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Passion Christian Mihr über Pressefreiheit

Miriam Rupp über Geschichten für die B2B-Zielgruppe

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube über die Zukunft der Presse als vierte Gewalt

Albrecht Müller über Meinungsmache


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Einstieg

Dirk Lellinger

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Einstieg

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„Ohne Grundsätze ist der Mensch wie ein Schiff ohne Steuer und Kompass, das von jedem Winde hin und her getrieben wird.“ S CHOTTISCHER S CHRIFTSTELLER UND R EFORMER


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Editorial

IMPRESSUM Passion – Das Kundenmagazin von BerlinDruck erscheint dreimal jährlich im Eigenverlag | Herausgeber BerlinDruck GmbH + Co KG | Oskar-Schulze-Straße 12 | 28832 Achim | Telefon: +49 (0) 421 43871- 0 | Telefax: +49 (0) 421 43871-33 | E-Mail: info@berlindruck.de | www.berlindruck.de | Auflage 2.300 | Redaktion Presseinfos, Anregungen, Reaktionen bitte an: Passion c / o quintessense | Fritschestraße 27/28 | 10585 Berlin | Telefon: +49 (0) 30 80954609 | E-Mail: agentur@quintessense.de | Verantwortlich für den Inhalt V. i. S. d. P.: Frank Rüter | CD und Chefredakteur Eckard Christiani | Redaktionsbeirat Reinhard Berlin | Björn Gerlach | Autoren und Interviewpartner dieser Ausgabe Andreas Barthelmess | Thomas Böhm | Andreas Herzau | Jürgen Kaube | Christian Mihr | Norbert Möller | Albrecht Müller | Carsten Pfeiffer | Miriam Rupp | Kyra und Christian Sänger | Marcus Ulbricht | Fotografie Neil Armstrong (9) | Rita Braz (34) | Josef Heinrich Darchinger (32, 33) | Richard Drew (8) | Alfred Eisenstaedt (9) | Andreas Herzau (24-29) | Michael Jungblut, fotoetage (Titel, 2 – 8, 10 , 14– 18, 20 – 23, 30, 31, 33, 41, 44 – 47) | Dorothea Lange (9) | Annie Leibovitz (8) | Reporter ohne Grenzen (12, 13) | Kyra und Christian Sänger (40-43) | Illustration Das Kulturelle Gedächtnis (18) | Julia Ochsenhirt (36-39) | Schrift Carnas von Hoftype, Dieter Hofrichter | ITC Charter, Matthew Carter | Papier FocusArt Natural von Papyrus | Layout und Editorial Design quintessense | Fritschestraße 27/28 | 10585 Berlin | Telefon: +49 (0) 30 80954609 | E-Mail: agentur@quintessense.de

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Inhalt

Inhalt Ohne Grundsätze ist der Mensch wie ein Schiff ohne Steuer und Kompass, das von jedem Winde hin und her getrieben wird. Impressum Inhalt Menschen bei BerlinDruck Dirk Lellinger segelt Alles Möller oder was? – Designkolumne Menschenrechtsaktivist und Journalist Christian Mihr:

Reporter ohne Grenzen nutzen Minecraft als Kanal

Über den Verlag Das Kulturelle Gedächtnis Was sollen wir (noch) glauben?

Gespräch mit dem FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube

Der Fotojournalist Andreas Herzau Albrecht Müller über Meinungsmache Beitrag von Miriam Rupp Andreas Barthelmess über die veränderte Medienwelt Ein Zwiegespräch zwischen Kyra und Christian Sänger Leseempfehlungen

Der neue Tischkalender von BerlinDruck Essay von Regisseur und Schauspieler Marcus Ulbricht

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Menschen bei BerlinDruck

„KEIN WIND IST DEMJENIGEN GÜNSTIG, DER NICHT WEISS, WOHIN ER SEGELN WILL.“ Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage

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Menschen bei BerlinDruck

Wenn man segelt, bewegt man sich in und mit der Natur – mit dem Wind.

Dirk Lellinger 48 Jahre Der gebürtige Berliner Dirk Lellinger lebt mit seiner Familie in Osterholz-Scharmbeck im eigenen Häuschen mit Garten. Seit November 2014 ist er bei BerlinDruck beschäftigt.

Vor fünf Jahren entstand die Idee: „Drei Männer und ein Boot“. So kauften sich Dirk Lellinger und seine Freunde einen sieben Meter langen Einmaster – 16 Jahre alt. Seitdem sind sie in unregelmäßigen Abständen auf der Weser unterwegs. „Wir sind schon einmal bis zum ersten großen Leuchtturm rausgefahren. Helgoland ist das nächste große Ziel.“ Da sei in diesem Jahr aber leider Corona dazwischengekommen. „Ich wollte immer aufs Wasser. Und vor die Frage gestellt, ob es ein Motorboot oder ein Segelboot sein soll, hätte ich mich immer fürs Segeln entschieden. Wenn man segelt, bewegt man sich in und mit der Natur, mit dem Wind. Natürlich gibt es mal Flauten, aber man bewegt sich immer“, sagt Dirk Lellinger. „Übrigens: Wenn überhaupt ein Motorboot, dann nur ein ‚Carlson CV23HT‘ von Glastron, weil James Bond ein solches Boot fährt“, lacht Lellinger. „Ich bin großer James-Bond-Fan!“ Neben der Abenteuerlust zählte auch die Idee, sich zu dritt die Arbeit im Sportboothafen in Nordenham und die Pflege des Schiffes „Baju“ aufzuteilen. „Wenn man ein Boot im Hafen liegen hat, muss man mal Nachtschicht schieben und aufpassen, dass nichts passiert.“ So entsteht der Teamgedanke von ganz allein. Im Gegensatz zu anderen Sportarten könne man nicht einfach aufhören, sondern müsse Verantwortung über-

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nehmen. „Aussteigen oder sitzen bleiben ist keine Option. Man muss auch ein bisschen auf Sicherheit achten und aufpassen, dass alle an Bord bleiben“, schmunzelt Lellinger. „Das Schönste ist aber, dass man komplett raus ist, Ich bin immer froh, weg von allem. Ich bin dann mal weg! wenn wir rechtzeiMan muss nicht tig ins Boot geholt reden, wenn man werden. nicht will und man hat auch keinen Handyempfang und keine Möglichkeit für WhatsApp. Man kann einfach nur mal sein: gleiten und genießen.“ Bei BerlinDruck hingegen geht es immer turbulent zu, es wird nie langweilig. „Wenn man morgens kommt,

weiß man nie, was einem der Tag bringt. Sind alle an Bord oder gibt es Krankheitsfälle, laufen alle Maschinen oder ist etwas defekt? Diese Herausforderungen muss man mögen, das ist kein Job beim Finanzamt“, lacht Lellinger. Besonders mag er Aufträge, die über das „normale Standard-4c“ hinausgehen. „Bei Veredelungsfragen und was das erweiterte Drucken angeht, bin ich immer ganz froh, wenn wir rechtzeitig ins Boot geholt werden. Dann wird’s gut.“

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Designkolumne

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ALLES MÖLLER ODER WAS?

DIE DESIGNKOLUMNE VON NORBERT MÖLLER


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Insidergespräch

Die Öffentlichkeit ist unser Druckmittel

Fotografie: Michael Jungblut | fotoetage

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Insidergespräch

Herr Mihr, Haltung zu zeigen und seine Meinung zu sagen, wird zunehmend schwieriger. Wir leben in Zeiten von Besorgnisdemonstrationen und Cancel Culture. Journalist*innen haben auch in Deutschland vermehrt mit tätlichen Übergriffen zu tun. Beunruhigt Sie die aktuelle Entwicklung? Wenn wir in Deutschland jammern, dann jammern wir auf hohem Niveau. Man neigt ja oft dazu, zu denken – wenn man vor seine eigene Haustür schaut –, alles sei schlimm. Damit möchte ich das, was vor unserer Haustür passiert, nicht relativieren, aber es hilft immer, einen globalen Blick einzunehmen. Reporter ohne Grenzen ist eine weltweit tätige Organisation. Wir sehen in unserer Rangliste der Pressefreiheit, die wir jedes Jahr unter anderem anhand von Befragungen von Hunderten Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Jurist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen weltweit sowie unserem eigenen Korrespondentennetzwerk erstellen, eine weltweite Verschlechterung der Pressefreiheit – gerade auch in Demokratien wie den USA oder den anderen Seite haben wir die soziaEU-Ländern Ungarn und Polen. Das len Medien, in denen der Hass auf ist etwas, das wir mit Sorge betrachJournalist*innen geäußert wird. Den ten. gab es übrigens immer schon, er wird Aber wenn wir mal konkret nach nur durch die Echokammern sichtbar Deutschland schauen, dann ist diese und kann sich Bahn brechen. Das ist Entwicklung seit 2013 mit dem einerseits beruhigend, andererseits Entstehen der AfD und seit 2015 beunruhigend. mit dem Aufkommen von Pegida zu beobachten. Wir stellen eine ZuGibt es dazu wisnahme von offener, senschaftliche auch physischer Ge- Eine gewisse gesunde Erkenntnisse? walt gegen Journa- Portion Misstrauen in Ja, es list*innen in Deutschgibt sowohl in land fest. Auf Kundge- Medien ist auch Indiz für bungen von Pegida eine gesunde Demokratie. Deutschland, aber auch weltund der AfD sowie weit Studien zum Medienvertrauen neonazistischen Kundgebungen, – über einen Zeitraum von 30 Jahren. alle zunächst mit Schwerpunkten in Wenn man da einmal reinschaut, Sachsen und Nordrhein-Westfalen, erkennt man zwei Dinge. In Demohat sich die Situation verschärft. kratien, also auch in Deutschland, gab und gibt es immer einen Sockel Warum ist das so? von 20–30 % der Menschen, die Zum einen sehen wir eine Misstrauen gegenüber den Medien gesellschaftliche Entwicklung mit empfinden. Da verändert sich wenig. Polarisierungen und VerschärfunGleichlaufend erkennt man zweitens, gen. Journalist*innen, die darüber berichten, die eigentlich nur abbilden dass in Diktaturen dieser Sockel oder spiegeln, was in der Gesellschaft interessanterweise deutlich niedriger ist. Wir erkennen ein viel höheres passiert, werden zu Opfern. Auf der

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Vertrauen in und größere Erwartungen an die Medien. – Was heißt das? Eine gewisse gesunde Portion Misstrauen in Medien ist auch Indiz für eine gesunde Demokratie. In einer gefestigten Demokratie haben wir eine größere Medienvielfalt und damit mehr unterschiedliche Meinungen. Das führt naturgemäß zu mehr Zweifeln an dem, was Journalist*innen schreiben. In Diktaturen dagegen gibt es keine Meinungsvielfalt, gleichzeitig aber viel größere Erwartungen an die Medien. Skepsis gegenüber Medien ist das eine, vermehrt tätliche Übergriffe gegenüber Journalist*innen das andere. Diese Entwicklung, finde ich, ist besorgniserregend. Auf jeden Fall! Es ist ein klares Wachstum in den vergangenen Jahren festzustellen, das sollte man nicht kleinreden.


