Opernring 2 | Februar 2024

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KS PIOTR BECZAŁA

Das MONATSMAGAZIN

№ 32

FEBRUAR 2024



INHALTSVERZEICHNIS

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VON SCHWEINEN & MENSCHEN GESPRÄCH MIT REGISSEUR DAMIANO MICHIELETTO

S.

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ECCENTRICITY, EXAGGERATION, ENERGY ALEXANDER RASKATOVS FARM DER TIERE UND DIE »3 E« VON SERGIO MORABITO

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EIN RABE NAMENS BLACKY ELENA VASSILIEVA GESTALTET DIE ROLLE DES RABEN IN ANIMAL FARM

S.

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ES GEHT MIR UNTER DIE HAUT SECHS FRAGEN AN KS WOLFGANG BANKL

S.

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WENN DAS DRAMA ZUM LEBEN ERWACHT GESPRÄCH MIT DEM DIRIGENTEN ALEXANDER SODDY

S.

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DEBÜTS

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DIESER MOMENT SCHLAGLICHT ZUR WIEDERAUFNAHME IN IL TRITTICO

S.

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FIT & GESUND DURCH DIE SAISON GESPRÄCH MIT MASSEUR PETER HLEDIK & PHYSIOTHERAPEUT STEFAN PETTERMANN

S.

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»WAS BEDEUTET HEIMAT FÜR DICH« ELEKTRISCHE FISCHE GEHT AUF TOUR

S.

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VON EISBERGEN & GERMTEIGEN GESPRÄCH MIT KS PIOTR BECZAŁA

S.

48

140.000 KINDER BEI DER ZAUBERFLÖTE FÜR KINDER

S.

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MUSIK IST EINE REISE IN DIE WELT DER WUNDER GESPRÄCH MIT MISHA KIRIA

S.

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PINNWAND


U R AU F F Ü H RU N G i m R a h m e n d e s O P E R A F O RWA R D F E S T I VA L S 2 0 2 3 Fo t o RU T H WA L Z – DU TCH NAT IONA L OPER A


VON SCHWEINEN & MENSCHEN OLIVER LÁNG IM GESPR ÄCH MIT DA MIANO MICHIELET TO

Theater, so sagt der Regisseur Damiano Michieletto, muss etwas mit der Gesellschaft zu tun haben. Wie im antiken Griechenland, als politische Themen auf der Bühne verhandelt wurden. Dass er mit der Premiere von Alexander Raskatovs Animal Farm im Haus am Ring debütiert, passt da ideal. Denn Animal Farm ist eine Parabel über Mechanismen der Macht – der Geschichte des Kommunismus entlehnt, aber bis heute aktuell. Was Michieletto Kopfzerbrechen machte, wie er die Welt verändern würde und was uns Animal Farm lehrt – das erzählte er in diesem Interview. ol

Wie kam es zum Animal Farm-Projekt? Welcher war der erste Grundgedanke? dm Nun, das Projekt Animal Farm entsprang meinem Wunsch, Geschichten zu finden, die sich heute für eine Oper eignen. Das ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt! Es geht mir dabei nicht so sehr um die Zukunft der Oper an sich, sondern es soll lediglich ein Versuch sein, etwas

zu schaffen, das in der Zukunft vielleicht Teil des Opernerbes wird. Als ich mich an George Or­ wells Animal Farm erinnerte, merkte ich sofort, dass die Geschichte die richtigen Zutaten für eine Oper enthält: Es kommen Charaktere vor, die sehr klar und genau definiert sind. Es gibt einen Chor. Und durch das Allegorische der Geschichte kann man verschiedene Erzählebenen schaffen und 3


U R AU F F Ü H RU N G i m R a h m e n d e s O P E R A F O RWA R D F E S T I VA L S 2 0 2 3 Fo t o s RU T H WA L Z – D U T C H N A T I O N A L O P E R A


VON SCHWEINEN & MENSCHEN

unterschiedliche Publikumsschich­ ten ansprechen: erfahrene Besucher und Besucherinnen, aber auch junge Menschen. Ich dachte: Das ist eine Ge­ schichte, die sehr farbenfroh werden kann und durch die Präsenz der Tiere auch musikalisch eine Herausforde­ rung darstellt. Und Raskatov war vom Projekt sofort begeistert! ol Aber Animal Farm ist keine für Kinder, oder? dm Animal Farm kann auch eine Fabel für Kinder sein, und es gibt ja einen entsprechenden Zeichentrick­ film. Denn natürlich kann man die Ge­ schichte so erzählen: Es war einmal ein Bauernhof, auf dem Tiere lebten, die davon träumten, sich von ihrem Herrn zu befreien. Sie organisierten sich und so weiter und so fort. Aber Animal Farm ist nicht nur das! Selbstverständ­ lich ist die Fabel eine Allegorie, und der Verfasser hat sehr klare und prä­ zise Parallelen zu einer historischen Situation in der Sowjetunion und zu Personen wie Stalin und Trotzki gezo­ gen. Animal Farm ist ein soziales und politisches Gleichnis. Mir gefällt, dass die Geschichte Äsops Fabeln ähnelt, in denen durch die Tiere stets eine morali­ sche, politische oder soziale Botschaft vermittelt wird. Und so ist Animal Farm eine Geschichte, die durch die Tiere über Demokratie, Politik, Ge­ walt, Schikanen, Ungerechtigkeiten, Totalitarismus, Revolution spricht, das heißt über Themen, die Teil der Menschheit sind und die auch unsere heutige Situation betreffen. Ich jeden­ falls wollte immer vermeiden, dass es nur ein Märchen für Kinder wird. Ich wollte, dass die Tiere Sinnbilder sind, auch dramatische und beunruhigende. Denn es geht um Leben und Tod. Es geht um Leid und um einen Wunsch nach Glück. ol Orwell schrieb seine Erzählung in einer bestimmten Zeit, einer spezifischen Situation, er thematisierte, wie von Ihnen angesprochen, den Kommunismus. Ist Ihrer Meinung nach die Handlung von Animal Farm zeitlos und allgemeingültig? Immer aktuell, auch heute? dm Genau das ist die Wirkungskraft von Animal Farm! Nämlich die Tatsa­ che, dass die Geschichte – wie bei allen 5


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VON SCHWEINEN & MENSCHEN

Klassikern – über die geschichtlichen Verhältnisse der Entstehungszeit hinausreicht. Orwell machte konkrete Anspielungen auf die Sowjetunion, aber er erzählt auch von Mechanismen, die gesellschaftli­ chen Prozessen zugrunde liegen. So meinte er, dass die wichtigste Passage diejenige sei, in der es den

Orwell: Animal Farm endet mit einer kurzen Be­ merkung, die besagt, dass man am Schluss keinen Unterschied mehr zwischen Schweinen und Men­ schen erkennt. Die Schweine, die einen Aufstand machen und sich so weit wie möglich von dem, was der Mensch darstellt, unterscheiden wollten,

ALEX ANDER R ASK ATOV

ANIMAL FARM 28. FEBRUAR 2. 5. 7. 10. MÄRZ 2024 PREMIERE Musikalische Leitung ALEXANDER SODDY Inszenierung DAMIANO MICHIELETTO Bühne PAOLO FANTIN Kostüme KLAUS BRUNS Choreographie THOMAS WILHELM Licht ALESSANDRO CARLETTI Dramaturgie WOUT VAN TONGEREN / LUC JOOSTEN Mit GENNADY BEZZUBENKOV / WOLFGANG BANKL / MICHAEL GNIFFKE / ANDREI POPOV / STEFAN ASTAKHOV / KARL LAQUIT / ARTEM KRUTKO / MARGARET PLUMMER / ISABEL SIGNORET / ELENA VASSILIEVA / HOLLY FLACK / DANIEL JENZ / AURORA MARTHENS / CLEMENS UNTERREINER

Schweinen zu rechtfertigen gelingt, warum gerade sie die Milch bekommen müssen. Die Milch: Das ist in Animal Farm das Wertvollste, etwas, das alle gerne hätten. Die Schweine, die gerade erst die Macht ergriffen haben, überzeugen die anderen durch eine Lüge und durch die Verbreitung von Schrecken. Sie sagen etwa: Wir müssen Milch trinken, weil wir eine große Verantwortung tragen! Und ihr müsst für uns sorgen, weil sonst Mr. Jones zurückkehren könnte. Also: Drohung, Angst. Wenn du nicht dieses tust, kann jenes passieren. Dieses Re­ gieren durch die Verbreitung von Schrecken ist ein Mechanismus, der in unserer Gesellschaft häufig zu finden ist. Auch zur Rechtfertigung von Ungerech­ tigkeiten. Man sieht also, wie die Geschichte über die historische Zeit, in der sie geschrieben wurde, hinausreicht. ol Wie viel Realismus braucht diese Geschichte, wie viel verträgt die Fabel? dm Fabeln müssen nicht realistisch sein. In Animal Farm kommen Schweine vor, die sprechen kön­ nen und die sich mit Ziegen, Hühnern und Kühen zusammentun, um zu revoltieren. Die Fantasie ge­ stattet es einem, freier zu erzählen – gerade, weil man weiß, dass es sich um Fiktion handelt. Es ist die Kraft der Maske: Wenn eine Schauspielerin eine solche aufsetzt, wird diese ihre Persönlichkeit nicht auslöschen, sondern sie macht sie explosiv, uni­ versell, sie lässt sie über die Sprache, die sie gerade spricht, hinauswachsen. Also: Eine Geschichte mit Tiermasken zu erzählen, beflügelt die Fantasie. Für mich ist das interessant, weil ich dadurch die Frei­ heit gewinne, Konventionen hinter mir zu lassen und mich von einem Realismus zu verabschieden. ol Was aber sieht man auf der Bühne? Menschen oder Tiere? dm Auf der Bühne sieht man Tiere, die am Ende zu Menschen werden. Dies war auch die Metapher von

nehmen am Ende alle seine Merkmale und Eigen­ schaften an. So, als ob sie wieder von vorne anfan­ gen würden. Sie werden zu jenem Feind, den sie am Anfang besiegen wollten. ol Und was lernen wir daraus? dm Animal Farm lehrt uns vor allem, dass die Oper eine Zukunft hat. Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste: Es ist schön, etwas auszuprobieren, neue Libretti zu schreiben; es ist schön, mit einem Musiker zusammenzuarbeiten und eine Sprache zu finden, die für das Publikum aufregend ist. Eine Sprache, die nicht künstlich wirkt. Denn manch­ mal erlebe ich schmerzhaft bei zeitgenössischer Oper, dass es mir nicht gelingt, an ihr teilzuhaben: wenn ich etwa eine Sprache höre, die abgehoben agiert. Ich glaube, dass wir aus dieser Oper, aus Raskatovs Musik, aus diesem Projekt lernen kön­ nen, mehr Vertrauen in die Oper zu haben. Lernen können, dass nicht wir das Musiktheater erfunden haben und es nicht mit uns sterben wird. Das ist für mich das Schönste! Und zusätzlich können wir etwas über gesellschaftliche Dynamiken lernen, die wir in gewisser Weise leider auch heute erleben und die Teil der Macht sind: Denn Macht hat stets das Bedürfnis, Regeln zu ihrer Rechtfertigung zu finden. Und Machthaber wollen alles tun, um sie nicht zu verlieren – auch auf ungerechte Weise, ge­ waltsam, antidemokratisch. Ich denke, dass diese Geschichte heute durch ihre starke Botschaft von Demokratie und Freiheit des Einzelnen begeistern kann. ol Wer ist nun die Hauptfigur in Animal Farm? Die Machthaber? Das Volk? dm Ich würde sagen, die Hauptfigur ist in Wirk­ lichkeit The Animal Farm, das heißt, diese Gruppe von Tieren. Somit zum Beispiel der Chor, der an den Ereignissen auf der Bühne zu 90 Prozent beteiligt ist. Das ist für eine Oper ziemlich ungewöhnlich! 7


VON SCHWEINEN & MENSCHEN

Aber natürlich auch Napoleon. Er ist das Schwein, das zum Anführer der Gruppe wird, er ist es, der am Anfang etwas im Schatten steht, sich nicht oft blicken lässt, dann die Macht ergreift und zum Diktator wird. Er ist die metaphorische Darstellung Stalins, auf den Orwell anspielte, und er lässt als Erster langsam die Maske fallen und nimmt als Erster allmählich mensch­ liche Züge an. ol Ist Animal Farm nur eine politische und gesellschaftliche Abrechnung, eine Dystopie? Oder gibt es auch Momente der Utopie, der Hoffnung? dm Mir gefällt sehr, dass Animal Farm mit einem Traum beginnt. Es gibt eine Fi­ gur, Old Major, die meint: Ich hatte einen Traum. Und wir kennen viele Geschich­ ten, die mit einem solchen beginnen. Der Traum ist bereits die Projektion von etwas Unwirklichem, von etwas, das es nicht gibt und das somit utopisch ist. Ich träume von einer Welt, in der es Ungerechtigkeiten nicht mehr gibt, ich träume von einer Welt, in der… Auch Martin Luther King begann seine berühmte Rede mit I Have a Dream, wie um zu sagen: Ich träume von etwas, das es nicht gibt. Diese Figur am Anfang gibt den Anstoß zu der Geschichte, wenn es sie nicht gäbe, käme das Ganze gar nicht in Gang. Aber Old Major hat nur eine Szene, dann stirbt er. Wir möchten ihn fragen: War es nur ein Traum oder hast du wirk­ lich geglaubt, dass er wahr werden kann? War es nur ein schöner Gedanke oder etwas, für das es sich zu sterben lohnt? Ich habe keine Antwort darauf, denn häufig kön­ nen Träume zu Albträumen werden, etwas, das mit Erstrebenswertem beginnt, wird schrecklich und verursacht Schrecken, Ge­ walt, Missbrauch. Wenn Orwell auf Stalin anspielt, denkt er natürlich an die Gulags, an die Verfolgungen, an die Ermordungen, an alle die Menschen, die im Namen eines revolutionären Ideals von Gleichheit ge­ schändet wurden. In Wirklichkeit wurden die schlimmsten, die schrecklichsten Dinge begangen! Das, was ein Traum war, wurde zum Albtraum. Dies gehört zur Komplexität der Fabel. ol Damiano Michieletto als Regisseur: Wie würde er die Welt verändern? dm Das weiß ich wirklich nicht... Wie ich die Welt verändern würde? Politisch… Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass ich et­ was verändern kann. Ich habe keine poli­ tische Macht. Ich denke, das Wichtigste, das ich als Regisseur mit meinem Team tun

kann, ist zu versuchen, etwas Aufregendes für das Publikum zu schaffen. Das ist eine Möglichkeit, etwas zu verändern. Nicht die Welt. Aber Emotionen zu schenken und et­ was dafür zu tun, dass die Menschen ins Theater gehen und dass die Bühne zu einem Ort des Lebens wird. Auch in einer Welt, die zunehmend von Technologie bestimmt und durch Technologie gefiltert wird. Ich kann versuchen, die Bühne zu etwas zu machen, das auch riskant ist, zu etwas, das unbe­ quem und überraschend ist. ol Und wie politisch ist das Theater? Nicht nur Ihres, sondern als Institution ganz allgemein? dm Nun ja, das Theater ist in dem Sinne politisch, als es die Polis betrifft, die Bür­ gerschaft, die Gemeinschaft. Schon durch die Tatsache, dass man an einem Ereignis teilnimmt. Wenn ich nun an die Zukunft der Oper denke, glaube ich, dass gesell­ schaftliche und politische Themen am in­ teressantesten sind. Gerade die Oper hat die Möglichkeit – auch für die Vielzahl von Personen, die an einer Aufführung mitwir­ ken –, ein Spiegel der Gesellschaft zu sein, und sie kann einen kritischen Blick auf die Gesellschaft werfen. Mein Traum ist, dass es uns wie am Ende des 16. Jahrhunderts, als man die Oper erfand, gelingt, eine Sprache zu finden, die Wort und Musik ideal ver­ eint. Und mir würde es gefallen, wenn wir zu einem gesellschaftlich wie politisch fo­ kussierteren Blick fänden – wie im antiken Griechenland. Schließlich begeistern mich Geschichten, die die Welt, in der wir leben, betreffen. ol Gibt es für Sie den eindrucksvollsten Moment der Oper? dm In Animal Farm gibt es einen Moment, der mir anfangs Kopfzerbrechen bereitet hat: Eine Szene, die der Komponist Ras­ katov eingefügt hat und die nicht Teil von Orwells Geschichte ist. Raskatov hat eine Figur namens Pigetta erfunden, eine Sän­ gerin, der von Squealer – einem Schwein, das an Napoleons Seite steht (auf Deutsch wurde der Name als »Schwatzwutz« über­ setzt) – der Hof gemacht wird. Diese Szene ist ein Zitat. Es ist, als würden wir in die Oper gehen und dort diese Sängerin erleben, der von einem Verehrer Blumen geschenkt werden. Sie denkt, dass sie die Blumen auf­ grund ihrer Schönheit, aufgrund ihrer Be­ rühmtheit bekommt. Der Verehrer aber sagt: Nein, dies sind die Blumen für dein Grab. Raskatov hat dieses Zitat, das von einer tat­ sächlich existierenden Person aus der Sow­ 8


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jetunion stammt, für die Oper verwendet. Es gibt also eine Verbindung zwischen dieser Szene und der Geschichte der Sowjetunion, die ich auf sur­ reale, aber auch dramatische Weise gedreht habe. Daraus ist eine der emblematischsten Szenen der Oper geworden. ol Zuletzt: Können Sie aus Ihrer Sicht Raskatovs Musik beschreiben? dm Mir gefällt ungemein, dass Raskatov ein Komponist ist, der den Dialog mit dem Publikum sucht und nicht auf Distanz geht. Er stellt sich den Zuhörerinnen und Zuhörern. Und sagt: Ich möchte eine Musik schreiben, die eine direkte, po­ puläre, unmittelbare Verbindung zum Publikum hat. Weiters verspüre ich in seiner musikalischen Welt das Echo von Schostakowitsch. Raskatov vermischt Genres, spielt mit stimmlichen Ex­ tremen. Mit anderen Worten: Er gefällt mir, weil er seine Sprache nicht auf eine Orchesterübung oder eine Technikübung reduziert, sondern die Geschichte vor sich sieht. Er selbst hat ja auch viel am Libretto gearbeitet, um es besser ans Theater anzupassen. Und er hat ein großes theatralisches Gespür. Seine Musik, die Art und Weise, in der er Figuren erschafft, ist sehr theaterbezogen. Abge­ sehen davon war es sehr einfach, mit seiner Musik zu arbeiten, weil sie zahllose Möglichkeiten ent­ bietet, um Figuren und eine Welt zu erschaffen.

