Vorwärts Mai 2014

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05-06/2014 vorwärts

lionen Menschen in Armut. Ein anderes Beispiel: Ich war neulich am Berliner Oranienplatz. Dort lebten Flüchtlinge, die über Lampedusa nach Deutschland gekommen sind, in Zelten. Sie hatten kein Licht, keine Heizung, kein Wasser. Aus Italien wurden sie weitergeschickt, und hier in Deutschland werden sie auch nicht menschenwürdig behandelt. MS: Dass tausende Flüchtlinge in Lampedusa ankommen, ist kein italienisches Problem, sondern ein europä­ isches. Deshalb müssen wir es auch auf europäischer Ebene lösen. TK: Europa ist als Friedensprojekt entstanden. Auf diese Grundidee müssen wir uns zurückbesinnen. Frieden bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch sozialer Frieden. Hier muss Europa die Verantwortung gemeinsam tragen und die Probleme auch global betrachten. Wie kann es sein, dass Menschen in großer Not auf unseren reichen Kontinent kommen und als erstes Marineschiffe und Stacheldraht sehen? Sie menschenwürdig hier aufzunehmen stellt Europa natürlich vor große Herausforderungen. Aber wir sind dazu verpflichtet, wenn wir die Menschenrechte wahren wollen.

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Frieden bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch sozialer Frieden.

Foto: Michael CONTES

Tim Kaufmann

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Sie nennen die Europäische Union ein Friedensprojekt. Wird Frieden in Ihrer Generation nicht bereits als etwas Selbstverständliches betrachtet? TK: Was gerade vor der Haustür der ­Europäischen Union stattfindet, etwa in Syrien oder der Ukraine, erinnert uns daran, dass Frieden nicht selbstverständlich ist. Aber die EU hat sich als stabile Gemeinschaft bewährt, in der man derzeit keine Angst haben muss, dass Konflikte eskalieren. FQ: Ich komme ursprünglich aus der Toskana. Im Dorf Sant´Anna die S ­ tazzema haben deutsche SS-Truppen noch kurz vor dem Kriegsende ein Massaker verübt. Aber die junge Generation in Italien weiß gar nicht mehr, was Krieg bedeutet. MS: Die Europäische Union muss sich auch außerhalb Europas noch mehr für Frieden einsetzen. Zum Beispiel mit einer aktiveren Entwicklungshilfepolitik. TK: Dazu braucht die EU eine einheitliche Stimme in der Außenpolitik. Zwar haben wir mit Catherine Ashton bereits eine EU-Außenbeauftragte, aber sie hat es schwer, weil sie immer Rücksicht auf

die verschiedenen nationalen Interessen nehmen muss. MS: Die europäische Sozialdemokratie fordert eine europäische Armee. Ich denke, das ist ein richtiger Schritt, um zu zeigen, dass die EU-Staaten als Einheit handeln und für jeden Einsatz ­einen Konsens benötigen. Dass die EU den Frieden erhält, ist ein Grund, für ein vereintes Europa zu sein. Gibt es noch weitere? FQ: Auch aus wirtschaftlichen Gründen ist die Europäische Einigung wichtig. Als einzelne Staaten können wir gegen die großen Wirtschaftsmächte der Welt nicht bestehen. An der europäischen ­Einigung haben wir 60 Jahre lang Stück für Stück gebaut. In Zukunft müssen wir sie schrittweise noch weiter vertiefen. TK: Nur gemeinsam können wir auch soziale Rechte und Menschenrechte durchsetzen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Europäische Union ein Vorbild für andere Länder ist. Zum Beispiel tragen unsere Beziehungen zur Türkei trotz aller Rückschläge dazu bei, dass wir neben wirtschaftlichen Produkten auch kulturelle und politische Grundrechte in das Land exportieren. Am 25. Mai wird ein neues Europaparlament gewählt. Was erwarten Sie von dieser Wahl? FQ: Zunächst einmal müssen wir verhindern, dass anti-europäische ­Parteien zu viel Macht gewinnen. Wenn ich mir die Umfragewerte in Frankreich, England oder Italien ansehe, macht mir das Sorgen. Auch in Deutschland könnten die AfD und die NPD zusammen auf zehn Prozent kommen. Deswegen dränge ich alle meine Freunde dazu, unbedingt wählen zu gehen. TK: Wir müssen die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. In Spanien ist jeder zweite Jugendliche arbeitslos. Das können wir nicht akzeptieren, denn es gefährdet die Zukunft Europas. MS: Wenn ich mein Studium beendet habe, werde ich wahrscheinlich sofort einen Job bekommen. In Spanien oder Griechenland ist das nicht möglich. Das ist ungerecht. Bei dieser Wahl geht es darum, gute soziale Standards für ganz Europa zu schaffen. Wir brauchen auch einen europäischen Mindestlohn. Welches Europa wünschen Sie sich in 50 Jahren? FQ: Ich hoffe, dass wir dann in den Vereinigten Staaten von Europa leben, also in einem föderalen europäischen Bundesstaat. MS: Und in diesem Bundesstaat Europa geht die Arbeiterin aus Polen auch für den Arbeiter aus Portugal auf die Straße. Solidarität ist dann keine Frage der Nationalität mehr. TK: Alle Menschen haben die gleichen Rechte und Chancen, unabhängig von ihrem Pass. n