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Insidergespräch

Und der Führer der freien Welt, Donald Trump, öffnet der Gewalt Tür und Tor, redet von der Presse als „enemy of the people“ und von „fake news“, wenn ihm die Berichterstattung nicht passt … Wenn Worte zu Taten werden. – Wenn wir das global betrachten, erkennen wir auch in den USA, ein ehemaliLeuchtturm der Wenn Selbstzweifel dazu ger Freiheit, in vielen führen, dass man an der Regionen eine einen oder anderen Stelle deutliche Zunahme Gewalt gegen sorgfältiger arbeitet, dann der Journalist*innen. ist das etwas Produktives. Das ist in diesem Jahr erst vielen durch die Berichterstattung rund um den Tod von George Floyd deutlich sichtbar geworden. Auch der psychische Druck auf die Journalist*innen muss enorm sein, wenn von Lügenpresse die Rede ist. Journalismus war neben Politik schon immer ein unbeliebtes Berufsfeld. Was Journalist*innen einstmals für die Tageszeitung geschrieben haben, wurde in Leserbriefen kritisiert. Die Briefe brauchten einige Tage. – Was heute anders ist, ist die Unmittelbarkeit der Kritik durch die Social-Media-Kanäle. Ich beobachte weniger einen psychischen Druck, eher einen gewachsenen Selbstzweifel. Das muss nicht falsch sein. Wenn Selbstzweifel dazu führen, dass man an der einen oder anderen Stelle sorgfältiger arbeitet, dann ist das etwas Produktives. Wenn es allerdings dazu führt, dass man an der grundsätzlich wichtigen gesellschaftlichen Funktion seines Tuns zweifelt, dann ist das ein Problem.

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Könnte eine Reaktion sein, dass ich mich in meiner Verunsicherung als Journalist*in selbst beschränke? Ich bin immer skeptisch, wenn es heißt, es würden bestimmte Themen nicht mehr vorkommen. Dazu haben wir eine viel zu große Medienvielfalt. Dass Verunsicherung dazu führt, dass die oder der eine oder andere freie Journalist*in Themen nicht mehr anpackt und bringt, weil sie meinen, über ihre Existenz nachdenken zu müssen, bleibt die Ausnahme. Außerdem muss man noch einmal klarstellen, dass wir keine Gleichschaltung in den Medien haben, dass zum Beispiel nicht über den Fall Julian

Assange berichtet würde. Ich war letzte Woche in London und fahre nächste Woche zum Auslieferungsverfahren wieder dorthin. Es kommt selten vor, dass ich an einem Tag mit ARD, ZDF, RTL, SAT1 und allen möglichen anderen spreche. Nur ist das für mich keine Gleichschaltung, mal ganz davon abgesehen, dass der Begriff historisch vorbelastet ist. Welche Möglichkeiten haben Sie als Reporter ohne Grenzen, Einfluss zu nehmen? Die Öffentlichkeit ist unser Druckmittel. Da habe ich auch ein griffiges Beispiel: Letztes Jahr war ich mit ein paar Kolleg*innen in SaudiArabien, in der Rangliste auf Platz 170 von 180. Wir haben lange diskutiert, ob das sinnvoll ist, in eine absolutistische brutale Monarchie zu reisen, und was wir erwarten können. Ein Land, das den Exil-Journalisten Jamal Khashoggi im Ausland ermorden ließ und weitere 32 inhaftierte. Das Menschen kreuzigt und auspeitscht … Wir haben uns dafür entschieden und trafen uns mit dem Außenminister, dem Justizminister, dem Religionsminister, mit dem Generalstaatsanwalt, der die Ermittlungen im Fall Khashoggi geführt hat. In fast allen Gesprächen – und damit komme ich auf den öffentlichen Druck zu sprechen – war die naiv scheinende Frage, was denn Saudi-Arabien tun könne, um sich in der Rangliste der Pressefreiheit zu verbessern. Das ist das, was wir machen können: Wir können öffentlichen Druck aufbauen. Der südkoreanische Präsident Moon Jae-in hat 2017 zum Amtsantritt gesagt, er möchte, dass sich sein Land in der Rangliste der Pressefreiheit verbessert. (ANM. D. RED.: 42. RANG HEUTE, 63. RANG 2017) Und wie sieht es aus, wenn es um Pressefreiheit in Deutschland geht? Es gibt auch Dinge, die wir hier kritisieren, zum Beispiel die Medienkonzentration. Die Bundesregierung redet natürlich mit uns als Organisation lieber über Probleme der Pressefreiheit in anderen Ländern und nicht über Probleme der Pressefreiheit in Deutschland. Herr Mihr, vielen Dank für dieses Gespräch.

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Pressefreiheit

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Das Kulturelle Gedächtnis

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Das Kulturelle Gedächtnis

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Es gibt Bücher aus der Vergangenheit, die für die Gegenwart wichtig sind

Herr Böhm, Herr Pfeiffer, wie kam es zum Verlag Das Kulturelle Gedächtnis? Welche Idee steckt dahinter? Böhm: Es hat sich in den letzten Jahren im Verlagswesen eine Tendenz entwickelt, dass Bücher im Grunde nur dann gemacht werden, wenn im Vorhinein klar ist, dass sie eine bestimmte Mindestauflage erreichen. Solche Bücher, die so ein bisschen abseitige oder schwierige Themen behandeln, haben es schwerer, weil die Verkaufserwartung von Anfang an nicht da ist. Von den fünf Gründern unseres Verlags waren drei dabei, die in den letzten Jahren immer mal mit einem Projekt, das ihnen besonders am Herzen lag, gescheitert waren, weil die Verlage gesagt haben: „Das interessiert heute nicht mehr genug Menschen“. Ein Beispiel: Die Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ würde – so die Verlage – niemanden interessieren. Es kann aber nicht sein, dass das Erscheinen von Büchern einem Wirtschaftsdiktat unterliegt. Das war der Impuls, Bücher zu machen, die wir für den gesellschaftlichen Diskurs für notwendig erachten. Wir nehmen den wirtschaftlichen Druck raus, indem wir sagen: Wir lassen uns von unserer Leidenschaft fürs Bücher-

machen leiten. Wir machen das zusammen, haben keine Hierarchie und sind immer offen für neue Menschen, die an unserer Teilhabe-Idee Gefallen finden. Und keiner von uns nimmt irgendwelche Mittel aus dem Verlag heraus. Es bleibt alles drin, um die Kontinuität zu gewährleisten. Klar, auch wir müssen unsere Titel verkaufen, sonst können wir den Laden dichtmachen. Aber unsere Mindestauflage ist eben eine viel geringere. Pfeiffer: Die fünf Gesellschafter sind alle aus der Branche und bringen sozusagen 135 Jahre Branchenerfahrung und Know-how mit (lacht), durchaus mit verschiedenen Schwerpunkten. Wir haben alle einen Brotberuf, von dem wir leben. Wir sind nicht darauf angewiesen, vom

ISBN 978-3946990284


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Verlag DKG zu leben. Das macht es ein bisschen entspannter. Trotzdem sind wir ein Wirtschaftsunternehmen und müssen Gewinne machen. Das läuft bei manchen Titeln wie „Die Wunderkammer der Deutschen Sprache“ ganz hervorragend. Bei manchen Titeln wie der Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ war von vornherein eingeplant, dass das nur 1.000 bis 1.500 Menschen interessiert. Wie entscheiden Sie, welche Werke neu aufgelegt werden? Böhm: Wir treffen uns jedes Jahr am Elsensee vor den Toren von Berlin und verbringen dort einen ganzen Tag zusammen. Jeder sammelt über Monate, übers Jahr Titel, die er dann den anderen vorstellt, und dann treffen wir die Entscheidung wie immer gemeinsam. Haben Sie eine politische Botschaft? Böhm: Eine? Viele! Die Verlagsidee ist politisch, nämlich zu sagen, es gibt Bücher aus der Vergangenheit, die für die Gegenwart wichtig sind. Das kann man natürlich 16 | 17

in einer humanistischen Dimension sehen. Es ist eine Wertschätzung der Menschen, die vor uns gelebt haben, die vor uns Größtes geleistet haben. Wir wären heute nicht da, wo wir stehen, auf den Schultern von Riesen – in einer Gesellschaft, die in gewisser Weise an manchen Stellen ihr Gedächtnis verliert. Wir haben von Anfang an eine weitere politische Botschaft, die da lautet: We don’t deal with Amazon. Wenn es einen Traum gäbe, den ich verwirklicht sehen will, dann ist es der, Amazon möge verschwinden und der Buchhandel wäre dadurch nicht mehr bedroht. Und natürlich hat jedes einzelne Buch eine Art von politischer Botschaft. Indem wir die Bücher bringen, stellen wir sie ins Licht. Das ist mal subtiler, mal weniger subtil. In dem Moment, als die AfD sich des Namens von Erasmus von Rotterdam bemächtigen wollte – als Namenspa-

tron der AfD-nahen Stiftung – haben wir nur aus diesem Anlass das Buch „Der sprichwörtliche Weltbürger“ mit einer Auswahl von Schriften veröffentlicht, in denen Erasmus Und natürlich hat jedes sein Verständnis einzelne Buch eine Art im Umgang mit von politischer Botschaft. Fremden, von Gastfreundschaft zum Ausdruck gebracht hat. Pfeiffer: Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Eine Partei wie die AfD erdreistet sich, diesen Namen zu kapern. Den Namen eines europäisch gebildeten Humanisten, eines weltbürgerlichen Intellektuellen, eines Pazifisten. Den Namen eines Mannes, nach dem studentische Förderprogramme der Das Magazin von BerlinDruck


Das Kulturelle Gedächtnis

Europäischen Union benannt sind. Da haben wir gesagt, wir lassen Erasmus von Rotterdam selbst zu Wort kommen. Ein anderes Beispiel ist das Buch „Reise in ein neues Leben“ aus dem ersten Programm unseres Verlags. Worum geht es? Ein Mensch hat zu Hause wirtschaftliche und auch familiäre Probleme – er hat sich in eine Frau verguckt, in die er sich nicht hätte vergucken sollen. Er hat dort keine Zukunft mehr, verkauft Haus und Hof, um sein Glück woanders zu suchen. Er muss viele Landesgrenzen überwinden – 36 an der Zahl. Die Hälfte des Geldes geht für Schlepperbanden drauf, die ihn über die Grenzen bringen. Er kommt in eine Hafenstadt, in der er lange auf eine Schiffspassage warten muss. Auf der Überfahrt sterben viele Menschen. Im neuen Land angekommen, stellt er fest, dass er dort gar nicht willkommen ist. Das ist jetzt keine Geschichte eines syrischen Opfers auf dem Weg nach Europa, sondern die eines Schwaben 1750 auf dem Weg nach Pennsylvania. Mitte des 18. Jahrhunderts bis

Mitte des 20. Jahrhunderts sind 5,9 Millionen Deutsche – das waren zu einem kleinen Teil politisch Verfolgte, aber zu einem sehr großen Teil Wirtschaftsflüchtlinge – nach Amerika ausgewandert. Pennsylvania war zu der Zeit, als unser Schwabe dort eintraf, eine Privatkolonie der Familie William Penn. Die Familie hatte fürchKein anderer Verlag würde terliche Angst sich so einen Wahnsinn vor Überfremleisten. Dreihundert Seiten – dung. „Da kommen ja und jede für sich ein Unikat. immer mehr Deutsche.” „Das sind ja eigentlich gar keine richtigen Weißen.” „Die gründen jetzt hier sogar schon Zeitungen!” „Wir werden hier kulturell von denen dominiert.” usw. Benjamin Franklin schrieb damals böse Zeitungsartikel – heute würde man sie rassistisch nennen –, man solle die Deutschen irgendwo konzentriert kasernieren und wieder zurückschicken. Damit ist Gottlieb Mittelbergers Buch brandaktuell. Flüchtlingsströme gab ISBN 978-3946990314 es schon immer … Kommen wir auf Ihre Wunderkammer der Deutschen Sprache zu sprechen. Es gehört laut der Stiftung Buchkunst zu den fünf schönsten Büchern, die 2020 erschienen sind. Das ist doch eine schöne Bestätigung Ihrer Arbeit, oder? Böhm: Das ist vor allen Dingen eine Bestätigung für unsere Zusammenarbeit mit den Grafikern von 2xGoldstein. Wir haben unseren Gestaltern gesagt, dass wir unsere Bücher als Hommage an die Buchkunst verstehen. Wir haben ihnen völlig freie Hand gegeben und waren unglaublich gespannt. Als sie uns das Ergebnis zum ersten Mal präsentiert haben, ist uns allen das Herz aufgegangen, weil wir wussten: Jetzt ha-

