WBGU Hauptgutachten: Welt im Wandel: Menschheitserbe Meer

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Die Meere im Anthropozän

Der überwiegende Teil der Menschheitsgeschichte war von der Auffassung geprägt, das Meer sei unerschöpflich. Noch im 17. Jahrhundert nahm man an, es sei nicht möglich, die Meere leer zu fischen, und die Schifffahrt habe keinen nennenswerten Einfluss auf die Meere (Vidas, 2010). Tatsächlich begann der Mensch aber schon vor Tausenden von Jahren, zunächst lokal, marines Leben zu dezimieren (Census of Marine Life; McIntyre, 2010; Roberts, 2007). Mit der Industrialisierung hat das Ausmaß der vom Menschen verursachten Beeinträchtigung eine neue Qualität erreicht. Die Menschheit ist zu einem dominierenden Faktor im Erdsystem geworden. Zunehmend wird die industrielle Gegenwart daher als neue erdgeschichtliche Epoche angesehen, als „Anthropozän“ (Crutzen und ­Stoermer, 2000). Die kollektive Fähigkeit der Menschen, Veränderungen planetarischen Ausmaßes herbeizuführen, hat bereits zur Gefährdung wichtiger Lebensgrundlagen geführt. Mit dem Anthropozän beginnt daher auch eine neue Ära der Verantwortung. In vielen Bereichen zeichnen sich krisenhafte Entwicklungen ab, die ein rasches Gegensteuern erfordern, etwa in Bezug auf Wasserressourcen, Böden, Wälder und auch die Übernutzung der Meere. Der WBGU hat in seinem Hauptgutachten 2011 die Notwendigkeit einer Großen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit beschrieben und deren Umsetzbarkeit am Beispiel des Klimaschutzes analysiert (WBGU, 2011). Zentral ist dabei die Vorstellung eines neuen Gesellschaftsvertrags, der die gemeinsame Gestaltung des Veränderungsprozesses durch den Staat und die Zivilgesellschaft ermöglicht. Das vorliegende Gutachten knüpft an diese Analyse an und stellt dabei die Meere in den Mittelpunkt. Erstens geht es in diesem Gutachten um die Rolle der Meeresnutzung bei der Transformation zur Nachhaltigkeit: Für den Klimaschutz müssen die globalen Treibhausgasemissionen in den nächsten Jahrzehnten auf ein absolutes Minimum sinken, was einen Umbau der weltweiten Energiesysteme notwendig macht. Energie aus dem Meer kann hier einen Beitrag leisten, und stellt daher einen der beiden Schwerpunkte des vorliegenden Gutachtens dar. Weiterhin ist, wie der WBGU in seinem

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Gutachten zur Transformation (WBGU, 2011) gezeigt hat, auch eine nachhaltige Landnutzung von hoher Bedeutung für die Transformation – über die Ernährung ergeben sich auch hier Wechselwirkungen mit der Meeresnutzung. Nahrung aus dem Meer bildet daher einen weiteren Schwerpunkt des vorliegenden Gutachtens. Zweitens stellt sich die Frage, was Nachhaltigkeit für die Meere bedeutet: Welchen Einfluss hat der Mensch auf die Meere genommen? Welche krisenhaften Entwicklungen gilt es zu verhindern? Welche Nachhaltigkeitsziele gilt es anzustreben? Dabei geht es um den Erhalt von Ökosystemleistungen wie Stoffkreisläufe, Hochwasserschutz oder Primärproduktion sowie um die direkte Nutzung von Ressourcen und Räumen. Viele Bedrohungen für die Meere erwachsen nicht direkt aus ihrer Nutzung, wie etwa der Einfluss des Klimawandels; diese Zusammenhänge hat der WBGU bereits in einem Sondergutachten ausführlich erörtert (WBGU, 2006). Auch der Eintrag von Chemikalien und Müll hängt nur zu einem geringen Teil direkt mit der Nutzung der Meere zusammen. Eines der größten Probleme, der dramatische und nahezu weltweite Verlust an Fischbeständen, ist jedoch derzeit fast ausschließlich auf Übernutzung zurückzuführen. Wider besseres ­Wissen wird vielerorts immer noch eine Überfischung vorangetrieben, die sich so über kurz oder lang ihrer eigenen Grundlage beraubt. Wie für den Klimaschutz gilt auch hier: Viele Lösungen sind bekannt, politische und ökonomische Instrumente liegen auf dem Tisch, aber es mangelt an der Umsetzung. Die Frage, wie wir die Meere im Anthropozän tatsächlich nutzen und möglicherweise gestalten wollen, ist noch nicht konsistent beantwortet. Was also fehlt, ist eine konsensfähige, umsetzbare positive Vision eines nachhaltigen Umgangs mit den Meeren – sowohl bei der Nutzung der Meere selbst als auch in anderen Bereichen, die Auswirkungen auf die Meere haben. Die zentrale Frage dieses Gutachtens lautet damit: Wie sieht ein nachhaltiger Umgang mit den Meeren im Kontext der Großen Transformation zur Nachhaltigkeit aus? Seerechtliche Regelungen bestehen seit Jahrhunderten. Mit der Handelsschifffahrt der großen See-

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