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CHIASSO

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VIRGINIA HELBLING

Chiasso

Gianna öffnet das Fenster, und er ist da. Fast scheint es, dass er schläft, aber sobald sie neben dem Vorhang auftaucht, öffnet er die Augen. Es ist offensichtlich: Er beobachtet sie, mit seinen zwanzig schamlos dem Himmel dargebotenen Balkonen. Der Block weiss, dass sie ihm den Tod wünscht, hat es mit dem Sterben aber nicht eilig. Ihm gefällt diese Spannung, für ihn ist es eine verquere Form von Liebe. Zwanzig Jahre schon behält Gianna ihn im Auge und behält er sie im Auge. Im Herbst sehen sie einander auch durch den Nebel an, in aller Eindringlichkeit, um sich dann Dinge einzubilden. Der Blick reicht nicht bis zur flaschengrünen Fassade, aber sie weiss, dass er da ist, daliegt im Grau, die zementene Schnauze in ihre Richtung gereckt. Nach all dieser Zeit hätte sich eine gewisse Gleichgültigkeit einstellen müssen, wie bei langjährigen Paaren. Doch Gianna und der grüne Block misstrauen einander immer noch: Wo die Gemüter sich nicht beruhigt haben, gibt es keine Vorhersehbarkeit. Gianna streicht sich die Haare aus dem Gesicht und wirft ihm ein schiefes Lächeln zu. Ihn so herumfaulenzen zu sehen, widert sie an. Er liegt verschwitzt in der untergehenden Sonne, strahlt glühende Aufregung aus. Auf arrogante Fassaden dieser Art war man in den siebziger Jahren stolz und ist es noch heute, wer wilden Eifer mit Inspiration verwechselt. Gianna möchte ihn töten. Manchmal dringt das Brüllen der Züge zu ihr. Dann will Gianna aufbrechen. Sie beschleunigt ihre Schritte, muss plötzlich aufräumen, wischt mit dem Lappen Sauberes noch sauberer. Wenn das geschieht, hat Gianna winzige Augen, der Blick ist nach draussen auf einen persönlichen Horizont gerichtet. Bison, wie sie ihn getauft hat, spürt es und legt die Stirn in Falten, lässt die Schultern hängen und verschwindet, denn die Beute durch Flucht zu verlieren, würde wirklich den Tod bedeuten. So bindet der Block sie an sich, noch unterhalb der Schwelle des Zweifels, dieser Tyrann und T-Rex im Zwinger, durchtrie12 ben und grossspurig wie jemand, der um seine Unentbehrlichkeit weiss.

Rundum stehen andere Wohnblöcke, und auch sie beobachten Gianna, hauchen ihr Langeweile entgegen. Sie blickt sie an, verzieht den Mund, aber die Schuld liegt bei Bison, allein bei ihm. Nur er löscht Gipfel aus, ebnet sie ein, sobald sie Chiasso erreichen. Der Ort bekäme alpinen Charakter, wenn Bison heute Nacht sterben würde, doch er atmet, knabbert an den Hügeln oder wälzt sich im Staub, um alte Spuren zu verwischen. Bison tut alles, um die Blicke auf sich zu ziehen. Er würdigt die Anwesenden herab. Spannt die Bauchmuskeln. Und von Chiasso und seinen Wundern bleiben nur vereinzelte kleinste Details übrig. Etwa die Steintreppe, die oben mit einer Gittertür endet, hinter dem alten Oratorio. Das sind die Stimmen von gestern, die sich nach den heutigen ausrichten. Wie im Theater. Nein, Bison kann ihr nichts vormachen: Natürlich atmet Chiasso hinter dem Vorhang des Offensichtlichen, hinter der Ecke der Angst vor Ungeheuern und Überproportioniertem in Makrovergrösserung. «Aufbrechen!», sagt sich Gianna, «diesen ganzen Aberwitz weit hinter sich lassen, zurück ins italienische Dorf oder in den Norden, mit den Bergen als Schutzschild vor Ereignissen und Gedanken.» Aufbrechen! Gianna hat es schon oft gesagt. «Ich gehe! Bevor die abenddunkle Kirche im Regen ertrinkt.» Sie ist immer geblieben. Von Ewigkeit zu Ewigkeit, amen. Weil sie, wenn sie die Sitzbank sieht, die sich mit ihrem Grau in den Pfützen, Scheiben, Zimmern ausbreitet, weiss, dass es an jedem Ort gleich wäre. Es lohnt sich nicht, aufzubrechen, um doch wieder auf einen Bison zu stossen, oder schlimmer, um zu entdecken, dass sie ohne ihn nicht leben kann. Bison ist ein Traum, der beisst, unmenschliche Gelüste hat und viel Elend an sich. Er schüchtert ein und zieht an, er ist der beste aller Liebhaber. «Geh! Gianna, brich auf!» Der Bahnhof weiss es und auch die im Garten verborgene Villa, die gesehen hat, wie im 13 Zweiten Weltkrieg dreitausend Soldaten das ganze Land verteidigten. Die Gebäude haben eine uralte Seele, Voluten aus den Tiefen des 19. Jahrhunderts, sie tragen Geschichte, bergen die Wahrheit in sich. Auch sie beobachten Gianna, aber ihre Absicht ist eine andere. Sie haben gesehen, wie sie gekommen und geblieben ist, Italien verlassen hat, knapp über die Grenze. Genau, weder da noch dort, aber Verrat ist erlaubt, wenn man danach Reue mit sich herumträgt. Chiasso. «Ach egal!», hatte sie sich gesagt, als sie zu bleiben beschloss. «Geh, Gianna! Brich auf!» Der Bahnhof durchleuchtet alle, sieht sofort, wer bereit ist, wegzufahren. Aus diesem Grund hat er sich ausgedehnt: um Gianna den Aufbruch nahezulegen, auch wenn ihre Beine zittern und es nur so wimmelt von Vielleichts. Bei jedem Zögern hat er einen Backstein, ein Gleis, einen Waggon hinzugefügt, hat er – «Geh!» – die Strassen in Beschlag genommen, die Zahl der Triebwagen erhöht, die Kapazität der Züge, bis auf die Felder hinaus hat er sich breitgemacht, einen Drittel des Orts verschlungen. Aber ohne Erfolg: Gianna bricht nicht auf. Wer weiss, ob eher das Provisorium Wurzeln schlägt und sich bis unter die Haut festhakt oder ob die Geometrie des äusseren Raums eine innerliche Struktur widerspiegelt, dieses Ich, dessen Widerschein verführt. Gianna macht das Fenster zu und seufzt. Als der Tag entschwindet, kommt das Brausen der Autobahn näher und wispert ihr ins Ohr. Es erinnert an das ferne Rauschen eines Baches. Es tröstet sie, andere vorbeiziehen zu hören.

Aus dem Italienischen von Barbara Sauser.

Schweizerischer Städteverband 125 Jahre für das Leben in der Stadt

SEIT 2007 LEBEN WELTWEIT MEHR MENSCHEN

IN STÄDTISCH GEPRÄGTEN RÄUMEN ALS AUF DEM LAND.

ERST SEIT 1999 IST DER BUND DURCH ART. 50 DER BUNDESVERFASSUNG VERPFLICHTET, AUF DIE BESONDERE SITUATION DER STÄDTE

UND AGGLOMERATIONEN RÜCKSICHT ZU NEHMEN.

DER STÄDTEVERBAND WURDE 1897 GEGRÜNDET.

HEUTE VERTRITT ER 128 MITGLIEDER.

ER SETZT SICH IN DER BUNDESPOLITIK FÜR DIE INTERESSEN DER STÄDTE UND AGGLOMERATIONSGEMEINDEN EIN. DORT LEBEN ETWA 75% ALLER

SCHWEIZER:INNEN, UND ÜBER 80% DER

WIRTSCHAFTSLEISTUNG

DER SCHWEIZ WIRD IM URBANEN RAUM

ERBRACHT. DER STÄDTEVERBAND BIETET DEN MITGLIEDERSTÄDTEN ZUDEM IN 7 SEKTIONEN, 5 KOMMISSIONEN UND 7 ARBEITSGRUPPEN GELEGENHEIT FÜR ERFAHRUNGSAUSTAUSCH UND VERNETZUNG.

ERFOLG BEI DER BEWÄLTIGUNG DER CORONA-PANDEMIE:

DER STÄDTEVERBAND HAT ERREICHT, DASS DER BUND DIE STÄDTISCHEN

FÜR DIE CORONABEDINGTEN AUSFÄLLE ENTSCHÄDIGT.

DER STÄDTISCHE ORTSVERKEHR LITT STARK UNTER DER PANDEMIE, DIE VERKEHRSBETRIEBE RECHNEN MIT EINNAHMEVERLUSTEN VON ETWA 150 MIO. CHF – NUN TRÄGT DER BUND DAVON 50 MIO. CHF.

ENDE DES 14. JAHRHUNDERTS GAB ES IN DER SCHWEIZ ETWA 200 ORTE MIT STADTRECHT.

2022 GIBT ES IN DER SCHWEIZ 162 STATISTISCHE STÄDTE. EINE STADT IN DER SCHWEIZ MUSS PER DEFINITION EINE KERNZONE

MIT MINDESTENS 12 000 EBL AUFWEISEN, WAS DER SUMME AUS EINWOHNER:INNEN, BESCHÄFTIGTEN UND ÄQUIVALENTEN AUS LOGIERNÄCHTEN ENTSPRICHT. DER STÄDTEVERBAND HAT AUCH 7 MITGLIEDER, DIE NICHT DIESER STATISTISCHEN DEFINITION ENTSPRECHEN. APPENZELL, AROSA, LA NEUVEVILLE, MOUTIER, MURTEN, WORB UND ZUCHWIL WEISEN JEDOCH IN IHRER TRADITION UND ENTWICKLUNG STÄDTISCHEN CHARAKTER AUF.

FLÄCHE DER SCHWEIZ

Landwirtschaftsflächen 35% 

Bestockte Fläche (Wald) 32%

Unproduktive Flächen 25% Siedlungsflächen 8%  davon städtisches Wohnareal <1%  Restliche besiedelte Fläche 2,3% 5,7% 48% 52%

der Bevölkerung der Bevölkerung 

DIE STÄDTER:INNEN LEBEN IN RUND 2 MIO. WOHNUNGEN VERTEILT AUF KNAPP 540 000 GEBÄUDE.

DURCHSCHNITTLICHER MONATLICHER NETTO-MIETZINS, 2021

Höchste Mieten Küsnacht(ZH) 2114 Meilen 1963 Zug 1905 Freienbach 1838 Thalwil 1721

Tiefste Mieten Delémont 962

Chiasso 865 Moutier 827 La Chaux-de-Fonds 804 Le Locle 715

UM DIE JAHRTAUSENDWENDE LEBTE JEDER VIERTE

STADTBEWOHNENDE DER WELT UNTERHALB DER ARMUTSGRENZE.

IN DER SCHWEIZ SIND 2020 8,5% DER STÄNDIGEN WOHNBEVÖLKERUNG IN PRIVATHAUSHALTEN VON EINKOMMENSARMUT BETROFFEN. ZWEI DRITTEL DAVON LEBEN MIT BLICK AUF DEN GRAD DER VERSTÄDTERUNG IM «MÄSSIG BESIEDELTEN GEBIET» (53,6%) ODER IN «DÜNN BESIEDELTEM GEBIET» (13,4%). RUND EIN DRITTEL

WÄHREND AUSLÄNDER:INNEN AUSSERHALB DER STÄDTE NUR 20%

DER BEVÖLKERUNG AUSMACHEN.

2021 LIESSEN SICH 4,3 PERSONEN PRO 1000 EINWOHNER:INNEN VERHEIRATEN,

1930 WAREN ES DURCHSCHNITTLICH NOCH 7,8 IN DEN DAMALS 26 ERHOBENEN STÄDTEN.

ENTWICKLUNG DER ANZAHL SCHÜLER:INNEN UND DER GESAMTBEVÖLKERUNG: NACH GEMEINDEGRÖSSE, 2022

<10 000 Einwohner:innen -3,1% +5,4%

10 000–14 999 +8,7% +9,2%

15 000–19 999 +6,7% +9,1%

20 000–49 999 +6,7% +9,6%

50 000–99 999 +2,6% +5,5%

>100 000 +11,5% +10,4%

DIE 12 GRÖSSTEN STÄDTE

ZÄHLEN GLEICH VIELE EINWOHNER:INNEN WIE DIE 14 KLEINSTEN KANTONE.

ES GIBT KEIN STÄDTEMEHR.

BEIM STÄNDEMEHR HAT EIN STIMMBERECHTIGTER IM KANTON APPENZELL INNERRHODEN

40-MAL MEHR GEWICHT ALS EINE STIMMBERECHTIGTE DES KANTONS ZÜRICH. VOR IHRER TÜRE. IN DEN ZEHN GRÖSSTEN SCHWEIZER STÄDTEN GAB ES 2017

CA. 80 KINOS

MIT ÜBER 220 SÄLEN. VON DEN ZEHN BELIEBTESTEN MUSEEN

DER SCHWEIZ 2019 BEFINDEN SICH DEREN 8 AUF STÄDTISCHEM BODEN – CHÂTEAU DE CHILLON UND MAISON CAILLER BILDEN DIE AUSNAHME.*

DIE FUSSBALL

SUPER LEAGUE UND DIE EISHOCKEY NATIONAL LEAGUE ZOGEN IN DER LETZTEN SAISON VOR CORONA INSGESAMT RUND 4,18 MIO. ZUSCHAUER:INNEN

IN DIE JEWEILIGEN STÄDTE.

2015 UMFASSTE DAS PARKPLATZAREAL DER SCHWEIZ EINE FLÄCHE VON 6404 HEKTAREN. DAS ENTSPRICHT DURCHSCHNITTLICH

AUSGABEN DER STÄDTE 2019

Bildung 23,2% Soziale Sicherheit 21,5% Allgemeine Verwaltung 9% Kultur, Sport und Freizeit, Kirche 8,5% Finanzen und Steuern 8,4% Verkehr und Nachrichtenübermit. 7,8% Öffentliche Ordnung und Sicherheit, Verteidigung 7,8% Gesundheit 6,2% Umweltschutz und Raumordnung 5,6% Volkswirtschaft 2%

5,1 MIO. PARKPLÄTZEN

FÜNF STÄDTE MIT DEM WENIGSTEN AUTOBESITZ 2022 UND 2000, PRO 1000 EINWOHNER:INNEN Basel 320 324 Zürich 331 380 Genf 346 472 Lausanne 349 456 Vevey 378 434

IN DER STADT BASEL WURDEN 2021 INSGESAMT 23 410 BÄUME

VON ÜBER 500 VERSCHIEDENEN ARTEN GEZÄHLT. 2019 LEBTEN 10-MAL MEHR FÜCHSE

IM SIEDLUNGSGEBIET ALS AUF DEM LAND.