Seine Musik ist sehr reichhaltig, mitreißend. Und das ist meiner Meinung nach für das Publikum sehr, sehr schön!

DAMIANO MICHIELETTO Der Regisseur Damiano Michieletto studierte Opern- und Theaterregie sowie Literaturwissenschaft in Mailand und in Venedig, seiner Geburtsstadt. Mit der Inszenierung von Jaromír Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer beim Wexford Festival 2003 gewann er einen Irish Times/ESB Theatre Award. Seine Karriere brachte ihn an alle wichtigen Orte des Musiktheaters, unter anderem zum Rossini Opera Festival in Pesaro, zu den Salzburger Festspielen, nach Glyndebourne, zum Maggio Musicale, an das Royal Opera House, Covent Garden in London, an die Mailänder Scala, an das Teatro La Fenice in Venedig, nach Berlin, Neapel, München, Paris, Rom, Tokio, Dresden, Barcelona, Madrid und Wien. Michielettos Inszenierungen umfassen Werke der gesamten Operngeschichte, unter anderem Opern von Mozart, Puccini, Verdi, Donizetti, Rossini, Strauss und Britten. Zu seinen Arbeiten zählen auch eine Verfilmung von Puccinis Gianni Schicchi. In Amsterdam zeichnete er für die Uraufführung von Alexander Raskatovs Animal Farm verantwortlich – die Ko-Produktion ist gleichzeitig auch sein Debüt an der Wiener Staatsoper.

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KOP F Z E I L E

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KOP F Z E I L E

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VON SCHWEINEN & MENSCHEN

»ANIMAL FARM LEHRT UNS VOR ALLEM, DASS DIE OPER EINE ZUKUNFT HAT. DAS IST MEINER MEINUNG NACH DAS WICHTIGSTE.« DA MIANO MICHIELET TO


DA M I A N O M I C H I E L E T T O Fo t o S T E FA N O G U I N DA N I

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SERGIO MORABITO

ECCENTRICITY, EXAGGERATION, ENERGY ALEX ANDER R ASK ATOVS FARM DER TIERE & DIE »3 E«

A L E X A N D E R R A S K A T OV Fo t o V I C T O R I A N A Z A ROVA / BÜHNE

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EC C E N T R IC I T Y, E X AG G E R AT ION, E N E RGY

Seiner ersten Oper näherte sich Ale­ xander Raskatov 1989 als 36jähriger: Grube und Pendel, nach Edgar Allan Poes gleichnamiger Erzählung. Deren Orchestrierung blieb freilich unvoll­ endet, nachdem sich die Hoffnung auf eine Aufführung zerschlug. Achtzehn Jahre vergingen, bevor ihn Pierre Audi, der damalige Leiter der Nederlandse Opera, unter dem Eindruck seiner Ins­ trumentierung und kompositorischen Erweiterung von Mussorgskis Liedern und Tänzen des Todes bei den Salzburger Festspielen 2007, einlud, für Amster­ dam eine Oper zu schreiben. Von der Wahl des Sujets bis zur Besetzung al­ ler Rollen erhielt der Komponist Carte blanche. Die Uraufführung von A Dog’s Heart nach Michail Bulgakows Er­ zählung Hundeherz wurde 2010 zum Triumph. Acht Jahre vergingen, bevor am Opernhaus von Lyon Raskatovs nächste Oper uraufgeführt wurde: GerMANIA, nach Heiner Müllers spätem Theatertext GERMANIA 3 – GESPENSTER AM TOTEN MANN, noch im selben Jahr 2018 gefolgt von Zatmenie (Verfinsterung). Dieses Auftragswerk eines russischen Mäzens macht den Deka­ bristenaufstand um Thema und erlebte – allerdings nur in konzertanter Form – im Petersburger Mariinski-Theater seine Erstaufführung. 2023 feierte das Amsterdamer Publikum Raskatovs Rückkehr anlässlich der Uraufführung der mit der Wiener Staatsoper kopro­ duzierten Animal Farm nach George Orwells berühmter ›Fairy Story‹. Alexander Raskatov hat an der Entwicklung der librettistischen Vor­ lagen seiner Opern stets energischen Anteil genommen. So hat er das Lib­ retto von Hundeherz aus Bulgakows Erzählung selbst extrahiert. Auch Heiner Müllers Theaterstück wollte – und durfte! – er seinen Vorstellungen gemäß überarbeiten. Den Text zu Zatmenie schuf er sogar ganz eigenstän­ dig, auf Grundlage von Briefzeugnis­ sen, Memoiren und Gedichten sowie unter Einbezug von Fragmenten aus Dostojewskijs Roman Aus einem Totenhaus. Nicht anders geschah es bei Animal Farm, wobei der Komponist freimütig bekennt, dass ihm bis zur Anfrage des Amsterdamer Opern­ hauses Orwells ›Märchen‹ nur dem Titel nach ein Begriff war. Denn das

Buch, das seinen Welterfolg nicht zu­ letzt der Tatsache verdankt, dass es – ganz gegen die Intention seines Au­ tors – als Waffe im Kalten Krieg miss­ braucht wurde, war in der Sowjetunion bis 1988 strengstens verboten. Für den am Tag von Stalins Begräbnis 1953 in Moskau, unweit des Roten Platzes, in eine russisch-jüdische Familie hinein­ geborenen Raskatov stand nach der Lektüre fest: Auch dieses Buch reflek­ tiert – nicht anders als die Werke Bul­ gakows und Müllers – seine Geschichte und die seiner Familie. Denn Orwells Erzählung ist eine Parabel über die Perversion der Russischen Revolution unter Stalins Diktatur: Auf einem ver­ wahrlosten Bauernhof revoltieren die Tiere gegen ihren tyrannischen Besit­ zer, müssen sich jedoch bald unter das Joch eines neuen Führers aus ihren eigenen Reihen beugen: »Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.« Orwells Intention war es, die Illusionen des Westens über das angebliche so­ zialistische Wunderreich im Osten zu entzaubern; Illusionen, welche die to­ talitären Gewaltexzesse des Regimes – von den Schauprozessen und Deporta­ tionen über die Massenmorde und den Holodomor bis zum Gulag – aktiv zu verdrängen und zu verleugnen suchten. Das von Ian Burton im Auftrag der Nederlandse Opera bereits er­ stellte Libretto erfuhr unter Raskatovs Redaktion einen grundstürzenden Umbau, für den die englische Spra­ che aber beibehalten wurde. Nach Raskatovs Einschätzung wies der ihm vorgelegte Text eine eher epische, oratorienhafte Struktur auf. Die »Lo­ komotive des Dramas«, also die eigent­ liche Dynamik der Geschichte, sei an eine Erzählerfigur delegiert gewesen: »Dabei muss es doch genau umgekehrt sein!« Zudem waren die Sätze viel zu lang und mit zu vielen beschreibenden Passagen versehen. Solche seien, so der Komponist, »Gift für eine Oper«, Langeweile wäre garantiert gewesen. Sprachlich drängte Raskatov also auf Verknappung und Verdichtung sowie darauf, die Erzählung in möglichst plastische Situationen zu übersetzen. Durch den Einbezug von Original­ zitaten Stalins, Trotzkis, des Kom­ intern-Vorsitzenden Bucharin und des Geheimdienstchefs Beria richtete

Raskatov zudem dokumentarische Schlaglichter auf die Pathologie des Sowjet-Systems. Raskatov hat dem Romangeschehen, dessen Hauptlinien er im Wesentlichen folgt, zudem zwei Szenen eigener Erfindung hinzugefügt: Einmal die von Stalin (»Napoleon«) in Auftrag gegebene Ermordung seines ehemaligen Wegbegleiters Trotzki (»Snowball«) im mexikanischen Exil, sowie eine der bezeugten sexualisier­ ten Gräueltaten Berias (»Squealers«): Einer jungen Schauspielerin, die sich dem Geheimdienstchef zu verweigern versuchte, überreichte dieser ein Bukett mit dem Hinweis, dass die Blumen zum Grabschmuck nach ihrer Vergewalti­ gung und Ermordung bestimmt seien. »Welche Oper kommt schon ohne Liebe und Mord aus?«, merkt der Komponist sarkastisch an. Für seine Vertonung hat er einen »Skalpell-Stil« – wie er selbst es nennt – entwickelt, der das Geschehen scharf und kontrastreich konturiert. »Oper – das ist in erster Linie Theater und Spiel. Die kommunikativen Parameter sind hier wichtiger als in jedem anderen musikalischen Genre«, sagt Raskatov. »Anders als Sinfonik oder Kammermu­ sik ist die Oper kein ›reines‹ Genre. Sie verlangt einen offenen Horizont und eine Art Polystilistik. Das lässt sich schon an Mozart beobachten. In eine Oper lassen sich die verschiedensten Dinge in einen neuen und manchmal auch gegenläufigen Kontext setzen und dadurch paradoxe Effekte erzielen. Oper ist keine puristische oder akade­ mische Form. Sie sollte vor Leben bers­ ten.« So arbeitet Raskatovs Partitur mit Verweisen auf die Musikkultur seines Landes – auf Tschaikowski, Mussorg­ ski, Rimski-Korsakow – ebenso wie mit Reminiszenzen an Prokofjew, Schosta­ kowitsch oder den Songstil Kurt Weills, an die Klangwelt der zwanziger, dreißi­ ger und vierziger Jahre des 20. Jahrhun­ derts also, deren historisches Gesche­ hen die literarische Vorlage reflektiert. »Für mich ist es wichtig, dass jede Oper, egal welches ihr Sujet ist, egal in welcher Sprache gesungen wird – rus­ sisch, deutsch oder französisch –, auf die semantischen Werte des Textes fokussiert. Ein zweiter Fokus ist ein dramaturgischer: Die Hochspannung, die zwischen Sängern, Orchester, dem 15


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Sujet selbst und der Inszenierung zirkulieren muss. Zugleich entsteht unter den Sängern eine Art »akusti­ scher Schock«. Das ist der Grund, warum ich Ensem­ bles in der Oper so schätze und liebe. In einem Solis­ tenensemble entsteht ein »Konflikt« zwischen den Tessituren, also den unterschiedlichen Stimmcha­ rakteren und folglich deren Obertönen. Im Grunde schreibe ich nämlich Animal Farm für zwei Orchester. Das eine agiert im Orchestergraben, das zweite, das Sängerorchester, agiert auf der Bühne. Ja, stellen Sie sich vor, ich behandle die Sänger als Vokalorchester!« Einige dramaturgische Entscheidungen Ras­ katovs sind sicher genau dieser Vorliebe für das ›Meta-Instrument‹ eines solchen Vokalorchesters geschuldet. Seine Partitur sieht nicht weniger als 21 Solorollen vor, die das volle Spektrum menschli­ cher Stimmlagen ausschöpfen und von denen jede einzelne ein höchst originelles Profil erhält. Diese Klang-Charaktere werden dann in der Partitur ka­ leidoskopartig miteinander verzahnt und ineinander verschachtelt. Die hochvirtuose Interaktion der Solo­ stimmen gemahnt nicht zufällig an die Ensembles in Verdis Falstaff, für Raskatov »eine meiner Lieb­ lingsopern«. Im Unterschied zu den in der Moderne unendlich ausgeweiteten Klangerzeugungs- und Artikulationstechniken des klassischen Instrumen­ tariums, sind die Potenziale der Gesangsstimme nach Raskatovs Wahrnehmung bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Nur allzu willig hat er sich durch das wiehernde, grunzende, meckernde, blökende, kreischende, kollernde und quiekende Bestiarium seiner Vorlage zu ganz neuen Mutationen und Ver­ fremdungseffekten inspirieren lassen. »Zugleich ver­ bergen sich unter dem tierischen Fell- oder Federkleid durch und durch menschliche Physiognomien«, so Raskatov. Seine plastische musikalische Phantasie sucht und findet klangliche Äquivalente zu Orwells poetischer Präzision und Humor, die jedes einzelne Tier zu einer eigenen Persönlichkeit werden lassen. »Ich muss wissen, für wen ich schreibe«, sagt Raskatov. »Das ist sehr wichtig. Es ist ein großer Unterschied, ob man einen abstrakten Auftrag für ein Orchester oder ein Ensemble erhält, und diese Künstler überhaupt nicht kennt, oder ob man für Menschen schreibt, die man kennt und für die man Sympathie empfindet.« Dabei verpflichtet Raskatov seine Interpreten auf die absolute Priorität der ›3 E‹: Exzentrik, Übertreibung (Exaggeration) und Energie. Und so hat eine Gruppe stimmlicher Extremsportler Raskatov bei all seinen bisherigen Opernabenteu­ ern begleitet. Da ist zum einen Elena Vassilieva, die Grande Dame der osteuropäischen Avantgarde, der wir etwa eine integrale Einspielung von Edison De­ nisovs Liederzyklen verdanken. Für ihren dramati­ schen Koloratursopran – der in Hundeherz schon eine der beiden konkurrierenden Stimmen des Hundes (die »böse«!) gestaltete – hat Raskatov die Hosenrolle des Blacky kreiert. Ausgangspunkt war die Gestalt

des »Moses«, jenes zahmen Raben, jenes »Spitzels und Ohrenbläsers«, der in der Scheune übernachtet und der verwöhnte Liebling des Farmers Jones ist. Dieser folgt bereits im 2. Kapitel des Romans dem fliehenden Farmer-Ehepaar ins Exil und kehrt erst im 9. von insgesamt 10 Kapiteln zurück, um die nun­ mehr enttäuschten Revolutionäre unter Duldung Na­ poleons, des »Führers«, mit der Aussicht auf einen jenseitig-himmlischen »Sugar Candy Mountain« zu trösten. In der Oper hingegen sind Blackys abrupte Registerwechsel, seine Staccati, seine den Streichins­ trumenten abgelauschte Ricochet-Effekte und sein heiser-kehliger Rauco-Gesang durchgängig präsent. Gennady Bezzubenkov, der in GerMANIA den – natürlich russisch singenden – Stalin gab, leiht seinen »Basso profondo« in Animal Farm dem Old Major, jenem preisgekrönten, in die Jahre gekom­ menen weißen Keiler, der kurz vor seinem Tod den Tieren seinen Traum von Freiheit und Gleichheit ver­ macht (in Old Major sind Referenzen an Marx und an Lenin verbunden). Für Karl Laquit, der in GerMANIA den »Rosa Riesen« verkörperte, jenen Serienmörder, der in den Wendejahren in Ostdeutschland wütete, hat Raskatov nicht nur den Esel Benjamin kompo­ niert, der – obwohl er die Propagandalügen durch­ schaut – sich aus allem herauszuhalten versucht und am Ende nicht verhindern kann, dass das Zugpferd Boxer, sein einziger Freund, an den Abdecker ver­ schachert wird. Laquits vier Oktaven umfassendes Register macht es möglich, dass er auch die Episoden­ figur der Pigetta übernimmt, jener jungen Schauspie­ lerin, die das Rendezvous mit Beria (alias »Squealer«) nicht überlebt. Michael Gniffke, auch er in GerMANIA schon dabei, intoniert mit »Kantorenstimme in Tenorlage« die revolutionären Litaneien Snowballs, jener Referenzfigur zu Trotzki, der als einer der Vä­ ter der Revolution von ihr verschlungen wurde. Und die stupende Holly Flack voltigiert als die hübsche Schimmelstute Mollie in einem vokalen Bereich, der sich mit »Königin der Nacht aufwärts« charakteri­ sieren ließe. Aber auch alle anderen Solisten sowie Chor und Kinderchor haben ebenso fordernde wie dankbare Aufgaben zu bewältigen. Angesprochen auf eine Botschaft oder Aussage seiner Oper, zitiert Raskatov Puschkin, der am Ende eines anderen Märchens (des Märchens vom goldenen Hähnlein) sagt: »Das Märchen ist Lüge, doch enthält es einen Wink, den gute Leute sich zu Herzen neh­ men!« Kein Zweifel, die Grundfrage von Animal Farm bleibt im »postfaktischen« Zeitalter des Populismus für das seit den Nullerjahren im Eiltempo re-sta­ linisierte Russland ebenso wie für den Westen auf bedrängende Weise akut: Wie ist es möglich, dass Volksführer sich bei der Durchsetzung rücksichtslo­ ser Macht- und Eigeninteressen einer manipulativen Rhetorik von Freiheit, Sicherheit und Selbstverteidi­ gung bedienen? 16


KOMPONISTENPORTR ÄT

ALEXANDER RASKATOV Der Komponist von ANIMAL FARM im Gespräch mit dem Chefdramaturgen SERGIO MORABITO 24. FEBRUAR 2024 15.00–16.00 / GUSTAV MAHLER-SAAL

