Inkala Der Gedankenstrich eines Augenblicks

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Die Übersetzung wurde gefördert von:

Band 9 der »Reihe P«, herausgegeben von Joachim Sartorius, Hans Thill, Ernest Wichner

© 2014 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Leonard Keidel Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße ISBN: 978-3-88423-473-0


Jouni Inkala

Der Gedankenstrich eines Augenblicks Gedichte Aus dem Finnischen 端bersetzt von Stefan Moster

Wunderhorn



I



Vorstellung Angesichts der wesentlichen Dinge hüte dich vor Heuchelei. So hält es die Pflanze, so hält es auch das Tier. Selbst wenn es bald zum Happen wird für irgendjemand, selbst wenn sein Leben nur einen Sommer misst. Gerade deshalb! Angesichts der wesentlichen Dinge sind Eigennamen einzigartig, die Wörter nicht beziehungsreich, Orte und Daten unersetzlich. Diejenigen, mit denen ich heute den Schatten teile, verraten durch ihre Erscheinung, auf jeweils eigene Art: Dort wo man Narren sucht, werdet ihr mich nicht sehen.

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Schläge Wenn die Strophe das Wort hat in den dunklen Stunden der Nacht und nicht dort, wo manche es glauben geschehen Wunder. Es ist gut, sterblich zu sein. Noch immer erinnert die Sehnsucht manchmal an die Lesebrille, die nicht mehr da ist. Die Strophe füllt sich die Lunge: »Lebe, solange du es dir nicht zur Gewohnheit machst! Stirb, solange du dir auch das nicht zur Gewohnheit machst!« In schwer zu schluckenden Stunden — haltet eure Hüte fest! Heißt es morgen früh »ich bin doch wieder gekommen!« oder »nun auch noch das«? Frontaler Zusammenprall der Schiffe von Optimist und Pessimist und vor dem Sinken tropft es nur ein wenig aus den Bugs dann noch weniger als von irgendwo.

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und schließlich weniger


Parzelle Unlängst rechten wir die Beete in der Hoffnung auf vereinzelt Fingerdickes, auch wenn fast alles, was wir aus der Erde holten, munter fadendünn war. Jetzt höre ich einen russischen Sender im Dunkeln und warte auf das halbe Dutzend Stücke, die ich nach vielen langen Abenden zu mögen gelernt habe. Ich errate nicht, was darin erzählt wird, vermutlich würde ich dieselben Stücke nicht auf Finnisch hören, jedenfalls nicht Abend für Abend. Nahezu alles, was in meinem Leben vorgefallen ist, spendet mir Blut, so auch jetzt. Das Zentrum wird von den Rändern her fremd, und es kribbelt wie am knausernden Rettichbeet: Ob das nächste Stück so dick sein wird wie Daumen, Hand-, oder Fußgelenk, voller Seele.

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Seekarte Bei der Geburt des Kindes, bei der Geburt des Kindes — falls dein Vater zuvor gestorben ist — nimmst du neue Fühlung auf zu ihm, scheint es. Etwas regt sich in dir, Nacht und Tag suchen nach der Richtung, der kühnsten, und deine Hände halten das Ruder anders als zuvor.

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»gefunden« I Komm, verschwundenes Bernsteinzimmer. Komm, und fordere deine Kopie heraus in Katharinas Palast. Beweise ihre Künstlichkeit und Lüge. Enthülle ihr Kuckuckswesen. Sag, wo hast du dich versteckt? Was hat man mit dir gemacht? In wie viele Teile dich zerlegt? Branntest du in den Flammen des Sowjetsoldatenunglücks — oder wurde dein Tafelwerk vom Rumpf eines deutschen Schiffs geschluckt und ein U-Boot deines Landes versenkte es wieder in ihrer Geburtswiege? In dem Meer, das die Schweden Ostsee nennen, die Esten Westsee, und das für uns nur das Südmeer ist oder das Südwestliche und dennoch das Nordische, mit zartöstlichem Schlag.

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II Wer dieses Meer bef채hrt, kann im Juliwasser Wellen mitten in der Flaute sehen. H채lt man sich lange genug dort, kann man das Zimmer im Ganzen auf dem Grund erkennen. Im Unertauchbaren.

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Das Geheimnis des Lebens Fliegt die Maschine im Augenblick der Geburt in neuntausend Metern Höhe und du lässt dich mit deinem Fallschirm aus der Bauchöffnung fallen, wird dein Leben neunzig Jahre dauern. Wenn die Maschine im Augenblick deiner Geburt auf achttausend Metern fliegt, hast du achtzig Jahr zu leben. Wir befinden uns alle im freien Fall, der eine mehr, der andere weniger weit von der Erde, und die Geschwindigkeit, heißt es, nimmt zu, je näher der Aufprall kommt. Aber sie ist noch höher, falls du nicht daran denkst, gleich zu Beginn die Leine deines Fallschirms zu ziehen, oder wenigstens des Ersatzfallschirms. Die Schnur, die im Augenblick deiner Geburt in Reichweite deiner Hände lag. Leicht zu greifen. Leicht zu reißen.

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Gruppenbild mit Zeilen Jetzt weiß ich, welche Schwierigkeiten Leonardo und Raffael hatten vor jedem neuen Bild. Ich schreibe einen Brief in einer Sprache, die nicht in meinem Mund bleibt. Ich verstehe die Pigmente in den Wörtern, die Bedeutung der Schattierungen. Die neuen dicken Farbschichten. Erkenne, wie leicht ich nach einem Kontrolleur klinge, der ohne Auftrag der EU im Hof eines massiven Bauernhauses steht. Meine geringen Fertigkeiten versuche ich in zufälligen Sternschnuppen der Adjektivfamilie zu verbergen, in flüchtigen Streifen, die übers weiße Briefpapier schießen. Versuche mir vorzustellen, wie die Wörter, die ich zustande bringe, mit unterdrücktem Gähnen begreifen, warum sie nicht in besserer Umgebung leuchten dürfen. Und spanne die Hoffnung aus, sie möchten sich nicht zu sehr auf die Füße treten, auf dem entstehenden Gruppenbild. Wenn das Kuvert sich schließt wie das Tor der Pilger, das der Papst zuzieht, mitten im Vatikan, einmal in fünfzig Jahren.

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