Zwietracht, von Shimmer Chinodya

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Afrika

W u n de rhorn

Reihe fĂźr zeitgenĂśssische afrikanische Literatur Herausgegeben von Indra Wussow



shim m e r c h i n o d y A

Z w i e t rAcht Aus dem ZimbAbwischen enGlisch mit einem GlossAr und einem nAchwort Von mAnFred loimeier

A f r i k AW u n de rhorn


Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. Der Übersetzer dankt dem jozi art:lab für ein Arbeitsstipendium in Johannesburg, Südafrika, verbunden mit einem Reisestipendium nach Harare, Zimbabwe.

Titel der Originalausgabe: Strife, Weaver Press © 2006 Shimmer Chinodya © 2010 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacherstraße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesamtgestaltung: 5  sans serif, Berlin Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda Umschlagabbildung: plainpicture / P hotoAlto ISBN 978-3-88423-350-4


1 Sie sucht den Himmel nach einem Scheibchen Mond ab. Manchmal ist sie einen oder zwei Tage zu früh dran, und die Dunkelheit gibt nichts ihren ungeduldigen Augen preis. Sie weiß nichts von Mondkalendern, aber sie spürt instinktiv die Kraft des Mondes. Er kennt die Geheimnisse des Schoßes, die Ebbe und Flut der menschlichen Gezeiten. Der Mond weiß alles, steuert alles. Ein oder zwei Mal ist sie zu spät dran, und sie stößt zufällig auf den überraschenden, schmalen Fingernagel im Westen. Sie keucht. Ihr Herz bebt, und sie eilt zurück in ihr Haus. Sie schläft nicht. Ihre Tasche ist bereits zur Hälfte gepackt und träumt von unvorhergesehenen Reisen. Sie wartet darauf, dass das Telefon klingelt. Warten ist eine Art des Todes. Sie schläft unruhig. Sie träumt immer von ihm – ihrem Sohn –, in seinem Hochzeitsanzug, als er sein hübsches weißes Lächeln lächelt und vor der Kanzel sein Ja-Wort gibt. Sie träumt von ihm, wie er strampelnd und schreiend in seiner Hochzeitsnacht gegen die Arme seiner weinenden Frau schlägt. Sie träumt von der langen nächtlichen Fahrt zum Krankenhaus, dem ruckelnden Lastwagen, ihrem Sohn schlaff auf dem Vordersitz; von den Rollstühlen, den skeptischen Pflegern, der Nacht, die er im Krankenhaus verbrachte, von dem geschmacklos gut gelaunten Arzt. Das gelegentliche Lachen der jungen Krankenschwestern klingelt klar in ihren Ohren. Sie träumt von Pythons, von Flammen, die ihr Haus verzehren. Sie träumt, wie die ganze Welt sie auslacht, wie Gott, wie ihre Vorfahren sie verspotten. Sie schläft unruhig. 5


