Hotel Europa

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© 2012 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacherstraße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de © 2012 VG Bild Kunst Bonn / Matthias Hoch Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gestaltung: Ingrid Sauer, Cyan, Ehrle + Sauer GmbH, Heidelberg Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße Umschlagabbildung: Matthias Hoch, Belfast Nr. 1, 2011 ISBN 978-3-88423-412-9 Anmerkung: Die Rechtschreibung ist bei jedem Beitrag individuell belassen worden.


Herausgeber Ilma Rakus a | Michael M. Thoss

Hotel Europa 13 Essays Fotografien von Matthias Hoch

Wunderhorn



Hotel Europa – Auf dem Weg zum europäischen Haus?

Wer das Zwei-Sterne-Hotel Europa in Tirana betritt, wird sogleich von seinem retro-futuristischen Interieur in Bann geschlagen: Weißes Kunstleder und Chrom fügen sich da zu Couchgarnituren und Drehsesseln zusammen, die in wechselnden Farben der Hotelbar aufleuchten. Mit welcher Botschaft wird der Gast in dieser ufomäßigen Eingangshalle empfangen? Gerade noch stand er vor der eher biederen Hotelfassade mit geranienbepflanzten Balkonen im zweiten Hinterhof der belebten Geschäftsstraße Rruga Myslym Shyri. Noch hallen ihm die albanischen Flüche des Taxifahrers ob der schlaglöchrigen Zufahrt ohne jede Wendemöglichkeit im Ohr. Doch augenblicklich ist die Umgebung aus unverputzten Mietshäusern vergessen, wenn er die einem Raumschiff ähnelnde Hotellobby betritt. Da liegt die Verheißung einer nahenden und doch schon vollendeten Zukunft in der Luft: „Wenn wir einmal Teil Europas gewesen sein werden…“ Im Gegensatz zu dieser luftigen Utopie wird man im Frühstücksraum mit geballter Geschichte konfrontiert – oder besser: mit deren Konstruktion: Ein patriotischer Künstler dekorierte das Souterrain mit pan-hellenistischen Motiven, die Albaniens Vergangenheit als Teil der griechischen Antike ausweisen. Um diesen Anspruch auf Teilhabe noch zu unterstreichen, platzierte das Hotelpersonal Lanzen, Pfeilbögen und Plastikamphoren vor seine grell gemalte Akropolis. Während sich zwei junge Griechen über diese kitschige Geschichtsklitterung mokieren, gehen mir skurril anmutende Fragen durch den Kopf: Drückt sich in Architektur, Design und Ausstattung dieses Hotels nicht unbewusst die Einstellung seines Besitzers zu Europa aus? Lässt sich an der Ästhetik der Europahotels eines Landes insgesamt die Begeisterung oder Skepsis seiner Einwohner gegenüber dem europäischen Projekt ablesen? Sofort fallen mir gleichnamige Hotels in Deutschland und Westeuropa ein, deren matter Glanz die Aufbruchsjahre der Europäischen Gemeinschaft widerspiegelt. Dagegen erstrahlen etliche der jüngst in Osteuropa erbauten Europahotels als Luxusherbergen und Renommierbuden für junge Oligarchen. Das Hotel Europa in Tirana wiederum scheint auf seinen unterschiedlichen Etagen unser mehrschichtiges Bewusstsein und Lebensgefühl als Europäer abzubilden.

