VISIONS #193

Page 1


With a little help from their friends Wäre Depeche Mode keine Band von fast 30 Jahren, sondern ein Fußballspiel über 90 Minuten, käme dem nun etablierten Zweitsongwriter Dave Gahan die Rolle des Jokers zu. „Für die letzten zehn Minuten werde ich eingewechselt und darf den Ball treten – was allemal ein Fortschritt ist: Früher saß ich nicht auf der Bank, sondern eingesperrt in der Kabine.“ Doch es gibt weitere Gründe, warum sie auf ihrem zwölften Album so geschlossen klingen wie nie: Martin Gores neue Räson im Umgang mit Alkohol. Gahans neue Räson im Umgang mit Gore. Und die wohl uneitelste Philosophie, die sich drei Pop-Millionäre je zugelegt haben: „Die Leute, mit denen wir uns umgeben, sind heute der wohl wichtigste Teil von Depeche Mode.“ text: dennis plauk | fotos: anton corbijn



storys

48 / 49


The Decemberists

Mehr Manowar als „My Fair Lady“ Während die meisten seiner Zeitgenossen lieber am Sound für die Zukunft zimmern, wühlt sich Colin Meloy nach Herzenslust durch die Vergangenheit. Auf „The Hazards Of Love“ kreuzt er hohe Minne mit Mörderballaden, entdeckt dabei Led Zeppelin – und ein gesundes Verhältnis zum Tod. text: markus hockenbrink | fotos: Autumn De Wilde

Z

ehn Uhr morgens in Portland. Colin Meloy gähnt, aber wenigstens kann er jetzt wieder ruhig schlafen. Der Decemberists-Sänger gehörte während der Präsidentschaftswahl zu den engagiertesten Obama-Unterstützern und wird auch nach dessen Amtsantritt nicht müde, seine Erleichterung auszudrücken. „Es fühlt sich klasse an“, sagt er. „Die letzten acht Jahre war es echt anstrengend, als Amerikaner durch die Welt zu reisen und sich ständig für die Aktionen dieses anderen Typen rechtfertigen zu müssen. Da tut es schon sehr gut, wenn man von jemandem wie Hillary Clinton plötzlich ganz andere Töne hört. Dass Amerika jetzt bereit sei, zuzuhören und sich kooperativ zu zeigen.“ Meloy ist zuversichtlich für die Zukunft, auch weil er findet, dass es „weniger Differenzen zwischen den roten und den blauen Staaten“ gibt als immer behauptet wird. „Das wurde ja gerade von der Bush-Regierung ständig überbetont, die ihre Philosophie immer sehr auf ein EntwederOder ausgelegt hat. Alles war entweder gut oder schlecht, richtig oder falsch. Das ist nun hoffentlich bald vorbei.“ Der Songwriter ist der Ansicht, dass dieser „künstliche Konflikt“ in der Vergangenheit deshalb „so viele Zeitungen und Radioprogramme verkauft“ hat, weil verunsicherte Menschen ein Sprachrohr brauchen und es Leute gibt, „die eben gerne aufgestachelt werden“. Mit anderen Worten: Es gibt nicht gut oder schlecht, sondern nur gut und schlecht informiert. Meloy sagt, dass er zwar selber einen ziemlich schlechten Politiker abgäbe, ihm andererseits viel an einer zivilisierten Umgebung liegt und er deshalb wohl auch in Portland lebt. „Wer hierhin zieht, macht das nicht, um berühmt zu werden, sondern wegen des politischen Klimas in der Stadt.“ Und das ist im nationalen Vergleich mit Abstand das liberalste