Das Telefon klingelt nicht. Manchmal meint sie es in ihrem Schlaf zu hören, und sie springt aus dem Bett. Er – der neben ihr schlafende Mann –, ihr Ehemann, fasst vorsichtig nach ihr und zieht sie zurück. Er, der Mann im Haus, redet auf sie ein, sich wieder schlafen zu legen. Er, der Vater ihres siechenden Sohnes, schnarcht sachte durch die Nacht. Schließlich hat er morgens zur Arbeit zu gehen – sechs Tage die Woche. Männer haben keinen Schoß, wissen wenig über Monde. Aber die Sorge schwelt in seinen Augen. Sein Name war Mhokoshi. Er war ein Jäger; er hatte keine Frau, und Jagen war alles für ihn. Er lebte allein in einer Höhle im Wald, fern von Verwandten. Er jagte Böcke, Strauße, Büffel, Antilopen. Seine Wege kreuzten sich mit denen von Löwen, Hyänen und Elefanten. Manchmal, wenn das getrocknete Fleisch zu viel wurde, um es noch lagern zu können, gab er davon seiner Familie unten im Dorf ab, aber er blieb nie lange. Oft verbarg er sich im Schatten der Bäume am Rand einer Siedlung und rief ein Kind zu sich. So erfuhr er, ob jemand krank war oder ob eine Frau entbunden hatte oder ob es möglicherweise eine Bira – eine traditionelle Bierparty – geben würde; er eilte davon, wenn er irgendwelche Dorfälteste kommen sah, eilte davon und ließ sein überraschendes Fleischgeschenk zurück; eilte zurück in seine Höhle, zu seinen Speeren und Knüppeln, zu dem Wald, wohin er gehörte. Glücklicherweise wurde er nie krank; die Natur weiß sich um Tiere und Ausgestoßene zu kümmern – Wesen ohne Wurzeln sowie ohne Religion. Verrückte gehen barfuß und halbnackt in Wälder, ohne Fieber oder Husten zu bekommen. Er dürfte Anfang 20 gewesen sein, als er auf diese Weise zu leben begann, ein dreadlockiger Ausgestoßener, durchtränkt vom Geruch der freien Natur. Niemand wusste genau, wann er in den Busch abzurutschen begonnen hatte. In manchen Nächten, wenn der Mond zunahm oder voll war, schlief er unstet und wachte wimmernd auf – aber das machte nichts, denn er trank ­keinen Alkohol und war in kräftiger körperlicher Verfassung. Seine Familie legte Getreide – für sein Sadza – am Dorfrand ab, damit er es sich dort holen konnte, was er scheu und selten tat. Seine Familie machte sich Sorgen um ihn – er hatte eine Handvoll Brüder und Schwestern und war einer der Letztgeborenen in seiner Familie. Seine Eltern waren tot – aber er hatte Dutzende von Onkeln 6


und Tanten und viele Cousinen, Neffen und Nichten. Seine Familie dachte, er wäre krank, und seine Angehörigen bereiteten einen Sud zu, schlachteten einen Ochsen und gossen Trankopfer auf die Türschwellen der Küchenhütten; sie baten die Ahnen, seine Gesundheit wiederherzustellen. Sie fanden eine junge Frau für ihn, eine Schönheit aus der Nachbarschaft, und schickten ihm eine Nachricht, zu kommen, sie zu heiraten und sich niederzulassen, aber das tat er nie und nimmermehr. Der Jäger lebte auf seine Weise bis in seine Mittdreißiger, vielleicht frühen Vierziger – zu jener Zeit verschonte die scharfe Sichel des Todes nur wenige, und vierzig war ein reifes Alter. Niemand wusste, wann er starb, wo oder woran. Sie nahmen nur wahr, dass seine Besuche aufhörten; niemand kam mehr, das Getreide abzuholen. Sie wagten es nicht, nach ihm schauen zu gehen; der Wald war voller Löwen, Hyänen und Schlangen; sie dachten, er wäre ein Fluch auf der Familie, auf dem Clan. Sie befragten Wahrsager, um etwas über sein Schicksal zu erfahren. Einer sagte, dass er von Löwen zerrissen worden sei, ein anderer, dass er von einem Python verschlungen worden wäre, ein dritter schob es auf einen bösen Geist, der die Familie verfolge. Alle drei Wahrsager rieten zu Sühne, mahnten, dass seine Knochen und Waffen gefunden, aus dem Wald zurückgebracht, bestattet und gereinigt werden sollten. Voller Unruhe schläft sie und wartet darauf, dass das Telefon klingelt. Er, ihr Ehemann, raunzt verlangend und legt einen Arm um ihre Schultern. Sie schaudert. Seit der Hochzeit ihres Sohnes in der letzten ­Silvesternacht haben sie sich nicht geliebt, haben sie nicht richtig miteinander gesprochen. Er weiß, dass sie weiß, dass er von etwas weiß – aber er weiß nichts Genaues. Er weiß es nicht. Er weiß nicht genau, was geschah und warum; warum dieses Unglück ihn und seinen Sohn wählte, seine Familie aussuchte. Vierzig Jahre lang hat er seinen ganzen Glauben in die Bibel gelegt, und sein ganzes Leben lang hat Gott ihn vor Ärger beschützt. Aber der Vorfall während der Hochzeitsnacht seines Sohnes hat ihn schockiert, zerrissen wie ein altes Kleidungsstück. Doch er trägt die schlechte Nachricht wie ein Mann, lächelt bei der Arbeit Kollegen und Kunden zu, respektiert seine indischen Chefs, versteckt seine Erschöpfung hinter den Bergen von 7