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ben wir einen Verlag. Vorher hatten wir eine Idee, jetzt haben wir einen Verlag. Wenn die Bücher so aussehen, erkennt man sie immer sofort wieder. Wir haben unser Verlagslogo, wir machen eine Prägung, wir haben immer anders farbigen Kopfschnitt. Wir wollten keine 08/15-Gestaltung – jedes Design wird nach Inhalt neu entwickelt. Bei der Wunderkammer war es so, dass Carsten und ich die Inhalte zusammengesucht und sie zu 2xGoldstein geschickt haben. Die Grafiker haben tatsächlich jede Seite neu gestaltet. Kein anderer Verlag würde sich so einen Wahnsinn leisten. Dreihundert Seiten – und jede für sich ein Unikat. Natürlich ist das eine Bestätigung, aber es drückt auch den Glücksstrom in der Zusammenarbeit aus. Auch, dass wir aus dem Möglichen schöpfen können und nicht den wirtschaftlichen Druck dahinter spüren. Ihr Buch will Fingerzeig sein in die Welt der Grammatik, der Linguistik, des Sprachgebrauchs, der Dichtung, der Weltanschauung, die in jedem Wort zum Ausdruck kommt. Wir sehen heutzutage eine Verrohung der Sprache, leider auch durch die sozialen Medien befeuert. Meinungsäußerungen bedienen sich einer simplen Sprache mit fehlerhafter Grammatik. Sehen Sie sich als Rufer in der Wüste mit Ihrem Werk? Böhm: Nein, dafür ist das Buch zu spielerisch. Da geht es wirklich um den Reichtum der Sprache. Wir haben die Schatzkammer eher an den Rand der Wüste gestellt und rufen den Leuten zu: „Kommt mal hier gucken, was es alles gibt!” Das, was wir lesen, ist spielerisch, witzig, zum Teil auch albern …


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Produktionswissen Das Kulturelle Gedächtnis

Pfeiffer: Aber auch erhellend. Es gibt in Deutschland sogenannte Sprachwächter zur Reinhaltung der deutschen Sprache. Die Franzosen sind mit ihrer Sprache noch kritischer. Es ist ja zum Teil ganz interessant – und das war für uns auch eine Entdeckungsreise –, was man dazulernt. Wir wissen, dass bestimmte Begriffe der deutschen Sprache Eingang in andere Sprachen gefunden haben: le waldsterben, the kindergarten und so weiter. Aber wie viele deutsche Worte ins Finnische, ins Albanische, ins Türkische Eingang gefunden haben, das ist einfach spannend zu wissen. Es gibt also nicht nur Worte, die wir benutzen, die aus dem Arabischen, Indischen oder aus den romanischen Sprachen kommen, sondern auch umgekehrt. Böhm: Was für mich ein ganz starker Impuls war, ist die Diskussion um die deutsche Leitkultur. Was ist eigentlich das Deutsche? Wer ist deutsch?

Eine der Definitionen ist, dass Deutsche sind, die Deutsch lernen, die die deutsche Sprache sprechen. Das ist aber nicht das, was im Duden steht. Deutsch ist eine Wunderkammer, und sie verändert sich ständig. Deutsch ist ein lebendiger Organismus. Wir haben zum Beispiel die Definition des Goethe-Instituts im Buch. Die allerhöchste Sprachkenntnis wird definiert durch das Bewusstsein aller Nuancen einer Sprache. Bleibt die Frage: Bin ich mir aller Nuancen der deutschen Sprache bewusst? Eigentlich sollte dieses Buch für jede*n Schüler*in Pflicht sein. Haben Sie schon zu den Kultusminister*innen Kontakt aufgenommen? Böhm: Das ist ein Vertriebsproblem. Ich geb’ das dann mal an Carsten weiter. (lacht) Pfeiffer: Ich habe viele Jahre den Vertrieb für einen Schulbuchverlag gemacht. Mit 16 Ministerien, 72 verschiedenen Schulformen und mehreren Tausend Lehrplänen in Deutschland ist das nicht ganz einfach. Aber wir haben viel positives Feedback bekommen. Es ist natürlich ein Buch für die Deutschlehrer*innen, um ihren Unterricht aufzulockern oder die ersten fünf Minuten des Unterrichts zu gestalten. Was könnte ein Meuchelpuffer sein? Was ein Gesichtserker? Was ein Krautbeschreiber? Mit solchen Worten kann man wunderbar im Unterricht spielen. Böhm: Ich als Vater von zwei Töchtern, 11 und 14 Jahre alt, habe auch ein pädagogisches Motiv. Ich möchte, dass meine Töchter irgendwann unsere Bücher in den Händen halten und sagen: „Man, sind die schön! Die hat mein Vater gemacht.”

Moment meinen, dass wir nur noch in die Welt eines flachen Bildschirms gehen müssten. Wir haben VR-Brillen, mit denen wir Schein-Haptiken haben. So toll diese Technik ist – ich möchte sie nicht missen –, sie kann die Realität nicht eins zu eins ersetzen. Da bleibt immer ein Rest. Darauf müssen wir aufpassen.

Oder ist das die Angst, in der ich bin? Oder wie es Rilke einmal ausgedrückt hat: ‚Die tiefe Angst der übergroßen Städte, in die du mich gestellt hast bis ans Kinn?‘ Wunderbar! Besser kann man es nicht ausdrücken! Diese Welt, die oft so laut und dicht ist, führt dazu, dass wir flüchten in diese idealisierte geschönte Welt von irrealen Bildern und Szenen oder in Kommunikation. Ich frage mich manchmal in der UBahn: „Wo sind die alle? Sind die in Ihrem Chat bei Freunden und körperlich werden sie nur von A nach B transportiert. Oder sind sie in ihrer Situation?“ Das ist auch eine Wechselwirkung: Wenn es draußen schön ist, lege ich mein Handy zur Seite. Toll. Wenn es aber bedrückend ist, verziehen sich die Menschen in dieses Fluchtfenster.

Wie lautet Ihr Rezept für den richtigen Umgang mit den Möglichkeiten von KI?

Herr Böhm, Herr Pfeiffer, vielen Dank für dieses Gespräch.

ISBN 978-3946990390

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Flugblätter

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ISBN 978-3946990413


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Künstliche Intelligenz Medien

WENN NICHT MEHR GEFRÜHSTÜCKT WIRD, IST DAS SCHLECHT FÜR DIE ZEITUNG Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage

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Medien

ISBN 978-3871348051

uns generell eine GeschlechtersortieHerr Kaube, der freie Journalismus kämpft gerade an drei Fronten. Die rung: Die Herren lesen den PolitikAbkehr der jüngeren Generation teil, Wirtschaft, Sport vielleicht noch vom Qualitätsjournalismus, Angriffe Technik und Motor. Frauen lesen auf die Pressefreiheit weltweit und eher Feuilleton, Reise und so weiter. das Sterben des Geschäftsmodells, Aber Wissenschaft lesen sie alle! sich über Werbeeinnahmen zu Dafür ist jetzt die Coronakrise, wenn finanzieren. Woraus ziehen Sie als man so will, ein dankbares PhänoHerausgeber einer der wichtigsten men, weil es da ja um Wissenschaft deutschen Tageszeitungen Ihre geht, um ihre Unwägbarkeiten und Motivation und auch Genugtuung? Unsicherheiten. Na ja, aus dem Kampf selDie dritte Herausforderung ist das ber. Alle drei Herausforderungen sind Geschäftsmodell. Wir sind mit der interessante Aufgaben, die vielleicht Entwicklung unserer digitalen Proein bisschen miteinander zu tun hadukte ganz zufrieden. Man muss weiben, aber nicht strikt gekoppelt sind. ter in den Werbemärkten kämpfen, Wenn wir einmal das ist ganz klar. mit der jungen Ge- 40 Seiten über Reisen durch Und mehr auf Abonnements neration anfangen, Indonesien, Besprechung die eine Tageszeigehen und sich überlegen, was tung angeblich der Tosca, Wirtschaftsdie richtigen nicht mehr liest: berichterstattung, Sport Preisstrukturen 16-Jährige waren und Technik – das müsste sind. noch nie zentrale Es ist manchmal Abonnent*innen eigentlich mithalten der FAZ. Für junge können mit einem Espresso. schon kurios. Ich hatte oft Leser*innen ist es schon diese Gespräche: ‚„Die FAZ wichtig, dass man auch die Redakkostet 2,50 € pro Exemplar. Jeden Tag tionen jung hält, damit man nicht muss ich das bezahlen.“ Da sage ich: übersieht, wofür sich junge Leute „Wie oft gehst du denn zu Starbucks? interessieren. Man sieht aber an der Was kriegst du bei Starbucks für Konkurrenz, dass das nicht einfach 2,50 €?“ Nichts gegen die Preissetist. „Bento“ (DAS JUNGE MAGAZIN VOM zung im Kaffeebereich. 2,49 Euro „SPIEGEL“, ANM. DER RED.) beispielsweikostet ein Espresso bei Starbucks, se wird runtergefahren. Es ist nicht das gibt man relativ schnell aus. Man einfach, durch Jugendlichkeit junge Leute anzuziehen. Das ist vielleicht kann Produkte nicht gegeneinander auch ein Fehlschluss. ausspielen. Aber man kann schon die Frage stellen: 40 Seiten über Reisen Dann wären wir beim zweiten Thema: Pressefreiheit und Fake News. durch Indonesien, Besprechung der Da bin ich eigentlich ganz gelassen. Tosca, Wirtschaftsberichterstattung, Man sollte sich da nicht verrückt maSport und Technik – das müsste chen lassen. Wir versuchen das mehr eigentlich mithalten können mit einem Espresso. mit Durchdenken der Dinge. Klar, Die Zeitung wird sich stärker auf die man verliert den einen oder anderen, der einem wütende Leserbriefe Endgeräte, die ursprünglich mal Teleschreibt, man sei Vasall der Regiefone waren und heute Fotokameras sind, einstellen müssen. Das ist dann rung Merkel … Gut, wer so denkt, ist eh falsch bei uns. Unsere Zeitung ist so eine Mischung aus technischen meinungsplural: Das, was der Politik- und aus journalistischen Antworten. teil sagt, was das Feuilleton sagt, was Wir haben zum Beispiel eine kostender Wirtschaftsteil sagt, wird nicht freie App, die „F. A.Z. Der Tag“ heißt. aufeinander abgestimmt. Ich erfahre, Eine Begleitung durch den Tag mit Kommentierungen der Neuigkeiten. was die politischen Redakteur*innen schreiben, auch erst aus der Zeitung. Die ist beliebt und sehr erfolgreich. Wir haben wie andere Zeitungen Wir machen zum Beispiel bei Befragungen die Erfahrung, dass es ein ganz starkes Interesse an Wissenschaftsberichterstattung gibt – und zwar interessanterweise über die Geschlechter hinweg. Wir haben bei