S z e n e n b i l d A N I M A L FA R M

DU TCH NAT IONA L OPER A Fo t o RU T H WA L Z


OLIVER LÁNG

EIN RABE NAMENS BLACKY E L E N A VA S S I L I E VA G E S T A LT E T D I E ROLLE DES BLACKY IN ANIMAL FARM

In einer Hotellobby in Wien, die Kaffeemaschine surrt, der Concierge murmelt. Doch was ist das? Plötzlich flirren silbrige Koloraturtöne durch den Raum, gleich danach ein baritonales Gurren. Spitzen blitzen auf, kräftig betonte Silben folgen, ausdrucks­ starke Klangtrauben. Und eine Dame beeindruckt mit einprägsamen Blicken, Gesten. Eine Performance? Eine Probe? Nein, es ist die faszinierende Sängerin Elena Vassilieva, Mitwirkende der Animal Farm-Pre­ miere: sie gibt ein Interview. Und wo die Worte nicht mehr ausreichen, greift sie kurzerhand zu anderen Ausdrucksmitteln: Gesang und Darstellung. Viele Jahre ist es her. Da fragte eine Sopranistin, gleichermaßen bewandert im internationalen »klas­ sischen« Repertoire zwischen Cio-Cio-San und der Tannhäuser-Elisabeth als auch in der zeitgenössi­ schen Musik, beim Komponisten Alexander Raska­ tov an, ob er nicht ein neues Stück für sie schreiben könne? Ja, seine Antwort. Das könne er. Schließlich wusste er um ihre Kunst, er kannte ihre Interpretatio­ nen der Werke von großen Komponistenkollegen wie Alfred Schnittke und Edison Wassiljewitsch Denisov, er kannte ihre Stimme. Und machte sich an die Arbeit. Das neue Werk sollte etwas Besonderes werden, nicht nur reiner Gesang. Sondern: Gesang und Schlagwerk, dargebracht von nur einer Person. Und so entstand Ritual, 1998 im musikalischen Wunderland Locken­ haus uraufgeführt. Die Sängerin, der Raskatov das Stück auf die Stimmbänder schrieb, war natürlich Elena Vassilieva, heute die Ehefrau des Komponis­ ten. »Ein spektakuläres Werk«, erzählt sie. »Aber man braucht dazu eine spezielle Gesangstechnik.« Es erklingen nämlich einerseits Soprankoloratu­ ren, andererseits aber auch tiefe, charakteristische, »grummelnde« Töne. Die erforderliche Technik, die hat Vassilieva von einem Schamanen erlernt: dabei werden nicht die Stimmbänder selbst, sondern die Seitenstränge angesprochen. Dank dieser Methode

gelingen atemnehmende Stimmsprünge, raue, bari­ tonale Klänge stehen neben heftigen Sopranattacken. Musikalische Elemente, die auch die Klangwelt des Blacky in Animal Farm prägen. Vassilieva: »Eine he­ rausfordernde Partie! Nicht nur, weil Blacky prak­ tisch die ganze Zeit auf der Bühne ist. Sondern auch, weil man dazu die eben angesprochene gesangliche Polytechnik braucht: eigentlich sind es zwei Stimmen in einer Person.« Rein von den Noten her wäre die Partie für Vassilieva nicht so schwierig, kann sie doch auf ihr absolutes Gehör vertrauen. »Ich schaue in die Noten und schon höre ich die Musik, zum Einstu­ dieren brauche ich eigentlich gar kein Klavier.« Aber die Komplexität der Rolle, die Geschwindigkeit des Umschaltens, die geforderte Vielfalt, das alles macht die Partie außerordentlich. »2006 führte ich hier in Wien im Konzerthaus, begleitet von Pierre-Laurent Aimard, ein Werk von György Kurtág auf: Bornemisza Péter mondásai (Die Sprüche des Péter Bornemisza), und das auf Ungarisch. Ein extrem herausforderndes, 40minütiges Stück, nur eine Sängerin und ein Klavier. Ich dachte: Das ist das Schwierigste, das ich machen kann. Heute weiß ich: Blacky fordert noch mehr.« Wer aber ist Blacky? Zunächst einmal ein Rabe. Mit anderen Worten: ein intelligentes Tier, das sich stets zu helfen weiß. In George Orwells Erzählung repräsentiert der Rabe die Kirche, in der Oper wurde die Figur deutlich erweitert. Nun ist Blacky ein zen­ traler Charakter, präzise gezeichnet, unheimlich. »Eine komplexe Figur. Blacky beobachtet alles und jeden, er fragt viel, gibt aber keine Antworten. Die Fragen sind wie eine Autopsie. Er ist gut erzogen, weiß, wie er mit dem Diktator Napoleon zu spre­ chen hat und wie mit den anderen. Ihn interessiert nur die Crème de la Crème. Sein Plan ist es, so bald wie möglich Squealers Stelle einzunehmen. Und dann will er die Position von Napoleon. Blacky ist ein Taktiker, ganz ohne Angst zu töten.« Diese Glätte 18


KOP F Z E I L E

E L E N A VA S S I L I E VA Fo t o V I C T O R I A N A Z A ROVA / BÜHNE

und das Unpersönliche zeigen sich schon im Kostüm. Die Figur ist rabenschwarz gekleidet, »sehr elegant, die Schuhe, die Handschuhe, alles außerordentlich schön, alles Haute Couture«. Die Sonnenbrille, die er immer trägt? »Das hat mit seinem Charakter zu tun, niemand kann ihn durchschauen, hinter die Fassade blicken.« Auch seine Sprache ist technisch, die Per­ sönlichkeit kaum zu greifen: »Er ist polystrukturell. Ein pathologischer Charakter.« Und im Inneren, so Vassilieva, gänzlich leer. Und: Die Figur wurde vom Komponisten auch als Kritik an der kirchlichen Welt Russlands verstanden. Gleichzeitig aber hat Blacky etwas von einem Geheimdienst, vom KGB. Hier spie­ len auch autobiographische Züge hinein, wie Vassi­ lieva schildert: »Als Jude litt Raskatov in Russland, seine Eltern, die Ärzte waren, wurden in der Stalin-

Zeit verfolgt. Und ich denke, dass er einer ganzen Reihe solcher Raben begegnete.« Blacky wird übri­ gens Napoleon nachfolgen, meint Vassilieva. »So wie im heutigen Russland. Viele Blackys! Leider!« Angeregt scharrt sie in den Startlöchern, denn gleich nach dem Interview geht es zur Probe. »Mit dieser Rolle habe ich viel experimentiert, bei der Ur­ aufführung in Amsterdam – und auch jetzt. Denn in Wien gibt es eine teils andere Besetzung, das führt zu neuen Konstellationen.« Doch experimentieren, Neues zu entdecken ist pures Glück für die Sängerin: »Wissen Sie, ich bin eine ewige Studentin und glück­ lich, wenn ich etwas lernen kann. Das war in meiner Jugend als Schülerin von Elisabeth Schwarzkopf, die wie eine Mutter für mich war, so – und das ist bis heute so geblieben!« 19


K S WO L F G A N G B A N K L a l s A S T R A DA M O R S i n L E G R A N D M AC A B R E Fo t o M I C H A E L P Ö H N

ES GEHT MIR UNTER DIE HAUT Zuletzt baumelte er in György Ligetis Le Grand Macabre vom Schnürboden, verlebte als Gefängnisdirektor in der Fledermaus bewegte und illuminierte Stunden. Nun steht KS Wolfgang Bankl in Animal Farm als Diktator Napoleon auf der Bühne. Sechs schnelle Fragen an den Staatsopern-Bass. 20


SECHS FRAGEN

DER CHARAKTER NAPOLEONS, IN WENIGEN WORTEN ERKLÄRT… Das Schwein Napoleon ist zu Beginn ein Schwein wie jedes andere. Getriggert durch die Dinge, die rund um ihn passieren, entwickelt er den Gedanken der Auflehnung, den er schon in den ersten Schritten für eine alleinige Machtergreifung nützt. Und er setzt die Macht gnadenlos ein, um seine Stellung als Erster zu etablieren. DIE FIGUR DES NAPOLEON IST STALIN NACHEMPFUNDEN. SCHLUCKT MAN ALS SÄNGER IN SO EINEM FALL EIN BISSCHEN? IM SINNE VON: SO EINEN WILL ICH NICHT SPIELEN. ODER IST DAS DURCH DIE PARABEL ABGESCHWÄCHT? Schreckliche Charaktere darzustellen ist in der Oper ja fast unser tägliches Brot, vor allem in meinem Fach als Charakterbass. Da gehört es dazu, auch Charaktere zu verkörpern, denen man im wirklichen Leben nicht begegnen möchte. Mitunter macht genau das sogar Spaß. Und zur Frage der Abschwächung: Ich bestreite, dass eine Parabel das Ganze erträglicher macht. Nein, im Gegenteil! Es macht die Sache noch viel schlimmer! Furchtbare Menschen erlebt man dauernd, man muss nur die Nachrichten einschalten. Aber wenn man das Geschehen aus einer konkret realen Situation in eine Parabel verlagert, dann treten die grausamen Mechanismen noch stärker zutage. Die Parabel verstärkt das – es ist dann nämlich kein Einzelfall, sondern bekommt Allgemeingültigkeit. ORIENTIEREN SIE SICH IN IHRER ROLLENGESTALTUNG AN DER GESTIK UND KÖRPERHALTUNG STALINS? ALS WIEDERERKENNBARKEIT? Nein, das geht schon deshalb nicht, weil es dann ja keine Parabel mehr wäre. Zumal mir von Stalin keine bestimmten Gesten bekannt sind, die auf einer Bühne so einfach transportiert werden könnten. Im Fall von Napoleon ließe sich die berühmte Hand­ haltung zwischen den Knöpfen des Sakkos zeigen. Aber meine Opernfigur heißt ja nur Napoleon, sie zeigt ihn nicht. WAS NEHMEN SIE PERSÖNLICH AUS DER OPER MIT? LÄSST SICH ÜBERHAUPT ETWAS MITNEHMEN? Diesen Anspruch habe ich bei jedem Werk. Selbst eine Komödie, die der reinen Hei­ terkeit gewidmet ist, enthält Aspekte, die zum Nachdenken anregen und die, nach eingehender Reflexion, vielleicht dazu beitragen, ein »besserer Mensch« werden zu können. Daher fällt mir bei Animal Farm sofort ein: Man kann persönlich zum Beispiel lernen, mehr zu reflektieren, mehr zuzuhören und darüber nachzudenken, was die anderen sagen. Auch wenn es nicht der eigenen Meinung entspricht – viel­ leicht steckt ja etwas dahinter, das einem weiterhilft. WIE SIEHT ES MIT DEN STIMMLICHEN HERAUSFORDERUNGEN BEI NAPOLEON AUS? Napoleon ist eine vergleichsweise einfache Partie. Also: Sie ist nicht schwierig zu lernen, leicht auswendig zu lernen, sehr gut strukturiert geschrieben. Im Vergleich zum Astra­ damors in Le Grand Macabre sind die Strukturen klarer! Andererseits ist Napoleon eine für einen Bass ausgesprochen hohe Partie. Man muss da ordentlich zupacken, um auch die Höhen gut zu platzieren. GIBT ES EINE SZENE, DIE SIE ALS BESONDERS EINDRÜCKLICH EMPFINDEN? Gegen Ende gibt es eine Passage, in der Stalin zitiert wird. Napoleon singt »Sich seine Opfer aussuchen, seinen Plan minutiös vorbereiten, eine unerbittliche Rache ausüben und dann ins Bett gehen... Es gibt nichts Schöneres auf der Welt.« Diese grauenhaften und zynischen Sätze werden von einer zuckersüßen Musik begleitet – und diese Mischung geht mir unglaublich unter die Haut!

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WENN DAS DRAMA ZUM LEBEN ERWACHT ALEX ANDER SODDY LEITET SEINE ERSTE PREMIERE AN DER WIENER STAATSOPER

A L E X A N D E R S O D DY Fo t o C H R I S T I A N K L E I N E R

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W E N N DA S DR A M A Z U M L E B E N E RWAC H T

Der aus England stammende Alexander Soddy gehört mittlerweile zu den weltweit nachgefragten Diri­ genten, der Partituren in selten gehörter Transparenz zum Er­ klingen bringt und zugleich für musikalische Höchstspannung sorgt. An der Wiener Staatsoper war er seit seinem Debüt im Jahr 2018 fast jede Saison zu Gast. In der aktuellen Spielzeit lei­ tet er 25 Vorstellungen bzw. sechs unterschiedliche Werke. Mit Alexander Raskatovs Animal Farm dirigiert er zudem seine erste Premiere im Haus am Ring. Während der Probenzeit von Animal Farm führte Alexander Soddy mit Andreas Láng das folgende Gespräch. al

Der besondere Reiz, das Werk eines lebenden Komponisten aufzuführen, liegt auf der Hand: Man kann bei der Entwicklung der Interpretation jederzeit Rücksprache mit dem Schöpfer des Werkes halten. Wann fing Ihr künstlerischer Austausch mit Alexander Raskatov? as Die doch zahlreichen, vielstündigen Gespräche, bei der wir gemeinsam die Parti­ tur gelesen und analysiert haben, begannen sehr früh, bereits im Umfeld der von einem Kollegen geleiteten Uraufführungsserie vor einem Jahr in Amsterdam. Ich hatte Fragen, Anregungen, Vorschläge – schließlich ist die Interpretation eines Musikwerkes ein krea­ tiver, lebendiger Prozess, eine bloße Kopie der Amsterdamer Vorstellungen wäre mir zu wenig gewesen. Und Raskatov ist sehr offen und interessiert in diese Diskussion einge­ stiegen und hat so manches aufgenommen, sodass schließlich eine Art Wiener Fassung von Animal Farm entstanden ist. Das Gros der Änderungen betraf weniger strukturelle Aspekte, sondern solche des Ausdrucks, also der interpretatorischen Herangehens­ weise. Aber die eine oder andere General­ pause, Tempomodifikationen, sowie einige

winzige Striche, die zur Fokussierung der Handlung beitragen, sind auch dabei. Dazu kommt noch der doch nicht unwesentliche Aspekt, dass in Amsterdam Gesangsstim­ men elektronisch verstärkt wurden, was an der Wiener Staatsoper selbstverständlich nicht der Fall sein wird. al Alexander Raskatov betont, wie wichtig für ihn seine Auseinandersetzung mit früheren Komponistengrößen und der russischen Folklore war. Im Falle von Animal Farm fallen einem tatsächlich gelegentlich Ähnlichkeiten mit Schostakowitsch auf… as … oder beispielsweise mit Prokofiew. Wie schon Richard Strauss haben heute praktisch alle bedeutenden zeitgenössi­ schen Komponisten ein geradezu enzyk­ lopädisches Wissen was frühere Stile und musikalische Sprachen, Einflüsse und Zu­ sammenhänge betrifft. Dieses Wissen ist Teil des Handwerks und somit ein Werk­ zeug beim schöpferischen Prozess. Weil Sie Schostakowitsch erwähnten: zwischen seiner Lady Macbeth von Mzensk und Animal Farm gibt es ganz bewusste Parallelen, wenn es um Ironie, gesellschaftliche Pole­ 23


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mik und politische Satire geht. Das sind atmosphärische Zitate, die von Raskatov hier insofern eingesetzt wurden, als es sich bei Animal Farm um eine kritische Ausei­ nandersetzung mit dem Stalinismus, der sowjetischen Diktatur, und in Folge mit der Entstehung von Diktaturen im Allge­ meinen handelt. Dieses Wissen um andere Stile, diese Bereitschaft, sich inspirieren zu lassen hat nichts mit einem oberflächlichen Eklektizismus zu tun. Ganz im Gegenteil. Es ist ungemein aufregend, wie gerade Ras­ katov mit diesen Einflüssen spielt, sie ein­ setzt und auf geniale Weise in seine eigene Musiksprache übersetzt. al Die Größe und Vielfältigkeit des Orchesterapparats von Animal Farm ist an sich schon beeindruckend. as Insbesondere der Reichtum des Schlag­ werks ist unglaublich! Ich muss zugeben, dass ich hier auf ganz aufregende Instru­ mente gestoßen bin, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte. Ein Waterphone zum Beispiel. Schaut aus, wie ein kleines sonder­ bares, mit Wasser angefülltes Möbelstück, das mit einem Kontrabassbogen gestrichen wird und erzeugt einen aufregend-sphäri­ schen Klang. Oder die Cuíca, eine brasilia­ nische Reibetrommel. Mein Klanghorizont hat sich – obwohl ich an sich viel Erfahrung mit zeitgenössischer Musik besitze – durch Animal Farm erfreulich erweitert. Vom Schlagwerk abgesehen gibt es noch Klavier und Celesta, E-Gitarre, Bassgitarre, Saxo­ phon, eine Petite trompette, also eine kleine Trompete, die vom ersten Trompeter zusätz­ lich gespielt wird. Und dann noch die klas­ sische Orchesterbesetzung, wobei viele der Bläser mehrere Instrumente übernehmen – also mehr als genug zu tun haben. al Rein vom räumlichen her gesehen, ist die Größe des Orchesters aber eine Herausforderung für jedes Opernhaus. as In Amsterdam hat man sogar einen nicht gerade kleinen Teil des Parketts ab­ getrennt und dem Orchestergraben zuge­ schlagen. Das wird in der Wiener Staats­ oper natürlich nicht geschehen. Doch auch hier reicht der Platz nicht ganz aus, obwohl sogar das gewaltige Elektra-Orchester un­ tergebracht werden kann. Aber wir haben eine gute Lösung gefunden: Einige schwere Instrumente des Schlagwerks die rhyth­ misch weniger heikle Aufgaben haben, wie etwa die großen Plattengongs, werden im Orgelsaal im 6. Stock der Staatsoper unter­ gebracht. Die Musiker sind durch Monitore

akustisch und visuell mit mir verbunden und was sie spielen, wird direkt in den Zu­ schauerraum übertragen. Genauso wird übrigens im Rheingold mit den Ambossen verfahren – es ist also keine ungewöhnliche oder für das Haus neue Situation. al Apropos heikle rhythmische Aufgaben: Auffallend an der Animal