Hemdschachteln und Hosen, dem Mittelpunkt seiner Arbeit über drei Jahrzehnte. Vierzig Jahre des Glaubens haben seine Furcht nicht eingelullt; wie ein echter Schwarzer hört er auf die Worte seiner Nachbarn. Nachdem sein Sohn mit einer Krankenakte und einem Fläschchen Tabletten aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war, brachte er einen Kräuterheiler ins Haus. Im Hof wurde ein großes Feuer angemacht, ein Fass voller frischer Wurzeln und Blätter auf der Glut gekocht, geheimnisvolle Extrakte wurden nachts in das Badezimmer gebracht; dampfende Decken, würziges Gras und glühende Kohlen, ebenso wie Räuchermittel, bitterer Brei, der hinuntergeschluckt werden musste, Löffel um Löffel; Zeichen und Symbole eroberten sein Heim. Er tat all das, aber sie – seine Frau – fühlt instinktiv, dass sie mehr tun sollten. Schließlich klingelt das Telefon, ein scharfer grausamer Stich. Sie stolpert in das Wohnzimmer. Er – ihr Ehemann – setzt sich im Bett auf, um zu lauschen. Sie ist atemlos am Telefon, und ihre Stimme zittert ahnungsvoll. Sie ist gute fünfzehn Minuten am Telefon und kämpft mit ihrer Angst. Als sie zurückkommt, sagt sie: »Es ist nochmals passiert. Im Schlafzimmer, als er schlief.« Er löchert sie nicht mit Fragen. Sie geht ins Badezimmer, nimmt rasch ein Bad, zieht sich hastig an und durchwühlt ihre Tasche. Er weiß, er kann sie nicht aufhalten oder mit ihr diskutieren. Der Sonnenaufgang sieht sie auf dem Marktplatz, wo sie auf den Bus wartet. Es sind neunzig Minuten Fahrt zum Haus ihres Sohns, und als sie ankommt, beendet er – ihr Sohn –, der in seiner Hochzeitsnacht krank zusammenbrach, gerade sein Frühstück, macht sich fertig, um arbeiten zu gehen. Seine Frau – ihre Schwiegertochter – macht Tee für sie, und sie plaudern belanglos eine Weile. Sie – die Mutter – bemerkt, dass die junge Frau eine frische Narbe an ihrem Finger hat. »Er hat dich gebissen«, sagt die Mutter. »Sich selbst hat er auch gebissen«, sagt die junge Frau. »Mach deinen Mund auf«, fährt die Mutter ihren Sohn an. Er stürzt seinen Tee hinunter, so dass dieser ihn fast verbrennt, und spielt ver­ legen mit seiner Zunge. Er ist wie ein sechsjähriger Junge, der sich wehgetan hat. Das Licht spiegelt sich in seinem Gesicht, und ihr fällt auf, wie tief seine Augen liegen, wie müde er eigentlich ist. Auf seiner Zunge ist ein wunder hellrosa Fleck. »Hast du sie mit Salzwasser gespült?«, fragt sie. Er schaut zu seiner­ 8