weit und breit. Portland hat vieles, was in anderen amerikanischen Städten schmerzhaft vermisst wird: eine starke Sozialverwaltung, ein intaktes Stadtzentrum und ein funktionierendes Straßenbahnnetz, das den Vergleich mit Städten wie Bonn oder Bielefeld nicht zu scheuen braucht. Im Gegensatz zu diesen Städten besitzt Portland obendrein noch eine der aktivsten Underground- und DIY-Szenen der Welt, die im Dunstkreis der benachbarten Indielabels K Records und Kill Rock Stars nach wie vor prächtig gedeiht. Wer Portland sagt, sagt eben auch Sleater-Kinney, Elliott Smith, Modest Mouse und The Shins. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass uns das Publikum in die verschiedensten Richtungen folgt, zumal gerade heute eine sehr offene Atmosphäre herrscht, was Musik angeht“, sagt Meloy. „Zumindest unter meinen Kollegen habe ich das Gefühl, dass man machen kann, was man will. Da gibt es keine Szene und keinen Sound mehr.“ Er muss es wissen, denn was seine Decemberists seit inzwischen acht Jahren veranstalten, kann man sich eigentlich nur schwer unter der Fuchtel gewinnorientierter Plattenvermarktung vorstellen. Meloys Musik bewohnt eine traumverlorene Parallelwelt, die beizeiten mehr mit Literatur und Theater gemein zu haben scheint als mit Rock. Decemberists-Fans legen ihretwegen auch eine Hingabe an den Tag, die sich sonst nur mit der von Belle-And-Sebastian-Fans auf Bibliotheksausweisentzug vergleichen lässt. Und der Sänger outet sich selber als ähnlich veranlagt. „Ich bin ein großer Freund des Kopfhörers“, sagt er. „Als ich aufgewachsen bin, habe ich etliche Zeit mit meiner Plattensammlung verbracht. Ich war ein totaler Musikbesessener. Ich habe mich in der Musik verloren. Und ich hoffe sehr, dass meine eigenen CDs die Zuhörer ebenfalls dazu einladen, sich hinzusetzen und mal eine Stunde des Tages

komplett dafür abzuzweigen.“ Auch wenn der Songwriter zugibt, heute nicht mehr allzu oft das zu erfahren, „was Depeche Mode damals als Teenager so mit mir angerichtet haben“, kann er sich noch lebhaft an seine musikalische Sozialisation erinnern. „Ein Konzert von Unrest hat mich damals besonders beeindruckt. Nur drei Mann an den Instrumenten, aber eine unglaubliche Energie und eine sehr menschliche Unmittelbarkeit. Das war auf jeden Fall einer dieser sagenhaften Momente, die dein Leben verändern.“ Seine eigene Band steht heute meistens mindestens zu fünft auf der Bühne, und musikalisch ist vom Punk der frühen Tage eher wenig zu spüren. Doch die Besessenheit hat sich der Mann mit dem ComicsammlerLook und der Predigerstimme trotzdem erhalten. Das neue Album heißt „The Hazards Of Love“ und ist laut Meloy „die Vervollkommnung einer fünfjährigen Obsession“. Wollte man es musikalisch einordnen, stünden gleich eine Hand voll Genres zur Debatte. Für Colin selber ist es vor allem „eine Hommage an eine vergangene Epoche und eine Verbeugung vor Folk und Metal aus den 70er Jahren“. Mit der vergangenen Epoche ist das England des 16. Jahrhunderts gemeint, mit Folk und Metal ausgerechnet Led Zeppelin. „Ich glaube, diese Stile sind insgesamt weniger verschieden, als man allgemein so denkt. Sie wirken vielleicht wie direkte Gegensätze, aber Bands wie Led Zeppelin waren vom Folk-Revival damals genauso begeistert wie seine traditionelleren Vertreter. Sandy Denny von Fairport Convention hat sogar auf ,Battle Of Evermore‘ mitgesungen, und Jimmy Page stand wirklich auf diesen Sound, auch wenn er mit Zeppelin gleichzeitig quasi den Metal mit erfunden hat.“ Meloy findet ohnehin, dass es immer ein wenig schade sei, wenn man in IndieKreisen Heavy Metal als Erkennungsmelodie der Macho-Brigade abtue. „Ich halte mich