»Insbesondere der Reichtum des Schlagwerks ist unglaublich. Ich muss zugeben, dass ich hier auf ganz aufregende Instrumente gestoßen bin, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte.« Farm-Partitur ist die sehr markante Rhythmik. as Gerade darum ist sie fast schon eine eigene Klangfarbe, zumal sie die Handeln­ den, also die Tiere und ihre Typik des Spre­ chens respektive Singens widerspiegelt. Auf den ersten Blick sicher sehr herausfordernd, nicht zuletzt die zahlreichen gegenrhythmi­ schen Passagen, in denen zum Beispiel in einem 2/4-Takt Vierteltriolen und Quinto­ len aufeinandertreffen. Aber alles in allem wirkt die rhythmische Struktur logisch, fassbar, man kann ihr als Publikum leicht folgen. al Inwieweit sind einzelne Instrumente und Singstimmen aufeinander bezogen? Welche Funktion übt das Orchester aus, wie wird es von Raskatov eingesetzt? as In dieser Partitur ist alles aufeinander bezogen. Nichts wirkt abstrakt oder zufäl­ lig. Jeder Ton der gesungen wird, hat eine wichtige Funktion in der gerade aktuellen harmonischen Struktur und umgekehrt bil­ det das Orchester stets eine Komponente des sängerischen Gestaltens. Immer wieder doppelt ein Instrument oder eine Instrumen­ tengruppe die rhythmische und/oder harmo­ nische Struktur der Gesangslinie – das Or­ chester rollt den Sängerinnen und Sängern auf diese Weise einen schönen Teppich aus, auf dem sie gestalten können. 24


W E N N DA S DR A M A Z U M L E B E N E RWAC H T

al

Die Oper weist sehr viele unterschiedliche Rollen auf – insgesamt 21… as … und Raskatov gelingt es, jedem die­ ser Charaktere eine eigene musikalische Individualität zu geben. Manche sind sehr extrem im Ausdruck, wie Benjamin der Esel, der regelmäßig Tonsprünge zu meistern hat, die dem I-a des Eselsrufs entsprechen, der Rabe Blacky oder das Pferd Mollie, das

in Animal Farm ist das hilflose Opfer und Widerhall einer bedenklichen Entwicklung. al Die Partitur ist in ihrer Komplexität ohne Zweifel nicht nur für die Sänger, den Chor und das Orchester eine Herausforderung, sondern auch für einen Dirigenten. Wo liegt für Sie die größte Schwierigkeit? as Da der musikalische Fluss kaum je­

A L E X A N D E R S O D DY Fo t o M I I N A J U N G

sängerisch abenteuerliche stratosphärische Höhen erklimmen muss. Das Schwein Na­ poleon weist hingegen eine ganz »normale« Stimmgestaltung auf – inklusive einer iro­ nisch gemeinten Arie. Nicht von ungefähr: Ist das doch die Figur, die im Laufe der Handlung am meisten vermenschlicht. Aber allen ist eines gemeinsam: Jede und jeder verlässt für einige Momente die jeweilige musikalische Handschrift und taucht in ly­ rische Momente ein, die Oasen der Schön­ heit gleichen. al Und dann gibt es noch den Chor – was ist seine Funktion? as Er ist überaus präsent und versinnbild­ licht die einfache, manipulierbare, passive Masse, die die Situation nicht durchschaut, sich gerne führen lässt und überhaupt erst ermöglicht, dass die Schweine unbegrenzte Machtfülle erwerben. al Aber er ist nicht zu vergleichen mit dem griechischen Chor der Antike? as Nein, weil er keinerlei objektive Pers­ pektive besitzt, um den Handlungsverlauf reflektierend zu kommentieren. Der Chor

mals länger als sieben oder acht Takte gleich bleibt, ist die Organisation essenziell. Die zahllosen anspruchsvollen Übergänge können während der Vorstellung nicht im Moment spontan entschieden werden. Jeder Abschnitt bedarf einer eigenen Lö­ sung, die festgelegt und in den Proben gut studiert sein will. Schließlich muss alles so in Fleisch und Blut übergehen, dass ich bei der Aufführung loslassen kann, um mich auf das Eigentliche zu konzentrieren: Auf das Drama und die Intensität, die es zum Leben erwecken soll. Denn großartig an diesem Werk ist unter anderem Raskatovs Meisterschaft, diese Geschichte durch seine Musik zu erzählen, inklusive einer klugen Schilderung des vielgestaltigen Beziehungs­ geflechtes der Agierenden. Raskatov gelingt es, die warnende Botschaft George Orwells auf perfekte Weise zu transportieren und im Medium Theater aufgehen zu lassen. Und das beglückt mich als Brite, der mit dem Werk Orwells aufgewachsen ist und diesen Autor für einen der bedeutendsten engli­ schen Schriftsteller hält, ungemein. 25


DEBUTS HAUSDEBÜTS IL BARBIERE DI SIVIGLIA

ANIMAL FARM 13. FEB. 2024

DIEGO MATHEUZ Musikalische Leitung Diego Matheuz stammt aus Venezuela und erhielt seine Ausbildung im Rahmen des pä­ dagogischen Netzwerks El Sistema. Zunächst studierte er Violine, später, parallel zu seiner Laufbahn als Solist und Konzertmeister, Di­ rigieren. Er war 1. Gastdirigent des Orchestra Mozart Bologna und des Melbourne Symphony Orchestra, 2011-2015 Chefdirigent des Teatro la Fenice und ist heute GMD des Simón Bolívar Symphony Orchestra. Engagements führten ihn u.a. an die Deutsche Oper Berlin, die Ber­ liner und die Bayerische Staatsoper, das Liceu und das Theater an der Wien. DON PASQUALE

28. FEB. 2024

GENNADY BEZZUBENKOV Old Major Der russische Bass Gennady Bezzubenkov ist seit 1989 Ensemblemitglied des MariinskiTheaters. Opernengagements führten ihn u.a. an die New Yorker Metropolitan Opera, die Pariser Bastille, das Londoner Royal Opera House, an das Liceu in Barcelona, an die Mai­ länder Scala, die Bayerische Staatsoper, nach Lyon, Valencia und zu den Festivals in Aix-enProvence, Edinburgh und Savonlinna. Bei der Uraufführung von Animal Farm in Amster­ dam sang er die Partie des Old Major, die er auch an der Wiener Staatsoper geben wird.

KARL LAQUIT Benjamin / Young Actress Der aus Frankreich stammende Karl Laquit studierte Chorgesang und Klavier. Bei Elena Vassilieva perfektionierte er seine Stimme im französischen Haute-contre-Stil (insbesondere an der Rolle der Platée von Rameau), aber auch als Countertenor und als Tenor – so sang er u.a. auch Rollen wie Belmonte (Die Entführung aus dem Serail), Sänger (Der Rosenkavalier), Max (Der Freischütz). Zuletzt sang er Pink Giant in Raskatovs GerMANIA in Lyon, weiters in Orffs Carmina Burana, Rossinis Stabat Mater und Puccinis Messa di Gloria.

21. FEB. 2024

XABIER ANDUAGA Ernesto Der Operalia-Gewinner Xabier Anduaga gehört zu den gefragtesten Tenören der jungen Genera­ tion. 2016 kam er an die Accademia Rossiniana in Pesaro, wo er als Belfiore in Il viaggio a Reims de­ bütierte. Zuletzt gab er sein Hausdebüt an der Met (Nemorino), am Royal Opera House und am Gran Teatro del Liceu (Ernesto). 2023/24 sind Anna Bolena an der Deutschen Oper Berlin, Lucia di Lammermoor an der Bayerischen Staatsoper und am Royal Opera House, La traviata am Teatro di San Carlo und Rigoletto am Teatro Real geplant.

MICHAEL GNIFFKE Snowball Der deutsche Charaktertenor Michael Gniffke hat sich auf deutsche Charakterrollen und zeit­ genössisches Repertoire spezialisiert, unter an­ derem Kavalier (Cardillac), Hauptmann (Wozzeck), Hexe (Hänsel und Gretel), Loge und Mime (Ring des Nibelungen), die Tenorpartie in Detlev Glanert Drei Wasserspiele und Aegisth (Elektra). Jüngste Engagements umfassen Snowball (Animal Farm) in Amsterdam (Uraufführung) und Helsinki, Oedipus rex am Prager National­ theater und Christobald (Irrelohe) an der Opéra national de Lyon.

ARTEM KRUTKO Minimus Der weltweit gefragte und mehrfach ausgezeich­ nete russische Countertenor Artem Krutko gab sein Operndebüt als Cherubino (Le nozze di Figaro) am Staatlichen Akademischen Opernund Balletttheater in Tscheljabinsk. Seit 2015 ist er Solist am Moskauer Kolobov Novaya Opern-Theater. Sein einzigartiges Timbre und sein sehr großer Stimmumfang erlauben es ihm, sowohl Alt- als auch Sopranrollen zu singen. Artem Krutkos Repertoire umfasst hauptsäch­ lich Barockmusik, aber auch einige Werke mo­ derner und russischer Komponisten.

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DEBUTS ROLLENDEBÜTS TOSCA

DON QUIXOTE

IOANNA AVRAAM Kitri ARNE VANDERVELDE Basil TREVOR HAYDEN Gamache GIORGIO FOURÉS Ein »Zigeuner« SONIA DVOŘÁK Amor GAIA FREDIANELLI Erste Brautjungfer

2. FEB. 2024

TED BLACK* Spoletta

DIE ZAUBERFLÖTE FÜR KINDER ELENA VASSILIEVA Blacky Die Sopranistin Elena Vassilieva studierte am Pariser Konservatorium und perfektionierte sich bei Elisabeth Schwarzkopf. Sie verkörperte Rollen wie Elettra (Idomeneo), Donna Anna (Don Giovanni) oder Elisabeth (Tannhäuser), ehe sie sich der zeitgenössischen Musik widmete – so sang sie Berg, Webern und Schönberg, Gy­ örgy Kurtágs Die Sprüche des Péter Bornemisza und mehrere Opern von Alexander Raskatov. In A Dog’s Heart gab sie die Rollen der Darya und des Sharik. Außerdem sang sie 2018 in Raska­ tovs GerMANIA in Lyon.

9. FEB. 2024

PHILIPPE JORDAN Musikalische Leitung SERENA SÁENZ Königin der Nacht FLORINA ILIE Pamina ROLANDO VILLAZÓN Papageno MIRIAM KUTROWATZ* Papagena ANNA BONDARENKO 1. Dame DARIA SUSHKOVA* 3. Dame

DON PASQUALE

14. FEB. 2024

ERIC MELEAR Musikalische Leitung STEPHANO PARK* Daland

DON QUIXOTE

SUOR ANGELICA ELENA STIKHINA Schwester Angelica JULIETTE MARS Lehrmeisterin der Novizinnen ALMA NEUHAUS* Schwester Pflegerin GIANNI SCHICCHI KS CARLOS ÁLVAREZ Gianni Schicchi FLORINA ILIE Lauretta MARTIN HÄSSLER Betto di Signa

ANIMAL FARM

* M itglied des Oper nst udios

A N D R E Y G O L U B E V ( K r u t ko)

V I C T O R I A N A Z A ROVA / B Ü H N E ( Va s s i l i e v a) PA R R I S H L E W I S ( F l a c k )

28. FEB. 2024

ALEXANDER SODDY Musikalische Leitung KS WOLFGANG BANKL Napoleon ANDREI POPOV Squealer STEFAN ASTAKHOV Boxer MARGARET PLUMMER Clover ISABEL SIGNORET Muriel DANIEL JENZ Mr. Jones AURORA MARTHENS Mrs. Jones KS CLEMENS UNTERREINER Mr. Pilkington

Fo t o s G E M M A E S C R I B A N O ( A n d u a g a)

25. FEB. 2024

ALEXEY POPOV Basil HYO-JUNG KANG Die Königin der Dryaden SONIA DVOŘÁK Eine Straßentänzerin ANDREY TETERIN Lorenzo SVEVA GARGIULO Zwei Freundinnen Kitris LOURENÇO FERREIRA Ein »Zigeuner« SINTHIA LIZ Erste Brautjungfer

IL TABARRO KS CARLOS ÁLVAREZ Michele ELENA STIKHINA Giorgetta MIRIAM KUTROWATZ* Liebespaar – Mädchen AGUSTÍN GÓMEZ* Liebespaar – Bursche HOLLY FLACK Mollie Ihre stimmliche Präsenz und beeindruckende Musikalität ermöglichen der amerikanischen Koloratursopranistin Holly Flack ein Reper­ toire, das viele Jahrhunderte und Stile um­ spannt. Zu ihren jüngsten Engagements gehö­ ren unter anderem Mollie in der Uraufführung von Animal Farm an der Niederländischen Nationaloper, Elisa (Il re pastore), La Musica & Euridice (L’Orfeo) und Madeleine (The Fall of the House of Usher) in Portland, Semele, Mor­ gana (Alcina), Elvira (L’italiana in Algeri) und Gilda (Rigoletto) in St. Petersburg.

25. FEB. 2024

GEISTERSCHIFF

13. FEB. 2024

FABIO CAPITANUCCI Bartolo ADAM PALKA Basilio

IL TRITTICO

21. FEB. 2024

FRANCESCO IVAN CIAMPA Musikalische Leitung MISHA KIRIA Don Pasquale ROSA FEOLA Norina

DAS VERFLUCHTE IL BARBIERE DI SIVIGLIA

15. FEB. 2024

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M I C H A E L VO L L E a l s M I C H E L E &

A N J A K A M P E a l s G I O RG E T T A Fo t o s M I C H A E L P Ö H N

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N I KOL AUS S T E N I T Z E R

DIESER MOMENT Jede neue Inszenierung ist eine Herausforde­ rung: an die Künstlerinnen und Künstler, an das Haus, an die Zuschauerinnen und Zuschauer. Ein neuer szenischer Zugriff soll diese Herausforderung bieten. Er kann eine Zumutung sein. Und ein Glück. Ein Schlaglicht zur Wiederaufnahme der Neu­ inszenierung von Giacomo Puccinis Il trittico. »War das der Moment?« So lautet der zen­ trale Satz in der Performance Kanon der Gruppe She She Pop. Darin geht es um ein­ drucksvolle Momente aus Performance-, Tanz- und Theaterstücken, die von den Per­ former*innen oder auch von Personen aus dem Publikum beschrieben werden. Aus der Erinnerungserzählung heraus und mit eige­ nen, sehr limitierten Mitteln versucht die Gruppe dann, die beschriebenen Momente nachzustellen, oder besser: neu entstehen zu lassen. In dem Stück, das zwischen 2019 und 2022 durch Deutschland tourte, wurden unter anderem Szenen von Christoph Schlin­ gensief und Johan Simons, Choreographien von Pina Bausch und Georges Balanchine beschrieben. Waren alle erzählten Bestand­ teile nachgestellt und zusammengebaut, kam das Gezeigte auf den Prüfstand: »War das der Moment?«

Der Moment, der auf einer leeren Bühne auf Grundlage einer Erzählung geschaffen wird, kann nicht derselbe sein, den die sich erinnernde Person erlebt hat. Er kann nicht einmal – oder schon gar nicht? – die Erinne­ rung abbilden, die sich im Verlauf der Zeit immer weiter verselbstständigt und verän­ dert. Wenn die Befragten, sich Erinnernden dann irgendwann auf die mit immer größerer Dramatik, in zunehmender Lautstärke ge­ stellte Frage – meist selbst schon schreiend – antworten: »Ja! Das war der Moment!« – sagen sie dann die Wahrheit? Oder beugen sie sich dem Druck der Performancesituation und -gemeinschaft, die den glückenden Mo­ ment einfordert? 29


DIESER MOMENT

Wahrscheinlich trifft beides zu. Das Beson­ dere und Großartige an Kanon ist, dass der Abend einerseits individuelle Erinnerung vergemeinschaftet. Zum anderen entsteht aber aus der Erinnerung und ihrer Verarbei­ tung auf der Bühne ein ganz neuer Theater­ moment – einer, der im Augenblick entsteht und den alle, die zuschauen, gemeinsam erleben. »Dieser Moment«: Er ist es, ohne Zweifel. Und dass die Frage viel mehr ist, als sie scheint, ist in sich eine große, nachwir­ kende Theatererkenntnis. Es ist eine Frage, die wir ins Repertoiretheater mitnehmen können: In die Rezeption von Werken, die wir kennen, schätzen, schon häufig gesehen haben – und deren unterschiedliche Inter­

gebaut haben, besteht das Meisterstück in der Parallelführung zweier Szenen (»Con­ troscene« werden diese Szenen, die abseits der Haupthandlung eingeflochten werden, genannt). Im Hintergrund ist der Lied­ verkäufer zu hören, der das neueste Lied anpreist. Im Vordergrund wird die Kon­ versation zwischen Giorgetta und Michele zunehmend angespannter – während sie seine Schroffheit anspricht, blockt er ab. Am Kulminationspunkt gibt der Liedverkäufer preis, was er feilbietet: La storia di Mimì, die Geschichte von Mimì aus La bohème, also eine Geschichte mit tödlichem Ausgang, die das beschwingt vorgetragene musikalische Motiv konterkariert, während Giorgetta ver­