Frau und schüttelt den Kopf. Er geht in die Küche, um mit Salz zu ­gurgeln. »Steck ihm beim nächsten Mal einen Löffel zwischen die Zähne«, sagt die ältere Frau. »Ich bin weg zur Arbeit«, verkündet er mit jungenhafter Beflissenheit, richtet seine Khaki-Hosen und bindet die Schnürsenkel seiner Farmerschuhe. »Hast du deine Tabletten genommen?« »Ja, Mutter, es geht mir gut. Wirklich.« »Wir sehen dich dann zum Mittagessen.« »Ich werde zum Tee um zehn zurück sein. Ich muss jetzt gehen. In fünf Minuten habe ich eine Besprechung.« Er schwirrt ab in sein Büro, das gleich hinter den Bäumen liegt, die sein Haus begrenzen. Er ist ein geschäftiger junger Mann, der nicht viel Aufhebens um Äußerlichkeiten macht, ein diplomierter Pflanzenzüchter, den nichts aufhält, noch nicht einmal dieses unvorhersehbare Unglück, dieses mysteriöse Leiden, das ihn in seiner Hochzeitsnacht so erschütterte. Seine Frau ist im sechsten Monat schwanger, und als ihr Mann gegangen ist, wendet sich ihr die Mutter zu und fragt sie, wie sie sich fühlt. Sie ist ein tiefsinniges, ruhiges Mädchen mit einem schönen, ziemlich traurigen Gesicht; einer dieser Menschen, die zum Schweigen, für Traurigkeit vorgesehen sind, einer dieser Menschen, die niemals eine Unterhaltung beginnen. Sie antwortet, dass die Schwangerschaft bisher gut verlief – wie erste Schwangerschaften verlaufen, wo Probleme unerwartet sind, unbekannt. Sie zeigt der älteren Frau den Mutterpass. Als ihr Sohn – der Pflanzenzüchter – zum Tee zurückkommt, wartet eine Schüssel voller bitteren Breis auf ihn. Sie – die Mutter –, die Frau, die immer nach dem Mond schaut, achtet darauf, dass er sie leerlöffelt, und beschäftigt sich, indem sie seiner Frau weitere Kräuter zeigt. Sie verbringt die Nacht bei ihnen, liegt wach auf dem Bett im Gästezimmer, lauscht. Sie glaubt, ihn schreien zu hören und setzt sich auf, bebenden Herzens, mit dem Wort »Mwanangu!« auf der Zunge. Verlegen legt sie sich zurück und versucht zu schlafen. Ungern reist sie am nächsten Morgen ab, im Wissen, dass es weiter nichts zu tun gibt. Bei ihnen zu bleiben ist gut, um Gesellschaft zu haben, aber es steigert nur ihre Besorgnis.

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Seine drei Brüder gingen ihn im Wald suchen. Sie suchten die Höhlen ab, konnten ihn aber nicht finden – weder seine Knochen noch seine Keulen und Speere. Sie waren unzufrieden damit, wie sich die Dinge entwickelten, und sie machten ihrem Bruder Vorwürfe wegen der Art und Weise, wie er sein Leben gelebt hatte, abseits von seiner Familie. Sie ließen ihr Andenken an ihn verkümmern wie die Blumen im Winter, aber ihre Erinnerungen blieben, und sie zitterten wie trockenes Elefantengras im Juni, wenn sie an ihn dachten – Gras, das ein Feldfeuer erwartet –, daran, wie seine Knochen nackt dem Regen ausgeliefert waren, seine Waffen unaufgefunden, sein Geist unbesänftigt. Er hatte mehrere noch lebende Brüder und Schwestern. Ihre Mutter war tot, auf ihrem Weg von den Feldern von einer Puffotter gebissen. Danach war ihr Vater ein mürrischer Handwerker geworden, der Sachen schnitzte aus Stein und Holz, und der herumsaß und zum Vollmond starrte, wenig sprach und noch weniger aß. Er verheiratete sich nie wieder. Sie nannten ihn Zevezeve, den Flüsterer. Mhokoshis Brüder und Schwestern waren alle verheiratet, und es gab jede Menge Kinder, dazu Ziegen in den Umzäunungen. Der eine Bruder war ein angesehener Bauer, der Hirse, Erdnüsse und Süßkartoffeln an­baute, und der andere war ein bekannter Tänzer – ein breitgesichtiger Mann mit kräftigen Hüften, nach denen die Frauen anderer Männer guckten und während der Erntefeste über sie tuschelten. Der Tänzer war ein Abenteurer, der, als er auf die vierzig zuging, vier Frauen und mehrere Geliebte angesammelt hatte. Eine der Schwestern war eine Töpferin, und die andere eine Korbflechterin, und sie lebten mit ihren Ehemännern in den Bergen. Die Familie, der Clan, war über die weitläufigen Hügel nahe dem Save-Fluss verstreut. Das war, bevor die sengende Zeit der Trockenheit wie ein bitterer Fluch auf das Land fiel, das war, als der Wald noch von Beeren überquoll und der Fluss großzügig Fische spendete. Flusspferde stampften kraftvoll aus den Fluten, und Kroko­dile suhlten sich im Schlamm. Das Leben war locker – oder erschien ziemlich unbeschwert –, Nachkommen galten als zarte Geschenke aus Seele, Samen und Blut der Ahnen, und der Tod war etwas, dem man entgegensah. Zwischen diesen beiden Zuständen gab es magere Jahre und fette Jahre, kümmerliche Jagden und gute Jagden, nicht zu besänftigende Geister und resolute Hexen, Übel und Gelächter, gute Verwandte und schlechte Verwandte, und Regeln be10