RENÉ L. FREY PRÄGTE ANFANG DER 1990ER JAHRE DEN BEGRIFF DER A-STADT: ALTE, ARBEITSLOSE,

AUSLÄNDER UND ASOZIALE.

IN DEN 2000ER JAHREN FÜHRTE RICHARD FLORIDA DENJENIGEN DER CREATIVE CITIES EIN. TALENT, TECHNOLOGY, TOLERANCE,

DAS GILT HEUTE ALS ANZIEHUNGSFORMEL FÜR DIE KREATIVEN.

WELCHES STÄDTEBILD WIRD DEN SSV BEI SEINEM 150-JAHR JUBILÄUM PRÄGEN?

* 1. Verkehrshaus der Schweiz, Luzern; 2.Fondation Beyeler, Riehen; 3. Château de Chillon, Veytaux; 4. Maison Cailler, Broc; 5. Musée Olympique, Lausanne; 6. Landesmuseum, Zürich; 7. Musée d'histoire naturelle, Genève; 8. Swiss Science Center Technorama, Winterthur; 9. Kunsthaus Zürich 10. Kunstmuseum Basel Quellen: Bundesverfassung der Schweizer. Eidgenossenschaft; EFV Finanzstatistik: 2022; Florida, Richard: Cities and the Creative Class; Frey, René: Stadt. Lebens- und Wirtschaftsraum; Historisches Lexikon der Schweiz: Eintrag «Stadt»; Science Daily: 25.5.2007; Statistik der Schweizer Städte: 1930, 2000, 2015, 2021, 2022; Taschenstatistik Kultur in der Schweiz: 2020. BFS, Arealstatistik 2021, BFS, SILC 2020 Recherche: Marlene Iseli und Janis Lüber Grafik: Moiré

Was geschah in Harlow? Der Niedergang einer Utopie: Meine Stadt in England.

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1 Die drei Männer hatten bereits mehrere Stunden lang tief ins Glas geschaut, als ihr Weg sie schliesslich zu «The Stow» führte, einem Einkaufszentrum im englischen Harlow. Es war kurz vor Mitternacht an einem warmen Wochenende im August, und Arkadiusz Jóźwik und seine beiden Begleiter – Polen wie er – waren erschöpft und hungrig. Harlow ist eine von Schwierigkeiten geplagte Stadt in der Grafschaft Essex, nordöstlich von London. Jóźwik und seine Begleiter lebten und arbeiteten hier. Er hatte im Take-away eingekauft und setzte sich auf eine Mauer, um die Pizza zu essen. In dem Moment bemerkten die Männer eine Gruppe von Jugendlichen ganz in der Nähe, ein paar von ihnen auf Fahrrädern. Die Jungs, gerade einmal fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, kamen näher. Es wurde laut, feindselig, einer stachelte den anderen an, die Lage eskalierte. Einer der Jugendlichen verliess die Clique und schlich sich zu Jóźwik herüber. Sein «Superman-Hieb», wie man ihn später vor Gericht nennen würde, traf Jóźwik am Hinterkopf. Jóźwik stürzte – vielleicht, weil er betrunken war, vielleicht auch, weil er Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht hatte – und schlug mit dem Kopf auf den Bürgersteig, woraufhin die Jugendlichen in Panik gerieten und wegrannten. Jóźwik war bewusstlos, und Blut lief ihm aus den Ohren, er wurde ins Krankenhaus gebracht. Tags drauf nannte die Essexer Polizei den Angriff «brutal» und «möglicherweise durch Hass motiviert». Man liess anklingen, dass Jóźwik wohl angegriffen wurde, weil er Polnisch gesprochen hatte. Dies alarmierte die Presse, denn es bedeutete, dass das, was sich am Samstag, dem 27. August 2016, beim Einkaufszentrum abgespielt hatte, mehr war als eine nächtliche Auseinandersetzung, die aus dem Ruder gelaufen war. Hier ging es um Hass. Um Politik. Wir befanden uns mitten im hitzigen Referendumssommer. Die Atmosphäre war vergiftet mit Vorwürfen und Gegenvorwürfen und England gespaltener denn je. Auf der einen Seite standen diejenigen, die das Vereinigte Königreich weiterhin als Mitglied der Europäischen Union sehen wollten, auf der anderen Seite diejenigen, die raus wollten aus der EU – remainer gegen leaver. Wie Hunderttausende seiner Landsmänner, die in den Jahren seit dem EU-Beitritt der ehemaligen Ostblockstaaten nach Grossbritannien gezogen waren, war Jóźwik überzeugt, dass England ihm mehr zu bieten hatte als sein Heimatland. Er hatte keine Frau, und auch, weil er nicht allein in Polen bleiben wollte, war er 2012 zu seiner verwitweten Mutter nach Harlow gezogen und hatte begonnen, in einer Wurstfabrik zu arbeiten.

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Am Tag nach dem Übergriff im Einkaufszentrum wurden sechs Jugendliche wegen des Verdachts des versuchten Mordes verhaftet. Arkadiusz Jóźwik hatte eine Hirnverletzung und eine Schädelfraktur erlitten. Wenig später, am 29. August, starb Arek, wie er von seinen Freunden und der Familie genannt wurde – im Alter von vierzig Jahren im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein zurückerlangt zu haben. Die genauen Hintergründe des Angriffs kennt man bis heute nicht – ein Zeuge sagte aus, dass Jóźwik einen der Jugendlichen mit schwarzer Hautfarbe rassistisch beschimpft habe –, was auch immer das Motiv gewesen sein mag, die Auswirkungen des Hiebes, der Jóźwik tötete, waren auf der ganzen Welt zu spüren. Bald war nur noch vom «Brexit-Mord» die Rede. Im Referendum am 23. Juni 2016 hatte jeder einzelne Bezirk in Essex sich mehrheitlich für den Austritt aus der EU ausgesprochen (die Brexit-Befürworter in Harlow, das mit hoher Arbeitslosigkeit und sozial benachteiligten Vierteln zu kämpfen hat, lagen mit 68 Prozent deutlich weiter vorn als der Landesdurchschnitt von 52 Prozent). Nach Jóźwiks Tod wandte sich der polnische Staatspräsident Andrzej Duda an die geistlichen Oberhäupter in Grossbritannien und bat um ihre Mithilfe, um weitere Angriffe auf polnische Staatsangehörige zu verhindern. Der polnische Botschafter in Grossbritannien wurde zu einer Stadtführung durch Harlow eingeladen. Etwa zur gleichen Zeit entsandte Warschau polnische Polizisten auf Streife rund um das Einkaufszentrum in Harlow, und die polnische Gemeinschaft rief zu einem Solidaritätsmarsch in der Stadt auf. «Wir Europäer werden es niemals hinnehmen, dass polnische Arbeiter auf den Strassen von Harlow […] belästigt, angegriffen oder gar ermordet werden», sagte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, am 14. September 2016 in seiner jährlichen Rede zur Lage der Union. Was bei Junckers Wortwahl mitschwang: Fremdenfeindliche Kräfte infolge des Brexit-Referendums waren schuld an Arkadiusz Jóźwiks Tod, und Harlow und seine Einwohner waren mitverantwortlich.

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Manchmal träume ich von Harlow. Ich wurde in dem Teil der Stadt geboren, der damals «New Town» hiess. Ich besuchte verschiedene öffentliche Schulen in der Stadt und verbrachte die ersten achtzehn Jahre meines Lebens dort.

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In meinen Träumen von Harlow bin ich mein heutiges Ich – ein Mann mittleren Alters, verheiratet, mit Kind –, doch stets finde ich mich in dem Haus in der kaum befahrenen Sackgasse wieder, welches wir als fünfköpfige Familie von 1972 bis 1983 bewohnten und wo ich den grössten Teil meiner Kindheit und Jugend verbrachte, bevor meine Eltern, verunsichert durch das, was sie für den unaufhaltsamen Niedergang der Stadt hielten, in die benachbarte Grafschaft Hertfordshire zogen. Mein Vater lebt in diesen Träumen noch. Er ist rational und ruhig, genau wie ich ihn in Erinnerung habe, und es ist, als hätten wir nun Gelegenheit, all jene Gespräche zu führen, die uns durch seinen plötzlichen Tod an einem Herzinfarkt im Alter von gerade einmal sechsundfünfzig Jahren verwehrt geblieben sind.

Als ich mit Mitte zwanzig in London zu arbeiten begann, war der Ort, an dem ich aufgewachsen war, das Allerletzte, woran ich erinnert werden wollte. Ich erwähnte nur ungern, dass ich aus Essex beziehungsweise aus Harlow kam. Etwas in mir sträubte sich dagegen. Am liebsten wollte ich meine Herkunft vergessen, sie hinter mir lassen. Ich spürte ein Schamgefühl, das ich nicht in Worte fassen konnte, das etwas mit dem englischen Klassensystem und der allgemeinen Wahrnehmung von Harlow als gescheiterter Stadt, als Heimat der Prolls, zu tun hatte.

3 «The Stow» war bei seiner Eröffnung in den fünfziger Jahren das erste Einkaufszentrum der Stadt. Wie viele andere öffentliche Räume in Harlow wurde es in der Folgezeit vernachlässigt. Als mich der «Brexit-Mord» nach langer Zeit zurück ins «Stow» zog, war ich überrascht, wie heruntergekommen es wirkte. Die Ladenzeile war fest in der Hand von 1-Pfund-Läden, Secondhandläden für wohltätige Zwecke und abgewrackten Schnellimbissen. Ein Tattoo- und Piercingstudio durfte natürlich nicht fehlen. Eine Thai-Massage direkt neben einem Bestattungsinstitut. Der Pub machte einen verkommenen und wenig einladenden Eindruck. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, dennoch wirkte alles irgendwie trostlos. Als ich zum Auto kam, sassen drei junge Männer auf einer Mauer in der Nähe. Einer von ihnen begrüsste mich mit den Worten: «Schicke Karre!» Er sprach Englisch mit starkem Akzent, und es stellte sich heraus, dass er und seine Freunde Rumänen waren. Als ich mich erkundigte, wie es sich als Osteuropäer in der Stadt lebe, drucksten sie herum. Hatten sie Arbeit? Nein, antworteten sie.

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Wie lange sie schon hier seien? Noch nicht lange. Sie hatten geglaubt, sie kämen in eine neue Stadt. Aber, so sagten sie, Harlow sei nicht neu. Es wirke alt.

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Meine Eltern zogen 1959 nach Harlow, zu einem Zeitpunkt, als die Stadt noch unter 6000 Einwohner hatte (heute sind es 86 000, und die Zahl wächst weiter). Beide kamen aus dem Osten Londons, und beide waren als Kinder während des Krieges evakuiert worden – eine Erfahrung von Trennung und Entwurzelung, die vor allem meiner Mutter sehr zu schaffen machte. Kriegsbedingt verliessen beide die Schule im Alter von fünfzehn Jahren. Mein Vater (der ein Stipendium für ein Ingenieurstudium ausgeschlagen hatte) begann eine Lehre als Hemdenschneider, und meine Mutter arbeitete als Assistentin in einer Anwaltskanzlei in der City of London. Sie lernten sich beim Tanzen kennen und heirateten 1958. Kurz darauf zogen sie nach Harlow – die älteste Schwester meiner Mutter wohnte dort. Sie waren auf der Suche nach neuen Möglichkeiten und hofften, sie in der gerade entstehenden «New Town» zu finden.

Durch die New Towns Act von 1946 wurden acht neue Städte erbaut, um eine angemessene Unterkunft für die 340 000 «überschüssigen» oder «ausgebombten» Londoner zu schaffen, da während des Zweiten Weltkriegs in London über eine Million Häuser zerstört oder beschädigt worden waren. Meist handelte es sich um kleine Ortschaften auf dem Land – Hemel, Stevenage, Hatfield, Welwyn –, die erweitert werden sollten. Harlow im ländlich geprägten Westen von Essex allerdings sollte ganz neu entstehen. Sechzig Prozent des Baulandes waren dem Besitzer, Kommandant Godfrey Arkwright, Familienoberhaupt einer alteingesessenen Essexer Jagd- und Landbesitzerfamilie, zwangsweise abgekauft worden, und die ersten Einwohner der Stadt betrachteten sich als Pioniere für etwas noch nie Dagewesenes.

Das ursprüngliche Dorf Harlow (später umbenannt in Old Harlow) findet schon im Domesday Book, einem Grundbuch aus dem 11. Jahrhundert, Erwähnung. Harlow und andere alteingesessene Siedlungen – Potter Street, Parndon, Netteswell, Tye Green, Latton, Churchgate Street – wurden vom hauptverantwortlichen Architekten Frederick Gibberd in sein städtebauliches Konzept mit aufgenommen: Man erweiterte und entwickelte sie, liess sie aber nicht verschwinden oder abreissen. Gibberd wollte, dass Harlow Urbanes und Ländliches miteinander verband. Natur sollte es innerhalb und ausserhalb der Stadt

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geben. Sein erklärtes Ziel war ein «gelungener Gegensatz von dem Werk des Menschen und dem Werk Gottes».

Meine Eltern waren begeistert, wie ländlich Harlow bei ihrer Ankunft wirkte. Die Stadt wuchs um sie herum, eine in sich geschlossene Wohnsiedlung folgte der nächsten.

Für meine Eltern war der Umzug nach Harlow eine Art Flucht: Weg von der Vergangenheit mit ihren Bombenkratern und zerstörten viktorianischen Gebäuden und Strassen im Londoner Osten und hin, so glaubten sie, in eine bessere Zukunft. Lord Reith, der erste Generaldirektor der BBC, war Vorsitzender des New-Towns-Ausschusses. Für ihn waren diese Städte «Zivilisationsexperimente», und er wünschte sich «glückliche und gütige» Einwohner.

In Harlow richtete man den Blick in den ersten Jahren ausschliesslich nach vorn – Hoffnung, Neuanfang und jugendlicher Elan standen im Mittelpunkt. Schaut nicht zurück! Schaut bloss nicht zurück! Doch in den sechziger Jahren kamen erste Berichte über ein Phänomen auf, das man als «New Town Blues» bezeichnete. Es beschrieb ein Gefühl der Entfremdung und der Isolation, empfunden von denjenigen, denen es schwerfiel, sich anzupassen, oder die jene Gemeinschaften vermissten, aus denen man sie gerissen hatte.

Ich hingegen kannte keine andere Heimat. Als ich geboren wurde, nannte man Harlow wegen der vielen jungen Paare, die dort Familien gründeten, nur die «Kinderwagenstadt». Die Geburtenrate war dort dreimal so hoch wie im Landesdurchschnitt. Der Künstler Henry Moore, der ein Haus und Atelier in der nahe gelegenen Ortschaft Perry Green in der Grafschaft Hertfordshire hatte, wurde gebeten, eine Skulptur zu entwerfen, die das grandiose Versprechen der New Town symbolisierte.