GIACOMO PUCCINI

IL TRITTICO 14. 17. 20. 24. FEBRUAR 2024 Musikalische Leitung PHILIPPE JORDAN Inszenierung TATJANA GÜRBACA Bühne HENRIK AHR Kostüme SILKE WILLRETT Licht STEFAN BOLLIGER Mit u.a. CARLOS ÁLVAREZ ELENA STIKHINA JOSHUA GUERRERO MICHAELA SCHUSTER MONIKA BOHINEC FLORINA ILIE BOGDAN VOLKOV

pretationen uns herausfordern, überraschen, verärgern und begeistern können. In Giacomo Puccinis Tabarro, dem ersten Teil seines Trittico, folgt ein unange­ nehmer auf einen romantischen Moment: Luigi und Giorgetta tanzen zu den Klängen der verstimmten Drehorgel, als Giorgettas Ehemann Michele auftaucht. »Ragazzi, c’è il padrone!« – die Warnung des Arbeiters Talpa kommt etwas zu spät, es folgt eine Si­ tuation des Ertappens und Ertappt-Werdens. Der Drehorgelklang reißt ab, eine ruhige Sequenz in der Musik illustriert Giorgettas (scheiternden) Versuch, die Situation zu ent­ schärfen. Auf der Bühne von Henrik Ahr leuchten groß dimensionierte Worte und Wortfrag­ mente: SCHWER GLÜCK LICH SEIN. Wie der Satz zerrissen ist, aus dem sie stammen – »Wie schwer es ist, glücklich zu sein«, wird Giorgetta später sinnieren –, so zerreißen auch die glücklichen Momente im Tabarro, und so muss auch Giorgettas Verhältnis zu Michele als zerrissen beschrieben werden. Entsprechend zerfällt die Konversation der beiden zwischen Versuchen von An­ näherung und brüsker Abweisung in Stü­ cke. In der Dialogszene, die Puccini und seine Librettisten zwischen die Tanzszene und den Auftritt von Talpas Frau Frugola

zweifelt ausstößt, sie würde manchmal lieber geschlagen werden, als Micheles dumpfes Schweigen aushalten zu müssen. In den szenischen Anweisungen zum Tabarro ist eine vordere Spielebene ausge­ wiesen, die das Deck des Lastkahnsdarstellt, sowie eine hintere, der Kai, auf dem die Ne­ benszenen gespielt werden. Die abstrakte Tabarro-Bühne von Henrik Ahr nimmt diese Zweiteilung auf und differenziert die zweite Spielebene noch einmal. Jenseits der Leuchtbuchstaben ist eine Gaze ge­ spannt, etwas weiter hinten eine weitere – so entsteht ein Korridor mit zwei Spiel­ ebenen, die es der Regisseurin erlauben, die Szenen, die dort spielen, zwischen Realis­ mus und Surrealismus, zwischen konkreter Szene und (alb-)traumhaftem Kommentar oszillieren zu lassen. In der angesprochenen Szene sind Gi­ orgetta und Michele einen Augenblick lang allein. Auf ihre Bemerkung über die Abend­ stimmung bekommt Giorgetta keine Ant­ wort; das Gespräch über Frugola, die im Hin­ tergrund (hinter der ersten Gaze) auftaucht, und der Versuch der direkten Ansprache (»Che hai? Che guardi?«) werden abgeblockt. Im Spiel, das Tatjana Gürbaca inszeniert hat, entzieht sich Michele aktiv: Er holt eine höl­ zerne Spielzeuglokomotive aus der Tasche 30


DIESER MOMENT

S Z E N E N B I L D ,

Wiener Staatsoper 2023

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DIESER MOMENT

A N JA K A M PE

a l s G I O RG E T T A

und beginnt, daran herumzuschnitzen. Die Inszenierung verwendet die mitt­ lere Spielfläche nun für eine Referenz: Ein Michele-Double taucht dort auf und mit ihm ein Kind, das mit einer Holz­ lokomotive zu spielen beginnt – gleich jener, an der Michele im Vordergrund arbeitet. Michele, so könnte man inter­ pretieren, zieht sich nicht nur auf sein Schweigen und seine unausgesproche­ nen Verdächtigungen zurück, sondern phantasiert sich womöglich in die glückliche Zeit, in der das gemeinsame Kind noch am Leben war. Die Spiel­ zeuglokomotive könnte ein Geschenk sein, das er dem Kind gerne gemacht hätte. Besonders eindringlich wird die Szene durch unterschiedliche und sich überlagernde Grade an Realismus: Die reale Frugola, auf die Giorgetta explizit hinweist, stößt mit dem imaginierten Michele und seinem Kind zusammen; eine Frau, die sich später als Midinette herausstellen wird, wird von einer als Teufel maskierten Figur mit einer Champagnerflasche gelockt, aus der glänzender Flitter fließt. Im Vordergrund kann Giorgetta die Situation immer schwerer ertragen. Wie sich die Anspannung ausdrückt, die aus Unglück, Schuldgefühl und Unsicherheit zugleich herrührt, ist eine Regieentscheidung; Tatjana Gürbaca lässt ihre Giorgetta (in der aktuellen Serie Elena Stikhina) aktiv werden. »Manchmal wäre es mir lieber, wenn du mich grün und blau schlägst«, ruft sie verzweifelt aus – und schlägt selbst auf den abgewandten Michele ein, um sich am Ende weinend an seinen Rücken zu lehnen. Damit ist ein Motiv aus der In­ szenierung der Ouvertüre aufgenom­ men, in der Giorgetta im stummen Spiel ebenfalls mehrmals nachdrücklich und erfolglos versucht, eine körperliche Verbindung zu Michele aufzubauen. Michele hält Giorgetta, die an seinen Rücken gelehnt schluchzt, ein Taschen­ tuch hin, ohne sie anzusehen: Er öffnet sich ihr nicht im Mindesten. Im Hin­ tergrund kommt der Liedverkäufer ins Bild, und der Anteil des Lichtdesigns von Stefan Bollinger an der szenischen Gestaltung wird besonders deutlich. Über der Szene zwischen Giorgetta und Michele liegt ein schonungslos helles, weißes Licht, während der Liedver­ käufer und seine Kundinnen, die Midi­ 32


DIESER MOMENT

netten, hinter der Gaze in rosa Schummrig­ keit getaucht sind. Die Midinetten hat Silke Willrett im Stil von Showgirls ausstaffiert, und auch der Liedverkäufer trägt einen glit­ zernden Kragen am Mantel und verkauft metallisch glänzende Herzluftballons. Um an diese verführerische Ware zu kommen, brauchen die Midinetten Unterstützung: Sie winken Männer mit Geldbündeln heran, die die Luftballons bezahlen und dann mit den Mädchen abgehen. Die tragische Geschichte von Mimì, in der Armut eine bedeutende Rolle spielt, wird hier mit der materiellen Dimension von Geschlechterverhältnissen gegengeschnitten. In diesem Tabarro ziehen im Hintergrund – hinter der zweiten Gaze – immer wieder Gestalten durch das Bild, die an die Omnipräsenz der Arbeit im Leben von Giorgetta und Michele erinnern. Der Auf­ tritt der Midinetten und ihrer »Kavaliere« könnte zusätzlich darauf verweisen, dass es für Giorgetta jenseits ihrer unglücklichen Ehe ebenfalls kaum Überlebenschancen gibt. Nachdem der Liedverkäufer ein wei­ teres Mal das tragische Schicksal Mimìs zum Besten gegeben hat, erklärt Giorgetta unvermittelt, wie glücklich sie sich in Paris fühle. In Tatjana Gürbacas Inszenierung ist diese irritierende Aussage als Verzweiflungs­ schrei übersteigert. Giorgetta verwendet das Taschentuch, das ihr Michele gegeben hat, als Accessoire für einen kleinen »Quando siamo a Parigi«-Tanz, um es abschließend zusammenzuknüllen und dem abgehenden Michele hinterherzuwerfen. Die schrittweise Steigerung von Giorgettas Verzweiflung ist

Giorgetta hat alles gegeben, nun ist sie erschöpft und steht einen Moment wie verloren, ehe Frugola endgültig die Szene betritt und übernimmt.

sehr körperlich inszeniert und entlädt sich fast zwangsläufig an dieser Stelle. Dadurch verstärkt sich der folgende Moment: Gior­ getta hat alles gegeben, nun ist sie erschöpft und steht einen Moment wie verloren, ehe Frugola endgültig die Szene betritt und über­ nimmt. Tatjana Gürbaca inszeniert auch die­ sen Moment sehr musikalisch: In »Quando siamo a Parigi« kulminiert die musikalische Spannung. Das anschließende »Perchè?!« auf Micheles ruhige Anmerkung, es verstehe sich, dass Giorgetta hier glücklich sei, wird hingeschleudert wie das Taschentuch. Diese Steigerung verlangt nach einer Ruhe- und Erschöpfungspause. Die Regisseurin schafft sie durch einen minimal früheren Abgang Micheles, der ansonsten noch Frugola be­ grüßen müsste. So steht Giorgetta einen Augenblick allein. Erschöpft und verloren lauscht sie dem unheimlichen Echo des Lie­ des der Mimì, ehe sie sich wieder fasst und mit Frugola ins Gespräch kommt. Die reduzierte Bühne von Henrik Ahr schafft besonders viel Raum für die darstel­ lerische Entfaltung, auf die Tatjana Gürbaca Wert legt. Szenisch unterstützt durch Kos­ tüm und Licht, lässt sich die Wahrnehmung des Bühnenraums aber auch besonders stark verändern und den Anforderungen der je­ weiligen Szene entsprechend transformieren. Giorgetta steht im Tabarro einen Moment lang völlig schutzlos vor den neonleuchten­ den Trümmern ihres Glücks, ehe Frugola auftritt und mit einer Ladung Glitter den Raum für sich in Anspruch nimmt. Beides ist »dieser Moment«. 33


FIT & GESUND DURCH DIE SAISON NASTASJA FISCHER IM GESPR ÄCH MIT MASSEUR PETER HLEDIK & PH YSIO T H ER A PE U T S T EFA N PE T T ER M A N N

Für Balletttänzerinnen und -tänzer hört die Auseinandersetzung mit ihrem Körper nicht nach dem Training oder der Probe auf. Um auf der Bühne stets die beste Leistung zu bringen und den Körper vor Verletzungen und Problemen zu schützen, gibt es für die Mitglieder des Wiener Staatsballetts ein breites Angebot an Physiotherapie und Massage, das auch mit der notwendigen finanziellen Unterstützung des Freundes­ kreises des Wiener Staatsballetts stetig erweitert wird. Im Som­ mer 2023 wurde des Weiteren der Fitnessraum renoviert und mit neuen Geräten ausgestattet, mit denen die Tänzerinnen und Tänzer an ihrer körperlichen Gesundheit außerhalb des Ballett­ saals arbeiten können. Der Masseur Peter Hledik und Physio­ therapeut Stefan Pettermann, die gemeinsam mit dem Team der LSA – Leistungssport Austria – um Heidi Sykora, Isabella Wödlinger und Laura Mara für die Health Care des Ensembles zuständig sind, geben im folgenden Gespräch Einblicke in die besondere Arbeit mit einem Ballettensemble. 34


PE T ER H LEDIK Fo t o s A S H L E Y T AY L O R

I S A B E L L A WÖ D L I N G E R &

nf Wie sehen eure beruflichen Hintergründe aus und wie seid ihr zum Ballett gekommen? ph Mit meinen mehr als zwanzig Jahren Berufserfahrung habe ich viele Menschen in den verschiedensten Lebenssituationen kennengelernt und betreut. Nach einer lan­ gen Zeit im neurologischen Bereich hatte ich den Wunsch, wieder mit Leistungssportle­ rinnen und -sportlern zu arbeiten. sp Ich habe begonnen, im Spital zu arbei­ ten und anschließend eine Weiterbildung gemacht. Ich habe mich dann auf die Aus­ schreibung des Staatsballetts, das einen Sportphysiotherapeuten gesucht hat, be­ worben und wurde engagiert. nf Was reizt euch daran, für eine Ballettcompagnie zu arbeiten? sp Für mich war es zunächst der Reiz des Neuen. Die Arbeit in der Staatsoper ist kon­ trär zum gängigen Arbeitsalltag eines Phy­ siotherapeuten. Die Körper der Tänzerin­ nen und Tänzer sind komplett verschieden zu denen der »normalen« Patientinnen und

S T E FA N P E T T E R M A N N

Patienten in einer Praxis. Ein Mensch, der im Büro arbeitet, hat ganz andere Anforde­ rungen als jemand, der mehrere Stunden am Tag Hochleistungssport betreibt. Das Arbeiten mit den Tänzerinnen und Tänzern ist intensiver, weil sie eine viel bessere Kör­ perwahrnehmung haben und man nicht so viel Grundsätzliches erklären muss. ph Ich bin froh um die Möglichkeit, die Eleganz der Ballettwelt aus einer einzig­ artigen Perspektive erleben zu können und durch meine Arbeit einen Beitrag zur künst­ lerischen Ausdrucksform Ballett leisten zu 35


FIT & GESUND DURCH DIE SAISON

können. Die Arbeit als Masseur mit Tänze­ rinnen und Tänzern erfordert zudem ein Verständnis für ihre spezifischen Bedürf­ nisse. Besonderheiten sind die Betonung der Beinflexibilität, die Behandlung von Muskelbelastungen und das Verständnis gegenüber möglichen Verletzungen. Außer­ dem ist es spannend, mit einzigartigen und vielseitigen Persönlichkeiten zusammenzu­ arbeiten. nf Peter, du bist auch während der Vorstellungen anwesend. Wie unterscheidet sich die Arbeit während einer Vorstellung vom alltäglichen Dienst? ph »Normale« Dienste sind vorgegebene Termine, bei denen die Tänzerinnen und Tänzer während ihres Arbeitstages von mir behandelt werden. Bei Vorstellungen ist alles anders. Hier muss ich schnell und ad­ äquat im Fall einer Verletzung oder plötzlich auftretenden Problemen reagieren. nf Welche Verletzungen und Probleme sind die typischsten? sp Hüfte, Sprunggelenk, Füße und Knie. Die unteren Extremitäten sind am häufigs­ ten betroffen ... PH ... Muskelschmerzen, ein steifes Ge­ nick, eine blockierte Wirbelsäule, Krämpfe und Zerrungen. nf Wie wichtig sind Massage und Physiotherapie für den Tänzerkörper? ph Massagen und Physiotherapie sind von großer Bedeutung und spielen eine entschei­ dende Rolle in der Stärkung des Körpers und der Optimierung der Leistungsfähigkeit. Massagen helfen Muskeln zu entspannen und Verletzungen vorzubeugen, aber auch, den Tänzerinnen und Tänzern den notwen­ digen physischen und psychischen Halt zu geben. sp Im Gegensatz zur Massage wäre das Optimum in der Physiotherapie, die aktive Arbeit zu forcieren. Es richtet sich aber sehr individuell nach den Tänzerinnen und Tän­ zern, was sie in dem Moment brauchen und geben können. Wenn jemand von den Pro­ ben zu erschöpft ist, versuche ich die Prob­

leme auch mit passiven Methoden zu behan­ deln bzw. in eine Mobilisation zu gehen, die körperlich nicht anstrengend ist. Für Tän­ zerinnen und Tänzer, die ja Hochleistungs­ sportlerinnen und -sportler sind, ist es von großer Wichtigkeit, die Regenerationszei­ ten einzuhalten und präventiv zu arbeiten. Physiotherapie und Massage leisten einen entscheidenden Anteil, um die körperliche Langlebigkeit zu gewährleisten. nf Wie sieht das ideale Health Care Programm für Tänzerinnen und Tänzer aus? ph Das ideale Gesundheitsprogramm beinhaltet regelmäßige Massagen und physiotherapeutische Betreuung, gezieltes Muskeltraining und ausreichende Ruhepha­ sen. Die ganzheitliche Pflege zielt darauf ab, Verletzungen vorzubeugen, die physische Leistung zu optimieren und das allgemeine Wohlbefinden zu fördern. Auf diesen Weg möchte ich mich auch beim Freundeskreis des Wiener Staatsballetts für die großzügige Spende eines Geräts zur elektrischen Mus­ kelstimulation bedanken, das es uns ermög­ licht, unsere Tänzerinnen und Tänzer noch besser zu betreuen. sp Das Wiener Staatsballett ist bereits sehr gut aufgestellt. Natürlich kann man von einer perfekten Zukunftsvision träu­ men, in der es eine durchgehende Rund­ umversorgung mit zum Beispiel eigenen Regenerationsräumen, Kalt- und Warm­ wasserbehandlungen etc. gibt. Nach oben ist kein Ende gesteckt, aber das hängt natür­ lich immer von den finanziellen Mitteln und der räumlichen Infrastruktur ab.

Wenn auch Sie das Wiener Staatsballett und das Health-Care-Angebot unterstützen wollen, werden Sie Mitglied im Freundeskreis des Wiener Staatsballetts! Konditionen, Anmeldemöglichkeit und das umfangreiche Programm finden sie unter → wiener-staatsoper.at/foerdern/freundeskreiswiener-staatsballett

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KATHARINA AUGENDOPLER

»WAS BEDEUTET HEIMAT FUR DICH?« Mit der mobilen Jugendoper Elektrische Fische geht die Wiener Staatsoper auf Tour durch die Bundes­ länder. In dem Werk der jungen Komponistin Hannah Eisendle – einer Auftragskomposition für die Wiener Staatsoper – geht es um Zugehörigkeit, Freundschaft und Akzeptanz.