züglich guter Nachbarschaft. Wenn dein Nach­­bar deine Frau stahl, nahmst du eine Axt und trugst die Sache mit ihm aus. Der Chief und sein Ältestenrat nahmen die Angelegenheit auf einem Dorfplatz auf, und du musstest büßen oder konntest gehen. Kein Vergehen, kein Verbrechen war zu groß, um nicht gesühnt werden zu können, und von einem Henker und seiner Schlinge hatte man nie gehört. Wenn jemand mit dem Finger auf dich zeigte und sagte, du wärst ein Hexer, dann zerrtest du ihn vor die Versammlung, um mit einem Tier entschädigt zu werden. Krankheit und Tod sah man entgegen, aber niemand starb nur wegen einer Krankheit – deine Vorfahren mischten mit. Sie ebneten den Weg für verschlagene Geister, dich zu belästigen, sei es, weil sie selbst zu schwach waren oder weil sie sich dazu hatten hinreißen lassen, mit dir oder ihresgleichen einen Streit auszutragen. Deine Ahnen segneten dich oder verdammten dich. Sie, die Mondjägerin, hat sieben Kinder, und er, der entschlos­sene Pflanzenzüchter, vierundzwanzig Jahre alt, ist ihr Erstgeborener. Das zweitgeborene Kind, ebenso ein Mann, zweiundzwanzig, ist ­dabei, sein Studium abzuschließen und liebt Sprachen. Der dritte, ein schweigsamer Zwanzigjähriger, studiert im ersten Jahr Politische Wissenschaften an derselben Universität. Das viertgeborene ist ein Mädchen – Lehrerin im Referendariat. Das fünfte und sechste Kind sind Mädchen an fortführenden Schulen, und das letzte und jüngste Kind ist ein Junge auf der Grundschule. Das Land schminkt sich mit dem seltsam gekoppelten Namen Zimbabwe-Rhodesien. Ein heftiger Bürgerkrieg wütet durch das Land; die Luft ist gesättigt mit einem abgestandenen Pessimismus. Verrat und Betrug sind an der Tagesordnung. Straßen sind vermint; Schulen, Läden und Kliniken geschlossen, die Wirtschaft strauchelt unter Sanktionen und der Einberufung aller wehrtüchtigen Weißen. Tausende schwarzer Jugendlicher sind über die Grenzen davongelaufen, ausgedurstet nach Freiheit und Respekt; um als Guerilla zu dienen, in Wäldern Slogans zu rufen; um mit Gewehren zu schießen und um Granaten zu werfen, um als Futter zu dienen für Ian Douglas Smiths Bomben. Aber dies ist keine Geschichte über diesen Krieg. Die Geschichte dieser bitteren Auseinandersetzung ist andernorts erzählt worden, schon vor langer Zeit. Ihre Kinder sind sicher vor dem Aufruhr. Sie gehen auf sichere Schu11