Heute schmückt Moores Harlow Family Group den Eingangsbereich des Bürgerzentrums der Stadt. Ein Mann und eine Frau sitzen Seite an Seite, aufrecht und stolz. Der rechte Arm des Mannes ruht schützend auf der Schulter seiner Frau, sie hat ein kleines Kind auf dem Schoss. Sir Kenneth Clark, damals Vorsitzender des britischen Arts Council, nannte die 2,5 Meter hohe und 1,5 Tonnen schwere Skulptur von Moore bei ihrer Enthüllung im Jahr 1956 vor der Kirche St Mary-at-Latton das Symbol einer «neuen menschenfreundlichen Zivilisation», die aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen sei.

Die Harlow Family Group war eines von vielen bemerkenswerten Stücken, die vom 1953 gegründeten und von Philanthropen und der Stadtverwaltung unterstützten Harlow Arts Trust angekauft oder in Auftrag gegeben wurden. Die Idee von öffentlicher Kunst für die

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arbeitende Bevölkerung hatte etwas Bevormundendes, aber die Absichten waren gut. «Oftmals sind Skulpturen nur eine Art kulturelles Zugeständnis, die für das tatsächliche Leben einer Stadt wenig Bedeutung haben, aber in diesem Fall sind sie ein integraler Bestandteil von Harlow geworden», sagte Frederick Gibberd 1964. Er wollte, dass Harlow «die Heimat der schönsten Kunstwerke wird, wie Florenz und andere eindrucksvolle Städte».

5 Damals – heute kaum vorstellbar – schrumpfte Londons Bevölkerung. Bevor er heiratete, hatte mein Vater, als einziges Kind eines Busfahrers, in einem Reihenhaus im Londoner East End gelebt, die Besiedelung wurde in diesem Stadtviertel langsam dünner, und der Wald begann. Das Haus hatte einen kleinen Garten, die Toilette befand sich draussen. Mein Vater war talentiert und obendrein ein begabter Cricketspieler; er und seine Mutter erhofften sich mehr als das, was das Leben für ihn bereitzuhalten schien. Sein Vater Frank, der in seiner Freizeit in den Pubs des East End boxte, war ein ruhiger und umgänglicher Mann ohne grossen Ehrgeiz. Mein Vater wollte nicht Busfahrer wie sein Vater werden oder an den Docks arbeiten wie seine Vorfahren. Es zog ihn ebenso wenig nach Australien, wohin einer seiner Onkel ausgewandert war. Er hatte kulturelle Ambitionen. Mit der Unterstützung seiner kampfeslustigen, unnachsichtigen, rothaarigen Mutter (die stets eine Brosche mit einem Foto ihres Sohnes trug, der bei ihr nur «jedermanns Liebling» hiess) kleidete er sich elegant, las Gedichte, hörte Jazzmusik und kaufte jeden Sonntag den Observer, um die Literatur- und Kunstkritiken zu lesen. Er ging gern ins Theater und war von Hollywood fasziniert. Er liebte die Marx Brothers und W. C. Fields. Als er ein junger Mann war, war das East End nicht das heutige pulsierende, polyglotte, multiethnische Reich der Hipster-Bars, Tech-Startups, Craft-Beer-Festivals und Barista-Seminare, ein Ort mit astronomischen Immobilienpreisen. Es war engstirnig, arm und kleingeistig. Er wollte raus. Doch viele Jahre später, in Harlow, als mein Vater im mittleren Alter war und seine erfolgreiche Karriere im «Lumpenhandel», wie er seinen Schneiderberuf ironisch nannte, ins Stocken geriet, passierte etwas mit ihm. Er wurde zunehmend nostalgischer und introspektiver. Er fing an, über die verlorene Welt im East End seiner Jugend zu grübeln – über das Gemeinschaftsgefühl und den Nachbarschaftsgeist von damals. Vielleicht war es ein sehr später Ausbruch des New Town Blues. Er hörte immerzu Musik aus den vierziger Jahren, am liebsten die populären

Illustration: Luca Schenardi

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Songs von Al Bowlly, dem südafrikanischen Sänger, den eine deutsche Bombe in seiner Londoner Wohnung tötete. «Oh, nein, jetzt fängt er schon wieder mit dem Krieg an», frotzelten wir dann. Er zeigte mir einige der Gedichte, die er geschrieben hatte. Immer war der Schauplatz das East End der frühen vierziger Jahre oder unmittelbar nach Kriegsende. Mein Vater war ein Kriegskind. Der erste Tag des Blitzkrieges, der 7. September 1940 – der «Schwarze Samstag» –, ein Tag mit strahlend blauem Himmel, war sein sechster Geburtstag. Er war so traumatisiert vom Angriff auf die Docklands und die umliegenden Viertel – er erinnerte sich an brennende Gebäude und das apokalyptische rote Leuchten des Himmels –, dass er zu sprechen aufhörte. Mein Grossvater, der Busfahrer, weigerte sich, das Haus selbst bei starken Bombenangriffen zu verlassen. Mein Vater und meine Grossmutter rannten zum nächsten Luftschutzbunker, sobald die Sirenen ertönten und vor einem Angriff der Luftwaffe warnten, doch Frank blieb lieber über der Erde, selbst wenn die Häuser der Nachbarn den Bomben zum Opfer fielen. In späteren Jahren sprach mein Vater oft darüber, wie die Zerstörungen, die eindrücklichen Erfahrungen eines Kindes an der Heimatfront und die Allgegenwärtigkeit des Krieges die Menschen zusammenschweissten: Sie hielten zusammen in der Überzeugung, dass, wenn sie gemeinsam das Schlimmste überstanden, eine bessere Zukunft auf sie wartete. Harlow schien dieses Versprechen wahr zu machen. Der Krieg und die dadurch bedingte Planwirtschaft schufen die Voraussetzungen für Sozialismus und eine neue Siedlungspolitik in Grossbritannien. Ohne den Krieg wäre Labour 1945 nicht an die Macht gekommen. «Die Revolution in England hat begonnen», sagte der Schriftsteller H. G. Wells am 22. Mai 1940, als das Notstandsgesetz ins Unterhaus eingebracht wurde und Sandsäcke rund ums Parlamentsgebäude gestapelt wurden. Für George Orwell, der den Patriotismus der Arbeiterklasse bewunderte, entwickelte die «englische Revolution» mit dem heroischen Rückzug aus Dünkirchen ihre eigene Dynamik. «Wie alles in England passiert es auf eine verschlafene, widerwillige Weise, aber es passiert», schrieb Orwell. «Der Krieg hat es beschleunigt und die Beschleunigung gleichzeitig notwendig gemacht.»

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In Harlow aufzuwachsen, hiess, an vorderster Front der englischen Revolution zu kämpfen. Mehr noch, man war selbst ein kleines Zahnrad in einem bedeutenden sozialen und politischen Experiment. Heute verstehe ich das, aber damals fehlte mir der Abstand. Meine Freunde

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und ich waren Kinder des Sozialstaates. Die sozialen Veränderungen und die zentralisierten Planungen der Nachkriegszeit, als die neue LabourRegierung mit dem Aufbau dessen begann, was Attlee das «Neue Jerusalem» nannte, boten uns aufregende neue Möglichkeiten. Der National Health Service wurde ins Leben gerufen, die National Insurance Act schaffte den verhassten Bedürftigkeitsnachweis als Bedingung für Sozialleistungen ab; wichtige Industriezweige wie die Eisenbahn und der Bergbau wurden verstaatlicht; die Town and Country Planning Act wurde verabschiedet und ebnete den Weg für den Wohnungsbau im grossen Stil und die Neugestaltung riesiger Landstriche; Grossbritannien bekam eigene Atomwaffen zur nuklearen Abschreckung; die Kluft zwischen Reich und Arm wurde kleiner.

Es war eine sehr britische Revolution, ein sehr pragmatisches sozialistisches Experiment: Der Staat wurde mächtig, aber nicht übermächtig. Hier wurde nicht rachsüchtig etwas zerstört, sondern etwas geschaffen: ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen dem Staat und dem Einzelnen zur Verbesserung des Gemeinwohls. Die Monarchie und Familien mit Grundbesitz blieben ebenso verschont wie die traditionsreichen Privatschulen (Attlee selbst war stolzer Absolvent des Haileybury and Imperial Service College). Die individuelle Freiheit und die grossen britischen Institutionen blieben weiterhin bestehen. Die Kriegskosten hatten die Kassen der Nation geleert, für ein ruinöses Handelsdefizit gesorgt und die imperiale Hegemonie des Landes beendet. Aber jetzt waren neue Zeiten angebrochen. Fortschritt war nicht nur möglich, er war unausweichlich. Attlee erkannte, dass das britische Volk «einen Neuanfang wollte». Es hatte viel gelitten und Schlimmes durchgestanden. Ab jetzt, sagte er, «blicke man in die Zukunft».

Unsere Kindheit war ein soziales Experiment, und es schien, als ob alles, was wir brauchten, vom Staat zur Verfügung gestellt wurde: Wohnung, Bildung, Krankenversorgung, Bibliotheken, Freizeit- und Sportanlagen. Es gab sogenannte playschemes (die ein bisschen an Sommerlager erinnerten), wo wir uns trafen, um während der Ferien zu spielen oder an organisierten Wettbewerben teilzunehmen. Die Stadt verfügte über eines der ausgedehntesten Radwegenetze im Lande, welches alle Stadtteile mit dem dichtbebauten Stadtzentrum, dem auf einem Hügel errichteten «High» und mit den beiden wichtigsten Industriegebieten, den Temple Fields und den Pinnacles, verband. 1961 wurde ein Mehrzwecksportzentrum eröffnet, das erste seiner Art in Grossbritannien. Es wurde von den Bewohnern der Stadt durch freiwillige Zusatzabgaben auf die Gemeindesteuer finanziert (meine Tante war eine begeisterte Unterstützerin).

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Ein Freund hat die Erfahrung, in den sechziger und siebziger Jahren in der Stadt aufzuwachsen, später als «Ostdeutschland ohne Stasi» beschrieben. Diejenigen von uns, die dort geboren und aufgewachsen waren, galten als die «Bürger der Zukunft». Ländliche Räume (sogenannte Grünzüge im Generalbebauungsplan, von denen sich einer zum imposanten Stadtpark entwickelte, inklusive Eislaufbahn, Musikpavillon, Neun-Loch-Golfplatz und Zoo) und Spielzonen für Kinder sollten uns ermutigen, ein gesundes, aktives Leben zu führen, und sichere Orte zum Spielen bieten. Oder wie es im öffentlichen Informationsfilm über Harlow von 1958 hiess: «Wenn es diesen Jungen und Mädchen im Erwachsenenalter nicht gelingt, erfolgreich die Probleme ihrer Zeit zu bewältigen, so kann man die Schuld sicher nicht bei den Architekten und Planern suchen, die ihnen diesen aussergewöhnlichen Start ermöglicht haben.»

7 Was ich damals nicht sah – beziehungsweise schon sah, aber mir nichts dabei dachte –, war, dass Harlow im Grunde eine reine Monokultur war. Das erklärte Ziel war es gewesen, eine «klassenlose» Gesellschaft zu schaffen, doch wer dort aufwuchs, hatte die meiste Zeit das Gefühl, in einer «Einklassenstadt» zu leben. Die Arbeiterklasse blieb hier unter sich. Es gab eine kleine Gruppe bürgerlicher Intellektueller, die sich in der Labour-Partei und den lokalen Theater-, Literatur- und Filmgesellschaften engagierte und sich ab 1971 zu Live-Theater-Aufführungen, Filmen und Ausstellungen traf. Mein Vater, den Kultur immer mehr interessiert hatte als Politik, war unter ihnen. Aber im Grossen und Ganzen war eigentlich jeder, mit dem ich zu tun hatte, weiss und der Arbeiterklasse zuzurechnen. Unter den rund 250 Kindern in meinem Jahrgang an der weiterführenden Schule – einer gigantischen Gesamtschule, die 1959 ihre Pforten geöffnet hatte und 1972 erweitert wurde, einer von insgesamt acht Schulen in der Stadt – kann ich mich nur an einen einzigen Jungen erinnern, dessen Familie aus Hongkong kam (er eröffnete später ein Restaurant in Deutschland), und an zwei Mädchen, deren Eltern Inder waren. Alle anderen waren weiss. Die Eltern meiner Klassenkameraden kamen überwiegend aus dem East End oder den ärmeren Vierteln im Norden Londons, viele arbeiteten in den Fabriken und Industrieanlagen der Stadt. Jedes Unternehmen unterhielt seine eigenen Vereine und Sportmannschaften, ja sogar Fussballteams für Jungen, gegen die ich in der Freizeitliga für Newtown Spartak antrat – ein

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Klub mit einem Namen, den man spontan wohl eher in der Sowjetunion verortet hätte. Vor der Einführung von Margaret Thatchers «Right to Buy»Programm, das es Mietern ermöglichte, ihr Haus von der Gemeinde stark vergünstigt zu erwerben, hatten die meisten Häuser in der Stadt der Gemeinde gehört. Noch heute ist ein Drittel des Wohnungsbestands in Gemeindebesitz. Wir selbst waren bereits seit 1972 stolze Eigentümer unseres eigenen Hauses und lebten in einer der wenigen privaten Siedlungen, den sogenannten Executive Estates. Damit stachen wir aus der Masse heraus, ebenso wie durch die Tatsache, dass mein Vater nicht vor Ort arbeitete, sondern in London (und dann noch mit seinem Alfa Romeo hin- und herpendelte, anstatt den Zug zu nehmen). Da er in der Kleiderbranche tätig war – er kümmerte sich um Design, Sortimentsgestaltung, Vermarktung –, trug er modische, oft extravagante Kleidung und reiste viel – nach Indien, Hongkong, in die Vereinigten Staaten, Südkorea, Frankreich, die Schweiz, Italien und Deutschland. Mein Vater hatte ein Abendstudium absolviert und konnte sich gut ausdrücken – für meine Freunde war er damit piekfein, posh. Natürlich war er das nicht, sondern er sprach bloss nicht den lokalen Dialekt, der in und um London gesprochen wird. Meine Schulzeit war eine einzige Übung in Kompromiss und Anpassung: Wenn ich zu Hause so gesprochen hätte wie in der Schule, hätte meine Mutter meine Aussprache kritisiert. Hätte ich umgekehrt in der Schule so gesprochen wie zu Hause, wäre ich als posh verspottet worden, was eine der schlimmsten Beleidigungen war. Wenn meine Klassenkameraden mich in unserem mit Büchern vollgestopften Haus besuchten, versteckte ich die Zeitschriften und Zeitungen meines Vaters – den New Statesman, The Listener, i-D, City Limits –, weil es nicht die Sun oder der Mirror waren, die die anderen Väter lasen. Ich war wenig begeistert, dass er sich nicht an die in Harlow geltenden Normen hielt. Gleichzeitig wäre die Konformität, die ich mir wünschte, ein Verrat an allem gewesen, was ihm wichtig war und was ihn ausmachte. Manchmal, wenn er nicht da war, öffnete ich seinen Schrank und atmete den warmen, betörenden Geruch seiner Kleidung ein. Besonders faszinierten mich seine zweifarbigen Schuhe, die exotischen Hemden und grellen Krawatten. Warum kleidete er sich nicht wie die Väter meiner Klassenkameraden, die typische Arbeiterjacken und Doc-Martens-Stiefel trugen? In den fünf Jahren, die ich an der Gesamtschule verbrachte (ich verliess die Schule mit sechzehn Jahren und machte später mein Abitur am Harlow College), hatte ich nicht das Gefühl, dass man uns hier

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auf ein mögliches Studium vorbereitete. Ich sagte einmal aus einer Laune heraus, dass ich gern Jura studieren würde, ohne wirklich zu wissen, was das eigentlich bedeutete. Ein Lehrer erwiderte, Jura sei etwas für die «Jungs von der Privatschule», und damit war die Sache für ihn durch. Es war eine wichtige Lektion für mich. Meine Hauptarbeit bestand darin, mich irgendwie durchzumogeln. Holzarbeit, Metallarbeit, Kraftfahrzeuglehre und Hauswirtschaftslehre gehörten zu unseren Unterrichtsfächern. Ich erwies mich in jedem einzelnen von ihnen als hoffnungslos untalentiert.