Winter

storys

72 / 73

Wonderland

Rock-Report Montreal

„Du kannst in Montreal keinen Stein werfen, ohne ein Kirchenfenster einzuschmeißen.“ Mark Twain hat das gesagt, also wird es schon stimmen. Spätestens seit Arcade Fire mit ihren himmelhoch jauchzenden Schlachthymnen den Mainstream überrumpelt haben, ist die ehemalige Katholiken-Hochburg aber auch zum wichtigen Indierock-Elitestandort geworden. Ein Besuch in einer Stadt mit zwei Sprachen und anderthalb Musikszenen. text und fotos: Daniel Gerhardt


(Stars-Bassist Evan Cranley) morgen in den Urlaub fahren – Evan hat seiner Liebsten drei Tage in einem Eishotel geschenkt, und so kann sie am Tag davor eben noch schnell die Dreckwäsche wegbringen, ein paar Schecks einlösen und deutsche Rockautoren durch Montreal fahren. Was dann ungefähr so geht: „Guck mal, da ist Rue Marie-Anne, wie in dem Leonard-Cohen-Song. Cohen wohnt sogar in der Straße, aber im Winter ist er immer in LA. Und dieser Laden da – Bu heißt er –, da gehe ich am liebsten zum Weintrinken hin. Dort drüben in dem Park haben wir das Video zu ‚Your Ex-Lover Is Dead‘ gedreht, Junge, was haben wir uns da mit Brandy abgeschossen! Und hier an der Ecke hat neulich ein McDonald’s zugemacht. Wir sind halt die Besten in Montreal.“ Sie sagt es und parkt auf einer Bushaltestelle. Wer im Februar nach Montreal kommt, dem erzählen die Einheimischen zwei Dinge: Erstens, man hätte besser im Sommer kommen sollen, weil es dann viel schöner sei, und zweitens, man solle

Montreals wichtigste Rockmusik Tom Sheehan

froh sein, nicht vor drei Wochen gekommen zu sein, weil es dann noch viel kälter gewesen sei, so um minus 30 Grad. Das Wetter hat die Stadt zu jeder Zeit im Griff – im Winter geht man höchstens zum Schlittschuhlaufen nach draußen oder schleppt seine Ski auf das 230 Meter hohe Mount-Royal-Hügelchen im Norden der Stadt. Sobald es aber wärmer wird, erzählt Amy, könne man in keinem der vielen Parks von Montreal mehr zwei Schritte vorwärts laufen, ohne jemandem auf die Füße zu treten. „Und trotzdem“, sagt sie weiter, „liebe ich den

Winter hier. Man schreibt dann halt einfach Musik, weil es nichts anderes zu tun gibt. Ich bin sicher, das ist einer der Gründe dafür, dass es hier so viele gute Bands gibt. Montreal wird außerdem leiser im Winter, irgendwie scheint die Kälte den üblichen Citykrach abzudämpfen. Ich fühle mich dann weniger eingeengt und habe mehr Platz im Kopf für Melodien.“ Amy erzählt das etwa eine Stunde, bevor sie sich als haarsträubender Autofahrer entlarven wird; sie sitzt in einem Café des Montrealer Künstlerviertels Plateau du Mont-Royal und versucht, bei Suppe und Leitungswasser zu erklären, warum sie in der besten Stadt der Welt lebt. „Die Frauen“, glaubt sie zum Beispiel, „sind nirgendwo hübscher als hier. Ich bin nun wirklich schon überall gewesen, und ich sage dir das als Heterosexuelle: Montreal hat die schönsten Mädchen der Welt. Es gibt da diesen Mythos, laut dem der französische König besorgt darüber war, dass sich die ersten Siedler aus Frankreich, die hierher gekommen sind, zu sehr mit den Eingeborenen vermischen könnten. Also soll er eine Schiffladung