len. Sie kommen, sicher vor den wilden Kämpfen, in ihr kleines Haus in das Township heim. Sie sind »brillant«, und in diesen kolonialen Siebzigern, in denen Erziehung für Schwarze als das Ein und Alles betrachtet wird, ist ihr Haushalt angesehen. Ihre Kinder sind der Neid der Stadt, und es ist ein hoher Preis dafür zu bezahlen. Schweigen. Gesprächslosigkeit. Ernst. Kein Vater, der derb, betrunken, anstößig im Wohnzimmer herumsitzt, lallt und kommandiert, dass seine Kinder ihm noch ein Bier aus dem kleinen, aber leistungsstarken Kühlschrank bringen sollen. Keine Frau, die sich drall, prall und gefällig schwingt, die schimpfend eine Pfanne in das Gesicht ihres Mannes knallt. Sie hat der Armut und der Tradition getrotzt und sich eine Nische für sich selbst in der Stadt geschaffen. Fünfzehn Jahre lang hat sie ein anderes Leben gelebt, hat in einem neuen Land unter Fremden nahezu eigenhändig ein Heim geschaffen – eine Frau, die den Morgentau an ihren Stiefeln trägt. Ihre Geschichte ist andernorts erzählt worden. Aber dies ist noch einmal ihre Geschichte, eine neue Version, die Geschichte einer Frau, die danach trachtete, sich gegen die Umstände zu behaupten, die tüchtige, traurige Frau, die alles für ihre Kinder gab, die Frau, die meine Mutter genannt wurde. Dies ist die Geschichte von ihr, ihrem Mann und ihren Kindern, und was aus ihnen wurde, als sie die Nabelschnur zu ihren Vorfahren zerschneiden, das Schicksal herausfordern wollten. Welches Jahr war es – 1850? Wie überspringt man eineinhalb Jahrhunderte, um nach den eigenen Ahnen zu fassen? Sich an Gesichter erinnern, an Gerüche, Kleider, Essen, Musik, Geschichten und Tänze? Mit Leuten sprechen, Griots und Historiker befragen, Bücher durchstöbern, nach Bildern Ausschau halten, nach Anmeldeformularen und Tauf-Urkunden, Museen durchforsten sowie die Unter­ lagen von Lehrern, Priestern und Bezirksvorstehern – diesen unwirschen Vertretern der kolonialen Vergangenheit? Deine Angehörigen, die Verwandten deiner Eltern, schütteln wortkarg ihre Köpfe, als wollten sie sagen: »Junger Mann, lass die Vergangenheit in Ruhe; was macht dein leerer kleiner Kopf mit seiner Zeit?« Oder solltest du frisch Gebrautes beim familiären Bira trinken und darauf warten, die Vergangenheit zu erträumen? Was, wenn deine Geschichte, deine wirkliche Geschichte, von ihrem Fehlen handeln sollte, von deiner Unkenntnis, deinem Unvermögen, Ereignisse zu erschließen, von deinem Gejammer über die Tatsache, dass es in deinem Clan 12


­keine Griots gibt? Was, wenn du nur die blanken Knochen deiner Geschichte bergen kannst? Darfst du dann erfinden, das Vakuum füllen und Vergangenes ausschmücken? Mein Ur-Großvater – der verdrießliche Handwerker, der nicht mehr redete, nachdem seine Frau von einer Puffotter gebissen worden war, der Vater des Jägers, der in den Bergen starb – war zurückhaltend, und die Leute nannten ihn Zevezeve, den Flüsterer. Hinter ihm befindet sich eine Leerstelle – der herumwirbelnde Staub der Savannen, verworrene Erinnerungen an den großen ungestümen Treck vom Norden. Oder kam unser Clan aus dem Süd-­ Osten, aus dem kleinen Land, das als Swasiland bekannt ist? Oder kamen wir aus dem Norden, gingen südwärts nach Swasiland und wieder nördlich zurück in das Gebiet, wo die Nabelschnüre unserer Großväter und Großmütter begraben waren? Und wo waren un­ sere ­Ur-Ur-Ur-Großeltern begraben? Was kennzeichnete ihre Gräber? Oder waren ihre Knochen verstreut über die Felder Afrikas und wurden höchstens durch Pflüge, Traktoren oder Caterpillars aus A­meisenhügeln gezerrt? Leuchteten ihre Geister bei Nacht? Fanden ihre Seelen ­Frieden? Oh, Zevezeve, mein Vorfahr Hilf mir, diese Geschichte zu erzählen. Nun, in welchem Jahr wurde Zevezeve geboren? 1830? 1835? Komm Chigs, mein lieber Geschichtslehrer, hilf mir die Vergangenheit zu rekonstruieren. Lass uns Zevezeve herausputzen. Ihm einen Lendenschurz geben und vielleicht eine Leopardenfellmütze und eine Kuhfelldecke im Winter. Ihm Schnupftabak anbieten und einen Krug Hirsebier, obwohl er nicht viel trinkt. Ihm Hirse-Sadza geben und Derere, obwohl er nicht viel isst. Ihm ein Feuer machen, mit viel Holz; die Nacht ist jung, bis zum Winter sind es noch Wochen, und der zunehmende Mond ist noch nicht zu sehen, aber Frauen und Kinder schlafen schon. Sprich nicht zu viel mit ihm, stell ihm nicht zu viele Fragen. Er ist ein schweigsamer Mann, gewohnt daran, den Geräuschen der Nacht zu lauschen, dem Lärm anderer Männer; ein in seine eigenen Gedanken versunkener Philosoph. Die Lichtung ist klein, der Wald ragt dunkel über das Grasdach und die Hütten empor; Eulen heulen in den Bäumen; eine Hyäne bellt in der Nacht; jenseits des Flusses brüllt unentwegt ein Löwe, aber er, Zevezeve, braucht keinen Speer und kein Beil; Löwen – unverbesserliche Feiglinge – haben Angst vor Feuer; seine Ziegen, Hühner und kostbaren 13