C I N Z I A Z A N OV E L L O a l s E M M A Fo t o A S H L E Y T AY L O R

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WA S B E DE U T E T H E I M AT F Ü R DIC H ?

K A J A W Ł O S T OW S K A ( P e r c u s s i o n ) &

A N D R A Ž J AG O D I Z ( K l a r i n e t t e)

a l s M I T S C H Ü L E R* I N N E N Fo t o A S H L E Y T AY L O R

»Ich kann Deutsch genauso gut wie Englisch – dachte ich! Die englische Sprache bin ich. Deutsch spreche ich nur. Deutsch ist Meere von mir entfernt.« EMMA

Mit Hannah Eisendles neu komponierter Jugend­ oper Elektrische Fische – einer Koproduktion von Wiener Staatsoper, Jeunesse und Oorkaan (NL) – tourt die Wiener Staatsoper durch die Bundesländer. Das Stück, das von Freundschaft, Zugehörigkeit und Akzeptanz handelt, wird in verschiedenen Spielstät­ ten gezeigt – einmal im Stadtsaal, dann wieder im Schulauditorium. Die Uraufführung fand am 26. Jän­ ner 2024 in Zwettl (NÖ) statt. Die niederländische Regisseurin Kenza Koutchoukali führt Regie, das Bühnenbild und die Kostüme stammen von Mahs­ had Safaei. »Freunde, wir haben eine neue Schülerin. Das ist Emma Keegan aus Dublin.« Mit diesem Satz be­ ginnt die Oper und sofort ist das Publikum mitten in Emmas neuer und – wie sie selbst findet – unglück­ licher Lebenssituation. Aufgrund der Trennung ihrer Eltern muss sie mit ihren beiden Geschwis­ tern von Dublin in einen kleinen, langweiligen Ort nach Mecklenburg-Vorpommern ziehen. Sie wurde nicht gefragt, sie wurde einfach mitgenommen und hasst alles an diesem neuen Ort: die andersartigen Teebeutel, das harte deutsche Brot, die neue Schule samt neuen Mitschüler*innen und Lehrpersonen. Bald lernt sie aber Levin kennen, mit dem sie sich anfreundet. Gemeinsam schmieden sie einen Plan, wie Emma am besten zurück in ihre Heimat kommen kann. Das Meer als Verbindung und Trennung der beiden durch Emmas Lebensgeschichte verbundenen Orte bekommt eine weitere Bedeutung, als Levins Mutter beinahe ertrinkt und Emma im richtigen Mo­ ment zu Hilfe kommt. Mit feiner, poetischer Sprache und klangli­ chem Scharfsinn erzählt das Stück von Umbrüchen und großen Veränderungen, die im Leben gesche­ hen, von Heimweh und vom Gefühl des Verlorenseins in einer neuen Umgebung, aber auch von der Kraft von Freundschaft und dem Zusammenhalt innerhalb einer Familie. Elektrische Fische handelt von der Bedeutung der Sprache und von (Nicht-) Kommunikation und sucht nach Möglichkeiten des Zusammenlebens in schwierigen Situationen. VOM WO ZUM WIE: »HEIMAT IST DA, WO MAN VERSTANDEN WIRD!« Die faktische Entfernung zwischen Emmas Dub­ lin und Mecklenburg-Vorpommern mag sich nicht bedeutend anfühlen. Aber was eine Heimat aus­ macht, liegt im Auge der Betrachtenden. Emma vermisst ihre Großeltern, die englische Sprache, aber auch Pfefferminzkaugummi und das »thank you« – das höfliche Dankeschön an den Busfahrer beim Ein- und Aussteigen. Die Oper Elektrische Fische zeigt, wie schwierig es sein kann, sich an eine neue Umgebung anzupassen, aber auch, wie die Umgebung diese Anpassung beeinflussen kann und welche Rolle jede*r von uns dabei spielen kann. 38


WA S B E DE U T E T H E I M AT F Ü R DIC H ?

MOBILE J UGENDOPER VON HANNAH EISENDLE

ELEKTRISCHE FISCHE 26. JÄNNER 2024 / ZWETTL PREMIERE Text KRYSZTINA WINKEL nach dem Roman von SUSAN KRELLER Inszenierung KENZA KOUTCHOUKALI Bühne & Kostüm MAHSHAD SAFAEI Emma CINZIA ZANOVELLO (Sopran) / Levin LUKAS KARZEL (Tenor) / Cello CRISTINA BASILI / Klarinette ANDRAŽ JAGODIZ / Percussion KAJA WŁOSTOWSKA

Als Bürger*innen nicht nur eines Landes, sondern einer Welt ist die Frage, wie wir zusammenleben können, eine wichtige, die wir uns immer wie­ der stellen. Die Frage nach dem »Wie?« bedeutet, offen zu sein für Unterschiede und verschiedene Standpunkte. Es braucht Verständnis dafür, dass es verschiedene Arten der Kommunikation und unterschiedliche Wege gibt, zueinander zu finden. Sprache ist dabei wichtig, aber nicht unerlässlich, um die Hand auszustrecken, Empathie zu zeigen und aufeinander zuzugehen.

den Levin. Emmas ungestüme Wildheit findet ihren Ausdruck im Schlagzeug. Die Elektronik ist musikalisches Bindeglied und verinnerlicht zugleich auch das Getrenntsein, denn die Soundscapes konkretisieren die verschiedenen Szenen und Orte. Dazu werden Tonaufnahmen von realen Orten wie der Irischen See und der Ostsee ver­ wendet und teilweise entsprechend verfremdet oder verzerrt, um den gewünschten Eindruck des Realen und Surrealen zu vermitteln.

DIE MUSIK ALS ERZÄHLERIN – DIE KOMPOSITION VON HANNAH EISENDLE

»MIT JEDER WELLE WARTE ICH, MIT JEDEM ZURÜCK UND MIT JEDEM VOR«: BÜHNE & KOSTÜME VON MAHSHAD SAFAEI

In Elektrische Fische beginnt mit der Musik die Geschichte von Emma. Und die Musik beginnt mit den Musiker*innen. Wie eine Welle, die an Land bricht, wird Emma in ihre Geschichte und ihre neue Situation hineingeworfen. Auf der Bühne stehen zwei Sänger*innen, ein Sopran und ein Tenor, sowie drei Musiker*innen, die Vibraphon und Percussion, Cello und Klarinette spie­ len. Als Ensemble verkörpern sie Musik als Sprache und Kommunikationsmittel, denn die Komponis­ tin Hannah Eisendle geht in ihrem Stück folgenden Fragen nach: Wie können Inhalte jenseits von sze­ nischer und sprachlicher Darstellung vermittelt wer­ den? Wie kann Musik als Mittel eingesetzt werden, um das Ungesagte zwischen den Zeilen mitzuteilen? Wie klingen Stille, Nicht-Verstehen und verweigerte Kommunikation? Eine Besonderheit der Oper ist, dass die Musi­ ker*innen auch Teil der Szene sind. So nehmen sie im Stück immer verschiedene Rollen ein. Manchmal repräsentieren sie verschiedene Stimmungen und Atmosphären, etwa das Gefühl der Schwerelosig­ keit oder des Chaos, manchmal spielen sie konkrete Rollen wie Emmas Schwester Aoife, Emmas Mutter, einen Lehrer, Mitschüler*innen, oder sie fungieren »nur« als Musiker*innen, die die Musik zum Leben erwecken. Dabei gibt es in der Komposition konkrete Zuordnungen der Instrumentierung: Während das Cello der schweigsamen Aoife zugeteilt ist, steht die Klarinette für den meist ausgeglichenen, reif wirken­

Bewegung, Verdrängung und Verschiebung ver­ binden sich in Mahshad Safaeis Kreation einer sti­ lisierten Welle. Diese besteht aus fünf beweglichen Elementen, die die fünf Schichten des Ozeans wider­ spiegeln. Sie werden von den Darsteller*innen selbst verschoben und neu angeordnet und verwandeln sich in verschiedene Konstellationen, um die Atmosphäre der jeweiligen Szene zu verdeutlichen: Sie schaffen Tiefe und Abgeschlossenheit, Chaos und Ordnung, Transparenz und Reflexion. Sie zeigen mal konkret, mal abstrakt verschiedene Örtlichkeiten wie das Klassenzimmer, Levins Zuhause oder den vielschich­ tigen Ozean mit seinen mystischen Tiefen. Emma ist keine stumme Zuseherin ihrer Geschichte, sondern beteiligt sich schrittweise am Auf- und Umbau der Bühne, an der Gestaltung ihrer Umgebung, und bringt im Laufe ihrer Reise ein Gefühl von Autono­ mie ein. Damit zeigt sie, dass die Erschaffung einer eigenen Geschichte keine magische Angelegenheit ist, sondern oft harte Arbeit erfordert. Die Kostüme beschreiben den Übergang vom Sand zum Meer. Sie sind inspiriert von der fließen­ den, ungezwungenen Bewegung des Meeres und den natürlichen Elementen, die es umgeben, wie Wind, Sand, Korallen und Meerestiere. Nach der Premiere in Zwettl wird die Jugend­ oper in Gmunden gezeigt. Elektrische Fische kommt ab der Saison 2024/25 auch nach Wien. Auf Insta­ gram sind unter wienerstaatsoper_jung bereits jetzt Einblicke in die Reise der Produktion zu finden. 39



HERBERT BRANDL FÜR DEN WIENER OPERNBALL 2024

»Herbert Brandl ist ein großer Meister, den ich seit Jahren verehre. Sein Werk ist für mich vor allem einer der großen Triumphe der sogenannten abstrakten Malerei – die auf solchen Höhen, wie Brandl sie erreicht, ja überhaupt nicht abstrakt ist, denn ganz im Gegenteil malt er ganze Welten, nur dass er sie eben nicht abmalt, sondern erschafft. Es ist eine Auszeichnung, dass er diese Arbeit für die Staatsoper gemacht hat und sie auch noch für den karitativen Zweck zur Verfügung stellt.« BOGDAN ROŠČIĆ Der Idee des 66. Wiener Opernballs, sich nach 2023 erneut unter das Zei­ chen der Solidarität zu stellen, ist auch Herbert Brandl gefolgt. Er schuf für den Ball ein Werk, das er der Wiener Staatsoper zur Auktion zur Verfügung stellt. Der Reinerlös dieser Auktion geht, wie alle anderen eingenomme­ nen Spenden rund um den Ball, zu­ gunsten der Hilfsaktion »Österreich hilft Österreich«. Die Dorotheum-On­ line-Auktion startete am 12. Jänner und läuft noch bis zum 15. Februar 2024 um 17.00 Uhr. Gebote können unter dorotheum.com/opernball abgegeben werden. Der Rufpreis beträgt 60.000€. Das Gemälde »Spirit Rose«, wel­ ches Herbert Brandl speziell für den 66. Opernball geschaffen hat, besticht

durch seine kreisförmige Farbinten­ sität, eine Reminiszenz ans Tanzen während des Opernballs, wie an die farbenprächtigen Roben in tanzender Bewegung. Die dynamischen Pinsel­ bewegungen, vermischt mit linienför­ migen Spray-Setzungen und StaccatoAnwendung der Monotypie-Technik, sowie die leuchtenden Farben sind eine Hommage an die einzigartige Opern­ ball-Atmosphäre. Das Werk wurde vom Künstler in untypischer Weise in meh­ reren Schritten geschaffen. Die über­ lagernden Schichten und die unzähli­ gen Details symbolisieren in gewisser Hinsicht die vielen kleinen Gesten, Bewegungen und Interaktionen, die während des Balls stattfinden.

H ER BERT BR A N DL

» S P I R I T RO S E «

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K S P I O T R B E C Z A Ł A a l s C AVA R A D O S S I i n T O S C A , W i e n e r S t a a t s o p e r, 2 0 2 1 Fo t o M I C H A E L P Ö H N

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VON EISBERGEN & GERMTEIGEN OLIVER LÁNG IM GESPR ÄCH MIT PIOTR BECZAŁA

Wie wenige andere hat KS Piotr Beczała sei­ nen Weg aus eigener Kraft geschafft: Aus dem kommunistischen Polen kommend, arbeitete er sich nach oben, war Straßensän­ ger auf der Kärntnerstraße, begeisterter Stehplatzler, Schüler der großen Sena Jurinac. Und schaffte eine einzigartige internatio­ nale Karriere, die ihn an den Olymp brachte. Eine seiner beson­ deren künstlerischen Heimaten ist die Wiener Staatsoper, an der der Kammersänger bislang einhundert Mal aufgetreten ist und an der er im Februar als Cavaradossi in Tosca und im Rahmen der Opernball-Eröffnung zu hören sein wird. Im Gespräch mit Oliver Láng erzählt der Tenor von Wünschen der Kindheit, sei­ ner Sicht auf Cavaradossi und über seine große Karriere. Worauf er besonders stolz ist, lesen Sie im folgenden Interview. ol

In Ihrer Autobiografie schrieben Sie, dass Sie als Kind unter anderem den Berufswunsch »Kapitän« hatten: Sie wollten die Welt sehen und bereisen, fremde Länder kennenlernen. Doch hatte »Kapitän« auch mit dem Wunsch nach dem Übernehmen von Führung und Anleiten zu tun? pb Es war tatsächlich die große Sehnsucht nach fernen Regionen, die diesen Berufswunsch aus­ löste. In der kommunistischen Diktatur durfte man nicht einfach verreisen, es war also klar, dass ich von entlegenen Orten träumte. Durch meinen Beruf hat sich das übrigens geändert: Heute reise

ich, weil ich muss und nicht so sehr, weil ich will. Ich weigere mich zum Beispiel, im Urlaub privat irgendwohin zu fliegen. Und was das Überneh­ men von Führung anbelangt: das war damals kein Thema für mich. Auch heute nicht! Nach 31 Jahren Ehe weiß ich, dass die Führungsrolle in unserer Familie nicht bei mir liegt! (lacht) ol Weil Sie den Urlaub angesprochen haben: Der ist für Künstlerinnen und Künstler nicht immer einfach. Enge Zeitpläne, internationale Engagements, Festivals… Reservieren Sie sich bewusst Zeiten im Jahr, in denen Sie absolut gar nicht auftreten? 43


VON EISBERGEN & GERMTEIGEN

pb Schön wär’s! Es ist wirklich so, dass ich im Auftrittskalender immer mehr darauf achten muss, eine Zeit zum Ausruhen zu reservieren. Mit meiner Frau haben wir solche Pausen seit Jahren eingeplant, aber immer wieder wird diese Regel gebrochen. Wissen Sie, es kommt ein tolles An­ gebot, eine spannende Anfrage… und schon sind die freien Tage futsch! Doch wir schaffen ein paar Momente im Jahr, die wirklich frei bleiben müs­ sen. Das wird daheim übrigens immer heftig ver­ handelt!

Kolleginnen und Kollegen die Aufführung ent­ wickeln und zusammenbauen. Sehr genau und professionell! Alles andere ist undenkbar. Oper ist eine komplexe Geschichte, da müssen viele Komponenten zusammenpassen und ineinan­ dergreifen. ol Und wenn sich die Kollegen nicht verstehen? pb Es gibt einen Energieaustausch, nicht nur zwischen Sängerin beziehungsweise Sänger und Publikum, sondern auch zwischen uns Darstel­

GIACOMO PUCCINI

TOSCA Musikalische Leitung BERTRAND DE BILLY Floria Tosca ELENA STIKHINA

2. 5. 10. FEBRUAR Inszenierung MARGARETHE WALLMANN Bühne und Kostüme NICOLA BENOIS Mario Cavaradossi PIOTR BECZAŁA Baron Scarpia ERWIN SCHROTT

8. FEBRUAR 2024 ERÖFFNUNG DES 66. WIENER OPERNBALLS

ol

Sie singen gerade an der Metropolitan Opera den Don José in Carmen. Wie Sie einmal erzählten, sind die Applauskulturen an den einzelnen internationalen Häusern sehr unterschiedlich. pb Stimmt! An der Met ist der Applaus heftig und kurz. Zum Beispiel: Der Carmen-Erfolg ist groß und das Publikum reagiert entsprechend. Aber wenn erst einmal der Vorhang fällt, ebbt der Jubel schnell ab. In Wien wäre das undenkbar, da sind die Publikumsreaktionen – besonders auch vom Stehplatz – auf einem ganz anderen Level! Bei guten Vorstellungen wird noch lange weiter­ geklatscht, auch nachdem der Vorhang gefallen ist. Es herrscht einfach eine andere Spannung. Das ist natürlich ein großer Unterschied! Und es kommt noch ein weiterer Aspekt dazu: Weltweit werden Applausordnungen am Schluss, also, wer wann vor das Publikum tritt, immer wieder ganz genau durchinszeniert. Auch das hat seinen Einfluss auf die Reaktion im Saal. Es kommt also, nicht nur auf das Wo, sondern auch das Wie an. ol Ein besonderes Beczała-Merkmal ist, dass er nicht nur künstlerisch brennt, sondern auch mit klarem Kopf auf Professionalität setzt. Sänger zu sein ist Hingabe, aber auch Arbeit. pb Ja, und ich beziehe das vor allem auf die Vor­ bereitung. Klar, wenn man auf die Bühne geht, muss das Technische und alles, was hinter einem Auftritt steht, beiseitegeschoben werden: Es geht um das Stück. Aber im Vorfeld: Da braucht es Vor­ bereitung, und die muss top sein! Ohne Wenn und Aber. Wenn man zur Probe kommt, muss alles sitzen und man muss gemeinsam mit den

lern auf der Bühne. Die Chemie muss stimmen! Das bedeutet nicht, dass wir uns alle sofort inein­ ander verlieben, und natürlich hat jeder und jede seine Vorlieben in puncto Kollegenschaft. Aber auch mit Partnern, die nicht die persönlichen Lieblingssänger sind, kann man etwas Tolles ent­ wickeln! Wie gesagt: Es geht um Professionalität! ol Sie haben sich aus eigener Kraft emporgearbeitet, haben ohne familiäres Opernnetzwerk Ihren Weg gemacht. Ist das etwas, das in Ihnen auch ein Gefühl des Stolz auslöst? pb Dass ich es vom Straßensänger in Wien bis nach oben geschafft habe, erfüllt mich durchaus mit Stolz. Manches ist vielleicht etwas später pas­ siert als bei anderen – aber auch das akzeptiere ich, und es war richtig so. Jedenfalls hatte ich kei­ nen besonderen Mentor, der mich emporgetragen oder der mir einen Weg vorbereitet hat, sondern es war immer ich. Verstehen Sie mich richtig: Es ist schön, wenn man auf jemanden zählen kann und viele Studierende haben eine Meisterin oder einen Meister, oder eben jemanden, der die Mentorens­ telle einnimmt. Das ist wunderbar! Nur war es in meinem Fall eben nicht so. Ich bin für meinen Weg selbst verantwortlich und war keiner Thea­ terfamilie zugehörig, die mich fördern konnte. ol Die Verantwortung: Empfinden Sie eine solche gegenüber Ihrem Talent? Im Sinne von: Das wurde mir geschenkt, dem muss ich dienen? pb Ich fühle eine große Verantwortung, und zwar: Seit Jahrzehnten trete ich an wichtigen Häusern auf, vor Zuschauerinnen und Zuschau­ ern. Oft wird offiziell oder inoffiziell mitgeschnit­ 44