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Mein Vater verpasste keine Gelegenheit, uns daran zu erinnern, dass wir unsere Möglichkeiten als Bürger der Zukunft dem Idealismus der Kriegsgeneration verdankten. Nur leider ist der Fortschritt keine Einbahnstrasse. Es geht nicht von selbst immer nur vorwärts, und der Verlauf der Geschichte bringt die Menschen einer aufgeklärten Gesellschaft nicht automatisch näher. Die Geschichte verläuft nicht linear, sondern sie ist Zufällen, Zäsuren und Zyklen unterworfen. Ron Bill, ein Bekannter meiner Mutter, der für die Harlow Development Corporation arbeitete, sagte mir einmal, dass er und seine Kollegen eine Utopie hätten verwirklichen wollen. «Die Stadt zog fortschrittsgläubige, gemeinschaftsorientierte Menschen an», sagte er. Der Stadtarchitekt Frederick Gibberd war selbst einer von ihnen gewesen. Die erste Welle von Menschen, die in den fünfziger und sechziger Jahren in die Stadt kam – unter ihnen viele Sozialisten und Kommunisten –, träumte davon, etwas gemeinsam aufzubauen. Das Problem war nur, dass dieser ersten Welle keine vergleichbare zweite folgte.

Utopie bedeutet «Nichtort» oder «Nirgendwo». Harlow wird oft als abgehängte Stadt bezeichnet, als «Nirgendwo», das man nur durchquert, um nach «Anderswo» zu gelangen. Nach dem Tod von Arkadiusz Jóźwik im Sommer 2016 kamen nur Negativschlagzeilen aus Harlow. Die ersten Berichte über den sogenannten «Brexit-Mord» vermittelten überwiegend den Eindruck, die Pioniere und Planer der Stadt, die eine Utopie im Sinn gehabt hatten, hätten stattdessen ihr Gegenteil geschaffen: eine Dystopie.

9 Am 31. Juli 2017 begab ich mich zum Chelmsford Crown Court, um zu hören, wie Richterin Patricia Lynch ihr Urteil im Fall Jóźwik verkündete. Als ich im heruntergekommenen Wartebereich vor

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dem Gerichtssaal darauf wartete, dass die Verhandlung begann, sass die Familie des jungen Angeklagten mir gegenüber. Fast ein Jahr war seit Arkadiusz Jóźwiks Tod vergangen, und der Angeklagte, dessen Name aus rechtlichen Gründen nicht genannt werden darf, war inzwischen sechzehn Jahre alt. Seine Familie – er war in Begleitung seiner Mutter und Grossmutter erschienen – betrachtete mich argwöhnisch und lehnte jede Stellungnahme ab, als ich sie ansprach. Der Junge starrte mich einfach nur mit leerem Blick an. Ich gab der Familie meine Kontaktdaten und bat sie, sich bei mir zu melden. Ich hörte nichts mehr von ihnen. Ich unternahm noch mehrere Versuche über ihren Anwalt in Old Harlow. Doch die Familie hatte sich entschieden zu schweigen. Am Nachmittag wechselte ich ein paar Worte mit dem Onkel des Angeklagten, der vor dem Gerichtsgebäude eine Zigarette in der Sonne rauchte. Er war in den Zwanzigern, hatte jede Menge Tätowierungen am Arm und konnte nicht verstehen, was in «The Stow» passiert war. Der Junge im Gerichtssaal trug ein zu grosses weisses Hemd, eine locker geknotete dunkle Krawatte und eine schlichte schwarze Hose. Er war nicht gross, mit gewelltem Pony und einem dünnen Schnurrbart. Er machte auf der Anklagebank einen verlorenen, stellenweise sogar gelangweilten Eindruck unter den besorgten Blicken seiner Mutter. Man sah, dass ihre Nägel auf die Haut heruntergekaut waren. Die Mutter wirkte nicht sonderlich überrascht, als die Jury ihren Sohn des Totschlags an Arkadiusz Jóźwik schuldig sprach. Generalstaatsanwältin Jenny Hopkins sagte, ihrer Ansicht nach hätten die Jugendlichen nicht die Absicht gehabt, Jóźwik zu töten. Es handele sich nicht um eine durch Rassismus oder Fremdenhass motivierte Tat, wie man weithin berichtet hatte. «Die korrekte Anklage lautet daher unserer Ansicht nach auf Totschlag», sagte sie. «Totschlag ist die rechtswidrige Tötung einer anderen Person mit der Absicht, ihr Schaden zuzufügen, oder unter der Inkaufnahme, dass ein gewisser körperlicher Schaden daraus folgen könnte.» Dem Gericht wurde vorgetragen, dass der Jugendliche den Hieb «mit vollem Körpereinsatz» ausgeführt habe und gewusst haben müsse, dass ein gewisser Schaden die wahrscheinliche Folge sein würde. Die Generalstaatsanwältin fuhr fort: «Es war ein sinnloser Angriff, und durch diesen einen Hieb, der in Sekundenschnelle vorbei war, trägt der junge Mann die Verantwortung dafür, dass Herr Jóźwik sein Leben verlor und seiner Familie und seinen Freunden unvorstellbares Leid zugefügt wurde.»

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Die Richterin kündigte an, dass die Urteilsverkündung am Freitag, dem 8. September, stattfinden werde. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Medien das Interesse an dem Fall bereits verloren. Es war doch kein «Brexit-Mord» gewesen.

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An einem regnerischen Morgen kurz vor Weihnachten besuchte ich den Stadtratsvorsitzenden von Harlow, einen energiegeladenen Labour-Politiker namens Jon Clempner. Dieser erregte sich darüber, dass die Essexer Polizei seiner Meinung nach den Fall ungeschickt gehandhabt und so dazu beigetragen habe, dass Gerüchte und Anschuldigungen ausser Kontrolle gerieten. «Die Polizei wusste innerhalb von 24 Stunden, dass es sich nicht um einen rassistischen Angriff oder gar Mord handelte. Aber sie traten den Spekulationen erst entgegen, als es schon zu spät war», sagte er bei einer Tasse Tee zu mir. Wir sassen in seinem Büro im Bürgerzentrum mit Blick auf die Water Gardens, die ursprünglich von Frederick Gibberd als eine Reihe von parallel verlaufenden Terrassen angelegt worden, aber seitdem umgestaltet und verkleinert worden waren. Durch das Panoramafenster konnte ich ausserdem einen Parkplatz, einen Radweg, ein Stück Wald und nahe gelegene Felder sehen. Hinter den Feldern konnte ich gerade noch die Wohnsiedlung erspähen, in die mein Grossvater nach seiner Pensionierung gezogen war, um näher bei seinem Sohn zu sein, der letztlich vor ihm starb.

Doch das Panorama war unvollständig, es fehlte das modernistische Hochhaus, welches einst das Rathaus beherbergt hatte. Es galt seinerzeit als das bedeutendste Gebäude Harlows und lag am Dreh- und Angelpunkt der Stadt, dem Bürgerplatz. Gibberd hatte es selbst entworfen, und Clement Attlee hatte es 1960 eröffnet. Einige Jahre nach der Jahrtausendwende wurde es als eine der ersten Massnahmen zur Neugestaltung der halbverfallenen Innenstadt abgerissen. Ein riesiger Supermarkt nimmt heute den Platz ein, wo einst das Rathaus allein auf weiter Flur wie ein monumentaler Wachturm in den Himmel ragte.

Vor vielen Jahren, als ich noch in Harlow lebte, machten wir nachmittags einmal einen Schulausflug zum «High», wie wir das markante Hochhaus nannten. Ein paar Freunde und ich setzten uns von der Gruppe ab und schlichen ins Rathaus. Es kursierten Gerüchte, dass sich im Keller ein Atombunker befände, und den wollten wir sehen. Stattdessen landeten wir im Aufzug zum Aussichtsturm. Die Aussichtsplattform hatten wir dann ganz für uns allein. Wir liessen unseren Blick über die Landschaft schweifen. Vor uns lagen die nüchternen, geraden,

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geometrischen Linien unserer Heimatstadt mit ihrem Netz von Strassen und Alleen, Schulen und Fabriken, Wohnsiedlungen und Grünzügen. Wir blieben auf dem Turm, bis es fast dunkel war, und sahen staunend zu, wie eine Lampe nach der anderen in den winzigen Häuschen anging und wie das bernsteinfarbene Licht die gitterartigen Strukturen der Stadt nachzeichnete. Schliesslich verschwammen die Lichter der Häuser, und ich versuchte mir vorzustellen, wie es hier ausgesehen hatte, bevor die New Town erbaut wurde, ländlich, ruhig und menschenleer.

11 Es dauerte lange, bis ich die Erfahrung meiner Kindheit und Jugend in Harlow verdaut hatte. Die meisten Kinder, die ich kannte, einige davon blitzgescheit und begabt, spielten nie auch nur mit dem Gedanken, ein Studium aufzunehmen. Sie waren froh, die Schule so schnell wie möglich hinter sich gebracht zu haben. Manchmal frage ich mich, was wohl aus ihnen geworden ist. Auch ich wäre fast nicht an der Universität gelandet. Während meiner Schulzeit rebellierte ich, wechselte unentwegt die Fächer, kam zu spät zum Unterricht oder blieb gleich ganz weg und brach schliesslich die Schule ab. Meine letzten Teenagerjahre verbrachte ich damit, arbeitslos, ruhelos und ideenlos zu sein, mich hoffnungslos zu verlieben und chronisch pleite zu sein. Schliesslich fand ich einen Schreibtischjob beim Electricity Council in London. Die Zugfahrt konnte ich mir nicht leisten, also pendelte ich mit dem Bus vom Haus meiner Eltern in die Stadt, eine Fahrt, die je nach Verkehrslage zwei bis drei Stunden in Anspruch nehmen konnte. Und abends dann das Gleiche zurück. Ausgerechnet auf diesen Busfahrten begann ich, zum ersten Mal ernsthaft Bücher zu lesen. Nach sechs Monaten in der undurchschaubaren Bürokratie des öffentlichen Dienstes beschloss ich, dass es an der Zeit war, mein Abitur so schnell wie möglich nachzuholen. Ich gab mir neun Monate Zeit, um mein Leben umzukrempeln. Ein wohlwollender Vorgesetzter im Electricity Council stellte mich freitags für den berufsbegleitenden Unterricht von der Arbeit frei, damit ich ans Harlow College zurückkehren konnte, wo ich als Schüler von meinem Tutor als «Dilettant» verspottet worden war. Diesmal wählte ich Politik als Fach, ein Thema, an dem ich ein wachsendes Interesse entwickelte. Ich schrieb mich für einen Abendkurs am Donnerstagabend zur Vorbereitung auf das Abitur in englischer Literatur an einer Gesamtschule in Old Harlow ein. Dort begegnete ich David Huband, einem klugen Mann mit leiser Stimme

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und Bart. Er war einer von jenen Lehrern, die andere inspirieren können. Es war ein Lehrer, wie ich ihn bis dahin nicht gekannt hatte und wie wir ihn alle brauchen. Er gehörte zur intellektuellen Szene von Harlow, kannte meinen Vater über fünf Ecken und nahm mich unter seine Fittiche. Er muss gespürt haben, dass ich in Schwierigkeiten war, in existenzieller Angst und ohne Orientierung. Die drei Stunden, die ich jeden Donnerstag zwischen sieben und zehn Uhr abends in seiner Gesellschaft zubrachte, stellten meine Weltsicht auf den Kopf, und die neun Monate von September 1985 bis Mai 1986, während deren ich im Electricity Council arbeitete, im Bus las und das Wochenende zu Hause oder in der Bibliothek mit Lernen verbrachte, veränderten mich nachhaltig. Ich hatte niemandem erzählt, was ich vorhatte, aus Angst zu scheitern und weiter mein Dasein als Büroangestellter fristen zu müssen. Im Mai und Juni, zeitgleich mit der Fussballweltmeisterschaft in Mexiko, machte ich mein Abitur. Als der Sommer zu Ende ging, nahm ich mein Studium auf: Ich war überzeugt, Harlow und alles, was damit zusammenhing, in einem einzigen grossen Befreiungsschlag ein für alle Mal hinter mir gelassen zu haben. Ab jetzt würde nur noch nach vorn geschaut.

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Am 8. September 2017 wurde ein sechzehnjähriger Bewohner Harlows wegen Totschlags an Arkadiusz Jóźwik zu dreieinhalb Jahren in einer Einrichtung für junge Straftäter verurteilt. Die Richterin Patricia Lynch sagte, dass Jóźwik ein «anständiger, geschätzter Mann, der sein Leben noch vor sich hatte» gewesen sei. Seine Familie vermisse ihn schmerzlich. Während die Richterin sprach, hörte man leises Schluchzen im Gerichtssaal. «Ein Jahr ist jetzt vergangen seit Areks Tod, aber ich vermisse ihn immer noch jeden Tag», erklärte Ewa Jóźwik, die Mutter, in einer vor Gericht verlesenen Erklärung. «Manchmal möchte ich nicht mehr leben.» Sie war während der Urteilsverkündung anwesend und weinte die ganze Zeit.

Der Verteidiger Patrick Upward sagte, sein Mandant, der auf der Anklagebank wieder ein weisses Hemd und eine schwarze Krawatte trug, «bereue», was geschehen sei – der Angeklagte bestätigte dies mit einem Nicken –, und wies auf den familiären Hintergrund und die schwere Krankheit des Vaters hin. Das Gericht erfuhr, dass der Junge zwei Vorstrafen hatte, eine wegen bedrohlichen Verhaltens. Dennoch sei «der junge Mann trotz aller Schwierigkeiten kaum vom rechten Weg abgekommen». Richterin Lynch schloss jedoch mit den Worten,

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dass der Angeklagte nach dem Übergriff aus dem Einkaufszentrum geflohen sei und «nichts getan habe, um dem Opfer zu helfen». Als das Urteil verkündet wurde, winkte der Junge – der verlorener aussah denn je – seiner Familie verlegen zu und stolperte beinahe beim Verlassen der Anklagebank. Seine Mutter weinte jetzt auch und rief ihm zu: «Ich liebe dich!» Sie und andere Familienmitglieder hasteten aus dem Gerichtssaal, man hörte sie im Flur weiterweinen.