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Das vorliegende Buch ist kein Hotelführer! ‚Hotel Europa’ wird hier als Metapher verwendet, die sich querstellt zu dem inflationär gebrauchten Begriff vom gemeinsamen ‚Europäischen Haus’. Gemäß dem Historiker Wolfgang Schmale war es ein gewisser Enea Silvio Piccolomini – bekannter als Papst Pius II. (1405–1464), – der die zählebige Metapher vom „Haus Europa“ prägte. Die reichliche Verwendung dieses Bildes diente in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vor allem dem Zweck, die Einheit der christlich-abendländischen Kultur gegenüber den vordringenden Muslimen zu beschwören. Doch auch heute noch wird das Bild von Europa unter einem gemeinsamen Dach gerne bemüht, um an gemeinsame Wertvorstellungen zu appellieren und vor einem drohenden EU-Beitritt der Türkei zu warnen. Doch polemisch gefragt: Ist man schon eine Schicksalsgemeinschaft, weil man dieselbe Hausverwaltung hat? Besonders schwierig wird es, wenn man sich die Architektur dieses ‚Europäischen Hauses’ einmal konkret vorzustellen versucht: Wer wohnt da eigentlich in der Beletage, wer im Keller oder unterm Dach? Neue Bilder sind vonnöten, um das (bisher noch) friedliche Nebeneinander in Europa zu versinnbildlichen, damit in Zukunft daraus ein wirkliches Miteinander werden kann. Vielleicht ist da die Vorstellung vom temporär genutzten Hotel – nicht zuletzt um drohende Nachbarschaftskonflikte zu vermeiden – ernüchternd, aber durchaus zeitgemäß. Für die Erasmus- und Easyjet-Generation hat es ohnehin nichts Ungewöhnliches, einander beim gemeinsamen Chillen in der Hotellobby kennenzulernen. Es soll hier also mehr um die Frage gehen, was ‚Europeaness’ heute bedeuten kann, als darum, eine wie auch immer geartete einheitliche europäische Identität zu definieren. Denn wenn Europa nie eine geistig-kulturelle oder politisch-territoriale Entität gebildet hat, wie könnte es da eine einheitliche Identität ‚produzieren’? Dies stellt in den Augen der Herausgeber keinerlei Manko dar, sondern – im Gegenteil – eine große Chance für das europäische Projekt. Vierzehn Autorinnen und Autoren durchmessen in dieser Anthologie ihren Kontinent quer in alle Himmelsrichtungen, von Reykjavik nach Zypern und von Chişinău nach Gerona. Sie liefern Momentaufnahmen aus einem Land ihrer Wahl und vermessen es zugleich mental neu. Dabei gerät Europa zunächst von seinen Rändern in den Blick. Die Mitteleuropäer unter ihnen trieb es zumeist an die vermeintliche Peripherie – Jerusalem bildet hier den extremsten Außenposten. Die bekannten Touristenmetropolen Berlin, London, Moskau, Paris, Wien bleiben dagegen ausgespart. Indem der Leipziger Fotograf Matthias Hoch die Hafenstädte Belfast und Kopenhagen, Lissabon und Marseille porträtierte, schuf er eine visuelle Klammer zwischen Nordund Südeuropa, deren verbindendes Element das – hier auf sehr unterschiedliche Weise präsente – Meer darstellt.