Mapadza, die Hacken und sein Getreide sind in den Hütten mit den Kindern verstaut; ein Lamm blökt kläglich aus einer der Hütten. Hock dich, knie dich, setz dich in den Staub, Leser; Zevezeve ist fünfundvierzig oder fünfzig, nicht sehr alt – die Leute sterben jung, der Tod erntet reichlich hier; aber er hat schon drei oder vier seiner Töchter verheiratet und seinen letzten verbliebenen Ochsen verkauft, um zwei Söhnen das Lobola stellen zu können. Sein Kopf ist weiß wie Maismehl. Klopf sachte an und sprich von deinem Vorhaben; er ist weder ein Weiser noch N’anga noch Wahrsager noch Regenmacher, nur ein sonderlicher Flüsterer. Er ist ein Mann, der dazu da ist, ­an­deren einen Rat zu geben, ein Kriegsgegner, vernünftig, ein Ratgeber in allerlei Dingen – ein Mann, der weiß, dass Probleme dann, wenn sie nicht gelöst werden können, eben nicht gelöst werden können und das Leben trotz Mwari und Midzimu weiterzugehen hat. Natürlich achtet er Gott und die Geister der Ahnen, aber er weiß, dass der richtige Weg, Probleme zu lösen, nicht aus Kräutern, Biras oder Axtkämpfen besteht, sondern aus vorsichtigen Gesprächen, Flüstern. Er ist ein Mann, der seiner Zeit weit voraus ist. Warum bist du überhaupt nachts hierher gekommen, Leser, trotz der Geister und der Schlangen auf den nächtlichen Pfaden? Um seinen Rat zu suchen? Um deinen Respekt zu erweisen? Um dein Beileid auszusprechen? Seine Frau starb vor einem Monat, gebissen von ­einer Puffotter auf ihrem Weg von den Feldern, und sie liegt frisch in ihrem Grab, aber er – der Flüsterer – wird nicht jammern. Aber wir beschreiben nur seine Person, seine Persönlichkeit und ­seinen Hausstand. Wie altmodische Anthropologen. Was ist mit der Zeit, in der er lebte? Zeit, Ort der Geschichte? Komm, Chigs, mein lieber Lehrer, du bist gut darin. 1835, 1840; bis zur Pioneer Column, der Siedler- und Freiwilligentruppe von Cecil Rhodes, dauert es noch ein halbes Jahrhundert; Groß-Zimbabwe zerfällt – die Architekten der Rozvi, der einst von Changamire geeinten Shona-Völker, haben es letztens aufgegeben, Leitern himmelwärts emporzuklettern, um zum Mond zu gelangen und ihn zurückzuholen, da er, wie sie glauben, der rechtmäßige Halsschmuck ihres Königs ist; die kriegerischen Ndebele unter Mzilikazi haben ihre berüchtigten Streif­ züge ins Mashonaland begonnen. Das Munhumutapa-Reich befindet sich im Zerfall – die Shona sind übers Land verstreut und werden von vielen Chiefs regiert; es gibt noch keine wirklichen Kriege; die Shona sind damit beschäftigt, zu pflanzen und zu sammeln, zu jagen 14


und zu fischen, zu weben und zu schnitzen, zu Shangara und Ngororombe zu tanzen, zu trinken, ihre Frauen zu besteigen, zu lachen, zu weinen und ihre Kinder zu erziehen; Krankheit, Trockenheit und Tod sind die einzigen wirklichen Trag旦dien. Dies ist, damals, die Welt, die Zevezeve bewohnte, das Land, in dem er atmete und fl端sterte. Ach, aber Lehrer Chigs, dies ist kein Geschichtsbuch, und wir m端ssen fortfahren. Wir haben einen weiten Weg zu gehen, und wir m端ssen flink sein.



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