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auch abgeschlossene Bereiche mit einzelnen Artikeln, die zu sehr günstigen Abos führen. Die Nutzerzahlen sind gerade in der Coronazeit geradezu explodiert. Da bleibt die Frage, bleiben die Leser*innen auch danach noch bei uns? In den USA regiert noch ein Präsident, der die traditionellen Medien als Fake News Media beschimpft und sie zu Feinden des amerikanischen Volkes erklärt. Der Präsident eines Landes, das die Freiheit der Presse in seine Verfassung aufgenommen hat. Ist das Teil einer Entwicklung, die man auch hierzulande beobachten kann? Faktisch ist es in den Vereinigten Staaten so, dass Trump eine Fake-News-Zone ausgemacht hat und die Abonnementzahlen der New York Times gehen durch die Decke. Man könnte sagen: „Fair enough!” Ich sehe die Meinungsfreiheit in den USA nicht gefährdet, wenn der Präsident Unfug redet. Das ist an sich ein Problem, aber mehr für die Politik, nicht für die Medien. Kritischer wäre es, wenn er anfinge, die Zeitungen zu


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Medien

gängeln, unter ökonomischen oder politischen Druck zu setzen. Dass politische Parteien auch hierzulande sehr scharf auf dem Meinungsmarkt auftreten, ist doch noch recht übersichtlich. Sie raten zur Gelassenheit? Ja, man muss nur den Unfug benennen und ab und zu dagegenhalten. Das ist ja nicht abendfüllend, was da kommt. Besonders auch intellektuell. Das ist eher so ein bisschen sparsam, finde ich. Wenn zum Beispiel jemand nach dem Brand der Notre-Dame innerhalb von einer halben Stunde schreibt, es seien die Muslime gewesen, dann muss man schon mal fragen, wie er darauf kommt. „Spüre ich bei Ihnen den Wunsch, die Muslime seien es gewesen? Irre ich mich da ganz, wenn ich es da raushöre?” Das wären dann die Antworten auf so etwas. Aber ist das nicht eine bedrohliche Konstellation für unser Wertesystem? Es war nie leichter, sich zu informieren. Gleichzeitig wird die freie Presse als orientierende Institution angegriffen. Es gibt unendlich viele, manipulative „Wahrheiten“, die in den digitalen Echokammern umherwabern. Was haben wir als Gesellschaft versäumt? Natürlich kann man in den Schulen Kurse für kritisches Lesen einrichten. Das ist eine Idee, die oft vorgetragen wird. Im Grunde genommen wird dann unterrichtet, was auch früher schon unterrichtet wurde, dass man eben nicht alles glauben soll, was jemand sagt, und dass Quellen lügen können. Der Man muss nur den Unfug Geschichtsunterbenennen und ab und zu richt ist praktisch dagegenhalten. eine Abfolge solcher Feststellungen, dass Quellen nicht die Wahrheit sagen. Das ganze Mittelalter ist eine einzige komische Erzählung von sich selbst. Ja, man muss reagieren, aber nicht als superneue oder besonders komplizierte Fragestellung und die 22 | 23

Gefahr übertreiben, die davon ausgeht. Man muss da selbstbewusst rangehen und sich immer wieder daran erinnern, dass 85 Prozent der Bevölkerung nicht rechts der CDU wählen und dass eine große Mehrheit nicht den antisemitischen Verschwörungstheorien anhängt. Die Populisten machen einfach viel Lärm. Jeder Mensch, der in der Presse, in den Medien oder im Internet vorkommt, hat natürlich kein gutes Gefühl, wenn er da nicht gut vorkommt. Presserecht durchzusetzen ist im Internet schwieriger. Versuchen Sie mal, eine Falschbehauptung auf Youtube loszuwerden. Gibt es überhaupt Gegendarstellungen auf Youtube? Hab ich jedenfalls noch nicht gefunden, dass da jemand was verliest wie: „Ich hab mich übrigens getäuscht, was ich in meinem letzten Video behauptet habe ….“ Im Fernsehen gab es früher immer so einen Typ, den Sie nie sahen, außer, wenn er Gegendarstellungen verlas. Die wurden dann immer mit einem so ganz bitteren Gesicht vorgelesen, um den Leuten auch klarzumachen, dass man total gezwungen wurde, das zu machen: Wir machen das sehr, sehr ungern. „In der letzten PanoramaSendung haben wir die Behauptung aufgestellt, der Bundestagsabgeordnete X sei verflochten mit der chemischen Industrie. Der Bundestagsabgeordnete X legt Wert auf die Feststellung, dass das nicht der Fall ist.” Und dann kam noch so ein Schildchen, dass das kein redaktioneller Beitrag sei. Das las immer so jemand vor, den ich damals als Kind keiner anderen Sendung zuordnen konnte, weder Nachrichten noch Lottozahlen. Das war vermutlich ein Traumjob, Gegendarstellungen vorzulesen. (lacht) Noch bis in die 1990er-Jahre finanzierten Verlage zu einem wesentlichen Teil ihren Journalismus über die Vermarktung ihrer Werbeflächen. Journalistik-Professor Klaus Meier geht davon aus, dass 2033 die letzte Tageszeitung gedruckt wird. Wie kann ein Haus wie die FAZ zukünftig das Geld für Journalismus verdienen? Damit, womit es auch heute sein Geld verdient. Wir leben ja jetzt schon in einer Welt, in der sich das auf den Kopf gestellt hat. Als ich 1998/1999 bei der FAZ angefangen habe, da lehnten wir Anzeigen ab, Das Magazin von BerlinDruck


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weil die Zeitung sonst samstags nicht mehr in den Briefkasten gepasst hätte. Das hat sich völlig gedreht: Wir verdienen mit den Abos und dem Einzelverkauf unser Geld. Und wo das jetzt stattfindet – im Netz oder gedruckt –, ist eine Generationenfrage. Bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sieht das noch etwas anders aus. Die wird im Bett gelesen, beim Frühstück oder auf der Terrasse. Das sähe schon ganz anders aus, wenn die gesamte Familie mit vier iPads am Frühstückstisch säße. Ich glaube, dass den Zeitungen zum Teil zu Leibe rückt, dass die Menschen nicht mehr frühstücken. Wenn nicht mehr gefrühstückt wird, ist das schlecht für die Zeitung. Das ist vielleicht ein Nebenaspekt, aber manchmal sind solche Dinge ganz ausschlaggebend. Der Professor hat 2033 gesagt? Das sind dann 13 Jahre! Wer sich so etwas zutraut zu prognostizieren, der setzt auch stark auf das Vergessen. (lacht) Aber im Ernst: Das kann schon sein. Wer sagt mir aber, dass in 13 Jahren das Smartphone die Technologie der Wahl ist. Wenn Sie mich fragen, würde ich eher wetten, dass 2033 diese Dinger nicht mehr so aussehen und funktionieren wie heute. Wir als Zeitung verkaufen kein Papier, das muss man auch mal sagen. Papier ist eine praktische Unterlage und bei manchen von uns auch Gegenstand von nostalgischen Gefühlen. Aber das ist nicht der Punkt im Journalismus, dass das Zeug auf Papier abgebildet wird. Lange Rede, kurzer Sinn: Man muss kein Professor sein, um zu sagen, Papier gerät unter Druck. Vielleicht liegt es aber am Ende an den Druckmaschinen. Da müssen die Druckereien genau überlegen, ob sie bei den spürbaren Auftragsrückgängen noch einmal Geld in Zeitungsdruckmaschinen stecken. Wenn der Drucker dem Professor glaubt, könnte es sein, dass es eine Selffulfilling Prophecy ist – ich übertreibe ein bisschen. (lacht) Andererseits haben wir viele Überraschungen erlebt. Ich würde nicht viele Flaschen Rotwein auf eine Behauptung setzen, die sagt, was in 13 Jahren ist. Es ist wie alle Wirklichkeit, sie überrascht uns dauernd. Herr Kaube, vielen Dank für dieses Gespräch.

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Fotografie

EINE FOTOGRAFISCHE UNTERSUCHUNG ÜBER POLITIK UND ÖFFENTLICHKEIT

Andreas Herzau begleitete Angela Merkel zehn Jahre lang, zuletzt bei ihrem Wahlkampf 2017. Jede und jeder (er)kennt sie, die Kanzlerin, selbst wenn nur kleine Bildzitate oder Ausschnitte zu sehen sind: ein Hinterkopf, ein Teil ihrer Silhouette, ein weißer Blazer, umringt von schwarzen Sakkos.

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Andreas, wie wird man Haus-undHof-Fotograf von Angela Merkel? 2008 hatte ich eine erfolgreiche Kampagne für Ole von Beust fotografiert. Ich habe ihn drei Monate fast täglich begleitet: Der Bürgermeister von Hamburg bei der Arbeit – da war nichts gestellt. Daraus wurde eine erfolgreiche Schwarz-WeißKampagne gemacht, die in ganz Hamburg zu sehen war. Das hat sich in der CDU herumgesprochen, und so wurde ich einfach angerufen. Nun ist es so, dass ich mich als kritischen Geist sehe und nicht unbedingt der CDU-Knipser werden wollte. Aber ich konnte meine Vorstellungen der Zusammenarbeit durchsetzen. Ich habe Angela Merkel zehn Jahre lang fotografiert und hatte ein riesiges Konvolut an schönen Bildern. So entstand AM, eine fotografische Untersuchung über Politik und Öffentlichkeit, in persona Angela Merkel. Das Besondere an dem Buch AM ist die japanische Bindung: Die Bilder laufen zum großen Teil über die „Schnittkante“ – die Querformate sind also immer zwei Hochformate. Die meisten Betrachter*innen merken das erst nicht.

Andreas Herzau: AM (2018) Herausgeber ist Nimbus Kunst und Bücher, 108 Seiten, 32,– Euro ISBN 978-3038500537

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Sind für dich dokumentarische Fotografien meinungsbildend? Ich habe festgestellt, dass für mich als Fotokünstler die richtige Übersetzung von Meinung das Wort Haltung oder Perspektive wäre. Mein Ansporn, Frau Merkel zu fotografieren, war – das steht auch im Vorwort des Buches –, dass sie im Sinne von visueller Kommunikation meistens schlecht dargestellt wurde. Für die Leistung, die diese Frau erbringt, für ihr Renommee als erste Frau Bundeskanzlerin, dafür, dass sie seit Jahren von Forbes als einflussreichste Frau der Welt benannt wird, gab es einen fast schon despektierlichen Umgang mit ihr. Da ich durch meine Erfahrung weiß, dass Politik ein extremer Machobetrieb ist, hat mich, je länger ich mich mit ihr beschäftigt habe, diese Figur mehr und mehr interessiert. Sie tut nichts, was nicht wesentlich ist in Bezug auf ihren Job. Sie ist kein Schröder oder irgendein anderer Clown, kein Wichtigtuer oder breitbeiniger Mann. Ich stellte mir einfach die Frage: Wie stellt man eine Frau dar, die sich in diesem männlich geprägten Politikbetrieb etwas sperrig verhält. Das Buch zeigt sehr unterschiedliche Perspektiven,

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unterstützt durch die Dekonstruktion der Fotografien, durch die besondere Bindung. Das Buch setzt sich sehr intensiv mit der Frau auseinander, aber this is not a love song. Ich war selbst überrascht von mir, dass ich über eine CDU-Politikerin ein Buch mache. Stößt man beim Fotografieren einer solch hochrangigen Politikerin auf Hindernisse oder besondere Herausforderungen? Fotografisch ist es eine enorme Herausforderung, weil die Situationen oftmals redundant sind und dazu noch Restriktionen die Arbeit bestimmen. Du darfst nur an bestimmten Orten zu vorgegebener Zeit fotografieren, Frau Merkel am liebsten nur von einer bestimmten Seite und so weiter. Da wird man genau gebrieft. Ob man sich da nun dran hält, ist eine andere Sache, aber erst mal gibt es da hohe Barrieren. Es ist eine Frage des Geschicks und der sozialen Kompetenz.