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Die Autorinnen und Autoren von ‚Hotel Europa’ betreiben auf ganz un-ethnologische Art Nachbarschaftsforschung. Ihre Hotels sind Metaphern und konkrete Orte zugleich. Sie dienen ihnen als Ausgangspunkte für überraschende, mitunter auch merkwürdige Begegnungen mit ihren europäischen Nachbarn und eigenen Landsleuten. Die Befremdung des Ukrainers Juri Andruchowytsch über das Gebaren russischer Neureicher in Davos ist Igor Marojevićs Distanz zu seiner Heimat Serbien und ihren Bewohnern nicht unähnlich. Innere Grenzen und Kategorien der Zuordnung verschwinden hinter ihren Geschichten, die unterschiedliche Facetten der gegenwärtigen Verfasstheit Europas darstellen. Dabei folgte die Zusammenstellung der Anthologie eher dem Prinzip der bricolage als einer vorher festgelegten Ordnung. Die hier geschilderten Ereignisse verknüpfen unterschiedliche Orte Europas in der Gegenwart und Vergangenheit miteinander, zeigen diachrone Querverbindungen auf, die der Logik vorherrschender nationaler Geschichtsschreibungen zuwiderlaufen. Wenn Tanja Dückers die unterschiedlichen Deutungen des ‚Nationalen Befreiungskampfes’ in Nord- und Südzypern vergleicht, György Dragomán bei Demonstrationen an der Puerta del Sol in Madrid einst erzwungene Massenveranstaltungen im sozialistischen Ungarn erinnert oder Thomas Brussig im ‚Ukrainischen Haus’ in Kiew – wo einst ein Hotel Europa stand – dem Niedergang der Orangenen Revolution nachspürt, dann schreiben sie gegen jenen ‚ Dämon der Vergessenheit’ an, den der Dichter Mile Stojić aus Sarajevo gegenüber Joachim Sartorius beklagt: „Der Dämon der Vergessenheit zieht in unsere alten Orte ein und bedeckt sie mit kalten Formen aus Aluminium und Glas. Dieser Dämon verurteilt uns zu einer neureichen Welt ohne Tradition.” Denn oft werden beim ‚Sampeln’ und Gegenüberstellen scheinbar isolierter Eindrücke und Erlebnisse neue Zusammenhänge sichtbar. Die Erzählungen dieser Anthologie fühlen Europa den Puls, sie verweben persönliche Geschichten mit historischen Ereignissen, alte Mythen mit gesellschaftlichen Utopien und die Gestalt unserer Städte mit einem imaginierten Anderen. Vielleicht entsteht daraus einmal die große Erzählung Europas. Ich danke allen Autorinnen und Autoren, die sich an diesem Projekt beteiligt haben. Michael M. Thoss

Michael M. Thoss (*1955) lebt in München und Berlin

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J uri A ndruchowytsch Davos, meine geheime Mission

1 Bei jeder Reise ist das Wichtigste das Reisen selbst. Das Ziel zu erreichen ist sekundär. Selbst wenn dort schon ein Hotelzimmer wartet und das Hotel im Namen das immer noch populäre Wort „Europa“ trägt. Übrigens wird dieses Wort in fast jeder europäischen Sprache anders ausgesprochen. Aber davon später. Das Schönste an meiner Zugreise nach Davos (um genauer zu sein, zur Eisenbahnstation Davos-Platz) ist der letzte Abschnitt zwischen Landquart und der erwähnten Endstation. In Landquart muss man auf den Bahnsteig der Ein-Meter-Schmalspurbahn wechseln und in den grellroten Waggon der Rhätischen Bahn umsteigen. Augenblicklich verwandelt man sich so in die Figur eines Animationsfilms, der in einem, wenn auch stark vergrößerten, Spielzeugzug in die Märchenberge fährt. Schon früher bin ich mit Freunden in einem roten Zug in die Berge gefahren. Diese Berge waren aber nicht die Alpen im Schweizer Kanton Graubünden, sondern die westukrainischen Karpaten. Wodurch sich auch die anderen von Ihnen schon vermuteten Unterschiede erklären. Erstens sah unsere „Rote Raute“ ganz und gar nicht märchenhaft aus. Außerdem war sie unbequem und schmutzig, und auch die Gerüche deuteten nicht auf baldiges Eintauchen in die heilsame Bergluft hin. Die Passagiere sahen nicht nur armselig aus, sondern waren es auch. Dafür aber gab es furchtbar viele, bedeutend mehr als in der Rhätischen Bahn. Die „Rote Raute“ war manchmal so überfüllt, dass sie kaum fahren konnte. Und an jeder Station kamen mehr hinzu, als ausstiegen. Die „Rote Raute“ war wie aus Gummi – das ist ein Unterschied. Sie hatte aber auch Vorteile. Man konnte zum Beispiel ohne Fahrkarte fahren, wenn man den so genannten „Kontrolleuren“ eine kleine Summe zusteckte. Und während der Fahrt hatte man Gelegenheit zum Kauf aller möglicher reduzierter Ware. Von Papier und Bleistift bis Bier und