Leonard Cohen

Neil Young würde das nicht gerne lesen, aber Leonard Cohen ist der größte kanadische Songwriter aller Zeiten. Als erklärter Spätstarter veröffentlichte er sein Debütalbum „Songs Of Leonard Cohen“ mit 33 Jahren – vorher hatte er vielbeachtete Gedichte und Romane geschrieben. Nach Jahren der klösterlichen Abgeschiedenheit und gelegentlicher Platten wurde Cohen im letzten Jahr zurück ins Rampenlicht gedrängt. Weil seine Managerin sein Vermögen veruntreut hat, tourt der mittlerweile 74-Jährige wieder um die Welt und räumt jeden Abend als World’s Coolest Grandad ab. Bestes Album: „Songs Of Love And Hate“ (1971). Moland Fengkov

A

my Millan ist die Sorte Autofahrer, der man öfter mal ins Lenkrad greifen möchte. Das Interesse an Verkehrsregeln ist bei der StarsSängerin nicht halb so ausgeprägt wie das an dem Blackberry auf ihrem Schoß, sie leidet an einem mindestens mittelschweren Fall von „Road Rage“, und die Bremsen ihres Mietwagens machen auch komische Geräusche. Dass Amy überhaupt hinter dem Steuer eines Autos sitzt, liegt daran, dass sie und ihr Freund

Hall Of Fame

Godspeed You! Black Emperor

Die beste, wichtigste und einflussreichste PostrockBand seit Eröffnung der Genre-Schublade. Zwischen 1997 und 2002 stampften Godspeed drei Alben und eine EP lang ufer- und endlose, rein instrumentale, explizit politische Songungetüme aus dem Boden, die Kammermusik, moderne Klassik, Ambient und Noiserock mit der Attitüde von Punkbands wie Minor Threat und Minutemen zusammenbrachten. In einem VISIONS-Interview sagte Gitarrist Efrim Menuck letztes Jahr, dass die Band nicht mehr existiere und eine Reformation nur denkbar sei, wenn man „gemeinsam zu neuen, sinnvollen Strategien“ finden könne. Mitglieder von Godspeed unterhalten in Montreal das Studio Hotel 2 Tango und den Club Casa del Popolo. Bestes Album: „Levez Vos Skinny Fists Comme Antennas To Heaven“ (2000).

Arcade Fire

Heute kaum mehr vorstellbar, aber als Arcade Fire vor fünf Jahren aus dem Nichts erschienen, gab es gerade keine andere Band wie sie. Sieben junge Musiker, angeführt vom lichterloh brennenden Exil-Amerikaner Win Butler, steckten sich in schicke Abendgarderobe und päppelten ihre Songs mit bühnenreif ausgeschlachteten Spannungsbögen, größten Gesten und allen anderen Mitteln der Kammermusik auf. Trotz ständig weiterwachsender Popularität haben Arcade Fire nie ihre Unberechenbarkeit und Begeisterungsfähigkeit verloren. Liveshows der Band beinhalten noch immer einige der gewagtesten Stunts, die der Rock momentan hergibt. Bestes Album: „Funeral“ (2004).


bill kelliher

brann dailor

Ma st od on

i

troy sanders

Wir sind v er

BRENT HINDS

Der Weltraum, unendliche Weiten... Nachdem Mastodon mit „Blood Mountain“ den Rock-Olymp erklommen haben, um dort gemeinsam mit Queens Of The Stone Age und The Mars Volta zu jammen, hält sie auf „Crack The Skye“ nichts mehr am Boden. Sie sind Entdecker und nehmen uns mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. Ihr viertes Album ist wohl eines der abgefahrensten und spannendsten Konzeptalben der vergangenen dreißig Jahre. Und es spricht mehr denn je dafür: Diese vier hier können nicht ohneeinander. text: jens mayer | fotos: boris breuer



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.