„Mein Anspruch war, meine Sammlung so verführerisch zu editieren, dass es immer etwas Neues zu entdecken gibt, nämlich mehr als die Person, wie wir sie von schablonenhaften Politikerbildern kennen.“

Man kann kaum inszenieren. Man muss die Situationen nehmen, wie sie kommen. Mein Ansinnen war, dass ich Beobachter bin. Ich arbeite selten mit Einzelbildern. Wenn man das, wie ich arbeite, mit der Aufgabe eines Texters vergleicht, dann mache ich so lange Notizen, bis ich einen dicken Stapel davon habe. Aus diesen Notizen editiere ich dann meine Serien. Die größte Hürde ist, nicht die Bilder zu machen, die wir gelernt haben zu machen, sondern an den Punkt zu kommen, an dem man nicht mehr weiterweiß und anfängt, über neue fotografische Lösungen nachzudenken, mal ein anderes Bild zu machen.

Andreas Herzau, 58, ist ein in Hamburg lebender deutscher Fotograf und Dozent für Fotografie. www. andreasherzau. de www. instagram. com / andreasherzau/

Die Arbeit mit Frau Merkel hast du 2018 beendet. Gibt es eine Kollegin oder einen Kollegen von ihr, die oder den du gern einmal begleiten möchtest? Ja. Putin finde ich auch eine sehr interessante Figur. Er ist die perfekte Inszenierung. Das einmal zu hinterleuchten, das würde mich sehr reizen. Ich habe mich auch gefragt, ob der aktuelle Finanzminister, der jetzt Bundeskanzler werden will, nicht auch ein Thema für mich wäre. Das würde mich grundsätzlich auch reizen. Olaf Scholz ist nicht besonders fotogen, insofern wäre das schon

eine Herausforderung, ihn gut abzulichten. Wer mich als Persönlichkeit auch interessieren würde, wären Madonna oder Paul Kalkbrenner. Im Moment arbeite ich aber gerade an einem ganz anderen Projekt, dem Buch „Oh,wie schön ist Liberia“. Ich war in den 1990er-Jahren während des Bürgerkriegs in Liberia und wollte noch einmal dorthin zurück, etwas ganz anderes dokumentieren: den normalen Alltag, die Schönheit des Landes – ohne die Probleme vor Ort zu beschönigen, aber eben auch nicht mit diesem ewigen „Problemblick“ auf dieses interessante westafrikanische Land. Andreas, ich danke dir für deine Zeit und dieses Gespräch.


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Nachhaltigkeit Meinung Parabel

Man überlebt, indem man sich zusammentut

Fotografie: Michael Jungblut | fotoetage

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Wie funktionieren Meinungsmache, Manipulation, Irreführung? Der streitbare Publizist und Politiker Albrecht Müller hat uns spannende Einblicke in die Materie gewährt. Wenn es um Meinungsmache geht, weiß Müller, wovon er redet. Jahrelang hatte er selbst montags in der Lagebesprechung im Bundeskanzleramt die „Sprachregelung“ der Regierung mitbestimmt. Also mitentschieden, was der Regierungssprecher von Willy Brandt und später von Helmut Schmidt der Öffentlichkeit erzählt – und mit welchen Formulierungen er dies tut. Als Wahlkampfstratege und später als Chef des Planungsamtes hat Müller Begriffe ersonnen, die eine Wertung in sich tragen. „Versöhnungspolitik“ ist so ein Begriff, der im Wahlkampf in den 1960er-Jahren dem späteren Friedensnobelpreisträger Willy Brandt geholfen hat. Unwillkürlich erinnert man sich an Brandt, wie er bei seiner ersten Regierungserklärung 1969 ankündigt, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen. Müller vermittelte uns die vielfältigen Methoden, wie Meinung zu machen ist. Herr Müller, wie haben sich die Medien in den letzten fünfzig Jahren verändert? Die gravierendste Veränderung war 1984 mit der Öffnung für kommerzielle Medien und der Schaffung von wesentlich mehr Fernsehprogrammen durch Kabel- und Keine der großen Satellitenüberpolitischen Entscheidungen tragung. Das hatte ein langes der letzten Jahre und Vorspiel. Wir Jahrzehnte ist ohne massive hatten damals Helmut Schmidt Manipulationen, ohne davon überMeinungsmache gelaufen. zeugt, darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft aussähe, die dreißig Fernsehprogramme zur Auswahl hätte, und wie es sich auswirken würde, wenn die Fernsehdauer ansteigen würde.

Das konnte man schon Ende der 1970er-Jahre vorhersagen, denn das war in den USA längst erkennbar. Es trat eine Segmentierung der Familien ein. Der Vater sah im Wohnzimmer fern, die Kinder im Kinderzimmer. Man sprach immer weniger über das Gesehene. Dazu kamen dann noch die Möglichkeiten des Internets. Mit der größer werdenden Medienvielfalt kam aber die große Einfalt. Ja, das war damals das Schlagwort: Mehr Programme – mehr Vielfalt. In der Planungsgruppe im Kanzleramt war uns aber schon damals klar, dass es im Gegenteil mehr Einfalt geben würde. Und das ist auch eingetreten. Dazu kommt, dass die wenigen Medienkonzerne in Deutschland in der Hand weniger Familien sind. Richtig. Die Konzentration von damals bis heute ist extrem groß geworden. Die Tageszeitung „Die Rheinpfalz“ beispielsweise, die in meiner Region erscheint, gehört der Familie Schaub. Inzwischen gehören der Familie auch die Süddeutsche Zeitung, die Stuttgarter Zeitung, die Stuttgarter Nachrichten und hier im Osten mehrere Zeitungen. Helmut Kohl hat Dieter Schaub das damals zugeschanzt, was in der ehemaligen DDR zu holen war. Wenn wir ein Medien-Oligopol in Deutschland haben, wird es dann nicht einfacher, Kampagnen zu steuern? Das ist richtig! Keine der großen politischen Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ist

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ohne massive Manipulationen, ohne Meinungsmache gelaufen. Die meisten politischen Entscheidungen, ob Sie die Riester-Rente nehmen oder die damit verbundene Rürup-Rente, die betriebliche Altersvorsorge, wie auch zum Beispiel die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, sind propagandistisch eingeleitet worden. Bei der Altersvorsorge kann ich das mit vielen Schritten belegen. Wochenlang haben die ARD und das ZDF über das Älterwerden der Gesellschaft gesprochen mit der Schlussbotschaft, dass man privat vorsorgen müsse. Dafür gebe es staatliches Geld. Das Problem ist, und das ist ein gravierender Unterschied zu früher, dass so ein Medium wie die Bild-Zeitung, der Spiegel und die Zeit am gleichen Strang ziehen. 1972 bin ich zu Günter Gaus, dem Chefredakteur des „Spiegel“, gefahren und habe ihm unser Wahlkampfkonzept erläutert, natürlich in der Hoffnung, dass der „Spiegel“ die Politik der Entspannung unterstützen würde. Das könnte ich heute so nicht mehr machen. Die sind ja auf einem völlig anderen Pferd unterwegs. Der „Stern“ hat früher auch die sozialliberale Politik unterstützt. Heute ist das ein Kapitalistenblatt. Wie werden wir manipuliert? Sie müssen verschweigen. Sie müssen sich mit anderen zusammentun, um eine falsche Botschaft unter die Leute zu bringen. Sie müssen den Wippschaukel-Effekt anwenden – den können Sie überall beobachten –, also einen anderen abtauchen lassen, um sich selber hochzuheben. Das können Sie in meinem Buch sehr schön nachlesen. Wo und wann informiere ich mich so aufklärend, dass ich lerne, mir meine eigenen Meinung zu bilden? Ich finde, dass Sie heute darauf angewiesen sind, sich hin und wieder ein kritisches Medium anzugucken. Wer beispielsweise an der Frage von Krieg und Frieden interessiert ist, der muss Daniele Ganser zu den Kriegen des Westens anschauen oder gelegentlich RT Deutsch gucken. Weil diese Journalisten enorm viel an Informationsarbeit für ein besseres Verständnis leisten.

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Alle Medien picken sich scheinbar im Gleichschritt ein Kernthema heraus. Im letzten Jahr war es erst die Klimakrise, dann war es Hanau, jetzt Corona. Alles, was damit nichts zu tun hat, fällt hinten runter. So, wie Sie das schildern, ist es. Das ist im Grunde extrem primitiv. Ich habe heute im Zug nach Berlin etwas Kleines über die Nachricht geschrieben, dass die Russen die amerikanischen Wahlen mitbestimmen. Das wurde bei uns in der Tagesschau x-mal gebracht, es wurde in der Zeit gebracht: Diese einfache Behauptung der amerikanischen Demokraten, dass die Russen auf die Kandidatenauswahl Einfluss nähmen. Und es wird nirgendwo der Versuch unternommen zu erklären, wie das funktionieren soll, dass die Russen die amerikanischen Wähler so manipulieren. Das heißt, das wichtigste logische Bindeglied wird vernachlässigt. Fehlt! Aber die deutschen Medien merken nicht, dass das fehlt, sondern sie nehmen das einfach für bare Münze. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Nichtwissen über die Komplexität des amerikanischen Wahlkampfes sichtbar wird. Ich kann nicht mehr nachvollziehen, was da für Leute bei der ARD und dem ZDF gelandet sind. Da ist nichts mehr an tieferen Gedanken. Da fehlt das Wissen. „Und mit dem Wissen wächst der Zweifel.“ Johann Wolfgang von Goethe.