Als Ewa Jóźwik das Gerichtsgebäude in Chelmsford verliess, regnete es. Reporter von mehreren polnischen Fernsehsendern, die vor dem Gebäude warteten, wollten wissen, ob sie die Strafe für angemessen halte. Sie schüttelte den Kopf als ein Zeichen der Enttäuschung oder Resignation. «Ich sehe ihn immerzu vor mir, bewegungslos im Krankenhausbett, nur von den Maschinen am Leben gehalten», sagte sie über ihren toten Sohn. «Ich wollte ihn einfach nur aufwecken.»

Arkadiusz Jóźwik ist in Harlow begraben, und auf seinem Grabstein steht: «Du warst ein Traum, jetzt bist du eine Erinnerung.»

Je mehr ich über den Fall nachdachte, umso mehr taten sie mir alle leid – Jóźwik natürlich und die, die ihm nahestanden, aber auch der Junge im Gefängnis, «der trotz aller Schwierigkeiten kaum vom rechten Weg abgekommen» war, und seine Familie. Auch Harlow tat mir leid, die Stadt, in die kurz nach Jóźwiks Tod Journalisten aus aller Welt einfielen, in der die polnische Polizei im Einkaufszentrum auf Streife ging und die zum Symbol für all jenes geworden war, was in England schieflief. Die Brexit-Abstimmung hatte ein zänkisches und zerrissenes Land offenbart. Harlow, die War-einmal-Utopie, war zu einer «abgehängten» Stadt mit einer desillusionierten und fremdenfeindlichen Bevölkerung geworden. Obwohl Harlow nur dreissig Zugminuten von dem immensen Reichtum und der Vielfalt einer der am stärksten globalisierten Städte der Welt trennen, kam der Wohlstand hier nicht an. Die Stadt schien Teil eines anderen Landes, einer anderen Welt zu sein.

13 Vor kurzem habe ich eine Radtour rund um Harlow gemacht: Das Radwegenetz ist mittlerweile ausgefahren und holprig, zählt aber immer noch zu den Highlights der Stadt. Es war knackig kalt, und ich genoss es, wieder einmal hier zu sein. Ich kenne fast niemanden mehr in der Stadt und besuche nur alle Jubeljahre die älteste Schwester meiner Mutter, die schon neunzig ist. Sie lebt seit mehr als fünfzig Jahren im gleichen bescheidenen Reihenhaus, nur wenige Gehminuten von meiner ehemaligen Schule entfernt. In der letzten Zeit ertappe ich mich

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immer wieder dabei, wie ich nach dem Besuch bei ihr nicht direkt nach Hause fahre, sondern stattdessen durch die so vertrauten Wohnsiedlungen, durch die so vertrauten Strassen fahre, an den Feldern vorbei, auf denen ich damals gespielt habe. Einmal hielt ich vor der Kirche an, wo ich Ministrant gewesen war, bis Fussballspiele am Sonntagmorgen mich von dem ungeliebten Ritual befreiten. Ich bin mir nicht sicher, was genau mich dort hinzieht. Einmal bin ich sogar meinen alten Schulweg abgegangen, der durch eine schmale Gasse zwischen zwei Gärten führte, an deren Ende immer rauchende Teenager rumlungerten, die mir äusserst unheimlich waren. Zum Zeitvertreib traten sie Löcher in die hölzernen Gartenzäune, und obwohl sich das Ganze nur etwa hundert Meter von den Schultoren entfernt abspielte, ist nie ein Lehrer vorbeigekommen und hat sie zurechtgewiesen. Die Schule gibt es längst nicht mehr, dort steht heute ein Geschäftszentrum. In Gedanken wandere ich ihre Gänge jedoch oft auf und ab, besonders seit mein eigener Sohn vor vier Jahren in die Schule gekommen ist. Als ich bei meinem Besuch auf dem Parkplatz stand, der früher unser Spielplatz gewesen war, war mir, als könnte ich die aufgeregten Kinderstimmen um mich herum hören, und ich spürte das brennende Gefühl von lange unterdrückten Enttäuschungen und Bedauern.

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Harlow feierte 2017 sein 70-Jahr-Jubiläum, und es gibt spürbare Zeichen der Veränderung: 10 000 neue Häuser werden im Rahmen des Bauprojektes Gilston Park nördlich des Hauptbahnhofs hochgezogen; Public Health England baut einen neuen Wissenschafts- und Forschungscampus, der Tausende neue Arbeitsplätze schaffen soll; ein Gewerbegebiet zieht ausländische Investoren an; das Stadtzentrum, das in meiner Jugendzeit vor allem an Markttagen so lebendig war, soll neu gestaltet und zu einer reinen Wohnsiedlung werden. Harlow liegt an der Autobahn M11 zwischen London und Cambridge. Es muss nicht abgehängt sein.

Die Stadt ereilte das gleiche Schicksal wie die meisten in der Nachkriegszeit gebauten New Towns. Es ging bergab mit ihr, und der Niedergang beschleunigte sich, als die Entwicklungsgesellschaft ihre Arbeit einstellte und Investitionen in Wohngebiete und Infrastruktur ausblieben. Grosse Fabriken und Industrieanlagen wurden geschlossen oder verlegten ihren Standort, was die Arbeitslosigkeit in die Höhe trieb. Grössere Investitionen blieben aus. Nun leiden sie unter den Folgen dieser Unterernährung.

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Frederick Gibberds Gesamtbebauungsplan hatte von Anfang an seine Schwächen, vor allem die Tatsache, dass es im Stadtzentrum keine Wohnungen gab und Wohn- und Industriegebiete streng voneinander getrennt waren. Eine Innenstadt wird erst lebendig, wenn Menschen in ihr wohnen und arbeiten. Einige der Siedlungen, wie Bishopsfield mit seinen bedrückend schmalen Gassen, das bei uns in der Nähe lag, waren ideologische Experimente in modernistischer Architektur. Nur hatte niemand darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutete, in dieser brutalistischen Architektur tatsächlich zu leben. Ein Teil der Gebäude musste später abgerissen werden, weil sie mit Materialien gebaut worden waren, die nicht den Anforderungen an öffentlichen Wohnungsbau entsprachen. Ausserdem hatte Gibberd nicht mit der explosionsartigen Zunahme von Autos gerechnet. Heute sind viele der kleinen Vorgärten zubetoniert und dienen als Parkplatz.

Vieles von dem, was ich als sportbegeisterter Junge so genossen hatte – das Schwimmbad, das Sportzentrum, den Golfplatz im Park, das Rathaus –, verfiel zunächst und wurde schliesslich abgerissen. Aber vielleicht war es einfach so, dass die zweite Generation, die in Harlow geboren wurde und den Krieg und andere Städte nicht erlebt hatte, sich nicht wie die Elterngeneration mit Harlow identifizierte. Für sie war es bloss der Ort, an dem sie zufälligerweise lebten, weder mehr noch weniger. Von den Kindern der idealistischen Mittelschicht blieben die wenigsten in Harlow: Sie zogen so bald wie möglich hinaus ins Leben und in die Ferne nach London, dorthin, wo ihre Eltern hergekommen waren. Eine zweite Welle von Fortschrittsgläubigen, die sich dem Traum der New Town verschrieb, blieb aus. Die Abneigung oder Scham, die ich früher einmal gegenüber der Stadt empfunden habe, verspüre ich heute nicht mehr. Ich bin froh, dass die Kriegsgeneration eine Utopie schaffen wollte. Es war richtig von meinen Eltern, London zu verlassen. Man sollte nicht vergessen, dass das Wort «Utopie» immer auch für einen erstrebenswerten Ort steht. Irgendwo auf dem Weg zu diesem Ort verlor Harlow seinen Status als etwas Besonderes, als etwas Neues. Aber es ist trotzdem kein «Nirgendwo» oder ein «Nichtort». Es ist der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin. Es ist meine Heimat.

Aus dem Englischen von Nadine Alexander.

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ABGEHÄNGTE ORTE In Deutschland hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung vor zwei Jahren eine Studie zu abgehängten Orten herausgegeben: Sie liegen in Ostdeutschland – und fast immer auf dem Land. Besonders die Regionen Frankfurt (Oder), Mecklenburgische Seenplatte und Harz sind betroffen. Dort fehlt es an Arbeitsplätzen, junge Menschen wandern ab, die Alten bleiben. Auch in der Schweiz gibt es einige Regionen, die einen Bevölkerungsschwund erleben: Gemeinden im Jura, in den Voralpen und im Tessin. In diesen strukturschwachen Gebieten finden sich schweizweit die höchsten Arbeitslosenquoten. Im Tessin ist ein «Austausch» der Arbeitskräfte zu beobachten: Schweizer gehen, Italiener kommen. Mehr als ein Viertel der Arbeitsplätze wird im Tessin von Grenzgängern besetzt, die in Italien wohnen.

DIE NEUEN STÄDTE VON EINST Im Englischen heissen sie New Towns, im Deutschen Planstadt oder etwas abwertend «Retortenstadt». Gemeint sind Städte oder Stadtteile, denen ein Plan am Reissbrett zugrunde liegt, die also nicht natürlich gewachsen sind. Manche von ihnen wurden zu Erfolgsgeschichten. Andere ereilte ein ähnliches Schicksal wie Harlow: Verfall und Abwanderung. Das wohl berühmteste Beispiel für ein gescheitertes stadtplanerisches Projekt war Pruitt-Igoe in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri, eingeweiht 1955, abgerissen 1972. Die Anlage hatte fast 3000 Wohnungen; arme Familien, schwarze und weisse, sollten hier gemeinsam leben. Doch die Siedlung war an den Menschen vorbeigeplant, nicht einmal Spielplätze liess man zwischen den Häusern bauen. Bald kam es zu Verwahrlosung, Vandalismus, Kriminalität und Gewalt.

AUTOR Jason Cowley ist Chefredakteur der politischen Wochenzeitung New Statesman und ein bekannter Journalist in England. Cowleys Karriere ist ungewöhnlich: Wer in «kleinen Verhältnissen» aufgewachsen ist, schafft es in England selten in die Chefetage. Das gesellschaftliche System ist undurchlässig, wie in vielen anderen Ländern auch. Als er zum Studium ging, war Cowley schockiert: «Alle, die ich da traf, kannten sich schon, denn sie waren auf Privatschulen gewesen. Ich hatte diese Netzwerke nicht.» Er vermied es, zu sagen, wo er aufgewachsen war. Doch er sah auch den Wert seiner Herkunft: «Ich hatte eine andere Perspektive auf die Dinge und war skeptisch.» Und er verstand die Menschen in Städten wie Harlow besser. «Sie sind so unzufrieden, weil sie Vernachlässigung und Verfall erlebt haben.»

Mehr zum Thema Stadtentwicklung: #36 — Wem gehört die Stadt? — ein Reportagen-Projekt

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Googles Schlafstadt Smartphone und Airbnb statt Blumen im Haar: In San Francisco verdrängen Softwaregiganten die lokale Bevölkerung.

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Tony, Obdachloser In seiner ersten Nacht auf der Strasse hatte er noch sein gestreiftes Schlafkissen dabei. Eine Obdachlose lachte ihn aus. In der zweiten Nacht ahmte er sie nach, zog seine Converse-Schuhe aus, faltete die Jacke, legte sie drauf. Im Juni 2011 wurde Tony Longshanks obdachlos, er war vierunddreissig Jahre alt. Doch er ging immer noch zur Arbeit bei Wells Fargo, der grössten Bank des Landes, er hatte da eine Stelle in einem Arbeitslosenprogramm bekommen, stand hinter dem Schalter, als ob nichts wäre. Seinen Besitz verstaute er in einem Lagerhaus, vor allem Hippiekleider. Wenn er im Schlafsack lag, las er immer wieder den Herrn der Ringe, die Stelle über die sprechenden Bäume weiss er heute noch auswendig. Er drückte sich Stöpsel in die Ohren, den Verkehrslärm hörte er aber auch so. Irgendwann half ihm das beim Einschlafen, graues Rauschen. Morgens weckten ihn die Lastwagen, die zwölf Meter weiter oben über die Autobahnbrücke fuhren. Die Pfeiler übertrugen die Schwingung auf den Betonsockel, auf dem Tony schlief. Oft dachte er, noch übernächtigt, als Erstes an ein Erdbeben. Meist war er verkatert, weil er am Abend eine Flasche Two-BuckChuck getrunken hatte, den Billigwein von Trader Joe’s. Immer schaute er, etwas ängstlich, gleich auf die Uhr. Um sieben mussten er und die anderen vom Parkplatz verschwunden sein, sonst würde der Besitzer die Polizei rufen. Tony stand jeden Morgen am Ort seiner Albträume auf, kam sich vor wie ein Zombie in einem noch nicht gedrehten Film, Die lebenden Toten von San Francisco. Er schlich zum Lagerhaus, wusch sich auf der Toilette, holte den Anzug aus dem Spind, hielt sich für einen Hochstapler, wenn er zur Bank im Financial District ging. Manchmal dachte Tony an Superman. Er war ein obdachloser Clark Kent geworden, der sich morgens in einen Bürger mit roter Krawatte und schwarzen Schuhen verwandelte. Tony, der Bankangestellte. Tony, der Journalist, der Hausbesetzer, der Stadtstreicher, der Sozialarbeiter, der Junkie, der Aktivist, der Träumer, der Schriftsteller, der Astronaut im amerikanischen Traum. Er spielte schon viele Rollen. Heute ist Tony achtunddreissig. Er riecht nach Wald und trägt ein paar Grashalme in seinem Haar. Diesen Winter verbrachte er zum ersten Mal unter freiem Himmel, draussen im Presidio. Seine Haut ist bleich, der Mantel dünn. Tony zieht ihn nie aus wie fast alle Obdachlosen, die vor den Cafés sitzen und schlummern, während die Leute neben ihnen in Macbooks schauen. In der einen Tasche des Mantels steckt ein Notizbuch, in seinem Rucksack trägt Tony ein Dutzend Ausgaben eines Magazins herum, das er schreibt, druckt und verteilt: SF

