WBGU Hauptgutachten: Welt im Wandel: Menschheitserbe Meer

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Nutzung der Meere   1.1

sche Ressourcennutzung usw.), die den Meeresschutz vor bislang nicht gekannte Herausforderungen stellen und Anlass geben, von „mare crisium“ (Vidas, 2010), dem Meer in der Krise, zu sprechen. Ob die in ­UNCLOS enthaltenen Vorschriften zum Meeresschutz, die in erster Linie eine Verpflichtung zur Kooperation der Vertragsstaaten beinhalten, dem Ausmaß der Meeres­krise gerecht werden, ist fraglich. Eine Verpflichtung zur Verantwortung im Sinne einer „responsibility for the seas“ (Vidas, 2010), die Verantwortungsinhalte und Verantwortungsträger klar benennt, enthält UNCLOS nicht. Ziele einer zukünftigen Governance für die Meere sollten die Überwindung der Krise der Meere und das Einhalten planetarischer Grenzen bzw. Leitplanken (WBGU, 2006, 2011; ­Rockström et al., 2009; ­Kasten 1-1) sein. Inwiefern das internationale Seerecht als multilaterales Vertragswerk solch einer Verantwortung für die Meere im Anthropozän (Vidas, 2010; Gjerde, 2011) gerecht werden kann und den angemessenen Rahmen für eine Transformation zur nachhaltigen Nutzung im Rahmen der planetarischen Grenzen bietet ist eine der Kernfragen, die in diesem Gutachten zu untersuchen und zu beantworten ist.

1.1 Nutzung der Meere Die Nutzung der Meere reicht bis in die frühe Menschheitsgeschichte zurück. Analysen von Halpern et al. (2008) zeigen, dass der menschliche Einfluss mittlerweile in allen Teilen der Meere nachweisbar ist. Heute leben 40  % der Menschen nicht weiter als 100 km von der Küste entfernt und mehr als 90  % des Welthandels erfolgt über die Meere. In den folgenden Abschnitten werden direkte Nutzungen der Meere durch den Menschen diskutiert. Die Meere stellen zahlreiche Ökosystemleistungen zur Verfügung, die den Menschen zugute kommen (MA, 2005a), hier aber nicht alle im Detail beschrieben werden. Viele Ökosystemleistungen und ihre Nutzung sind auf die marine Biosphäre und ihre Vielfalt angewiesen – etwa die Nutzung mariner Organismen für Ernährung, Energieerzeugung und medizinische Produkte, der Tourismus, klimaregulierende Funktionen und Interaktionen mit der Atmosphäre wie die CO2-Aufnahme durch den Ozean oder die Sauerstoffproduktion (COML, 2011). Einige dieser Nutzungen generieren direkten ökonomischen Nutzen, während der Wert von anderen weniger gut messbar, aber nicht weniger wichtig ist.

1.1.1 Mythos Meer – die kulturelle Bedeutung der Meere Eine Auseinandersetzung mit der Nutzung der Meere durch die Menschen muss ihren symbolisch-kulturellen Bedeutungshorizont einschließen. Auffällig ist hier die dauernde Ambivalenz des Meeres als Sehnsuchts- und Gefahrenquelle für die Menschheit. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Studien (Corbin, 1994; Mollat du Jourdin, 1993) zeigen, dass das Meer, auch wenn es seit langem als Nahrungsressource, Fortbewegungsmedium und Abfalldeponie genutzt wurde, affektiv bis in die Neuzeit vornehmlich als Hort des Schreckens und Quelle ständiger Gefährdungen galt. Die Bibel hat beispielsweise lange die kollektive Meeres-Imagination bestimmt. Die über lange Perioden der Menschheitsgeschichte kaum bekannten Weltmeere wurden als ein Instrument göttlicher Strafen gedeutet und bargen ein permanentes Katastrophenpotenzial; sie erinnern an die Sündhaftigkeit des Menschen und symbolisieren die Möglichkeit des universellen Chaos. Küstenzonen und der Limes zwischen Meer und Himmel am Horizont erschienen als Orte der Spannung, von denen aus es möglichst rasch „festen Boden“ unter den Füßen zu gewinnen galt. Die mediterranen genau wie die keltischen, skandinavischen, slawischen und germanischen Mythen (analoges gilt für außereuropäische) sind voll von Ängsten vor Stürmen, Flutwellen, Nebeln, Seeungeheuern und Schiffbrüchen. Ein Tod auf See ist die größte Angstvorstellung, denn es droht die Unauffindbarkeit des Leichnams und damit ewiges Umherirren und Verweigerung der Auferstehung. Deswegen, nimmt Mollat du Jourdin (1993:  248) an, blieb „die religiöse Bindung der Seeleute so dauerhaft“. Alle möglichen Tabus und abergläubischen Praktiken sind an die See geknüpft, sie ist die Quelle von Vorzeichen und bösen Vorahnungen. Beängstigend war vor allem die Ausdehnung: „Dem Raum und der Zeit trotzend, ist das Meer den flüchtigen Generationen der Menschen, die an einen begrenzten Raum gebunden sind, durch seine Dauerhaftigkeit und seine unendliche Weite überlegen.“ Aber: „Der Beständigkeit des Kontinents setzt es seine sprunghaften Launen entgegen, die menschliche Betriebsamkeit erwidert es mit strengem Schweigen. Die See zwingt den Menschen, sich ihr ganz zu überlassen; denn sie ist unumschränkte Herrin“ (Mollat du Jourdin, 1993:  241). Diesem Zwang wollte sich die moderne Menschheit nicht unterwerfen. Vorbereitet durch die Säkularisierung und Verwissenschaftlichung der Weltbilder und Kosmologien sowie durch ästhetische Neubetrachtungen wurden die Ozeane und Meere in der Neuzeit zu Anlässen der Bewunderung und Medien der Welter-

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