Wie könnte die Zukunft von kritischem Journalismus aussehen? Wenn ich zum Beispiel darüber schreiben wollte, wie vernünftige Wirtschaftspolitik aussehen müsste, dann müsste ich ins Detail gehen. Dann müsste ich der These der Neoliberalen, dass die Nachfragepolitik von Keynes out und vorbei sei, nachgehen. An dem Beispiel könnte man zeigen, wie wichtig es ist, wenn man eine Botschaft rüberbringen will – wie etwa, dass Keynes out sei –, dass das aus verschiedenen Ecken kommen muss. Da haben die Bremer Ökonomen, Rudolf Hickel und andere alte Marxisten, gesagt, dass Marx recht hat: Der Kapitalismus ersticke an seiner Überproduktion. Und die Neoliberalen haben gesagt: „Wir sagen das auch! Keynes ist out!” Sie wollten die Angebotsökonomie einführen. Das heißt, runter mit den Löhnen, runter mit den Lohnnebenkosten, Sozialstaat abschaffen und so weiter. Das war deren große Strategie! So haben sich beide Lager zusammengetan. Schon zu Schmidts Zeiten in den 1970er-Jahren – Schmidt war ja ein wetterwenDa ist nichts mehr an discher Kanztieferen Gedanken. Da fehlt ler – wurden Beschäftigungsdas Wissen. „Und mit dem programme Wissen wächst der Zweifel.” gemacht, dann wurde wieder gespart, dann wieder Programme geschmiedet und immer so weiter. Ich möchte damit erläutern, dass, wenn man das sachlich behandeln will, man in die Tiefe gehen muss. Dann muss man auch ein bisschen Ökonomie mit einführen. Und man muss Vorurteile widerlegen können und Manipulationen aufzeigen. Also sind Sie nicht besonders zuversichtlich, dass wir umfassend informiert werden? Ich bin da etwas pessimistisch, was die Meinungsbildung und die Entscheidungsfindung betrifft. Da bin ich eher resignativ, weil die wirklich mächtigen Leute in unserer westlichen Welt – das sind zum Beispiel die großen Kapitalsammelgesellschaften wie Blackrock und andere – inzwischen schon ihre ehemaligen Aufsichtsräte zu Parteivorsitzenden und ggf. zu Bundeskanzlern machen lassen können. Wenn das so ist, dann bin ich in meiner Funktion gescheitert. Das Bücherschreiben war umsonst, die „NachDenkSeiten“ waren

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umsonst. Viele unserer Leserinnen und Leser sind resigniert. Aber wie überlebt man mit seiner Idee? Man überlebt, indem man sich zusammentut. Ich springe jetzt einmal zu dem, was Sahra Wagenknecht mit „Aufstehen!“ erreicht hat. Allein das Phänomen, dass so viele Leute zusammengekommen und auch zusammengeblieben sind, zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, sich zusammenzutun. Je kritischer man die gesamte politische Entwicklung betrachtet, umso nötiger ist dieser Trost, in den Dialog mit anderen zu treten. Das ist nicht befriedigend mit dem Blick auf die Entwicklung unserer Gesellschaft, hilft aber vielleicht vielen Menschen, mit der Politik fertigzuwerden.

ckets eine orange Nadel. Auf den Plakaten hatte er sie sowieso. Herbert Wehner hatte sie. Karl Schiller sogar. Das war eine unglaublich große Bewegung, damals noch befördert durch 600.000 Mitglieder der SPD. Heute denken wir bei „NachDenkSeiten“ wieder darüber nach, wie Menschen einander erkennen könnten, um gemeinsam zu „überwintern“ und einander zu unterstützen. Ich habe bei engen Freunden erlebt, dass die Sorge sehr groß ist, dass, wenn man allzu kritisch ist und auch bleibt, man dann nicht mehr dazugehört. Unser Erkennungszeichen ist eine Sicherheitsnadel geworden. Herr Müller, vielen Dank für dieses Gespräch!

Welche Idee haben Sie dazu? Ich erinnere an eine Kampagne des Jahres 1969. Das war die erste Kampagne, die ich damals mitmachte. Da gab es die Formel: So erkennt man Freunde! Willy Brandt im Oktober 1969 bei der Vereidigung zum Bundeskanzler: Er steht da und hat im Revers seines Ja-

ISBN 978 – 3864892189

ISBN 978 – 3864893070

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MIT STORYTELLING ZUM PUBLIKUMSLIEBLING BEI DER B2B-ZIELGRUPPE

Fotografie: Thomas Duffé

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BASF-Kampagne „Quantified Sustainable Benefits“ für Nachhaltigkeit in der Bauchemie

Miriam Rupp ist Gründerin und gemeinsam mit Nora Feist Geschäftsführerin von Mashup Communications (www.mashup-communications.de), der Berliner Agentur für PR und Brand Storytelling. In ihrem Buch „Storytelling für Unternehmen“ beschreibt Miriam Rupp, wie Geschichten zum Erfolg in Content Marketing, PR, Social Media, Employer Branding und Leadership führen. Das Online-Magazin „About Trust“ vom TÜV Süd erklärt auf spielerische und einfache Weise verschiedenste technische Vorgänge. Zudem wird die inhaltliche Vielfalt um Experten-Interviews und MultimediaTipps erweitert. „Storytelling für Unternehmen“ ist bei mitp erschienen und kostet 24,99 Euro. ISBN 978 – 3958452428

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Illustration: Julia Ochsenhirt

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O tempora, o mores!

„Was für Zeiten, was für Sitten!“ Kennt man aus Asterix, stammt aber von Cicero. Will sagen: Über die Gegenwart jammern die Menschen schon lange, Cicero war nicht der Erste. Alles beim Alten in dieser Hinsicht. Allerdings haben sich die Römer noch nicht über Social Media beschwert. Heute tut man das gerne: Facebook manipuliert die Menschen! Der politische Diskurs ist polarisiert und findet nur noch auf Twitter statt! Und nicht im Parlament! Kann sein. Und die Vergangenheit war sicher anders. Aber besser? Sind wir da so sicher? Zum Beispiel das Medienverständnis von früher, vor

Alles mittig, moderat und wohltemperiert. So war die alte Bundesrepublik. dessen Hintergrund wir heute Social Media kritisieren: War es denn tatsächlich so demokratisch, pluralistisch und egalitär, wie wir meinen? Ich habe da Zweifel, und zwar mit Blick auf die Gatekeeper von früher. „Gatekeeper“ heißt „Türsteher“ oder „Wächter“, und im Unterschied zu den Türstehern vor dem Club sieht man die in der Medienbranche ganz einfach deshalb nicht, weil sie nicht vor der kalten Tür stehen, sondern drinnen in warmen Büros sitzen. Es gibt sie aber, diese Gatekeeper, und sie bestimmen darüber, welche Personen, Meldungen und Debatten reinkommen in die Zeitung, das Magazin, den Sender – um nicht zu sagen: „reindürfen“ – und welche

nicht, Stichwort „Sorry, heute nur Gästeliste“. Die Gatekeeper bestimmen, welche Geschichte erzählt wird und welche nicht. Im Nachkriegsdeutschland gab es unter den Gatekeepern – bis auf wenige Ausnahmen alles Männer – weithin Einigkeit darüber, was galt: Wir hier in Deutschland haben Demokratie, Rechtsstaat, Volksparteien und Marktwirtschaft, aber eine soziale, bitte. Und wir haben eine Westbindung. Marcel Reich-Ranicki und Frank Schirrmacher waren Debatten-Kuratoren bei der FAZ, Rudolf Augstein zog einmal die Woche im Spiegel mehr oder weniger hämisch über die Bonner Politik her, und der Bild-Chefredakteur konnte die Regierung streicheln, schützend in den Arm oder unter Artilleriefeuer nehmen. Wer es durch die Tagesschau-Redaktionssitzung in die Zwanziguhrnachrichten schaffte, den sah das ganze Land. Danach kam ein Nachruf auf einen Schriftsteller, von dem außer Literaturprofessoren und Feuilleton-Federn noch niemand gehört hatte, dann: das Wetter. Alles mittig, moderat und wohltemperiert. So war die alte Bundesrepublik. Heute wissen wir, dass dieses System auch deshalb so stabil war, weil es eben nicht partizipativ oder bottom-up verfasst war, sondern von oben herab geführt wurde. Journalisten, Fernsehmacher und Verleger hatten eine heute kaum noch vorstellbare Macht, viele von ihnen waren eitel und selbstgerecht. Sie sahen sich als Repräsentanten der sogenannten vierten Gewalt im Staat. Das ist eine Vorstellung, die

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sich im 19. Jahrhundert beim Kampf der Zeitungen gegen die staatliche Zensur durchgesetzt hatte. Neben Regierung, Parlament und Gerichten sollte es die öffentlichen Medien geben: anfangs nur Tageszeitungen, später dann auch Radio und Fernsehen. Sie sollten durch Aufklärung und Kritik einen Beitrag zur Gewaltenteilung im Staat leisten, und genau das tun sie bis heute. Einerseits waren die öffentlichen Medien ein wichtiges Korrektiv für die drei anderen Gewalten im Staat, andererseits wurden sie selbst Teil des Establishments. Bis heute zehren Journalisten vom Nimbus einer Art eigenen Klasse. Man ist ernst, gewichtig und humorlos, trägt den Hemdkragen offen und die Ärmel aufgekrempelt wie die WatergateEnthüller, jede Sekunde muss man ja mit den Händen im Dreck wühlen. Mehr Humor als in Uli Wickerts lächelndem Augenaufschlag am Ende der Tagesthemen war nicht vorgesehen. …

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sogenannten Qualitätsjournalismus gerechnet die Leute, die das tun, wirft die Interpretationsmaschinerie beschweren sich besonders laut, dass an, um zu klären, was eigentlich los man in Deutschland nicht mehr frei ist. Zum Beispiel die Fraseine Meige, ob man neuerdings äußern „Wenn ein Buch und ein nung tatsächlich auf Leute mit dürfe. Einer blauen Haaren hören Kopf zusammenstoßen Allensbachmuss. … Umfrage zuund es klingt hohl, ist folge denken das allemal im Buch?“ Paradoxe Welt! Auf der 70 Prozent einen Seite herrscht die der Menschen digitale Verrohung, auf der anderen in Deutschland, dass der „Raum für das Kuscheldiktat der Political Cordie Meinungsfreiheit kleiner“ und rectness. Alle sind so sensibel heute! immer mehr Themen „zu TabuzoSeit dem 19. Jahrhundert waren Niemand möchte dem anderen zu nen“ geworden seien. Hier gibt es Journalisten Abenteurer und Helden, nahe treten. Oder ihm überhaupt ein Missverständnis. Denn – erstens ganz so wie der Reporter Tim aus nahekommen. Viele junge Men– bedeutet „Meinungsfreiheit“ nicht, den „Tim und Struppi“-Comics. In seischen schreiben heute lieber eine dass der eigenen Meinung nicht winer Welt gibt es keinen Unterschied Message, als schnell etwas mündlich dersprochen werden dürfte. Darüber zwischen mafiösen Staaten und zu besprechen. Ältere Chefs sagen muss man sich als Meinungsverbreianderen Verbrecherorganisationen, dann: „Warum kommst du nicht ter klar sein: Es gibt keinen Anspruch muss man halt alles aufklären, und einfach kurz vorbei?“ Sie unterschätauf Widerspruchsfreiheit. Außerdem am Ende geht es den Menschen ein zen offenbar das Behütungs- und sollte man sich – zweitens – klarbisschen besser als zuvor. Wie Tims Schonungsbedürfnis der Kinder von machen, dass „Erst nachdenken, Helikoptereltern, Hund Struppi dann reden“ ein bewährtes Prinzip ihre Empfindlichwaren die Journalisten selbst Man ist ernst, gewichtig keit, ihren Wunsch, kleine investi- und humorlos, trägt den eine Antwort nicht sofort geben zu gative Kläffer, Hemdkragen offen und die müssen, sondern die sich von den Hosenbeinen Ärmel aufgekrempelt wie wenn es ihnen genehm ist, wenn der Mächtigen die Watergate-Enthüller, sie sich „danach nicht abschüt- jede Sekunde muss man ja fühlen“. teln ließen. Solche Helden gibt mit den Händen im Dreck Solange ich nur es heute, wie ge- wühlen. sagt, immer noch. sende, droht ja noch kein KonAber so gut wie flikt, und wann ich mir die Antnie sind es die Twitter-Journalisten. Denn ihre millennialhafte Gefallwort anschaue, ist meine Sache: sucht widerspricht dem kritischen Ich entscheide, wann ich mal die Journalismus. Sie sind Follower, weil Nasenspitze rausstecke aus der sie den Debatten hinterherlaufen, die Komfortzone. Das ist ja das Prinzip in den sozialen Medien angestoßen „Sprachnachricht“: unwidersprochen werden. Rezo haut ein Youtube-Video raushauen, dann erst mal abtauchen raus, die CDU rotiert, und ein Teil des und abwarten. Klar, dass man so die Konfliktfähigkeit verliert und sie allenfalls in der Simulation kompensieren kann, indem man starke, krasse, hässliche Statements rausschießt in die Welt. Kurios: AusDas Magazin von BerlinDruck