So schützen wir die Steuerzahler Banken Für ihre eigenen Fehler müssen sie künftig selbst haften Jugend­ arbeitslosigkeit in der Eu

23% aller Jugendlichen unter 25 Jahre in der Europäischen Union sind arbeitslos.

57% beträgt die Jugendarbeits­ losenquote in Griechenland. Es ist der höchste Wert.

8%

beträgt die Quote in Deutschland: der niedrigste Wert aller EU-Länder. Quelle: Eurostat. Stand März 2014

DIe Interviewten Federico Quadrelli ist 27 Jahre alt und in der Toskana aufgewachsen. Weil er nach dem Studium in Mailand keinen Job fand, zog er nach Berlin. Er ist der Präsident der Fraktion des italienischen „Partito Democratico“ in Berlin. Tim Kaufmann stammt aus dem Saarland und studiert derzeit Jura in Berlin. Der 23-Jährige engagiert sich in der „Bundeskommission Internationales“ der Jusos.

Von Udo Bullmann und Peter Simon

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ie Verlierer der vergangenen Jahre waren die ehrlichen Menschen, die nach den Regeln spielen. Sie wurden mit ihrem Steuergeld, durch gemindertes Einkommen oder gar den Verlust ihres Jobs für die Fehler eines unregulierten Finanzsektors in Haftung genommen. Die vergangenen fünf Jahre unserer Arbeit im Europäischen Parlament haben wir darauf verwendet, den Spieß umzudrehen, um diese Menschen stärker zu schützen. Mit Erfolg: Wir Sozialdemokraten haben zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, die sicherstellen, dass der Steuerzahler in Zukunft nicht mehr die erste Anlaufstelle bei Bankenpleiten ist. Wir konnten durchsetzen, dass Banken künftig ihre Abwicklung selbst bezahlen müssen, indem sie Beiträge in einen Topf einzahlen, aus dem bei Bedarf Geld genommen wird. Somit wird der Teufelskreis zwischen Banken und Staaten durchbrochen. Daneben soll eine europäische Bankenaufsicht künftig bereits im Vorfeld Probleme im Bankensektor identifizieren. Diese sogenannte Banken­union sorgt dafür, dass Bankenpleiten in Zukunft seltener vorkommen und – zumindest für den Steuerzahler – billiger werden. Auch dem Sparer, der in der jüngsten Krise um sein Erspartes bangen musste, geben wir für die Zukunft mehr Sicherheit. Wir haben entschieden, Einlagen wie Guthaben auf Sparbüchern und ­Girokonten europaweit bis 100 000 ­Euro zu schützen. Außerdem haben wir zahlreiche Maßnahmen durchgesetzt, um den Kleinanleger, der in der Vergangenheit oft mit riskanten Produkten über den Tisch gezogen wurde, besser zu schützen. Schlussendlich haben sich die Finanzminister nach unserem jahrelangen Kampf für eine Finanztrans­ aktionssteuer nun auch endlich bewegt – die Verursacher der Krise sollen endlich auch zur Kasse gebeten werden. n

Merle Stöver ist ebenfalls bei den Jusos aktiv. In Berlin studiert die 19-Jährige Soziale Arbeit. Außerdem betreibt sie einen Internet-Blog, wo sie über Feminismus und Machtstrukturen schreibt. n Udo Bullmann (l.) ist Gruppenvorsitzender der SPD-Abgeordneten und Mitglied des ­Wirtschafts- und Währungsausschusses im Europäischen ­Parlament. Peter Simon ist Mitglied ­ irtschafts- und Währungsausschusses im des W Europäischen Parlament.


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