WBGU Politikpapier: Zeit-gerechte Klimapolitik: Vier Initiativen für Fairness

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Politikpapier Nr. 9

Klimapolitik

August 2018

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen

In Nansens Fußstapfen: Ein Klimapass für menschenwürdige Migration In den Wirren, die der Erste Weltkrieg auslöste, kam es zu einer beispiellosen Flüchtlingskrise. Staatswesen brachen zusammen, Grenzen wurden bedenkenlos verschoben, Millionen Menschen verloren ihre nationale Identität durch Bürgerkrieg, Vertreibung und Flucht. Insbesondere waren Unzählige ohne gültige Ausweispapiere unterwegs. Um diese humanitäre Not einigermaßen zu lindern, erfand 1922 Fridtjof Nansen – weltberühmter Polarforscher und damals Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes – ein internationales Rechtsinstrument zum Schutz der Migrant*innen. Es handelte sich um einen Pass für Staatenlose, der von möglichst vielen Ländern anerkannt werden und den Träger*innen Zutritt zum jeweiligen Staatsgebiet gestatten sollte. Diese weitsichtige Innovation, der sogenannte NansenPass, wurde mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt und gewährte bis 1938 hunderttausenden Personen Gastrecht in sicheren Staaten. Bis 1942 erkannten immerhin 52 Nationen den Nansen-Pass grundsätzlich an (Marrus, 2013). Im 21. Jahrhundert stehen wir am Beginn einer Flüchtlingskrise, die sich bezüglich Ursache und Dynamik nicht mit der des frühen 20. Jahrhunderts vergleichen lässt, aber schlussendlich zu noch größerem Leid führen könnte. Die Rede ist von der anthropogenen Erderwärmung, die den Meeresspiegel steigen lässt, den globalen Wasserkreislauf verändert, die Extremwetterregime verschärft, ganze Vegetationszonen verschiebt und dadurch die Lebensgrundlagen von hunderten Millionen Menschen bedroht. Bereits heute, da die planetare Oberflächentemperatur nur um etwa 1   °C gestiegen ist, kommt es zu klimabedingten Migrationsbewegungen (Ionesco et al., 2017; IDMC und NRC, 2017). Die durch den Bürgerkrieg in Syrien ausgelöste Flüchtlingskrise im Nahen Osten und Europa dürfte schon ursächlich mit dem Klimawandel verknüpft sein, denn eine Jahrtausenddürre im „Fruchtbaren Halbmond“ verschärfte ab 2011 die sozialen und politischen Spannungen in der Region (Kelley et al., 2015, 2017). Völlig unbestreitbar ist der kausale Zusammenhang

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zwischen dem menschengemachten Klimawandel und der Existenzbedrohung flacher Inselstaaten. Selbst wenn die Begrenzung der Erderwärmung auf 2  °C gelingen sollte, dürfte ein Meeresspiegelanstieg im Meterbereich ganze Territorien versenken – und damit nationale Identitäten im konventionellen völkerrechtlichen Sinn auslöschen (Storlazzi et al., 2018). Die entsprechenden Staatsvölker können ihr Überleben dann nur durch Verlassen ihrer schwindenden Länder sichern. Ob Überflutung, Dürre oder verheerender Tropensturm: Die besonders vulnerablen Gruppen bleiben dabei oft in außerordentlich prekären Situationen gefangen, etwa wenn sie sich Migration gar nicht leisten können (Adger et al., 2014). Schier unerträglich ist die Vorstellung, dass Millionen Klimamigrant*innen in den kommenden Jahrzehnten auf kriminelle Schlepperorganisationen angewiesen wären, wie sie aktuell im Mittelmeer so schreckliches menschliches Elend bewirken. Leider ist festzustellen, dass klimabedingte Migration in den letzten Jahren in der internationalen Gemeinschaft zwar zunehmende Aufmerksamkeit erhalten hat, aber die rechtlichen und politischen Lösungsansätze unzureichend sind, um der steigenden Zahl betroffener Personen angemessene, rechtzeitige und gerechte (zeit–gerechte) Hilfe zu gewähren. Migration in Zeiten des Klimawandels ist von der Natur der Sache her eine außerordentlich komplexe, multikausale und kontroverse Herausforderung (Adger et al., 2014). Der Umgang mit den Betroffenen wird zu einem ethischen Prüfstein für die internationale Gemeinschaft im 21. Jahrhundert werden. Wenn die umweltbedingte Verschiebung zahlreicher Menschen im Raum, oft über beträchtliche Distanzen, eine Notwendigkeit ist, welche Lösungsansätze sind dann überhaupt möglich? Historisch gibt es viele Beispiele für Maßnahmen und Verhaltensweisen, die zum Gelingen oder auch zum Scheitern von Migration und Flucht beigetragen haben (Fiddian-Qasmiyeh et al., 2014). Mit die schrecklichsten Lehren kann man aus dem Leidensweg der jüdischen


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