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ist – und manchmal auch „Erst nachdenken, dann lieber nichts sagen“. Es gibt keine Verpflichtung, alles, was man sagen könnte, auch tatsächlich mitzuteilen. Tut man es doch, dann sollte man argumentieren. Denn nur so kommt man ins Gespräch. Gibt es also Regeln fürs ÖffentlichSagen, so gibt es auch Regeln fürs Verstehen des öffentlich Gesagten. Dazu gehört vor allem das Verstehenwollen. Die Philosophie hat dafür den Ausdruck „principle of charity“ geprägt, also das „Nachsichtigkeitsprinzip“. Wir sollten dem anderen, selbst wenn uns etwas an seiner Aussage stört, immer unterstellen, dass sie auch irgendetwas Bedenkenswertes enthält, also zumindest ein Körnchen Wahrheit. Der Aufklärungsdenker Georg Christoph Lichtenberg hat diesen Gedanken als rhetorische Frage formuliert: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“

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Produktionswissen Bildwelten

DIE REALITÄT ZU VERZERREN, IST DIE GROSSE BÜHNE DER BILDMANIPULATION

Fotografie: Michael Jungblut

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Kyra, sag mal, was denkst du eigentlich über Bildmanipulation? Ich frage mich das immer wieder, wenn wir nach einem Fotoshooting am Rechner sitzen und Bilder für unsere Bücher oder für Kund*innen bearbeiten. Der Begriff Bearbeitung klingt irgendwie neutral, ist aber auch eine Art Bildmanipulation, und der Terminus Manipulation hat für mich ja schon eher einen fragwürdigen Beigeschmack.

Fotograf hatte einfach per Bildbearbeitung einen britischen Soldaten in Abwehrgeste vor einen Einheimischen mit kleinem Kind auf dem Arm montiert, was so aussah, als würde er Mann und Kind brüsk zurückweisen. Das führte natürlich zu erwartbaren Emotionen beim Betrachter und, seien wir ehrlich, zu ordentlich Honorar in der Tasche des Fotografen.

Das sehe ich auch so. Je nachdem, was ich mache und vor allem auch für wen, kann Bildbearbeitung sehr unterschiedlich bewertet werden. Bestenfalls mache ich eine*n Kund*in glücklich, weil ich ein Bild genauso aufräume, wie er es sich vorgestellt hat, schlimmstenfalls werde ich aus einem Fotowettbewerb rausgeworfen, weil ich ein Bild per Bildbearbeitung zum Siegerfoto gemacht habe.

Klar, die Salutkanonen in Valetta auf Malta haben wir auch mal ganz kurz zur Kanonade der anderen Hafenseite umgebastelt. Schlagzeile: „Irre Hobbykanoniere laden Salutkanonen mit scharfer Munition. Stadtmauer schwer beschädigt“. Welches Blatt zahlt uns bitte dafür ein Honorar? (lacht)

Na ja, wenn du erwischt wirst. Sonst hast du maximal ein schlechtes Gewissen. Weitaus schlimmer finde ich es aber, wenn über Bildmanipulation in der Pressefotografie politischer oder gesellschaftlicher Einfluss genommen wird. Das hat einen erheblich drastischeren Impakt als das Hochmanipulieren meiner Fotos bei irgendeinem Wettbewerb. Es gibt da genügend Beispiele für Aufnahmen, bei denen beispielsweise einfach Komponenten zweier Bilder fusioniert wurden, um einen dramatischeren Effekt zu erhalten, der dann auch beim Betrachter möglicherweise heftige Emotionen hervorruft, was wiederum in politischem oder gesellschaftlichem Druck resultieren kann.

Bei der ganzen Diskussion dürfen wir allerdings auch nicht vergessen, dass Bildmanipulation nicht neu ist und schon immer Thema in der Fotografie war. Seit fotografiert wird, versucht man, die Aussage der Motive im Sinne des Fotografierenden oder des Auftraggebers zu beeinflussen. Lediglich die Mittel, die uns heute zur Verfügung stehen, sind natürlich bei Weitem potenter. Richtig krass war das zum Beispiel bei Stalin. Der hat Trotzki aus allen möglichen Bildern wegretuschieren lassen, nachdem er in Ungnade gefallen war. Das war dann so ähnlich wie die „Damnatio memoriae“ bei den Römern. Keiner sollte sich mehr an den im Nachhinein Geächteten erinnern.

Ich erinnere mich an ein Bild aus dem zweiten Golfkrieg. Das war in der LA-Times, meine ich. Der

Ja genau, eigentlich gab es so etwas schon lange vor der Fotografie. Das war dann nur ein bisschen

schwieriger zu bewerkstelligen. Statuen wurden abgebaut, Gesichter herausgemeißelt oder auch überpinselt. Das ist ganz klar auch eine Bildmanipulation. Der Unterschied liegt darin, dass es damals nicht darum ging, der Betrachterin oder dem Betrachter eine reale Situation gefakt zu verkaufen, das war ja noch

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Bildwelten

gar nicht möglich. Aber eine Manipulation, mit der gewisse Absichten verfolgt wurden, war es definitiv auch. Da hast du recht. Die Realität zu verzerren, ist die große Bühne der Bildmanipulation. Aber im Prinzip ist auch schon die Sache mit dem Wettbewerb Käse, so ähnlich wie Doping beim Sport. Auch der Sport ist an sich ja eine grandiose Nebensache, wie die Fotografie auch. Wenn es aber um Ruhm und Ehre oder gar um wirtschaftliche Interessen geht, wird aus dem Spaß ganz schnell Ernst und die Fairness fällt dem mir nichts dir nichts zum Opfer. An dieser Stelle würde ich aber gerne mal etwas Positives ins

Spiel bringen. Es lassen sich mittels Bildmanipulation ja schließlich auch spannende oder lustige Effekte, die ganz und gar harmlos sind, erzielen. Schon mal was von Levitationsfotografie gehört? Ich muss zugeben, dass mir der Begriff bis vor Kurzem noch nicht so geläufig war. Es handelt sich doch dabei um eine Technik, die fast schon mit klassischer Zauberkunst zu tun hat. Stichwort: die fliegende Jungfrau. Das war ja in früheren Zeiten so ein Illusionsding, heute machen wir das mit Photoshop. Live müssen wir so etwas dann doch immer noch den Magiern überlassen.

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Es ist ein ganz eigenes Genre für diese Bildbearbeitungskunst: eine Welt der positiven Illusion, in der völlig abgefahrene Bilder entstehen. Eigentlich ist ja so ziemlich alles möglich, was gefällt oder spannend aussieht. Ein T-Rex über den Dächern von Berlin, ein Pinguin am Badestrand, alles kein Problem. Solche Bilder zu kreieren, macht Spaß, und ich wüsste nicht, was daran jetzt negativ sein sollte. Dadurch sind auch viele Dinge möglich, die in der Realität fotografisch schlichtweg nicht darstellbar wären. Insofern ist der Bildbearbeiter ja auch hin und wieder eine Art Peter Pan oder eine Alice im Wunderland der Fotografie. Früher konnten Bilder maximal so realistisch wie möglich gemalt werden, heute sehen sie – trotz völlig irrationaler Inhalte – aus wie die Realität. Nicht zu vergessen die Branche Marketing und Werbung. Hier wird ja auch gephotoshoppt, was das Zeug hält, wobei das normalerweise ethisch auch kein Problem ist. Wenn ein Kunde gerne zwei Hochspannungsmasten in seinem Werbemotiv entfernt haben möchte, ist es meiner Meinung nach nicht besonders verwerflich, das Bild entsprechend aufzuräumen. Klar, ist das okay. Fragwürdig ist es dann, wenn ein Reiseunternehmer Werbeaufnahmen machen lässt und die Kräne und Baumaschinen der Großbaustelle zwischen Strand und Hotel einfach mal wegradieren lässt. Im Prinzip wird so eine Illusion erzeugt, der die Wirklichkeit nicht standhält. Illusion ist ein gutes Stichwort, denn eigentlich läuft es bei der Bildbearbeitung häufig genau darauf hinaus, dem Betrachter eine Illusion zu verkaufen. Nehmen wir nur mal die ganzen Manipulationen im Peoplebereich. Was so alles an Personenmotiven herumgeschraubt wird, da würde jede Autotuningbude vor Neid erblassen. Stimmt, das ist in der Tat ebenfalls ein Thema mit teils unschönen

Auswirkungen. Jede – und inzwischen auch immer öfter jeder – möchte auf seinen Instagram-Bildern perfekt aussehen. Das ist so eine Art virtuelle plastische Chirurgie. Das fängt mit etwas Weichzeichner-Botox zur Faltenglättung auf der Stirn an und hört beim virtuellen Fettabsaugen noch lange nicht auf. Fatal ist die Auswirkung auf das Selbstbild vieler junger Menschen. Ich denke, da wird eine Menge Selbstbewusstsein zerstört. Dank Bildbearbeitung sieht die Lotta-Marie von nebenan bei Instagram aus wie ein Model. Das baut bei vielen einen großen Anpassungsdruck auf. Das eigentlich irre ist ja, dass das digitale Ich langsam wichtiger wird als das reale. Das führt dazu, dass alle wie wild versuchen, dem digitalen Ich zu entsprechen. Ich habe schon von plastischen Chirurgen gehört, bei denen Mädels mit ihrem digital gedrechselten Instagram-„Ich“ aufgetaucht sind und darum gebeten haben, sie doch bitte möglichst dementsprechend umzumodellieren. Virtuelle Welt schlägt Realität. Dass da permanente Unzufriedenheit bis hin zu echten psychischen Problemen vorprogrammiert sind, kannst du dir ja denken. Definitiv, inzwischen geht es ja auch um kleinste Details, die am eigenen Körper nicht mehr akzeptiert werden, was gerade auch bei jüngeren Frauen dazu führt, einem gewissen standardisierten Stereotyp entsprechen zu wollen. Sie verwenden zudem alle dieselben Standardfilter. Gähn! Ich habe aber gerade gelesen, dass Facebook bestimmte Filter verbieten möchte, damit Heranwachsende nicht zu sehr beeinflusst werden.

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Leseempfehlungen

Die jungen Frauen ähneln einander auf Instagram immer stärker. Das finde ich als Fotografin extrem fatal: Denn es geht doch gerade um die Vielfalt der Persönlichkeiten und darum, möglichst unterschiedliche Menschentypen in Szene zu setzen. Das sehen viele Kolleg*innen ebenfalls so und beschäftigen sich lieber mit echten Typen. Von klassisch schön bis schräg und verschroben, dann wird es eigentlich nie langweilig. Übrigens gab es so was auch schon in der Porträtmalerei früherer Zeiten. Da wurde die Hakennase des amtierenden Landesfürsten auch mal ganz schnell ein gutes Stück kleiner gemacht.