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Resistor. Es ist kostenlos und entwickelt einen Sog wie ein Tagebuch aus der Wildnis, kein Wort zu viel, jedes Komma am rechten Ort, jeder Fakt doppelt geprüft, San Francisco von unten. Hier leben mehr Leute auf der Strasse als sonstwo in Amerika, darum nennt man die Stadt auch Kapitale der Obdachlosen, sie sind die unteren Siebentausend. San Francisco hat einen Gini-Koeffizienten von 0,52. Nur in Atlanta ist die Ungleichheit so ausgeprägt wie hier. Ein Wert von null würde bedeuten, dass alle gleich viel haben. Ein Wert von eins hiesse, dass einer alles besitzt. Schweden hat einen Wert von 0,25. In Ruanda wird Vermögen eher geteilt als in San Francisco, dort liegt der Wert bei 0,51. Auf der einen Seite die Habenichtse wie Tony, auf der anderen die Besitzer der Softwarefirmen, nach denen Orte neu benannt werden: Aus dem San Francisco General Hospital wird Ende Jahr wegen einer Spende das Mark Zuckerberg Hospital. Der Fillmore District, lange ein afroamerikanisches Viertel, taucht in Immobilienprospekten als Lower Pacific Heights auf, gewissermassen geschichtsneutral. Hunters Point Naval Shipyard, ebenfalls eine traditionell schwarze Nachbarschaft, wird nun als San Francisco Shipyard vermarktet. Dafür bekam Pacific Heights, ein Viertel für Reiche, von Leuten wie Tony den Übernamen Specific Heights. Die Gegend um die Market Street, wo Twitter sein Hauptquartier bezog und deswegen Steuererleichterung bekam, nennt er Twitterloin. Wenn er nachts umhertigert, sieht Tony manchmal die Aufräumarbeiten der Polizei. Wer neben der Market Street schläft, wird mit Wasser verscheucht. Wenn es nach dem Wagniskapitalisten Peter Thiel geht, einem der Geldgeber aus dem Silicon Valley, wären Stadtstaaten auf dem Wasser bereits Wirklichkeit. Es ist die frontier im Pazifik, der Fluchtpunkt der Neoliberalen. Sie wollen aufs Meer, weg von den Regeln. Auf Plattformen Computer hochfahren, Talente ohne Visum einfliegen, keine Steuern zahlen. Apple zahlt schon heute keine Steuern in Kalifornien, sondern einen Bruchteil davon in Nevada. Würde die Halbinsel, auf der San Francisco liegt, bei San José vom Festland abbrechen und wegdriften, käme man dem Traum vom Seasteading recht nah: Die Stadt spiegelt die Demografie der Technologiefirmen, wo vor allem Weisse arbeiten, vor allem Männer, Junge, Kinderlose. Bei Google sind Schwarze und Latinos am ehesten für Aufgaben wie das Einlesen von Büchern zuständig – oft sind braune oder schwarze Finger auf den Scans zu sehen. In keiner amerikanischen Stadt leben weniger Kinder als in San Francisco. Dazu passt ein Angebot, das Firmen wie Facebook und Google ihren Mitarbeiterinnen machen. Sie können ihre Eizellen einfrieren

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lassen, erst die Karriere, dann der Nachwuchs, wenn überhaupt – man nennt das social freezing. Alte, Schwarze, Latinos können sich die Stadt kaum noch leisten, die Durchschnittsmiete liegt bei 3200 Dollar. Nirgends sind die USA so teuer. Tony holt ein Heft aus dem Rucksack, Broke but Not Bored in SF. Darin findet er Anlässe, die kostenlos sind. Free Veggie Dinner Night, Free Standup Comedy Series, Free Yoga. Seit letztem Herbst gibt er sein Magazin heraus: eine Mischung aus Fundstücken, Reportagen, Hassartikeln, Auszügen seiner Autobiografie, von der ihm viele Seiten abhandengekommen sind, vergessen auf einer Parkbank, verloren auf einem Spaziergang. Als Extra legt Tony selbstgemalte Gutscheine bei, «30 Dollar weniger Busse, wenn Sie das nächste Mal beim Schwarzfahren erwischt werden». Das Heft erlaubt es ihm, Rollen zu spielen. Mal ist er Reiseführer und gibt Ratschläge für Orte, die nur wenige in der Stadt kennen, eine Waldlichtung im Corona Heights Park etwa, er nennt sie Nomad’s Land, wo man sonnenbaden kann, ohne behelligt zu werden. In der Nähe befindet sich das Randall Museum, wo Tony ab und zu am Treffen der Amateurastronomen teilnimmt und durchs Teleskop Galaxien anschaut – ein wenig kostenlose Unendlichkeit. Ein paar hundert Meter entfernt, im Golden Gate Park, übernachtete er eine Weile im Gebüsch. Dann häuften sich die Nachrichten von Leuten, die hier spurlos verschwanden. Tagelang suchte Tony nach Sean Sidi, einem Schuljungen mit Zahnspange, dessen Smartphone beim Stow Lake das letzte Signal gesendet hatte, wo Tony schlief und oft von der Polizei geweckt wurde, die jeweils um vier Uhr früh den Park nach Obdachlosen durchkämmt. Dashiell Hammett, Erfinder des hard-boiled Krimis, schickte den Detektiv Sam Spade durch die Unterwelt San Franciscos. Tony spielte Spades Wiedergänger, bloss auf Speed und mit einem Zelt statt eines verrauchten Büros. Eine Woche später brach er die Suche ab und zog in die Zeltstadt neben dem Regierungsgebäude, Tony als Rebell. Dabei wusste er nicht genau, was er unter «Occupy San Francisco» verstehen sollte. Er blieb zwei Monate, dann hielt er es nicht mehr aus wegen des Lärms. Er hatte viel über Hausbesetzer gehört, über die Leute der Organisation Homes Not Jails, über die dreissigtausend leerstehenden Wohnungen in der Stadt, Platz für achtzigtausend Leute – langsam wurde er zum Aktivisten. An der Capp Street besetzten er und ein paar andere ein Haus; weil die Wände verrusst waren, nannte er es Firehouse. Ständig zog er um, in zweieinhalb Jahren wohnte er in 43 Häusern, das entspricht etwa der Zeit, die Besetzer durchschnittlich an einem Ort verbringen: drei Wochen. Meist lebte

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er in Häusern, denen die Besetzer einen Namen gegeben hatten: The Old Man Museum, The Emperor’s New Penthouse, The Great Indoors. Tony liebte es, um leere Gebäude zu laufen, verfolgt von Polizisten und Sicherheitsleuten. Ohne es zu wollen, war er auf Recherche für ein Buch, auch wenn ihm die Notizen immer wieder davonflatterten. In Pacific Heights entdeckte er zwei viktorianische Häuser, beide vier Stockwerke hoch, beide leer, ohne Strom, ohne Wasser. Öffnete einen Schrank voller Pelzmäntel, trat in einen Ballsaal mit Spinnennetzen. In der Nacht stieg er mit einer Kerze in der Hand die Treppe hoch, Geister als einzige Mitbewohner. Schon als Teenager hatten ihm diese Häuser gefallen, der Film Mrs.Doubtfire spielt in der Gegend. Ein Cousin lebt hier, Tony sieht ihn selten, holt nur manchmal die Post bei ihm ab. «Wenn ich die Regeln befolgt und meine Ehrfurcht vor dem Eigentum anderer Leute behalten hätte, dann hätte ich nie hier gelebt. Nun hatte ich sogar zwei Häuser, und eine Aussicht.» Manchmal ruft Tony seine Mutter an, die immer noch in Minnesota lebt und ihm meist erzählt, welchen Level sie in ihren Videospielen erreicht habe. Tony lebt zwar am Ort, wo die Spiele herkommen, er kann aber nicht mal ein Smartphone bedienen. Wenn er die Neuigkeiten hört, staunt er darüber. Beim Vietnamesen Essen bestellen, einen Klempner anheuern, Zahnpasta, Alkohol, Smoothies aus dem Reformhaus geliefert bekommen und dafür nur einen Finger rühren, das ist ihm alles entgangen. Während die Leute um ihn herum Labormäuse waren für die Apps, die in den Internetfirmen entwickelt werden. Die Nachrichten, etwa über weisse Polizisten, die schwarze Passanten erschiessen, schnappt er Monate später auf, wenn er zufällig in eine Demonstration gerät. Er sagt, dass er bald ein Amtrak-Ticket kaufen und aus der Stadt verschwinden werde, solange er noch einen Rest an Verstand habe. Er sagt auch, dass er das schon lange sage. Immer kommt etwas dazwischen, als hätte er sich in einem Netz verheddert. Er ist enttäuscht von San Francisco, hatte den Ort für die Heimat der Radikalen gehalten. Die Umweltbewegung nahm hier ihren Anfang, der Sommer der Liebe ging von hier aus, «if you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair». Aus California Dreamin’ ist California Streamin’ geworden. Er müsse sich damit abfinden, sagt Tony, dass die Stadt austauschbar geworden sei. Er kann trotzdem noch nicht gehen. Am Ende könne man sowieso nur in der Phantasie wirklich fliehen. Seine Vorstellung vom Paradies ist ein Kino wie das Castro Theatre, ein Filmpalast aus den zwanziger Jahren. Er würde für immer in einem Sessel mit rotem

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Samtbezug versinken. Auf der Leinwand eine andere Welt und in den Händen, das wäre ihm wichtig, einen Becher warmen Popcorns. Gerade hat Tony angefangen, für das Anti-Eviction Mapping Project zu arbeiten. Er will besser verstehen, was mit der Stadt geschieht. Seit einer Weile ist er nüchtern, manchmal meditiert er am Morgen, wenn er im Presidio aus seinem Zelt kommt, Sicht auf die Golden Gate. Alle paar Wochen gibt er sein Magazin heraus, kopiert es in der öffentlichen Bibliothek beim Regierungsgebäude. Vor ein paar Monaten fiel ihm auf, dass er seit Jahren dem Blick der Leute ausgewichen war. Jetzt schaut er ihnen wieder in die Augen, wenn auch scheu. Das Projekt, an dem er sich als Feldforscher beteiligt, war eine Idee der Anthropologiedoktorandin Erin McElroy. Sie versucht seit 2013, San Francisco in immer neuen, ungewöhnlichen Stadtkarten greifbar zu machen. Aber das ist nur ein Teil ihrer aussichtslosen Rebellion.

Erin, Aktivistin

Erin trägt eine Wollmütze, meist schauen ihre roten Locken drunter hervor. Sie sieht aus wie Rumpelstilzchen, einfach mit Megafon. Sie wirkt fragil, doch wenn sie mit dem Megafon vor einem der GoogleBusse tanzt, scheint sie unverletzlich zu sein. Es geht um die Busse, die morgens die Mitarbeiter der Firmen abholen, die im Silicon Valley ihren Sitz haben und auf der Landkarte als Google Campus oder Facebook Headquarter auftauchen, als handelte es sich um eine Universität oder eine Schaltzentrale des Militärs. Für Erin sind die Busse ein Symptom. Weiss und verspiegelt, stoppen sie an den Haltestellen der Stadtbusse, benutzen die öffentliche Infrastruktur. Lange zahlten die Firmen nichts, obwohl sie, wie Erins Freunde berechneten, der Stadt dafür eigentlich Millionen schuldeten. Denn wer hier mit seinem Privatwagen anhält, zahlt eine Busse von 271 Dollar – eine tendenziöse Rechnung. Doch der Preis, auf den sich die Firmen und die Stadt einigten, war ebenso verfehlt. Die Firmen zahlten einen Dollar pro Tag und Haltestelle. Rund um die Haltestellen sind die Mieten um zwanzig Prozent schneller gestiegen als sonst in San Francisco. In den Häusern wohnen Leute, die tagsüber im Silicon Valley arbeiten und oft erst spät nach Hause kommen. Sie kaufen selten in den Quartierläden ein, ihr Fitnessklub befindet sich im Geschäft, sie brauchen keine Wäschereien, das besorgt die Firma. Vierzig Prozent der Leute, die Häuser um die Haltestellen herum besitzen, wohnen gar nicht in der Stadt, sondern kommen nur am Wochenende vorbei. Davon handelt das GoogleBus-Lied, das der Rapper Cachebox auf Youtube stellte. Youtube ist Teil

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von Google, der Adressat der Kritik gleichzeitig auch das Medium. Die Busse sind Ausdruck der neoliberalen Tendenz, private Lösungen für die Elite zu schaffen. Darum stellen sich Erin und ihre Freunde in den Weg.

Auch für Erin, Doktorandin an der Universität von Santa Cruz, wäre die Stadt zu teuer. Darum zogen sie und ihre Mitbewohner zusätzliche Wände hoch, dünn wie eine Membran. Sie hört ihre Mitbewohner atmen, wenn sie denn zu Hause schläft. Erin liebt eine Frau, unterrichtete eine Weile Queer Yoga, lebt jetzt aber von ihren Stipendien als Anthropologiedoktorandin. Auch sie kommt von anderswo, aus Massachusetts, zog vor knapp zehn Jahren hierher. Bald half sie alle paar Wochen einem Freund beim Umzug, irgendwann scherzten sie darüber, eine Transportfirma zu gründen. Mittlerweile wohnen viele Bekannte in Oakland, auf der anderen Seite der Bucht. Gerade mussten wieder ein paar von Erins geliebten Kollektiven ihre Häuser verlassen, das Bus-Stop Collective, das Million Fishes Collective, die Station 40, lauter Symbole des alternativen San Francisco. Erin kommt ihre Stadt abhanden, verschwindet von der Landkarte.

Der Anfang ihrer Arbeit als Aktivistin klingt wie die Geschichten über Emporkömmlinge in den Startups. Monatelang stöberte sie in Buchläden, las alles über Webdesign, was sie wissen muss. Vielleicht bekäme sie eine Stelle im Silicon Valley, ihre Stadtkarten, ihr Spiel mit Daten, ihr visuelles Flair, das spräche dafür. Der Ort ist selbstverständlich nichts für sie. Wenn sie aufzählt, warum sie die Technologiefirmen nicht mag, kommt sie kaum an ein Ende.

Bürgermeister Ed Lee behandelt die Chefs der Firmen, als wären sie Aristokraten. Airbnb muss keine Gebühren zahlen, ein Geschenk von 25 Millionen Dollar. Twitter wurden in den letzten Jahren Steuern über 56 Millionen Dollar erlassen. Peter Shih, CEO eines Startups, bloggte über die zehn Dinge, die er an San Francisco hasst, und schien dabei für viele seiner Branche zu sprechen. Er hasst die Obdachlosen, das Wetter, die Radfahrer, die Transvestiten, «die Frauen, die eine vier sind, sich aber so verhalten, als wären sie eine neun». Wenn Firmen, die von Stanford-Abgängern gegründet wurden, sich zusammenschliessen würden, entstünde die zehntgrösste Wirtschaft der Welt, mit Einnahmen von 2,7 Billionen Dollar im Jahr, für Erin zu viel Geld in den Händen von zu wenig Leuten. Zwar fliessen viele Spenden, der Umgang damit ist jedoch Teil des Problems. Denn die Firmen sollten, eigentlich, einfach Steuern zahlen. Auch Facebook kann Erin nicht ausstehen, trotzdem verzichtet sie nicht darauf. Auch sie versucht, hier Aufmerksamkeit

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für ihre Anliegen zu erhaschen. Viel verspricht sie sich nicht davon. «Es besteht ein Unterschied dazwischen, ob man an einer Kundgebung teilnimmt oder auf Facebook einen Knopf drückt. Das ist Slacktivism.» Aktivismus für Faule.