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Schnaps und weit darüber hinaus – unzählige Amateurhändler liefen durch die Waggons und boten die ganze Zeit über etwas an. In der Rhätischen Bahn gibt es so etwas nicht. Später werde ich feststellen, dass diese Eisenbahn ungefähr so alt ist wie unsere – RhB wurde 1888 eröffnet, die Gleise der „Roten Raute“ zwischen Stanislaw und Rachiw funktionieren seit 1894. Letztere jedoch ist auf dem ursprünglichen technischen Stand verharrt. Während Erstere selbst dem gegenwärtigen 21. Jahrhundert voraus ist. Zwei Schwestern – zwei Schicksale. Und es ist die glücklichere der beiden, in der ich nach Davos fahre. 2 Auch die glücklicheren ukrainischen Journalisten – diejenigen, die Gelegenheit zu Auslandsreisen haben – müssten diesen märchenhaften roten Zug eigentlich kennen, kommt mir in den Sinn. Einmal im Jahr besuchen sie das Weltwirtschaftsforum in Davos. Wie reisen sie an? Irgendwie habe ich noch nie von ihren Eindrücken von der Rhätischen Bahn gelesen. Kennen sie sie überhaupt? Vielleicht werden sie in Helikoptern nach Davos transportiert? Wenn ja, dann woher – aus Zürich? Oder Kiew? Ein Sprung durch die Luft – und du befindest dich auf dem Dach Europas, in dessen höchster Hochgebirgsstadt. Höher als Davos kann nur Davos liegen. Das globale Davos ist ein Ort, auf den Lenins Aphorismus von der „Politik als konzentrierter Ökonomie“ passt. Der ukrainische Oligarch Nr. 2 (nach Forbes, glaube ich) wird hier bald zum zehnten Mal die eigenen Konzentrationsanstrengungen demonstrieren, indem er auf dem Forum in Davos den so genannten „ukrainischen Lunch“ organisiert. Der aktuelle ukrainische Präsident war dieses Jahr erstmals in der Rolle des aktuellen ukrainischen Präsidenten mit dabei. In seiner Rede an mythische westliche Investoren machte er einen Witz, der seitdem große Chancen hat, in die Geschichte einzugehen. Auf Teufel komm raus lobte er das Land, das er die Freude hat zu regieren, und rief die erwähnte Investorengemeinde dazu auf, „mit eigenen Augen zu sehen, wenn in Kiew die Kastanien erblühen und sich in den ukrainischen Städten die Frauen zu entkleiden beginnen.“ Wie in den Chroniken jenes in die Erinnerung eingegangenen Events verzeichnet ist, löste der Satz „im Saal Lachen und Beifall“ aus. Kein Wunder. Es passiert ja nicht oft, dass man einem Empfang beiwohnt, wo der Präsident eines Landes plötzlich seinen Hang zur Zuhälterei offenbart. Und (wie er selbst glaubt) auch noch elegant darüber scherzt.