K S P I O T R B E C Z A Ł A a l s C AVA R A D O S S I i n T O S C A , W i e n e r S t a a t s o p e r, 2 0 2 1 Fo t o M I C H A E L P Ö H N


VON EISBERGEN & GERMTEIGEN

ten. Das alles erzeugt einen gewissen Druck. Aber das mag ich und diese Verantwortung übernehme ich sehr gerne. Was nun das Ta­ lent betrifft… Ohne ein solches wird man in unserem Beruf nicht viel erreichen. Doch das ist ja überall so! »Mir gelingt der Germ­ teig nicht, dazu fehlt mir das Talent«, hört man vielleicht – dann kann derjenige halt nicht Bäcker werden. Begabung muss schon sein. ol Und dann eben die Arbeit, wie vor-

»Sänger zu sein ist wunderbar! Aber es ist auch ein sehr schwieriger Job.« hin besprochen. pb Wie wir alle kenne ich diese, durch­ aus richtigen, Vergleiche mit einem Eisberg: Zehn Prozent sieht man, die darunterliegen­ den 90 Prozent nicht. Das Sichtbare ist der Erfolg, das Unsichtbare die Arbeit. Damit sind wir übrigens wieder bei Ihrer Frage von vorhin, in der es um die Notwendigkeit von Arbeit ging. Immer wieder habe ich wirk­ lich sehr ernsthafte Gespräche mit jungen Kolleginnen und Kollegen, in denen es um unseren Beruf geht. Man muss wissen, wo­ rauf man sich einlässt. Man muss wissen, dass nicht Spaß, Champagner und Desig­ ner-Kleider den Beruf ausmachen, sondern es sehr stark um Leistung, weitsichtige Planung und auch Verzicht geht. Sänger zu sein ist wunderbar! Aber es ist auch ein sehr schwieriger Job. Ich dränge mich bei den jungen Sängerinnen und Sängern mit meinen »Weisheiten« nicht auf, aber wenn mich wer fragt, sage ich ganz offen, wie die Realität ausschaut. Denn mir geht es ja um einen tollen, auch informierten Nachwuchs. ol Und wenn Sie vergleichen: Welche Phase der Karriere ist die Schönste? Der Anfang, wenn man voller Hoffnungen träumt, der Aufstieg oder der Status als Weltstar? pb Das sind unterschiedliche Paar Schuhe. Was gleichgeblieben ist, ist die Begeisterung, wenn ich auf die Bühne gehe. Aber natürlich, meine Perspektive ist eine andere als in den ersten Jahren, meine Erfahrung ist größer geworden und ich genieße es, eine gewisse Ruhe und Gelassenheit gewonnen zu haben. Es ist nicht mehr ein Hurra und eine Tages­

form. Ich habe mehr Erfahrung, auch was das Repertoire anbelangt und das Wissen um Stilistik. Mein Glück war es, dass ich mit Größen wie Sena Jurinac, Pavel Lisitsian, Christian Thielemann, Franz Welser-Möst oder Nello Santi arbeiten durfte – und dass wir viele Gespräche führten. Ich versuchte, ihr Wissen in meine Welt, meine mentale Welt, einzubauen. Dieses ErfahrungenSammeln ist selbstverständlich eine nie­ mals endende Geschichte. Alleine schon, weil sich das Repertoire immer wieder än­ dert. Derzeit bin ich wieder an einem Punkt, an dem sich meine Partien ein bisschen än­ dern. Und ich bekomme Angebote für Rol­ len, bei denen ich bedenken muss, ob ich sie überhaupt will oder nicht. Wie Sie wissen, bin ich ein Sänger, der nicht zehn neue Par­ tien in zwei Jahren »von der Stange« singt, sondern ich versuche, immer neue Aspekte in einzelnen Rollen zu finden und diese im­ mer weiter zu vertiefen. ol Und kann es einen Punkt geben, an dem Sie sagen: Der Cavaradossi hat mir nichts mehr zu sagen, ich habe ihn einfach schon so oft gesungen? pb Das Schöne ist, dass mein Repertoire so variabel und stilistisch breit ist, dass das nicht passieren kann. Abgesehen davon: Den Don José etwa, den habe ich bislang etwa ein Dutzendmal gesungen, ebenso den Cavaradossi. Wenn man bedenkt, dass ich fast 140 Taminos in der Zauberflöte und 160 Lenskis in Eugen Onegin gemacht habe, dann ist das noch ein langer Weg bis zu sol­ chen Zahlen. Und abgesehen von der Auf­ trittszahl: Gedanken, dass so bedeutende Rollen ausgeschöpft sein könnten, mache ich mir keine. Denn das Entwicklungspo­ tenzial eines Cavaradossi, eines Don José ist so groß: wo sie anfangen, wohin sie sich entwickeln. Das sind Dinge, die mich sehr interessieren! ol Im Falle von Cavaradossi: Wir lernen ihn als Maler und Freund des geflüchteten Angelotti kennen, gehen über den Freiheitskämpfer und landen bei der berühmten »Sternenarie«, also »E lucevan le stelle«. pb Man kann sich fragen, was vorher war? War Cavaradossi immer schon ein po­ litischer Mensch? Ja! Scarpia nennt ihn ja »politisch verdächtig«. Und er kennt Ange­ lotti gut. Dass sich die Wege dieses ehemali­ gen Konsuls der Republik auf seiner Flucht gerade mit jenen Cavaradossis kreuzen, ist ein Zufall. Dass der Maler dem Flüchtigen hilft und so die Sache ins Rollen kommt, ist 46


D e r j u n ge PIOT R BECZ A Ł A a ls S T R A S SEN- SÄ NGER in Wien, Fo t o P R I VA T- A RC H I V BE C Z A Ł A

aber keiner. Denn die Sympathien für Freiheit und die Antipathie Scarpia gegenüber, die kommen bei Cavaradossi nicht von ungefähr. Auch wenn es am Ende in seiner »Sternenarie« nur um die Liebe geht und die Politik in den Hintergrund tritt. ol Meinen Sie, dass er im Augenblick der »Sternenarie« sein Leben ändern würde, wenn er es könnte? pb Sie meinen, wenn er in der Zeit zurück­ springen könnte? Und sich ruhig verhielte? Das ist immer schwierig zu sagen. Aber ich glaube, dass Cavaradossi eine sehr konsequente Figur ist, und er würde an dem, was er gewagt und getan hat, nichts ändern wollen. Zumindest würde ich es als Cavaradossi so halten. ol Puccini ist bekannt dafür, dass er sehr genaue Dynamik- und Interpretationsanweisungen in seine Partituren schrieb. Wie sieht es diesbezüglich mit Ihrer Freiheit aus? Wie genau müssen Sie sich an das halten, was dasteht? pb Puccini war ein Theatermensch, genauso wie Verdi. Das bedeutet, dass man immer die Um­ stände beachten muss. Wenn er ein mehrfaches Piano schreibt, muss nicht gesäuselt werden und wenn ein fünffaches Forte notiert ist, heißt das

nicht schreien. Es geht mehr um die Farben, um Proportionen und um eine Richtung, nicht um eine absolute Lautstärkenangabe. Es ist ja auch so, dass es ganz unterschiedliche Stimmen gibt, ein Piano von Pavarotti ist nicht das Piano von Corelli. Dazu kommen noch der Dirigent, das Or­ chester und die Akustik des Hauses. Das alles lässt sich nicht vereinheitlichen. Wenn Verdi ein vier­ faches Piano mit einem Diminuendo schreibt, also extrem leise und dann auch noch leiser werdend – was genau bedeutet das? Das sind Vorgaben, die man ernst nehmen muss, die aber in einen Bezug gesetzt werden müssen. Der Dirigent Nello Santi erzählte mir einst, dass Verdi schlechte Erfahrun­ gen mit schlampigen Sängerinnen und Sängern gemacht hatte und manchmal Dinge in Noten schrieb, deren Befolgung zur Hälfte bereits zu seiner Zufriedenheit geführt haben. Wie soll ein Verdi-Sänger punktierte Zweiunddreißigstelnoten singen? Das geht gar nicht. Vielleicht bei Mozart oder Rossini. Aber dennoch steht es da. Aus der Hoffnung heraus, dass der Sänger oder die Sän­ gerin es versucht – und wenn es halbwegs gelingt, ist es schon fein.

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KOP F Z E I L E

K S H A N S P E T E R K A M M E R E R a l s PA PAG E N O u n d I OA N H O L E N D E R a l s B AU M , W i e n e r S t a a t s o p e r, 2 0 10 Fo t o A X E L Z E I N I N G E R

WOLFGANG A M ADEUS MOZART

DIE ZAUBERFLOTE FUR KINDER 9. FEBRUAR 2024 Musikalische Leitung PHILIPPE JORDAN Mit ILJA KAZAKOV/ HIROSHI AMAKO/ SERENA SÁENZ/ FLORINA ILIE / ROLANDO VILLAZÓN / MIRIAM KUTROWATZ / THOMAS EBENSTEIN / ANNA BONDARENKO / JULIETTE MARS / DARIA SUSHKOVA

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IOAN HOLENDER

140.000 KINDER BEI DER ZAUBERFLOTE FUR KINDER NACH DEM OPERNBALL 2003 wurde am Freitag nach dem Opernball zum ersten Mal die bis dahin stets angesetzte Ballettvorstellung gestrichen, um stattdessen im festlichen Ballsaal zwei Auffüh­ rungen einer eigens erarbeiteten, einstündigen Fassung von Mozarts Zauberflöte für jeweils 3.500 Kinder zu präsentieren. Eingebettet in die Handlung dieser Zauberflöte für Kinder gibt es für das junge Publikum darüber hinaus noch eine vergnüglich aufbereitete Instru­ mentenkunde, bei der Spielleiter Papa­ geno in kurzen Dialogen mit Orchester­ mitgliedern die Besonderheiten von der Geige bis zum Fagott, von der Posaune bis zum Kontrabass vorstellt. Dirigent war der damalige Mu­ sikdirektor Seiji Ozawa. Er betrat den Zuschauerraum mit einer riesigen, umgehängten Trommel und erwirkte mit heftigen Trommelschlägen gleich von Beginn an die Aufmerksamkeit der Kinder, die mit ihren Lehrerinnen und Lehrern entweder im großen Lo­ genrund oder in markierten Bereichen direkt auf der Spielfläche saßen. Seiji Ozawa hatte mich übrigens durch eine ähnliche Veranstaltung beim japani­ schen Saito Kinen Festival Masumoto (heute Seiji Ozawa Matsumoto Festi­ val), bei der er für 6.000 Schülerinnen und Schüler eine kindgerechte Fas­ sung von Berlioz’ Fausts Verdammnis aufführte, zu unserer Zauberflöte für Kinder inspiriert. Zum Gelingen dieser ersten Zauberflöte für Kinder musste ich einen der größten Widerstände meiner gesam­ ten Amtszeit überwinden: Man könne doch nicht, so der Tenor, zusätzlich zu den beiden Schließtagen vor dem Ball noch einen weiteren nach dem Ball ansetzen. Schließlich brächte die ursprünglich vorgesehene Ballettvor­

stellung Einnahmen, die im Fall der bei freiem Eintritt gegebenen Zauberflöte für Kinder wegfielen. Die Angelegenheit kam bis zum damaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der mir daraufhin vollkommene Entscheidungsfreiheit zugestand. Ohne Hilfe des Unterrichts­ ministeriums, das die entsprechenden Volksschulen vorinformierte und alle nötigen organisatorischen Aufgaben unterstützte, wäre aus dieser schö­ nen Idee allerdings trotzdem nichts geworden. Die zuständige Ministerin Elisabeth Gehrer hatte allergrößtes Ver­ ständnis für das Vorhaben und regte so­ gar an, eine der beiden Vorstellungen für Schülerinnen und Schüler aus den Bundesländern anzubieten. Dafür wur­ den sogar Autobusse für die Fahrt nach und von Wien zur Verfügung gestellt! An alles wurde gedacht, nur nicht an eine Parkmöglichkeit für die zahlrei­ chen Busse während der Aufführung. In meiner Verzweiflung wandte ich mich erneut an Ministerin Gehrer, die daraufhin umgehend ermöglichte, dass alle Busse für diese eine Stunde auf dem Heldenplatz untergebracht werden konnten. In unserem lieben Land ist so manches möglich, wenn sich Poli­ tik und Kunst nahestehen und spon­ tane Initiativen nicht gescheut werden. Tempi passati… Die Qualität des Dargebotenen sollte auf allerhöchstem Niveau statt­ finden. Nicht zuletzt, weil es sich für viele Kinder um den ersten Kontakt

zum Haus und mit einer Opernvorstel­ lung überhaupt handelte. Für die Kö­ nigin der Nacht stand uns bei der Pre­ miere die wunderbare Marlis Petersen zur Verfügung, die aufstrebende junge Genia Kühmeier war unsere Pamina und Hans Peter Kammerer gab einen im Gesang wie in den Dialogen guten Papageno. Dazu kamen noch der er­ wähnte Seiji Ozawa und die Wiener Philharmoniker, die sich über ihren da­ maligen Vorstand Werner Resel bereit erklärt hatten, unentgeltlich mitzuwir­ ken. Als Diana Kienast – ihres Zeichens Hausregisseurin und als solche für die szenische Umsetzung der Zauberflöte für Kinder verantwortlich – mir die Rolle jenes Baumes anbot, an dem sich Papageno in seinem Liebeskummer aufhängen möchte, konnte ich natür­ lich nicht nein sagen. Bogdan Roščić hat schon wäh­ rend seiner Designation beschlossen, die Zauberflöte für Kinder, die ich als sinnvolle Folge und künstlerisch-edu­ kativen Gegenpol des vergnügungsrei­ chen Opernballs gedacht hatte, samt ihrem eingeführten Titel beizubehal­ ten. Heuer werden zum 20. Mal 7.000 Kinder die Veranstaltung sehen und hören. Das werden dann in Summe ins­ gesamt 140.000 Kinder gewesen sein. In unseren Zeiten verändert und ändert sich so manches rasch. Möge diese Ver­ anstaltung bleiben, wie sie war und ist.

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MUSIK IST EINE REISE IN DIE WELT DER WUNDER ANDREAS LÁNG IM GESPR ÄCH MIT MISHA KIRIA

Mit seinem schön timbrierten, gut geführten Bariton beeindruckt der aus Georgien stammende Misha Kiria ebenso wie mit seinem schauspielerischen Talent – ganz gleich, ob er, wie meist, komische Partien zum Besten gibt oder macht­ gierige Potentaten, tragische Liebende wie den Michonnet in Adriana Lecouvreur oder gefährlich-rachsüchtige Charaktere à la Tonio in Pagliacci. Die großen europäischen Bühnen von den Salzburger Festspielen über die Mailänder Scala, die Bayerische Staatsoper bis hin zu Glyndebourne hat er bereits erfolgreich erobert und setzt nun mit seinem im April geplanten Debüt an der Canadian Opera Company in Toronto zum Sprung über den Atlantik an. An der Wiener Staatsoper debütierte er vor rund zwei Jahren als Dulcamara in Donizettis L’elisir d’amore. Nun folgen hier im Februar und März zwei weitere seiner Parade­ partien: die Titelpartie in Don Pasquale und Don Magnifico in La cenerentola.


M ISH A K IR I A als DU LCA M A R A i n L’ E L I S I R D ’A M O R E , W I E N E R S T A A T S O P E R , 2 0 2 2 Fo t o M I C H A E L P Ö H N

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MUSIK IST EINE REISE IN DIE WELT DER W UNDER

al

An der Wiener Staatsoper haben Sie bisher Dulcamara gesungen, an der Volksoper Magnifico, in Salzburg waren Sie ein ausgezeichneter und sehr junger Gianni Schicchi und auch sonst überwiegen in Ihrem Kalender die heiteren Rollen. Selbst in der tragischen Forza singen Sie

harter Arbeit! Das georgische Nahverhältnis zur italienischen Kultur wird übrigens auch durch ein greifbares Beispiel unterstrichen: 1851 entstand unter der Leitung des italienischen Architekten Giovanni Scudieri das erste Operntheater Geor­ giens, das dann auch noch mit Donizettis Lucia di Lammermoor eröffnet wurde.