Fast jede Woche, manchmal auch täglich, trifft Erin Freunde und hält irgendwo in der Stadt einen Google-Bus auf, besonders häufig auf der Valencia Street, der Ikone des Wandels. Die Strasse führt durch den Mission District, der so heisst, weil die Spanier hier ihre erste Kirche gebaut haben. Sie ist winzig und steht noch immer, mit ihren dicken Mauern wirkt sie wie eine Trutzburg. Im Plaza, einem Gebäude zwischen Mission und Valencia Street, kostet eine Wohnung 7500 Dollar im Monat. Die Plaza Coalition, ein Mieterverband, will die Gegend säubern, die Obdachlosen vertreiben, die Polizei öfter ins Quartier holen, mehr Überwachungskameras einrichten. Im Mission District wohnten früher fast nur Iren, dann viele Deutsche, seit ein paar Jahrzehnten sind in la misión vor allem Mexikaner zu Hause. Auf der Strasse hörte man lange öfter Spanisch als Englisch, bis vor ein paar Jahren auch die Schüsse der Gangs, Sureños gegen Norteños, dazwischen Kellner, Köche, Ladenbesitzer, Putzfrauen, die einfach arbeiten und manchmal auf der Treppe vor ihrem Haus sitzen wollten. An der Valencia Street stand auch meist ein Obdachloser, der wie viele Bettler am Morgen aus Oakland gekommen war, weil er in San Francisco mehr verdiente. Sie nannten ihn Bum Jovi.

Wenn Erin und ihre Freunde einen Bus aufhalten, sieht das wie Strassentheater aus. Sie treffen sich schon Tage vorher, üben die Choreografie, schneidern die Kostüme. Die Blockaden erinnern an die Aktionen der Yes Men, an die Möglichkeiten des Widerstands, die Kreativität der Kritik. Einmal gingen sie bei Vanguard Properties vorbei, dem Immobilienmakler an der Mission Street, einem Haus mit Säulen vor dem Eingang und Stacheln auf den Mauern. Erin las einen Brief im Namen Benito Santiagos vor, der aus seinem Haus hätte ausziehen müssen. Vanguard Properties hatte ihm eine Woche Zeit gegeben, um über das Angebot nachzudenken. Er hätte 20000 Dollar bekommen für seine Zweizimmerwohnung. Ein Zimmer wird im Mission District jedoch für 4000 Dollar vermietet, Benito bat den Mieterverband um Hilfe. Erin wurde dann der Brief aus der Hand gerissen, ihre Gruppe rausgeworfen. Doch ein paar Tage später zog Vanguard Properties den Räumungsbefehl zurück: einer von einem Dutzend Erfolgen bisher. Der Community Landtrust kaufte das Haus, nahm es vom Markt. Benito, der Musiklehrer, der schon lange hier lebt, wird bleiben können.

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Der Landtrust bekommt das Geld von einem städtischen Programm, dem Small Sites Fund. Erin hofft, dass die Stadt bald so viel Geld gibt, dass zwanzig solche Häuser im Jahr gerettet werden können – kleine Hoffnungen. Bei Hunderten von Räumungen, die in den letzten drei, vier Jahren in der Stadt stattfanden, waren sie machtlos. Auf einer ihrer Karten, einer Animation, hat sie die Räumungsbefehle als Kreise dargestellt, die immer grösser werden, Epizentren eines Bebens.

San Franciscos Mietrecht für Anfänger: Wenn jemand ein Haus besitzt und mehr daran verdienen will, kann er sich auf den Ellis Act berufen, wie das bei Benito Santiago geschah. Das Gesetz erlaubt ihm, die Mieter aus dem Haus zu entfernen, er muss nur eine dieser Bedingungen erfüllen: Entweder muss er selbst einziehen, das Haus selber brauchen. Oder er muss es verkaufen, sich aus dem Geschäft als Vermieter zurückziehen. Weil die Behörden aber nicht prüfen, ob er sich daran hält, öffnet sich ein Graubereich. Es gibt Dutzende von Geschichten über Leute, die ausziehen mussten und ihre Wohnung später auf Airbnb fanden. Geschichten von Leuten auch, die dem Vermieter vor ihrem Haus auflauerten, ihn aber nie einziehen sahen. Dann gibt es die no fault evictions, Zwangsräumungen ohne Schuld. Wenn Leute einen Räumungsbescheid erhalten, lassen sie sich oft einschüchtern, vielleicht weil sie das Dokument nicht verstehen, vielleicht weil sie sich vor gerichtlichen Folgen fürchten. Sie ziehen aus, ohne zu müssen. Aber auch wer Hilfe holt, muss sofort handeln, die Einsprachefrist beträgt nur ein paar Tage. Der Vorgang setzt juristische Raffinesse voraus, sprachliches Können auch. Die Leute, die vor der Tenants’ Union, dem Mieterverband in der Capp Street, Schlange stehen, leben meist seit Jahrzehnten in der Stadt. Oft sprechen sie aber nur schlechtes Englisch.

Vor drei Jahren nahmen Härtefälle und Selbstmorde zu. Eine Greisin, die aus ihrem Haus im Mission District geworfen wurde. Ein Mann, der sein Geschäft im Castro verlor. Der Mann hiess Jonathan Klein, er stürzte sich von der Golden Gate. An der Trauerfeier hielten sie ein Transparent in die Höhe, Eviction = Death. Ein Echo der Kundgebungen für die Rechte der Homosexuellen, die in dieser Stadt ihren Anfang nahmen, Silence = Death. Erin stellte sich eine Frage, die auf Englisch doppeldeutig ist: How to get these things on the map?

Auf einer ihrer Stadtkarten sieht man, wo das Geld für den Kampf um das Bürgermeisteramt herkommt. Ed Lee, der Bürgermeister, hat einen mächtigen Freund, Ron Conway, ein sogenannter angel investor. Der Mann ist ein traumhafter Fundraiser, trieb Geld auf bei Marissa Mayer, der CEO von Yahoo, Peter Thiel, dem Geldgeber aus Menlo Park,

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Jeremy Stoppelman, dem CEO von Yelp, Laurene Powell Jobs, der Witwe des Apple-Gründers, bei einem Mitgründer von Twitter, bei einem Verwaltungsrat von Google. Conway half mit einer Spende von 275000 Dollar, die «Proposition E» zu verankern und so die Steuern auf Unternehmen zu senken, in die er selbst investiert hat, Firmen wie Airbnb, Twitter, Digg, Zynga. Er setzte sich dafür ein, dass die Busse aus dem Silicon Valley weiterhin kostenlos die städtischen Haltestellen nutzen können. Sein Vermögen wird auf anderthalb Milliarden Dollar geschätzt. Auf einer anderen von Erins Karten kann man sehen, wie sich der Mission District verändert. Es ist einer der wenigen Orte in den USA, wo die Zahl der Latinos stark gesunken ist in den letzten Jahren. Eine Karte zeigt glühende Punkte auf einer nachtschwarzen Landschaft. Es sieht aus wie aufgescheuchtes Plankton und stellt die Orte dar, in denen Airbnb sich eingenistet hat, mehr als fünftausend Häuser und Wohnungen. Eine Karte zeigt, wie die Kinder aus der Stadt verschwanden, heute sind noch dreizehn Prozent der Einwohner unter achtzehn. Auf einer anderen Karte, überlegt Erin, könnte sie darstellen, wie die Anzahl der Hunde in der Stadt gestiegen oder wie teuer der Kaffee geworden ist. Eine weitere Karte könnte zeigen, wo die Leute unterkommen, die ihr Zuhause auf Airbnb anbieten. Eine App dafür ist seit ein paar Monaten auf dem Markt, ein umständlicher Name für eine umständliche Sache: Can I stay with you while I rent my place on Airbnb? Ihr Spiel mit Big Data bringt oft ironische Fakten ans Licht. Die Viertel mit der höchsten Anzahl Obdachlosen sind auch die Viertel mit der höchsten Anzahl leerstehender Häuser, Tenderloin und South of Market. Es gibt etwa 7000 Obdachlose in der Stadt, 1000 davon Kinder, und es gibt etwa 7000 Häuser und Wohnungen, die auf Portalen wie Airbnb und VRBO angeboten werden.

Erin überlegt auch, wie sie das Unsichtbare vermitteln soll. Wenn sie durch die Stadt geht, beobachtet sie oft Dinge, die sie wohl nie in einer Karte wird zeigen können. Eine Freundin, die in einem Supermarkt arbeitet, schätzt zum Beispiel, dass ein Viertel der Kunden nicht für sich selbst einkauft, sondern Teil einer App ist. Wenn Erin in einem Supermarkt steht, staunt sie selber darüber, wie ratlos die Leute vor den Regalen stehen, vermutlich auf der Suche nach einem raren Artikel, den jemand online bestellt hat und für ein Trinkgeld nach Hause liefern lässt. Viele Supermärkte steigen auf Bezahlstationen um, die Kassiererinnen verschwinden. So löst sich auch die Möglichkeit auf, dank solchen Stellen in Amerika Fuss zu fassen, Supermärkte werden keine Integrationsmaschinen mehr sein. Doch entstehen durch die Apps

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wiederum Jobs für Leute aus der Unterschicht, wenn sie denn ein Smartphone registriert haben und damit umgehen können. Als Erin vor kurzem nach Norden fuhr, sah sie auch auf der Golden Gate ein Stück Zukunft. In den Häuschen sassen keine Leute mehr, man muss seine Gebühr jetzt in einen Automaten werfen. Bis vor ein, zwei Jahren fuhren viele von Erins Freunden Taxi, einige stiegen auf Uber und Lyft um, hörten jedoch wenig später wieder auf, weil sie weniger als den Mindestlohn verdienten. Uber ist nicht deshalb mehr wert als die Deutsche Bank, weil die Firma das Taxigeschäft auf der ganzen Welt verändern könnte. Sondern weil fast alle Servicejobs so aussehen könnten. Wer krank ist, verdient nichts. Wessen Auto eine Panne hat, der zahlt den Ausfall selber. Es gibt eine App, die über Polizeimeldungen No-go Areas angibt und so Viertel, die ohnehin leiden, weiter abwertet. Eine App, mit der man andere anheuern kann, einen Parkplatz zu reservieren. Vielleicht, sagt Erin, werde es bald auch eine App geben, die einem zeigt, wie viele Leute gerade in der Gegend sind, die man, gegen einen kleinen Betrag, nach dem Weg fragen kann.

Erins Schlüsselbund ist schwer, daran klirren mehr als zwei Dutzend Schlüssel. Meist geht sie jeden Tag zur Tenants’ Union an der Capp Street, wo oft ein Dutzend Leute vor der Tür steht und darauf wartet, Hilfe gegen eine Zwangsräumung zu bekommen. Nach den Bürozeiten bleibt sie in der Regel noch hier. Manchmal holt sie Chips und Guacamole für die Sitzung mit den anderen Leuten vom Anti-Eviction Mapping Project, die sich jede Woche hier treffen, eine Gruppe von StanfordStudenten, Anwälten, alleinerziehenden Müttern und Obdachlosen wie Tony. Wenn Erin auf der Mission Street heimgeht nach Bernal Heights, kommt sie nach einer Minute an einem Haus vorbei, das einmal ein Hotel war, eine Weile leerstand und mittlerweile 20Mission heisst. Oft stehen junge, etwas bleiche Männer an der Strassenecke und warten auf ihren Uber-Wagen. Auf einer von Erins Stadtkarten sieht man, wo überall digerati dorms oder hacker homes entstanden sind, Schlafsäle für Leute, die mit einem Startup reich werden wollen – die Hippie-Kommunen von heute. Es sind auch die Goldgruben von heute: Ein Bett in einem Massenschlag lässt sich für mehr als tausend Dollar im Monat vermieten, ein Bett für eine Nacht kostet selten weniger als vierzig Dollar. Erin sagt, dass viele der jungen Computertalente wohl nicht wüssten, dass sie nach dreissig Tagen in den Genuss des Mieterschutzes kämen und nicht mehr zahlen müssten als ihren Anteil an der Gesamtmiete. Aber es ist wie mit den Nutzungsbestimmungen im Internet: Das Kleingedruckte liest niemand. In 20Mission kostet die

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Nacht neunzig Dollar, der Vermieter verdient jeden Monat etwa 100000 Dollar an seinen mageren IT-Talenten. Eines davon ist ein junger Mann aus der Nähe von Delhi, Prateek Dayal.

Prateek, Software-Entwickler 20Mission, wo Prateek ein Einzelzimmer hat, könnte sich auch in Bangalore oder Mumbai befinden. Komfort gibt es keinen, doch das WLAN ist gut. In den Gängen hängt der kränkliche Duft von Räucherstäbchen. Dauernd schlendern bärtige Männer durchs Haus, einen Joint zwischen den Lippen. Prateek ist für drei Monate hier, später im Jahr will er erneut nach San Francisco kommen. Viele bleiben länger, haben aus ihrem Zimmer eine Miniaturdisco gemacht oder eine Leinwand aufgehängt, die sie fast verschluckt, wenn sie nachts Videogames spielen. Einer von Prateeks Nachbarn schiesst oft Monster über den Haufen bis ins Morgengrauen. Wegen des Lärms zittern manchmal die dünnen Wände, Prateek hat nichts dagegen. Das einzige Geräusch in seinem Zimmer kommt von einem kleinen Heizkörper, den er selber gekauft hat: ein leises Surren. Eine Woche vor seiner Abreise Mitte Januar sind fast alle ausser Prateek damit beschäftigt, das Haus winterlich einzurichten, grosse Schneeflocken aus Papier auszuschneiden, eine Schneemaschine im Innenhof aufzubauen. Fast alle, das sind etwas mehr als dreissig junge Männer und vier Frauen. Die Feste in 20Mission haben einen guten Ruf. Einmal widmeten sie die Party Joshua Norton, der im 19.Jahrhundert als Geschäftsmann Erfolg hatte und mit Liegenschaften handelte, nach zwei Jahren Abwesenheit aber als Wrack nach San Francisco zurückkehrte. Norton erklärte sich zum Kaiser der USA, zum Protektor von Mexiko. Er zahlte mit selbstgemachtem Geld, darauf sein Porträt: massiver Schnauz, Federn am Hut, ein Hipster vor der Zeit. Die Leute liebten Norton, der eine Phantasieuniform trug und bald einen Hof hatte. Polizisten salutierten, wenn er vorbeiging. Im Theater bekam er kostenlosen Eintritt, und er brauchte auch nichts zu bezahlen, wenn er mit einer Kutsche umherfahren wollte. Die Namen der Gänge in 20Mission erinnern noch immer an Norton und sein erfundenes Geld, es geht um Traditionspflege. Der Besitzer des Hostels ist mit Bitcoin reich geworden, hat die Gänge nach Kryptowährungen benannt: Bitcoin Boulevard, Dogecoin Drive, Litecoin Lane. Prateeks Vater war einer der 1,4 Millionen Angestellten der indischen Eisenbahn, eines der grössten Arbeitgeber der Welt. Prateek und seine Mutter fuhren immer wieder wochenlang durchs Land, waren selten in Kanpur. Vielleicht lebt Prateek deshalb wie ein Nomade.

