche“ konzentrieren, sollte zunächst einmal lesen lernen, am besten gleich mit diesen Vor-Lesungen Nabokovs. Universitätsvorlesungen, gewiss, doch völlig unakademisch. Nabokov spricht nicht ÜBER Literatur, er nimmt uns mit auf eine abenteuerliche Reise durch die Literatur, begeistert, begeisternd, ja besessen von dieser „Art detektivischer Arbeit, die“ – wie das vorangestellte Motto verspricht – „das Geheimnis der literarischen Strukturen entschleiern will.“ (Der Strukturen, nicht das der Literatur!) Mit dieser „Kunst des Lesens“ will er die Lust des Lesers wecken. Das kann man sich gar nicht sinnlich genug vorstellen: „Der kleine Schauer, der uns über den Rücken läuft, ist gewiß die höchste Form innerer Bewegung, welche die Menschheit bei der Entwicklung zweckfreier Kunst und Wissenschaft erreicht hat.“ Das „Gehirn“ ist ihm in dieser Hinsicht „lediglich eine Fortsetzung des Rückenmarks: der Docht geht durch die gesamte Kerze. Wenn wir nicht fähig sind, dieses Erschauern zu genießen, wenn wir die Literatur nicht genießen können, wollen wir die ganze Sache aufgeben und uns auf unsere Comic-Hefte, das Fernsehen und das Buch aus der Bestseller-Liste konzentrieren. Allerdings“, fügt er optimistisch hinzu, werde sich etwa „Dickens wohl als stärker erweisen.“ Solcher Optimismus, anthropologisch begründet, verweist auf einen konservativen Grundzug des Nabokovschen Denkens. Literatur, meint er, sei zu Zeiten der Neandertaler entstanden, „als ein Junge gelaufen kam und schrie, ein Wolf verfolge ihn, ohne daß es an dem war.“ Literatur sei also immer Erfindung, das Erdichtete immer Erdachtes, mit einer anderen, nämlich eigenen Wahrheit. Er will den „Elfenbeinturm“, weil er die Welt kennt.

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Vladimir Nabokov wurde 1899 in St. Petersburg geboren. Er entstammt einer der reichsten aristokratischen Familien des alten Russland. Nach der Revolution, plötzlich mittellos, musste er sich seinen Lebensunterhalt verdienen, zunächst mit Sprach-, zuweilen sogar mit Box-Unterricht. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Glücklicherweise nahm ich mir, bevor ich 1940 in Amerika meine Dozententätigkeit begann, die Mühe, hundert Vorträge – insgesamt etwa 2000 Seiten – über russische Literatur in Aufsatzform niederzuschreiben und weitere hundert über große Romanciers von Charles Dickens bis James Joyce. Das hat mich in Wellesley und Cornell zwanzig akademische Jahre lang in Lohn und Brot gehalten.“ Davon, und von einem Forschungsauftrag für Insektenkunde an der Harvard University, hat Nabokov in den USA seine Familie ernährt, bis der Erfolg seines Romans „Lolita“ ihn 1958 (wieder) finanziell unabhängig machte. „Damit können wir“, wie Nabokov in der Joyce-Vorlesung sagt, „das Thema ‚Vermischtes’ wohl abhaken“ – und uns der „Sache selbst“ zuwenden, wobei noch erwähnt werden muss, dass, nach Nabokov, „Literatur von keinerlei praktischen Wert ist, außer in dem einen Sonderfall, daß jemand ausgerechnet Literaturprofessor werden möchte.“ Zu erwähnen ist weiterhin, dass Nabokovs Literaturbegriff sehr, sehr enge Grenzen steckt: „Zahlreiche anerkannte Autoren existieren für mich einfach nicht. Ihre Namen stehen über leeren Gräbern, ihre Bücher sind Attrappen“. Dazu zählen Thomas Mann, Sartre und sogar Dostojewski. Die Vorlesungen sind chronologisch geordnet. Sie beginnen im frühen 19. Jahrhundert mit Jane Austens „Mansfield Park“, der wie alle großen Romane ein „Märchen“ ist, eine völlig in sich geschlossene eigene Welt, an deren Entstehung uns Nabokov auf unbegreiflich intensive Weise teilhaben lässt. Von den Einzelheiten ausgehend, etwa von dem ‚Grübchen-Stil’, über die Verflechtung der Motive und Figuren – zu einem Ganzen. Grübchen-Stil meint jene Prise Ironie zwischen den Bestandteilen einer neutral/sachlichen Aussage, zum Beispiel: „Mrs. Price fühlte sich nun ihrerseits gekränkt und beleidigt; und ihre Antwort, die beide Schwestern ihre Erbitterung entgelten ließ und so schrecklich despektierliche Bemerkungen über Sir Thomas’ Hochmut enthielt, daß (Grübchen!:) Mrs. Norris sie unmöglich für sich behalten konnte, setzte jedem