GAETANO DONIZETTI

DON PASQUALE 21. 23. 26. FEBRUAR 2024 Musikalische Leitung FRANCESCO IVAN CIAMPA Inszenierung IRINA BROOK Bühne NOËLLE GINEFRI-CORBEL Kostüme SYLVIE MARTIN-HYSZKA Licht ARNAUD JUNG Choreographie MARTIN BUCZKO Don Pasquale MISHA KIRIA Ernesto XABIER ANDUAGA Malatesta MICHAEL ARIVONY Norina ROSA FEOLA

die komische Figur des Fra Melitone. Wie kam es zu dieser Fokussierung? mk Zwar habe ich mittlerweile viele sehr unter­ schiedliche Rollen aus der Opernliteratur gege­ ben, doch kommen die komischen Rollen meinem eigenen Wesen einfach am nächsten. Jeder der mich kennt, bezeichnet mich als Frohnatur und ich kann gar nicht anders, als diesem Befund zu­ zustimmen. Auf jeden Fall macht es mein humor­ voller Charakter einfacher, lustige Charaktere zu verkörpern. Während meines Studiums an der Akademie der Mailänder Scala haben wir eben­ falls viel an komischen Opern gearbeitet, so zum Beispiel an Rossinis La cenerentola und La scala di seta, die ich auf der Bühne der Scala singen durfte, sowie Verdis Un giorno di regno, die ich am Teatro Filarmonico in Verona aufgeführt habe. Und spä­ testens als ich beim Verdi-Festival am Teatro Reg­ gio di Parma mit dem Falstaff debütierte, wurde mir klar, dass mir das Singen dieses Repertoires sehr große Freude bereitet. al Sie kommen aus Georgien, das zwar nicht viele Einwohner hat, aber dennoch viele Sängerinnen und Sänger herausbringt. Wie können Sie sich das erklären? mk Georgien hat eine sehr reiche Musikkultur. Die polyphone georgische Volksmusik wird seit tausenden von Jahren von Generation zu Gene­ ration weitergegeben. Es gibt keine Familie in Georgien, in der nicht mindestens ein Mitglied diese Volkslieder singen kann. al Sie haben Ihre Studien einerseits in Tiflis absolviert, andererseits auch an der Akademie der Mailänder Scala. Wie kamen Sie nach Italien und warum? mk Ich wollte schon immer in Italien italieni­ schen Operngesang studieren. Aber dieser un­ bedingte Wunsch und Wille allein war nicht ausreichend – es bedurfte natürlich auch sehr

al Gab es für Sie eine berufliche Alternative? mk Ich habe nie über eine Alternative nachge­ dacht. Die Frage hat sich einfach nicht gestellt. Ich wollte immer singen und auf der Bühne spielen. al Sie haben abgesehen von Ihrer Mitwirkung bei der Uraufführung von Animal Farm in Amsterdam fast ausschließlich italienisches Fach gesungen. Sie sprechen aber auch Deutsch, Russisch – wird es in diese Richtung auch etwas geben? Oder im Französischen Fach? mk Tatsächlich besteht mein gesamtes Repertoire fast ausschließlich aus italienischen Partien. Aber in letzter Zeit höre ich besonders gern die Werke von Richard Wagner bzw. lese die entsprechenden Partituren. Für mich gibt es nichts Größeres und Grandioseres. Was das französische Repertoire betrifft, stand in der letzten Saison die Rolle des Sancho Pança in Massenes Don Quichotte an der Deutschen Oper in Berlin auf meinem Programm. Und aktuell bereite ich die Rolle der Sulpice in La Fille du régiment für München vor. al Unterschiedliche Sänger bereiten sich unterschiedlich auf Auftritte vor: Manche trifft man schon am Nachmittag in der Garderobe, weil sie sich schon einzusingen beginnen. Andere stehen spät auf und achten darauf möglichst ruhig zu bleiben, wieder andere lesen bis knapp vor dem Auftritt ein Buch. Ich kenne eine Sängerin, die muss vor jedem Auftritt ein ganzes Schnitzel essen. Wie sieht es bei Ihnen aus? mk In meinem Fall ist es ganz einfach: Köstliche Spaghetti, eine Tasse Espresso und schon kann es losgehen. (lacht) al Kommen wir zur ersten Partie, die Sie jetzt bei uns singen werden: Ist Don Pasquale zu bemitleiden? 52


MUSIK IST EINE REISE IN DIE WELT DER W UNDER

mk Don Pasquale ist, auch wenn er ein altmo­ discher Mann ist, ein guter Mann. Das zeigt sich schon daran, dass er am Ende das Spiel um seine Scheinheirat vergibt und die Heirat seines Neffen mit der ursprünglich abgelehnten Frau akzeptiert. Er müsste das ja nicht tun, denn die Maskerade wurde beendet, bevor er sich mit Ernesto versöhnt

GIOACHINO ROSSINI

LA CENERENTOLA 15. 18. 22. MÄRZ 2024 Musikalische Leitung GIANLUCA CAPUANO Inszenierung SVEN-ERIC BECHTOLF Bühne ROLF GLITTENBERG Kostüme MARIANNE GLITTENBERG Licht JÜRGEN HOFFMANN Don Ramiro EDGARDO ROCHA Dandini MICHAEL ARIVONY Don Magnifico MISHA KIRIA Angelina VASILISA BERZHANSKAYA Clorinda ILEANA TONCA Tisbe ISABEL SIGNORET Alidoro ROBERTO TAGLIAVINI

hat. Vielleicht spielt aber auch die Tatsache eine Rolle, dass er keinen anderen Erben hat und den Reichtum in der Familie behalten will… al Und wie sieht es mit der anderen Partie aus? Hat der »böse« und korrupte Stiefvater Don Magnifico auch eine positive Seite? mk In den italienischen komischen Opern sind die Bösewichte nie wirklich böse, diese Opern er­ lauben meist keine wirklich tragischen Figuren. Der Text und vor allem der musikalische Kontext lassen dies nicht zu. Nach der Spannung des ers­ ten Aktes folgt immer das Happy End des zweiten. Ja, wir stellen uns Don Magnifico gerne als einen positiven Charakter vor, dessen Leben nicht so gut gelaufen ist. Das Leben hat ihn zu einem lie­ benswerten Lügner gemacht, der nicht wirklich schlecht sein kein oder irgendjemandem das Le­ ben ruinieren will, uns aber mit einigen meister­ haften und urkomischen Musiknummern unter­ hält: Wie könnte man ihn hassen? Und am Ende bereut er ohnehin was er getan hat. Die wahren Bösen sind eigentlich die anderen. al Was lieben Sie an der Musik Donizettis und was an der Musik Rossinis? mk Donizettis Musik ist melodischer und jene Rossinis rhythmischer, sprudelnder. Beide begeis­ tern mich auf ihre je eigene Art und Weise.

al Was bedeutet Musik für Sie grundsätzlich? mk Musik gibt mir die Möglichkeit wunderbare Reisen zu unternehmen – in eine Welt der Wunder, die anders nicht zu erreichen ist. al Kann es den Moment geben, wo Sie vorübergehend einfach keine Musik hören wollen? Zum Beispiel am Abend nach einer Probe? Eine bekannte Sängerin gab an, dass Sie in der Freizeit manchmal die Stille bevorzugt. Keine Musik, kein Theater, kein Gespräch – nur Stille. mk Ich mag die Stille auch sehr, aber es kommt selten vor, dass ich selbst still bin. Nach den Pro­ ben und nach den Auftritten singe ich sogar dop­ pelt so gerne: Wenn der Auftritt gut gelaufen ist, aus Glück und Freude, und wenn ich nicht zufrie­ den war, kann ich mich einfach nicht ausruhen, bis ich das behoben habe, was mir an dem Abend oder bei den Proben nicht gefallen hat. al Gibt es Rollen, die Sie inzwischen so im Blut haben, dass Sie mitten in der Nacht aufstehen und sie singen könnten? mk Ja – einige sogar! Wenn Sie mich mitten in der Nacht aufweckten, würde ich Gianni Schic­ chi, Bartolo, Falstaff, Magnifico, Dulcamara sin­ gen – ohne auch nur einen Augenblick nachden­ ken zu müssen. al Haben Sie auch schon etwas von georgischen Komponisten aufgeführt? mk Während meines Studiums am Konserva­ torium in Tiflis sang ich viele Lieder von geor­ gischen Komponisten – lauter Werke mit einer außergewöhnlichen Musik. Und aktuell bereite ich in der Tat ein Solokonzert vor, in dem es auf jeden Fall neben der deutschen, französischen, russischen und italienischen vor allem georgische Musik geben wird.

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P I N N WA N D

TODESFALL ABSCHIED VON KS HANS HELM

K S H A NS H EL M

ners Palestrina führten den am 12. April 1934 in Passau geborenen Bariton zwar schon ab 1958 als Gast wiederholt an diese Bühne, aber ab den frühen 1970er Jahren war er nach Stationen in Graz, Kassel und Dortmund dann endgültig im Haus am Ring angekommen. Da er über ein un­ gemein breites Repertoire verfügte, wurde er von »seinen« Direktoren und Dirigenten auch entsprechend eingesetzt. So sang er beispiels­ weise allein den Figaro im Barbier 46 Mal, den Grafen Almaviva in Nozze di Figaro 45 Mal, 30 Mal Marcello in der Bohème, 69 Mal den Faninal im Rosenkavalier, aber immerhin auch 25 Mal den Ill in Einems Besuch der alten Dame; Mozart, Beethoven, Wagner, französische, italienische und russische Werke, 20. Jahrhundert ebenso wie Operette – hier natürlich den Falke in der Fledermaus, aber auch einen exzellenten Homo­ nay in einer an sich vollkommen verunglückten Zigeunerbaron-Neuproduktion. Als charismati­

Zugleich gehörte er nicht zu jenen, die sich in den Vordergrund drängen wollten. Selbst nach dem Ende seiner Karriere (die ihn auch an viele weitere wichtige internationale Bühnen geführt hatte) sprach er lieber lobend über die Leistun­ gen der anderen, um damit bescheiden von sich abzulenken. All jenen, die keine Möglichkeit mehr hatten Hans Helm live auf einer Bühne zu erleben, sei die Don Pasquale-DVD empfohlen, die die Wiener Staatsoper 2020 gemeinsam mit dem Label Naxos herausgebracht hat. In diesem mitgefilmten Gastspiel der Wiener Staatsoper in Mürzzuschlag, das 1977 im Rahmen der legen­ dären Arbeiterkammer-Tourneen des Hauses durch die Bundesländer Österreichs entstanden ist, begeistert das einzigartige Quartett Edita Gruberova / Luigi Alva / Oskar Czerwenka und eben Hans Helm als Malatesta auf unnachahm­ liche Weise in dieser (auf Deutsch) gesungenen Komödie Gaetano Donizettis. Am 23. Dezember

Gut ein Vierteljahrhundert lang prägte KS Hans Helm als Ensemblemitglied die Aufführungen der Wiener Staatsoper. Erste Auftritte in Pfitz­

scher Vollblut-Singschauspieler hatte der 1986 zum Kammersänger Ernannte aber auch das Publikum auf seiner Seite. Und er liebte fühl­ bar sein Metier, das Haus, die Kollegenschaft.

ist KS Hans Helm im 90. Lebensjahr verstorben und mit ihm ein Stück schöne Staatsopern-Ver­ gangenheit.

K S H A NS HELM als M A L AT E STA &

K S E D I T A G RU B E ROVA a l s N O R I N A i n D O N PA S Q UA L E

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P I N N WA N D

RADIO-TERMINE 3. 20.00

LE NOZZE DI FIGARO (MOZART)

NEUE CD

PRODUKTIONSSPONSOREN DON GIOVANNI DON PASQUALE

radioklassik

Musikalische Leitung BÖHM Mit u.a. SCHWARZKOPF (Gräfin),

IL TRITTICO

FISCHER-DIESKAU (Graf), SEEFRIED (Susanna), KUNZ (Figaro), LUDWIG (Cherubino) WIENER PHILHARMONIKER CHOR DER WIENER STAATSOPER, 1957

SERVICE 11. 15.05

DIE VIELSEITIGE Ö1 ANNY SCHLEMM Zum 95. Geburtstag der Sängerin Mit MICHAEL BLEES

25. 15.05

DAS WIENER Ö1

STAATSOPERNMAGAZIN Ausschnitte aus aktuellen Aufführungen Mit MICHAEL BLEES

29. 14.05

IM REIFEN SÄNGERALTER AUF DRAMATISCHEM KURS

Ö1

GREGORY KUNDE & GIACOMO LAURI-VOLPI Mit CHRIS TINA TENGEL

WERKEINFÜHRUNGEN

Anfang März kommt bei Sony eine Aufnahme des neuen Staatsopern-Parsifal heraus: Unter der Leitung von Musikdirektor Philippe Jordan

A

singen unter anderem Jonas Kaufmann (Titel­ partie), Elīna Garanča (die erste Kundry ihrer Karriere), Ludovic Tézier (Amfortas), Georg Zeppenfeld (Gurnemanz) und Wolfgang Koch (Klingsor). Die Einspielung erscheint als lu­ xuriös ausgestattetes 4CD Set mit einem um­ fangreichen Booklet. Das Presse-Echo nach der Premiere im Frühjahr 2021 war einhellig: Von einem »Sängerfest«, gar einer »Sensations­ besetzung« (Der Standard), einer »luxuriösen Ensembleleistung« (Die Zeit) war die Rede, im­ mer wieder wurde der Nuancenreichtum der musikalischen Wiedergabe betont.

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Viele Zuschauerinnen und Zuschauer schätzen die kostenlosen Werkeinführungen vor ausge­ wählten Vorstellungen im Gustav Mahler-Saal: Eine halbe Stunde vor Beginn der Aufführung erzählen Dramaturginnen und Dramaturgen über das gleich zu erlebende Werk, umreißen den Inhalt und weisen auf die Besonderheiten der aktuellen Produktion hin. So können gewis­ sermaßen »last minute« wichtige Informatio­ nen über die Opern- bzw. Ballettaufführungen eingeholt werden – was den jeweiligen Abend zu einem noch erfüllenderen Erlebnis macht! Im Februar gibt es Einführungen zu Dialogues des Carmélites, Il trittico und Animal Farm!

Der Offizielle Freundeskreis der Wiener Staatsoper bietet seinen Mitgliedern auch im Februar ein vielfältiges und exklusives Pro­ gramm. Unter anderem gibt es am 17. Februar eine weitere Ausgabe von Dialog am Löwensofa. Diesmal lautet das Thema: Sind Künstlerinnen und Künstler besondere Menschen? Informationen und Anmeldung wiener-staatsoper.at/foerdern

GASTSPIEL

EINFÜHRUNGSMATINEE

Am 5. Februar gibt die Wiener Staatsoper ein konzertantes Gastspiel am Théâtre des ChampsÉlysées in Paris: Gespielt wird Wolfgang Ama­ deus Mozarts Don Giovanni, die musikalische Leitung hat Musikdirektor Philippe Jordan inne. Zu hören sind Slávka Zámečníková, Federica Lombardi, Alma Neuhaus, Christian Van Horn, Bogdan Volkov, Peter Kellner, Martin Häßler und Antonio Di Matteo.

Einführungsmatineen an der Wiener Staats­ oper bieten Einblicke in kommende Opernbzw. Ballett-Premieren. Am 18. Februar wird die österreichische Erstaufführung von Animal Farm vorgestellt: Staatsoperndirektor Bogdan Roščić führt durch den Vormittag und berichtet über das Werk, die Entstehungsgeschichte und die kommende Premiere, Künstlerinnen und Künstler der Produktion werden zu Gast sein und über ihre Sicht auf das Werk und Proben­ eindrücke berichten.

OFFIZIELLER FREUNDESKREIS DER WIENER STAATSOPER

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ADRESSE Wiener Staatsoper GmbH Opernring 2, 1010 Wien +43 1 51444 2250 +43 1 51444 7880 information@wiener-staatsoper.at

IMPRESSUM

OPERNRING 2 FEBRUAR 2024

SAISON 2023 / 24

Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH / Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ / Kaufmänni­ sche Geschäftsführung DR. PETRA BOHUSLAV / Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Ballettdirektor MARTIN SCHLÄPFER / Redaktion SERGIO MORABITO / ANNE DO PAÇO / KATHARINA AUGENDOPLER / NASTASJA FISCHER / IRIS FREY / ANDREAS LÁNG / OLIVER LÁNG / NIKO­L AUS STENITZER / KATHARINA AUGENDOPLER / Art Direction EXEX / Layout & Satz IRENE NEUBERT / Am Cover PIOTR BECZAŁA Foto JEAN-BAPTISTE MILLOT / Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUK­ TIONS GMBH, BAD VÖSLAU REDAKTIONSSCHLUSS für dieses Heft: 19. Jänner 2024 / Änderungen vorbehalten / Allgemein verstandene personen­ bezogene Ausdrücke in dieser Publikation umfassen jedes Geschlecht gleichermaßen. / Urheber / innen bzw. Leistungs­ schutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. → wiener-staatsoper.at

GENERALSPONSOREN DER WIENER STAATSOPER


UNSERE ENERGIE FÜR DAS, WAS UNS BEWEGT. Das erste Haus am Ring zählt seit jeher zu den bedeutendsten Opernhäusern der Welt. Als österreichisches und international tätiges Unternehmen sind wir stolz, Generalsponsorin der Wiener Staatsoper zu sein. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf: omv.com/sponsoring



DIE FLAUMIGKEIT DES SEINS. Unsere Krapfen. Die Erfüllung mit Füllung.


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