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3 Mir ist nicht zum Lachen. Ich hatte mir geschworen, den „Zauberberg“ zu Ende gelesen zu haben, bevor ich meinen Bestimmungsort erreiche. Noch 15 Seiten, atemlos hetze ich durch diesen unzweifelhaft großen Roman, nicht in der Lage, seine ganze Größe zu erfassen. Davon halten mich die immer großartigeren Bergpanoramen und die Bergfalken ab, die in Armeslänge vor dem Waggonfenster in den luftigen Höhen kreisen. Fast gewaltsam reiße ich mich von der Landschaft los und wende mich wieder dem „Zauberberg“ zu. 4 Später stellte sich heraus, dass es sich beim „Zauberberg“ um ein Restaurant handelt, und zwar um ein chinesisches – mit Lampions, runden Drehtischen, einem künstlichen Fluss und mit gastronomischem Buddha. Es befindet sich in eben jenem Hotel, wo man für mich ein Zimmer reserviert hat. Schon als ich mich nähere, bemerke ich, dass sich der Name nicht EUROPA, sondern EUROPE schreibt. Im Vestibül bin ich mir unsicher. „Hotel Jurop?“, frage ich an der Rezeption. „Ja, Otel Öróp“, antwortet eine liebenswürdige Dame. Also doch nicht Englisch, sondern Französisch. Warum? Ist Französisch stilvoller als Englisch? 5 Schriftsteller in Hotels – das ist ein ganz eigenes Sujet der Weltliteratur. Wenn die Schriftstellerei ein Beruf ist, dann ein Wanderberuf. Wie den Wolf ernähren den Schriftsteller seine Beine. Er gleicht dem Zirkusakrobaten, dem wandernden Komödianten oder dem Amateurhändler in der „Roten Raute“. Eine gehörige Anzahl der einem Schriftsteller in diesem Leben zugestandenen Nächte verbringt er im Hotel. In der Schweiz drängt sich dabei der Gedanke an den absoluten Champion in dieser Disziplin auf – an Vladimir Nabokov. Wobei wir davon ausgehen können, dass es sich um eine bewusste Demonstration handelte. Sein Heim, das Adelsnest seines Geschlechts, hatte Nabokov durch die Bolschewistische Revolution verloren. Danach bestand sein Leben aus ewigen Umzügen, Wechseln, aus ewiger Vorläufigkeit. Die letzten dreizehn Jahre vergingen in einer sich über die ganze Etage erstreckenden Fünfzimmersuite des luxuriösen „Montreux-Palace“ am Genfer See. Wenn schon obdachlos, dann wenigstens in einem Palast – ungefähr diese Message sendet der Fall Nabokov. Dreizehn Jahre – das sind ungefähr 4745 Hotelnächte, ein sehr ansehnlicher Endspurt.

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6 Nun werde ich also die nächsten drei Nächte im Davoser Hotel „Öróp“ verbringen. Um diesen Umstand mit topografischem Inhalt zu füllen, erkunde ich den Ort, nehme also eine detaillierte Begehung vor. Nach meinen Berechnungen gibt es im Hotel 89 Zimmer (die Website gibt an, es seien 64 – diese Differenz kann ich mir nicht erklären). Es handelt sich um drei Stockwerke plus Erdgeschoss und Beletage. Alle Ebenen der Hotelvertikale sind mit einem Aufzug verbunden. Er ist geräumig, solide, hat eine mit teurem Leder bezogene Sitzbank – als könne eine Fahrt Stunden dauern – und einen blank gewienerten massiven Aschenbecher mit Extrafach für die Kippen. Seine Bestimmung ist es, an die lang vergangenen Zeiten des allgegenwärtigen demonstrativen Rauchens zu erinnern. Der Korridor ist auf jedem Stockwerk ab und an mit ein, zwei alten Möbelstücken geschmückt, aber ohne System oder Stil. Im dritten Stock finde ich sogar eine antik-museale Presse, schwer zu sagen wozu. Im ersten Stock befinden sich das Schwimmbad und die Sauna, zwischen dem ersten Stock und der Beletage der Fitness- und der Massageraum. Die Beletage beeindruckt vor allem mit der sehr großen Piano-Bar „Tonic“. Noch ist sie geschlossen, wie ein Schild am Eingang mitteilt, öffnet sie erst am 9. Juni mit einem Auftritt von Brett Bennett, womit wahrscheinlich nicht der Eishockey-Spieler gemeint ist. Schade, noch ein ganzer Monat. Das nächtliche Herumsitzen in Piano-Bars stimuliert lebensfrohe Melancholie. Vor allem in solchen wie diese – halb altmodisch, halb modern, wenn man die Mitte der 1980er Jahre als modern bezeichnen will. Weiter hinten im Korridor die Türen zum Casino. Es ist täglich von 14 bis 2 Uhr geöffnet, das Spiel an den Tischen beginnt jedoch erst um 20 Uhr. In der übrigen Zeit – Spielautomaten. Personen unter 18 Jahren ist der Zutritt verboten, die Türen sind verschlossen und fordern auf, den Klingelknopf zu drücken. Noch weiter hinten im Korridor geht es zum Restaurant, das schon erwähnte chinesische „Zauberberg“. Alles zusammen eine insgesamt nichtssagende und gewöhnliche Eklektik. Aber! Über der Treppe zwischen dem Parterre und der Beletage hängt ein bemerkenswertes altes Bild der Promenade von Davos. Das Aussehen der menschlichen Figuren und der Pferdekutsche deuten auf die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Luftkurort Davos wurde 1853 gegründet, ungefähr dann scheint auch das Bild gemalt. Ein halbes Jahrhundert vor Thomas Mann und eineinhalb vor uns. Daher ist die Promenade auch nur sehr schwer zu erkennen. Es gibt zum Beispiel kein einziges Gebäude, das diesem Hotel gleicht. Ich gehe hinaus und umrunde es. Es erinnert vielleicht an ein Schiff, das an der Promenade angelegt hat und dessen Bug das vorgestreckte Casino bildet. Die Beletage unterscheidet sich vom Rest durch ihre grünliche Farbe. Das übrige Gebäude ist rosa. Entscheiden Sie selbst, in wie weit das schön ist.