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verwandtschaftlichen Verkehr für lange Zeit ein Ende.“ Dort, wo die geschlossene Welt aufgebrochen, Fanny beispielsweise von Mansfield Park nach Portsmouth geschickt, und damit alles, was sich dann „hinter den Kulissen“ abspielt, in Briefform (also referierend) nachgetragen wird, setzt Nabokovs Kritik an. Es ist eine immanente Kritik. Ob in Charles Dickens „Bleakhaus“, Flauberts „Madame Bovary“, Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, über Proust, Kafkas „Verwandlung“ bis zu James Joyce „Ulysses“, immer verfolgt er „die Form“ der Erzählung, wozu ihre „Struktur“, das geplante Grundmuster also, zählt, dann der „Stil“, also die Art, wie die Struktur funktioniert. Die Wirkung, die vom Stil ausgehe, sei „ein (magischer) Schlüssel“, der alle große Literatur erschließe. Nur selten äußert sich Nabokov, wie hier, programmatisch vorweg, über sein Vorhaben. Man sieht geradezu, wie er vom Manuskript auf blickt, seinen Studenten solche definitorischen Erläuterungen diktiert, ihnen Fragen stellt, etwa ob der „Perry“ wirklich nötig ist. also jene Figur, die den Erzähler an Orte bringt, die er allein nicht erreichen könnte. Er prüft, ob das „Gewebe“ tatsächlich so dicht ist, wie es sein sollte, um sich dann wieder ganz der Begeisterung zu widmen. „Flaubert steckte sich das Ziel, seinem Buch eine höchst kunstvolle Struktur zu geben.“ In einem Brief schrieb er: „Ein guter Prosasatz müsste wie ein guter Vers eines Gedichts sein, etwas, das man nicht ändern kann und von ebensolchem Rhythmus und Wohlklang.“ Dieser Maxime folgend, habe Flaubert aus dem puren Mittelmaß höchste Vollkommenheit erzielt. Neben dem Kontrapunkt gehört es zu seinen Kunstgriffen, innerhalb der Kapitel den Übergang von einem Thema zum anderen so fließend und elegant wie möglich zu gestalten. „Dieser thematische Übergang findet im Bleakhaus im großen und ganzen zwischen den Kapiteln statt (…), in Madame Bovary hingegen gibt es eine ständige Bewegung innerhalb der Kapitel. (…) Wenn man die Übergänge im Bleakhaus mit Stufen vergleichen kann, wobei das Muster wie auf einer Treppe voranschreitet, haben wir hier in Madame Bovary ein fließendes Wellenmuster.“ – was natürlich immer an Beispielen gezeigt wird. In der Verfolgung dieses „Wellenmusters“ gelangt Nabokov, völlig unbekümmert um jeden literaturwissenschaftlichen, Anspruch zu hervorragenden

