WBGU Hauptgutachten: Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte

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5  Städte im globalen Transformationsprozess

Vor dem Hintergrund der drei Dimensionen des normativen Kompasses, also der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, Teilhabe und Eigenart in Kopenhagen lassen sich zudem Synergien aufzeigen. Hierzu zählen beispielsweise zwei zentrale Pfeiler der Kopenhagener Stadtentwicklungspolitik: die Schaffung sowie der Erhalt von öffentlichen Grünräumen und die Förderung Fuß- und Radverkehr als Modi nachhaltiger Mobilität, die positive Auswirkungen auf alle drei Bereiche des normativen Kompasses haben. Die Offenheit sowohl der Kopenhagener Stadtverwaltung als auch der Bevölkerung gegenüber Diversität, Experimenten und Innovationen ist zum einen ein Teil der charakteristischen Eigenart Kopenhagens, zum anderen erzeugt sie gleichzeitig „eigenartige“ Orte und ein lebendiges Stadtleben. Positiv hervorzuheben ist dabei der partizipative Ansatz, der in Kopenhagen institutionell verankert ist und insbesondere in der Stadtentwicklung und Stadtteilerneuerung für lebenswerte urbane Räume sorgt. Am Beispiel Kopenhagens zeigen sich jedoch auch ganz deutlich die zwei Seiten dieser Medaille: Einerseits erhöht sich die Attraktivität und Sicherheit und damit insgesamt die Aufenthaltsqualität in den entsprechenden Quartieren, andererseits werden gewachsene Strukturen verdrängt, es kommt teilweise zur Kommerzialisierung öffentlichen Raums (Cafés statt Parkbänke) und die Mieten erhöhen sich. Diese nicht intendierten Nebenfolgen sind in vielen Metropolen zu beobachten; daher sollte Stadtentwicklungspolitik – nicht nur in Kopenhagen – Maßnahmen entwickeln, um allen Bevölkerungsgruppen die Teilhabe an den Aufwertungen und Erneuerungen zu ermöglichen und gleichzeitig übermäßige Kommerzialisierung und Verdrängung von eingesessenen Einwohnern zu verhindern.

5.5 Guangzhou: Öffnungspolitik, Globalisierung und migrationsgetragene Urbanisierung in der ‚Fabrik der Welt‘ 5.5.1 Guangzhou: Rasante Urbanisierung im Zuge von Chinas Öffnungspolitik

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Die 150 km nördlich von Hong Kong im Perlflussdelta gelegene heutige Megastadt Guangzhou ist eines der traditionell bedeutendsten und ältesten Handelszentren Chinas und Hauptstadt der Provinz Guangdong. Guangzhou war bereits seit dem zweiten Jahrhundert n. Chr. ein Zentrum maritimer Handelsbeziehungen mit Arabien, Indien und Südostasien. 1711 etablierte die

britische East India Company eine Handelsniederlassung, die auf die Insel Shamien und ihre kleine europäische Siedlung begrenzt war. Zwischen 1757 und 1842 bestand hier der einzige Handelsposten mit der Genehmigung zum Handel mit Ausländern, bis nach dem Vertrag von Nanjing vier weitere Häfen (darunter Shanghai, Ningbo und Xiamen) geöffnet werden mussten. Damit bestanden bereits über Jahrhunderte etablierte Verbindungen ins Ausland, die im Zuge handelsgetragener Pfadabhängigkeiten den Brückenkopf für die chinesische Öffnungspolitik bildeten. Guangzhous jüngster Aufstieg erfolgte im Zuge der unter Deng Xiaoping initiierten politisch-ökonomischen Öffnungspolitik nach 1978, der eine rasante Entwicklungsdynamik durch Industrialisierung und Urbanisierung im gesamten Perlflussdelta folgte. Gemäß dem (sinngemäß übersetzten) Leitsatz von Reformpolitiker Deng Xiaoping, „nach den Steinen tastend den (unbekannten) Fluss überqueren“ – worunter das schrittweise Sammeln von Erfahrungen mit der Marktwirtschaft umschrieben wurde – waren im Perlflussdelta in den 1980er Jahren zunächst spezielle Sonderwirtschaftszonen eingerichtet worden, in denen sich ausländische Investoren niederließen, darunter besonders chinesische Unternehmen aus Hong Kong, Taiwan und Übersee. Der dadurch entstandene Wirtschaftskorridor erfährt seither eine rasante Bevölkerungszunahme und ist heute eines der bedeutendsten Industriegebiete der Welt (Wu, 2002; Lin, 2004; Enright et al., 2005; Lu und Wei, 2007; Chubarov und Brooker, 2013). Guangzhou liegt in der Provinz Guangdong (Abb. 5.5-1), die mit mehr als 100 Mio. Einwohnern nicht nur die bevölkerungsreichste, sondern zugleich auch die wirtschaftsstärkste Provinz Chinas ist. Das BIP lag 2006 bei 260 Mrd. US-$, das Wirtschaftswachstum lag bei ca. 12  %. Mehr als 80  % der Wertschöpfung Guangdongs werden im Perlflussdelta erzeugt. Hier befindet sich das Zentrum der chinesischen Leichtindustrie, das größtenteils für den Export produziert und die Märkte in den USA, Japan und Europa mit Unterhaltungs- und Haushaltselektronik, Spielzeug, Möbeln und Druckerzeugnissen beliefert (Meyer et al., 2009, 2012). Bei wachsender Konkurrenz durch Shanghai und sein Hinterland sowie durch die neuen wirtschaftlichen “Ausbaufronten“ westlich der Küstenprovinzen muss das Perlflussdelta seine Wirtschaftsstruktur zunehmend diversifizieren, was derzeit durch den Auf- und Ausbau von Schwerindustrie, Automobil- und High-Tech-Industrie erfolgt (Meyer et al., 2009; Schiller, 2011). Die folgenden Ausführungen richten sich auf die extremen Dynamiken der Urbanisierungsgeschwindigkeit, die besonderen Herausforderungen von zentralistischer und dezentraler Steuerung mit experimenteller


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