#07 | 20 | Passion

Kyra und Christian Sänger sind mit inzwischen mehr als 40 Buchveröffentlichungen sowie etlichen Zeitschriftenartikeln seit Jahren eine feste Größe im Bereich Schulung und Ausbildung im fotografischen Bereich. Ebenso haben sie sich als Projektfotograf*innen, deren Bilder auch schon in diversen Fotowettbewerben ausgezeichnet wurden, einen Namen gemacht. Sie leben in Berlin und fotografieren in der Natur Brandenburgs oder sonst wo auf dem Globus genauso gerne wie inmitten der pulsierenden Metropole. Wir haben hier die wesentlichen Neuerscheinungen für Sie!

Wenn wir Bilder für Kunden bearbeiten, machen wir Gesicht und Haut per Dodge and Burn so attraktiv wie möglich. Das wird in den meisten Fällen so erwartet. Außerdem – seien wir ehrlich – haben wir uns bei diversen Beispielbildern für unsere Bücher ja auch schon selbst die eine oder andere Falte aus dem Gesicht gebügelt. Auch als Fotografin widersteht man der Versuchung beim Selbstbildnis nicht immer …

ISBN 978-3832804039

Stimmt, vor einer gewissen Eitelkeit sind eben selbst alternde Fotograf*innen nicht gefeit. By the way, kannst du dich noch an unser Fusionsbild erinnern? Das war cool, und in dem Fall ist auch ganz klar, dass es sich um ein Just-for-Fun-Bild handelt. Ähnliche Methoden werden zum Beispiel auch von Stylisten verwendet, um Kunden verschiedene Frisuren oder Looks am eigenen Gesicht zu demonstrieren.

ISBN 978-3832803230

Wir sehen aus wie ein argentinischer Nachwuchsfußballprofi aus den Siebzigern. Puh.

ISBN 978-3836277419

ISBN 978-3832804350

ISBN 978-3832804169


Passion | #07 | 20

Projekte

HEAVY METAL IN LEIPZIG Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage

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Projekte

Das Besondere am Museum für Druckkunst ist die Art der Sammlungspräsentation.

Heute ist es kaum vorstellbar, dass wir noch vor 50 Jahren viele Tonnen „Heavy Metal“ brauchten, um nur einen einzigen reproduzierbaren Buchstaben herzustellen. Natürlich gab es viele Entwicklungsstufen zwischen Gutenbergs Erfindung und der Produktion einer Tageszeitung im Jahre 1970. Aber das Grundprinzip, der sogenannte Hochdruck mit Bleilettern, hielt sich lockere 500 Jahre fast unverändert. Zwar wurden ab 1886 durch die Erfindung der ersten Setzmaschine von Ottmar Mergenthaler aus Einzelbuchstaben ganze Zeilen, aber eine Disruption war das sicher nicht: Alles wie immer, nur schneller. Und für das, was heute Mediengestalter*innen schon mit dem Tablet produzieren können, benötigte man früher viele Spezialist*innen, deren Berufsausbildung schon mal fünf Jahre dauern konnte: Schriftgießer*innen, Schriftsetzer*innen, Metteur*innen, Stereotypeur*innen, Chemiegraf *innen, Galvaniseur*inGalvaniseur*in nen und Buchdrucker*innen. Wie so oft in der Geschichte war es ein Mangel an Möglichkeiten, dass der Bleisatz in der Zeitungsproduktion in der ehemaligen DDR noch bis nach der Wende unverändert weiterleben konnte. Und genau das war der Grundstock für das Museum der Druckkunst in Leipzig.

#07 | 20 | Passion

BerlinDruck Tischkalender 2021 Freuen Sie sich aufs neue Jahr, freuen Sie sich auf unseren Tischkalender mit außergewöhnlichen Fotos von Michael Jungblut, den Sie dank zahlreicher Fotos in unseren Magazinen schon kennenlernen durften. Wenn Sie diese Passion #7 per Post erhalten haben, müssen Sie nichts tun. Sie erhalten den Kalender an die gleiche Anschrift. Aber bitte etwas Geduld, denn unseren Kalender verschicken wir – wie seit 33 Jahren – am 30. Dezember, damit Sie pünktlich mit der ersten Neujahrspost Ihren Schreibtisch schmücken können.


Passion | #07 | 20

Projekte

Im Hause des ehemaligen Druckereibetriebes Andersen Nexö in der Leipziger Nonnenstraße entstand ab 1994 ein lebendiger Ort der Industriekultur. Das Besondere am Museum für Druckkunst ist die Art der Sammlungspräsentation. Durch die Kombination einer produzierenden Werkstatt und eines Museums ist es möglich, mehrere Jahrhunderte Druck- und Mediengeschichte hautnah zu erleben. Die Maschinen und Pressen werden nicht als stumme Zeugen ihrer Zeit präsentiert, sondern führen die Arbeitsmethoden in lebendiger Form praktisch vor. Die Sammlung des Museums gibt einen umfangreichen Überblick über die vielfältigen Methoden

Ihre Ansprechpartner*innen bei BerlinDruck

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dirk.lellinger@berlindruck.de

der Satzherstellung. Traditionelle und moderne Techniken werden dargestellt, um die Entwicklungsgeschichte vom Bleisatz bis hin zum Computersatz zu veranschaulichen. Technik und Exponate aus dem Museum für Druckkunst sind Thema unseres nächsten Tischkalenders 2021.

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Essay

Neulich saß ich an einem lauen Spätsommerabend mit einem Freund und Arbeitskollegen beim Abendessen auf der Terrasse eines Berliner Restaurants. Die Sonne ging langsam unter, am Himmel zogen ein paar müde Wolken auf und wir taten das, was wir fast immer tun, wenn wir uns begegnen: Wir diskutierten. Der rege Austausch von Meinungen zu aktuellen politischen, gesellschaftlichen, aber auch beruflichen oder anderen Themen gehört bei unseren Treffen zum Pflichtprogramm. Selten sind wir uns einig, oft vertreten wir sogar diametral entgegengesetzte Standpunkte, aber wir hören uns immer aufmerksam und respektvoll zu und nehmen einander ernst. Wir pflegen also, so würde ich behaupten, eine gesittete Streitkultur. Und immer wieder bin ich überrascht, mit welchen klugen Argumenten dieser Freund mitunter meine Ansichten auseinandernimmt. Allerdings empfinde ich seine bisweilen bemerkenswert zwingenden Gedanken nicht als intellektuelle Niederlage und schon gar nicht als persönlichen Angriff, sondern, ganz im Gegenteil, als große Bereicherung, weil sie mich zwingen, die eigene Auffassung zu hinterfragen oder meinen Standpunkt zu einem Thema mit noch besseren Argumenten zu untermauern. Es ist für mich eine Art geistige Gymnastik, die ich nicht missen möchte. Denn jede Diskussion bringt mich in meinem Denken weiter, führt mich zu neuen Erkenntnissen oder bestätigt mich in meiner Haltung. In letzter Zeit kann einem allerdings mitunter das Gefühl beschleichen, dass die kontrovers geführte öffentliche, berufliche, aber auch private Auseinandersetzung und die Akzeptanz von der Norm abweichender Meinungen abnimmt. Vielleicht täuscht der Eindruck, denn er ist nicht mit Zahlen oder wissenschaftlichen Erhebungen belegbar, sondern rein subjektiv. Dafür zu werben, dass wir Stimmen hören, hören lassen oder eine Möglichkeit geben, gehört zu werden, auch wenn sie Meinungen wiedergeben, die wir ablehnen, die möglicherweise polarisieren und sich deshalb mit unserem persönlichen Wertesystem nur schwer vereinbaren lassen, lohnt sich meines Erachtens trotzdem. Man mag jetzt mit Recht entgegenhalten, genau das wäre möglich und der großartige Artikel 5 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sichere doch jedem zu, sich frei zu äußern. Das stimmt. Und dem ist nichts entgegenzusetzen. Aber wie steht es um die Akzeptanz dessen, was andere als ihre Meinung artikulieren. Hören wir noch ernsthaft und interessiert Meinungen zu, auch wenn sie sich mit den unseren nicht in Einklang bringen lassen? Gehen wir auf sie ein, versuchen wir sie zu widerlegen oder ignorieren wir sie einfach? Letzteres wäre meines Erachtens der falsche Weg. Denn Meinung ist immer auch Information. Die Diskussion, wo auch immer geführt, ist ein fruchtbares Feld. Sie eröffnet uns

nämlich auch die Möglichkeit, Übereinstimmungen zu finden oder eben etwas neu einzuschätzen beziehungsweise zu bewerten. Insofern ist sie also eine positive Kraft, die wir unbedingt nutzen sollten. Auffällig ist jedoch, dass sich viele Menschen einer ernsthaften Diskussion nicht mehr stellen wollen. Immer häufiger wird sogar das Vortragen einer Meinung vom Gegenüber als persönlicher Angriff gewertet. Dem ist aber nicht so. Eine kontroverse Meinung darf nicht als Beleidigung, Herabsetzung oder Nichtachtung einer Person und deren Vorstellungen begriffen werden. Eine Meinung gibt einen Standpunkt zu einem bestimmten Sachverhalt wieder. Nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem lässt, so meine ich zu beobachten, der Mut nach, die Stimme zu erheben. Vielleicht auch aus Angst vor den Konsequenzen, die daraus erwachsen könnten, wenn man mit seiner Meinung möglicherweise abseits einer Mehrheit steht. Dieses Phänomen lässt sich durchaus auch in der Berufswelt beziehungsweise im Arbeitsalltag beobachten. Wer einen Herstellungsprozess oder eine Entscheidung infrage stellt und seine mit Fakten untermauerte Meinung vertritt, dass Optimierungen vorgenommen werden könnten oder bei einer Entscheidung womöglich gerade ein Fehler gemacht werde, gerät, so habe ich es erlebt, heutzutage schneller in den Verdacht, ein schwieriger Zeitgenosse zu sein. Sich einem allgemeinen Konsens zu widersetzen, sorgt oftmals reflexhaft für Unmut. Hinzu kommt, dass bei vielen Menschen, die ihre Meinung für sich behalten, wahrscheinlich immer auch die Befürchtung mitschwingt, durch das Vortragen eines eigenen Standpunktes könnten einem materielle Nachteile erwachsen, die schlimmstenfalls existenziell werden. Wir brauchen aber unbedingt die wehrhafte, argumentative Auseinandersetzung in unserer freiheitlichen Gesellschaftsform. Sie ist zudem essenzieller Bestandteil unserer gelebten Demokratie, die so widerstandsfähig sein muss, dass sie auch Andersdenkende zulässt, denn „eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, wie es einst Helmut Schmidt gesagt hat. Eine wichtige, weit wahrnehmbare Plattform, der Diskussion ihren Raum zu geben, sind die Medien. Es muss immer wieder ihr Anspruch sein, ein kontroverses Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Also eine Vielfalt der Meinungen zuzulassen. Kommen sie dieser Aufgabe im vollen Umfang nach, dann führen sie zugleich auch unterschiedlichste Anfeindungen oder Unterstellungen, wie etwa die, eine „Lügenpresse“ zu sein, ad absurdum. Aber die Verantwortung liegt nicht nur bei den Medien, sondern vor allem auch bei jedem Einzelnen von uns. Wir sollten uns immer wieder darum bemühen, eine friedliche Streitkultur zu fördern und zu stützen. Denn sie gehört zu den Eckpfeilern einer gesunden pluralistischen Gesellschaft, mit der wir bislang ziemlich gut in diesem Land gelebt haben.

#07 | 20 | Passion


Passion | #07 | 20

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