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7 Das Hotel ist leer. Vielleicht bin ich bei all den 89 (gut, meinetwegen 64!) Zimmern der einzige Gast? Das Frühstück inmitten Chinas bestärkt mich in meinem Verdacht. Wobei das Frühstück selbst ganz und gar nicht chinesisch ist, keinerlei chinesische Eier oder Scheiben kalten Schlangenfleisches. Man könnte es als dem Hotelstandard entsprechend bezeichnen. Auf dem Buffet gibt es gerade so viel zu essen, dass es für eine Person (mich) reicht und noch ein bisschen übrig bleibt. Wohl aus Höflichkeit: damit ich mich nicht mit Vorwürfen quäle, ich hätte alles aufgegessen, was es gibt. Ein seltsames Gefühl – morgens um 9 in diesem großen Saal zu sitzen, von Bergen umgeben, zwischen chinesischen Lampions, dekorativen Buddhas und dem Murmeln künstlicher Wasserläufe. Ich bin der einzige Gast, und eine einzige Kellnerin arbeitet für mich – nein, keine Chinesin, sondern dem Akzent nach zu urteilen eine Polin. Besorgt kaue ich das, ganz der Logik entsprechend eineiige, Spiegelei und spüre, dass sie hinter meinem Rücken erstarrt ist und den Blick angespannt auf meinen Nacken richtet, bereit, meine absurdesten Wünsche zu erfüllen. Als müsse ich nur mit dem Finger winken – und sie gehorcht. Nur dass ich nicht weiß, was ich wünschen soll. Anfang Mai in Davos – weder Winter noch Sommer, Zwischensaison. Bei uns nennt man das „tote Zeit“. 8 Den Winter in Davos kann ich mir nur ausmalen. Die ganzen Skiliebhaber. Skifahren ist selbst bei uns zum unbedingten Zeichen eines hohen (auch des höchsten) sozialen und materiellen Status geworden. Skier sind Oligarchenausrüstung. Erfolg in Geschäft und Politik erfordert Skifahrertum. Die höchsten Würdenträger der Welt versuchen, wenn sie in Davos sind, sich auf Skier zu stellen und in Begleitung eines ganzen Schwarms von Bodyguards und Beratern von Gipfeln abzufahren. Wie aber sah es zu Manns Zeiten aus? Mir fallen nur die Tuberkulösen ein, die stundenlang auf den Balkonen herumliegen und die Lungen mit der rettenden Bergluft füllen. Ihre schlafwandlerischen Spaziergänge auf den Pfaden rund um die Sanatorien. Essen und Schlaf, Essen und Schlaf, wie Castorp schreibt. Essen, Schlaf und sicher auch dekadenter postviktorianischer Sex, ohne den es bei Tuberkulösen nicht geht. Plötzlich verstehe ich, warum bei unseren Karpatensanatorien der Name „Bergluft“ so populär ist.

