WBGU Hauptgutachten: Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte

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Der normative Kompass

3.1 Die Große Transformation und Städte

Ausgangspunkt: Die Große Transformation nach dem Verständnis des WBGU Bisherige Zivilisationsschübe der Menschheit (z.  B. die neolithische und die industrielle Revolution) waren keine gesteuerten Prozesse, sondern Ergebnisse evolutionären Wandels (WBGU, 2011:  29). Eine zentrale und historisch neue Herausforderung im Übergang zur nachhaltigen Gesellschaft, in der die planetarischen Leitplanken eingehalten werden, besteht darin, diesen komplexen Prozess zu gestalten, um den bisherigen „historischen ­Normalfall“, nämlich eine Richtungsänderung infolge von Krisen und Schocks oder auch von – gegebenenfalls vergleichsweise langsamen – evolutionären Prozessen von Innovation und Wandel, zu vermeiden. Es können folgende Charakteristika großer Veränderungsprozesse identifiziert werden (im Wesentlichen wortgleich entnommen aus WBGU, 2011:  90; nach Grin et al., 2010): 1. Große Veränderungsprozesse verlaufen koevolutionär, setzen eine Vielzahl von Veränderungen in unterschiedlichen soziotechnischen und soziokulturellen (Sub-)Systemen voraus und finden auf lokalen, nationalen und globalen Handlungs­ebenen statt. 2. Sie beinhalten sowohl die Entwicklung von (Nischen-)Innovationen als auch deren Übernahme und gesellschaftliche Verankerung über Märkte, Regulierungen, Infrastrukturen und neue gesellschaftliche Leitbilder. 3. Sie werden von einer großen Zahl an Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und von Konsumenten beeinflusst. Große Transformationen haben kein eindeutiges Zent­ rum, von dem sie ausgehen; sie sind deshalb schwer ­steuerbar. 4. Sie sind letztendlich radikale Prozesse hinsichtlich ihrer Auswirkung und Reichweite, vollziehen sich

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jedoch unter Umständen langsam über mehrere ­Jahrzehnte. Im Gutachten „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ stellte der WBGU (2011) fest, dass die Große Transformation zur Nachhaltigkeit zwar schwer steuerbar, aber gestaltbar ist. Ausgehend von einem neuen Gesellschaftsvertrag, also einer gesellschaftlichen Übereinkunft über das Ziel der Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft, sollte diese Gestaltung in einem wissensbasierten gesellschaftlichen Such- und Lernprozess stattfinden, unter einer normativen Neuorientierung, die als Wertewandel bereits sämtliche Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß erfasst hat. Der WBGU hatte in diesem Gutachten die Transformation zur Nachhaltigkeit im Blick, im Zentrum der Analysen stand jedoch der Klimaschutz als conditio sine qua non für nachhaltige Entwicklung: „Klimaschutz allein kann zwar den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für die Menschheit nicht sichern, aber ohne wirksamen Klimaschutz entfallen absehbar essenzielle Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit“ (WBGU, 2011:  2). Als zentrale Transformationsfelder, in denen die Politik zur Transformation ansetzen sollte, wurden drei Hauptpfeiler der heutigen Weltgesellschaft identifiziert: Erstens die Energiesysteme einschließlich des Verkehrssektors, zweitens die urbanen Räume und drittens die Landnutzungssysteme. Eine zentrale Rolle bei der Transformation sieht der WBGU in einem gestaltenden Staat mit erweiterten Partizipationsmöglichkeiten, der auf nationaler und globaler Ebene agiert und sich gegenüber seinen Bürgerinnen verantworten muss, die ihrerseits die Transformation vorantreiben. Ein „Weltgesellschaftsvertrag“, weniger auf dem Papier als im Bewusstsein der Menschen, mit dem die Gesellschaft und ihre Akteure „kollektive Verantwortung für die Vermeidung gefährlichen Klimawandels und für die Abwendung anderer Gefährdungen der Menschheit“ (WBGU, 2011:  2) übernehmen, gibt so den Rahmen und die Richtung der Transformation vor, deren ­konkrete Ausgestaltung sich in einem gesamtgesellschaftlichen Such- und Lernprozess entwickelt.

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