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Einzelanalysen. Seine Suche nach dem „überflüssigen Glanz“ der Literatur, gesteht einer seiner Studenten, John Updike, ging seine „Begeisterung über jedes akademische Maß hinaus“. In seinem liebevoll/begeisterten Blick für das Detail (allein aus der zweimaligen Wiederholung des Wortes „rief“ entwickelt er, ganz nebenbei, eine treffende Beschreibung von Jane Austens Mrs. Norris.) und in seiner Fähigkeit, die geringfügigsten Einzelheiten mit dem Ganzen zu verknüpfen, in dieser Art der immanenten Kritik überholt Nabokov sogar noch die Vorgaben seiner Vor-Lesungen. „Die Welt eines Autors ist recht besehen eine magische Demokratie, in der auch Randgestalten, und seien sie noch so unbedeutend, wie der Mann der (in Dickens „Bleakhaus“) sein Zwei-Pence-Stück in die Luft wirft“ – und der sonst keine Rolle mehr spielt – „ein Recht auf Leben und Fortpflanzung haben.“ Nabokov insistiert also auf der Autonomie von Literatur und opponiert schon dadurch gegen jede Form der kulturindustriellen Verwertung. Nur: die Literatur, die für ihn allein zählt, ist die erzählende Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. (Schon Joyce, meint er, sei trotz „äußerlicher Neuerungen“, keinen Schritt weiter gekommen als Flaubert.) Dass sich die Bedingungen des Erzählens verändert haben, dass zumal die (schon damals prekäre) Vorstellung von autonomer Literatur heute nicht einmal mehr in konventionellen Erzählweisen zu realisieren ist, das interessiert ihn nicht. Für ihn gilt der Satz von Gottfried Benn: „entweder es gibt die Kunst, dann ist sie autonom, oder es gibt sie nicht, dann wollen wir nach Hause gehen.“ Nabokov will nicht nach Hause gehen. Im Gegenteil, er will zu Felde ziehen, liebevoll für die Einzelheiten, apodiktisch in seinen Urteilen, rigoros gegen den Kulturbetrieb, für eine Literatur, die gegen den gesunden Menschenverstand durchgesetzt werden muss. Diese Literatur, richtig gelesen, habe noch heute die Sprengkraft einer „Bombe“. Und warum, fragt er, wollen wir diese Bombe „nicht genau über der Mustersiedlung des Alltagsverstands abwerfen?“ Warum nicht, wenn sie denn noch zündet. Literatur, die nichts als Literatur sein will, wirkt auch heute noch als Sprengsatz im gesunden Menschenverstand (common sense), der uns stetig einreden möchte, dass wir uns in der Welt, wie sie ist, einzurichten hätten, weil es keine andere gäbe. Deshalb müsse dieses „Ungeheuer des unnachsichtigen Alltagsverstandes“,

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fordert Nabokov, rigoros wie stets, auch wenn es nicht nur um Literatur geht, „als falscher Ratgeber erschossen werden“. Denn dieses „Ungeheuer“ verstellt uns den Blick auf die „Welt“: „Wer einmal versucht“, schreibt er über Joyce, „den Kopf durch die Beine zu stecken und auf diese Weise hinter sich zu blicken, wird mit seinem zwangsläufig ‚umgedrehten’ Gesicht die Welt unter einem völlig neuen Blickwinkel sehen. Versuchen Sie es einmal am Strand: es sieht sehr lustig aus, Menschen auf diese Weise beim Gehen zuzusehen. Mit jedem Schritt scheinen sie ihre Füße von der klebrigen Anziehungskraft der Erde zu lösen, ohne dabei ihre Würde einzubüßen. Dieser Kniff des geänderten Blickwinkels und Standpunkts lässt sich mit Joyce’s neuer literarischer Technik vergleichen, mit der neuen Betrachtungsweise, durch die das Gras grüner und die Welt jünger wirkt.“

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Hans Magnus Enzensberger: Das Museum der modernen Poesie.

In einer Station der Metro Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge: Blütenblätter auf einem nassen, schweren Ast“. (Ezra Pound)

Das saß, damals. Und das auch:

J. Alfreds Prufrocks Liebesgesang Komm, wir gehen, du und ich, wenn der Abend ausgestreckt ist am Himmelsstrich wie ein Kranker äthertaub auf einem Tisch; komm, wir gehen durch die halbentleerten Straßen fort, (…) Oh, frage nicht ‚Wie bitte?’, komm, wir gehen zur Visite. Frauen kommen und gehen und schwätzen so daher von Michelangelo. (T.S. Eliot)

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, welche Wirkung damals, 1960, solche harmlosen Verse noch auslösen konnten. Hermetische Gedichte, dunkel, unverständlich und – offenbar deshalb – provozierend. Man konnte sie gezielt einsetzen, der Effekt war garantiert, sonntags, beim Mittagessen in der kleinbürgerlichen Familie, in der Schule, den Universitäten. „Frauen kommen und gehen und schwätzen so /daher von Michelangelo“. Eine gängige Währung. Damit konnten wir, die Jungen, es ihnen, den Alten, regelrecht heimzahlen. Solche kleinen, harmlosen Gedichte zündeten wie Sprengsätze im gesunden Menschenverstand. Sie waren allerdings mit dieser Absicht gemacht. Sie waren so gemeint.

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Bahnhofskonzert Kein Atmen mehr. Das Firmament voll Maden. Verstummt die Sterne, keiner glüht. Doch über uns, Gott siehts, Musik, dort oben –


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