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9 Ein weiteres Charakteristikum der Zwischensaison ist die Sprache. Auf der sonnenüberfluteten Terrasse des Hotels „Schatzalp“ trinke ich Tee mit Rum, auf Thomasmannscher Höhe. An den Nebentischen wird ausschließlich Schwyzerdütsch gesprochen. Fände all dies in der Saison statt, überwöge wohl American und Pidgin English. Vor allem aber Russian. Obwohl unsere postsowjetischen Neureichen in ihrem Herdentrieb Courchevel bevorzugen. Warum? Weil es teurer ist als Davos. 10 Nachmittags kehre ich vom Zauberberg, aus der Umgebung des Hotels „Schatzalp“, zurück ins tiefer gelegene Hotel „Öróp“, in mein Europa. Schwimme lange und einsam im Pool. So lange und so einsam, dass – o Wunder! – neue Hotelbewohner erscheinen, ein muselmanisches Paar, Araber wohl, ein Scheich mit seiner Frau. Nein, kein Scheich. Sie ist kanonisch gekleidet (Hidschab), er aber ganz europäisch. Sie ist also die Scheicha von beiden. Die Neuankömmlinge betrachten lange und genau den Pool und mich darin. Nach der Betrachtung gehen sie hinaus. Ich schwimme weiter, und sie kehren zurück. Wird sie ein Stückchen ihres Körpers zeigen oder nicht? Er zieht sich aus und steigt über die Stufen ins Wasser. Sie, weiter im Hidschab, bleibt  „am Ufer“, setzt sich vorsichtig an den äußersten Rand einer Chaiselongue. „So sitzen Sie aber sehr unbequem“, möchte ich ihr vom Pool aus zurufen, aber es ist, als hätte ich Wasser im Mund. Mit ihrem Liebsten schwimme ich hin und her. Kommen uns immer entgegen – wenn er hin schwimmt, schwimme ich zurück und umgekehrt. Wir schweigen und lächeln nicht. Jetzt sind wir in diesem Hotel zu dritt. Und wenn er Schriftsteller ist? Und sie die Königin von Jordanien? 11 Teufel auch, wäre ich doch im Januar oder Februar gekommen! Um die Überfüllung zu beobachten, die Überbevölkerung, die Hast der Assistenten, Referenten und Manager, die Pressesprecher und Schneegänger, die gepanzerten Raupenlimousinen im Preis von einer halben Million und höher, die Helikopter im Himmel, die bestellten Reporter, wie sie sich vor dem Kongresszentrum herumdrücken, die mobilen Wachbrigaden, Hostessen und anderen Eskorten. Die Nächte durchmachen in der Piano-Bar „Tonic“, die überquillt von all den Assistenten, Referenten, Managern, Masseuren, Fahrern und Piloten. Mit feinem Ohr Gerüchte und andere Info erhaschen.

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Sich als unbemerkter Inkognito an der Peripherie eines Globalereignisses fühlen, fast beteiligt an dessen schicksalhaften Gesprächen und Entscheidungen. Gelegenheitsbekanntschaften schließen in Saunen, Jazzklubs, auf den Promenaden, das Tagegeld im Casino verplempern und eben dort viel größere, schwindelerregende Summen gewinnen. Aus dem Fenster eines Zimmers im dritten Stock aufs Dach klettern, mit dem Blick ganz Europa und seine höchste Stadt erfassen und im Zielfernrohr jenen erkennen, dessentwegen du hier bist. Den Abzug drücken und elegant, ohne einem der unzähligen Bodyguards auch nur ein Härchen zu krümmen, dem jahrhundertelangen Leiden des Volkes ein Ende setzen und damit, wie man das auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos nennt, den Zustand der Welt verbessern. Und dann? Keine Ahnung. Dann würde alles erst beginnen. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr

Juri Andruchowytsch (*1960) lebt in Ivano-Frankivsk, Ukraine

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