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Er ist dreissig, hat nur einen Rucksack und ein Macbook, sein Besitz wiegt 8,4 Kilogramm. In Bangalore hat er eine Internetfirma namens SupportBee gegründet, doch er hat keine Wohnung in der Stadt, lebt lieber im Hotel. Er betreibt auch kein Fundraising. In Indien, sagt er, verbringe man seine Zeit besser mit Meditieren. Prateeks Eltern steckten viel Geld in seine Ausbildung und schickten ihn in eine Missionsschule. Als Teenager hätte er gern die Computerklasse besucht, doch die Plätze waren vergeben. Er entschied sich für Elektrotechnik und baute einen Synthesizer. Sonst langweilte ihn die Schule, auch die Naturwissenschaften fand er öd. Der Unterricht sei zwar nicht schlecht gewesen, aber er erfuhr nie, was er wirklich wissen wollte: wie es sich anfühlt, ein Forscher zu sein und etwas Neues zu entdecken. 1995 sah Prateek seinen ersten Supercomputer, obwohl sein Vater und er eigentlich ins Kino gehen wollten. Unterwegs kamen sie an IIT Kanpur vorbei, dem Indian Institute of Technology. Hinter einer Glaswand befand sich der Computer, Prateek war hingerissen. Seine Eltern dachten, dass er später ebenfalls bei der Eisenbahn arbeiten würde, doch er wollte an eine technische Hochschule. Von den 142000 Mittelschülern, die an der Prüfung teilnahmen, wurden 2000 aufgenommen, Prateek belegte Rang 957, spricht noch heute mit Bitterkeit davon. Er sagt, der Wettkampf sei für ihn immer wichtig gewesen, er benutzt das Wort «zentral». Er ist untypisch für dieses Haus. Er spielte zwar eine Weile ein Kriegs-Game, wurde aber nie süchtig nach dem Gefühl, ein Level weiter zu sein. Er programmiert selten. Wenn es um Codes geht, überlässt er die Arbeit lieber den Kollegen in Indien. Auch hat er bereits ein Geschäft mit fünf Mitarbeitern, während die anderen in 20Mission selten Erfolg haben. Ben Greenberg, ein sympathischer Typ aus Indiana, scheiterte mit einer Idee namens Glowy Shit. Er wollte im Dunkeln leuchtende Knete im Internet verkaufen, stiess mit der schimmernden Scheisse aber auf wenig Nachfrage. Masaaki Furuki, ein in Kurt-CobainZitaten nuschelnder Japaner, antwortet auf Fragen nach seinen ITPlänen immer mit einem Schwall, der wenig bis nichts mit der Frage zu tun hat. Am Ende kommt er meist auf ein Interview mit Cobain zurück, das alle im Haus schon ein paar Mal gesehen haben. Der Sänger greift sich dauernd in den Mund, verzieht vor Zahnweh das Gesicht und sagt, er sei eben eine moody person. Masaaki schaut begeistert zu, ein paar andere in der Küche gucken unbeteiligt in ihre Smartphones. Prateek meditiert lieber, er nimmt hier eine Auszeit, arbeitet ein wenig in einer Bar in der Nähe der Battery. Mit 27 hat er zum ersten

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Mal Indien verlassen, nahm in Santiago an Startup Chile teil, drei Jahre ist das her. Er sagt, dass er immer noch versuche, weniger in sich gekehrt zu sein. In San Francisco will er einfach auf Ideen kommen, auch wenn er sich mit dem Lebenswandel hier manchmal etwas schwertut. Uber ist das beste Beispiel für ihn, wenn es um die sonderbaren Sorgen der ersten Welt geht. Wenn man mit der App einen Wagen bestellt, kann man nicht nur den Fahrer wählen. Man kann auch entscheiden, ob Musik laufen, ob der Fahrer reden oder besser das Maul halten soll. Sich in den Kopf eines Kunden zu versetzen, der seinem Dienstleister per Daumen Stille befiehlt, fällt Prateek nicht leicht. Trotzdem müsse er sich dieser Kultur anschmiegen. Nur so könne er Ideen entwickeln, die in ein paar Jahren vielleicht auch in Bangalore Anklang finden. Er fühlt sich, wenn er solche Sachen ausprobiert, wie ein Schauspieler. Er müsse sich in die Psyche eines sehr verwöhnten Konsumenten einfühlen, selber ein besserer Kunde werden, nur so könne er diese Programme entschlüsseln. Andere Apps hält er für grossartig, Square zum Beispiel. Damit können Bauern, die mit Obst und Gemüse zum Markt fahren, über ihr Smartphone Zahlungen abwickeln. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er in San Francisco mehr Geld braucht als seine fünf Kollegen in Indien zusammen. Deshalb mag er die Apps, mit denen er in Restaurants günstiger essen kann, wenn er zu Randzeiten vorbeigeht, etwa bei seinem Lieblingsinder an der Valencia Street, Udupi Palace. Leute wie Prateek werden immer wieder beschrieben, als wären sie eine invasive Spezies. Intellektuelle wie die Schriftstellerin Rebecca Solnit, die selbst nicht aus San Francisco stammt, verglich Techies mit Ausserirdischen, Insekten, preussischen Invasoren, deutschen Touristen – als würde eine Horde über die Stadt herfallen. Die Techies selber halten die Probleme für künstlich. Abgesehen von Financial District, Tenderloin und einem Teil von South of Market, ist San Francisco nur drei Stockwerke hoch. Dass es so wenig Wohnraum gibt, hat viel mit dem jahrzehntelangen Widerstand der Stadt zu tun, etwas zu wagen. Das Problem hat auch mit der Macht einer Lobby zu tun, jener der Hausbesitzer. Sie wollten nie Mietshäuser in ihrer Nähe. Sie fürchten, dass ihre Liegenschaften dadurch an Wert verlieren. Die etwas mehr als 1700 Technologiefirmen in San Francisco, einer Stadt mit 800000 Einwohnern, stellen etwas weniger als 50000 Leute an. Sie allein für den Wandel in der Stadt verantwortlich zu machen, ist zu einfach. In seiner Freizeit liest Prateek manchmal in der Autobiographie eines Yogi, die schon Steve Jobs gefiel. Er beschäftigt sich erst seit ein paar Jahren mit indischer Spiritualität, vor allem deswegen, weil

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viele Firmengründer aus San Francisco hier nach Ideen suchten. Prateek zitiert auch gern Sprüche aus dem Zen-Buddhismus und wendet sie auf Konzerne wie Google an. «Wenn du deine Schafe beherrschen willst, dann gib ihnen grössere Weiden.» Ab und zu nimmt er den Caltrain ins Silicon Valley, oft zusammen mit Kollegen. In Menlo Park gehen sie dann die Sand Hill Road hoch, die Wall Street Kaliforniens, einer der reichsten Orte der Welt, doch unscheinbar. Hier haben die Wagniskapitalisten ihre Niederlassungen, versteckt hinter Bäumen, nicht recht sichtbar, tödliche Stille. Es ist wenig los, nur ein paar Leute sind unterwegs. Die Geldgeber wohnen in Portola Valley in den Hügeln, wo eher Pferdemist als Hundedreck auf der Strasse liegt. Sie wollen, dass ihre Nachbarschaft so ländlich bleibt, wie sie ist. Sie wollen keine Wohnhäuser in der Gegend. Mit dem, was die Leute bei Google und Facebook im Schnitt verdienen, 100000 bis 200000 Dollar im Jahr, können sie sich den Ort nicht leisten. Sie sind gezwungen, sich anderswo umzusehen. Die Bilder, die Prateek und seine Bekannten aus 20Mission auf Facebook oder Twitter veröffentlichen, sehen aus wie Updates der Pilgerfahrten. Vor dem Facebook Headquarter steht eine Tafel mit einem gigantischen Daumen, die Besucher stehen Schlange davor. Sich ironisch lächelnd davor fotografieren zu lassen und den Daumen hochzuhalten – das scheint ihnen zu gefallen. Prateek fotografierte seinen Freund, einen enthusiastischen Spanier namens Hikarus. Selber stellte er sich aber nicht in die Reihe.

Wem gehört San Francisco? Versuch einer Antwort

Tony, Erin, Prateek. Niemand war schon immer hier. Doch sie bewegen sich durch dieselben Strassen. Bei allen Unterschieden haben sie viel gemeinsam. Ihre Träume teilen eine ähnliche, fieberhafte Intensität. Tony, der sich im popkulturellen Universum Amerikas verliert. Erin, die aus der Studentenbewegung der sechziger Jahre herausspaziert sein könnte, Megafon in der Hand, Mütze auf dem Kopf. Prateek, der hier nach der Zukunft sucht, auf Ideen surft. Kalifornien war schon immer ein Ort für Leute wie sie. Die Pioniere schoben die frontier bis an den Stillen Ozean. Die Traumfabrikanten Hollywoods schoben die Grenzen des Möglichen weiter ins Imaginäre. Die Hippies wollten anders leben, die Regeln brechen. Die Techies sind ihre wahren Nachfolger, auch sie träumen von einem Umbruch, auch sie sind meist bleiche Männer mit dichten Bärten und flackernden Augen, dem Standardlook für Revolutionäre. Vielleicht zielt die Rede von der Ungleichheit

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am Herz der Sache vorbei. Vielleicht geht es eher um Durchlässigkeit. Das Problem ist, dass der Traum, der Amerika gross gemacht hat, schon lange vorbei ist. Der Traum, dass man aufsteigen kann, wenn man hart arbeitet. Dass man sich ein Auto und ein Haus kaufen und seine Kinder an die Hochschule schicken kann, wenn man sich anstrengt und etwas Grips hat. Die Erinnerung an dieses Versprechen hallt nach, die Bilder des Traums spuken immer noch durch die Köpfe. Es gibt auch einen Ort, wo der Traum noch immer geträumt wird: auf diese Halbinsel, die fast nicht mehr zu Amerika gehört, fast schon vom Festland weggedriftet ist. Hier kann auch ein junger Mann aus Indien aufsteigen, der sein Land bis vor ein paar Jahren noch nie verlassen hat. Er sagt zwar, in seinem schönen Singsang, dass er noch nirgends sei. Aber die Antwort auf die Frage, wem San Francisco gehöre, ist wohl am ehesten: Prateek.

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Segat eid Aidraug Livic rov red Erütsuah dnu etgarf hcan ned Nrennäm sed Sesuah. Sella hahcseg rhes llenhcs, losdunrg, tetrawrenu. Eid Netmaeb netrehcisrev red Rettum, ssad rhi Nnam dlab nerhekkcüruz edrüw, eis nettäh aj run nie raap Negarf, eid eis mhi fua red Ehcaw nellets nedürw. Reba re terhek ein kcüruz. Hcua red Redurb dnu red Retav thcin.

Solehc Rettum beilb niella mi Sauh kcüruz, nemmasuz tim eird Nrednik dnu med netreiv sgewretnu: Olehc. Eiw Ednesuatnehz Nennireinaps ni merhi Retla raw eis sla Dnik negunwzeg, uz netiebra. Eis trennire hcis, eiw eid Eilimaf gidnäts na menie neredna Tro etethcanrebü, retnu

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Ehcsäw mi Hcab, sib erhi Ednäh netetulb dnu nam eis uzad tleihna, neröhuzfua. Red Negam raw remmi reel, sad Nletteb mu nie Kcüts Torb

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Sprachlos in Sevilla Sie konnten die vorherigen beiden Seiten nicht lesen? So geht es dem Analphabeten Paco mit jedem Text.

Sie schaut auf ein Blatt Papier und bewegt ihren Kopf hin und her. Ihr rechtes Bein wippt auf und ab, als hätte sie einen Tick. Sie schnalzt mit der Zunge und reibt die Finger an den Handinnenflächen. Der ganze Körper: ein einziges nervöses Kribbeln. Ihre Augen fixieren das Blatt vor ihr auf dem Tisch. Endlich sagt sie halblaut: «‹M› und ‹A›, ‹MA›. ‹M› und ‹A›, ‹MA›.» Und nach einer kurzen Pause, unsicher: «MAMA.» Chelo sitzt auf dem Sessel im Wohnzimmer ihres Hauses. Heute hat sie keine Schule. Nachdem sie sich im Fernsehen zuerst die Drei-Uhr-Nachrichten und anschliessend ihre Lieblingsserie angesehen hat, setzt sie sich ihre Lesebrille auf die Nasenspitze und beginnt mit langsamen Bewegungen, das Wort aufzuschreiben, das sie gerade gelesen hat. Mama. Sie fährt fort mit Papa, Haus, Tisch. Ein Wort nach dem anderen spricht sie zuerst langsam laut aus, als ob es sich so direkt ins Gedächtnis stempeln liesse. Dann erst schreibt sie es auf. Gefällt ihr das Ergebnis nicht, schüttelt sie den Kopf über ihre Unbeholfenheit, greift zum Radiergummi und beginnt von vorn. So geht das Nachmittag für Nachmittag, bis es Zeit wird fürs Abendessen. Chelo, 73 Jahre alt, lernt lesen. Noch vor ihrer Geburt stand eines

Tages die Guardia Civil vor der Haustüre und fragte nach den Männern des Hauses. Alles geschah sehr schnell, grundlos, unerwartet. Die Beamten versicherten der Mutter, dass ihr Mann bald zurückkehren würde, sie hätten ja nur ein paar Fragen, die sie ihm auf der Wache stellen würden. Aber er kehrte nie zurück. Auch der Bruder und der Vater nicht.

Chelos Mutter blieb allein im Haus zurück, zusammen mit drei Kindern und dem vierten unterwegs: Chelo. Wie Zehntausende Spanierinnen in ihrem Alter war Chelo als Kind gezwungen, zu arbeiten. Sie erinnert sich, wie die Familie ständig an einem anderen Ort übernachtete, unter

Brücken, unter Bäumen, auf dem Boden, alle fünf zusammengerückt, um der Kälte zu trotzen. Mit sieben pflückte sie Oliven, trug Wasserkrüge auf dem Kopf, die schwerer waren als sie selbst. Sie wusch so lange

Wäsche im Bach, bis ihre Hände bluteten und man sie dazu anhielt, aufzuhören. Der Magen war immer leer, das Betteln um ein Stück Brot

Alltag. Im franquistischen Spanien der Nachkriegszeit hatten die Kinder der Armen weder die Zeit noch die Möglichkeit, in die Schule zu gehen.

Und arme Mädchen sowieso nicht. Auch nach dem Tod Francos und dem ökonomischen Aufschwung

Spaniens drehte sich das Leben Chelos in einem abgelegenen andalusischen Dorf um die Arbeit. Chelo zog drei Kinder gross, baute zusammen mit ihrem Mann ein Restaurant, arbeitete als Köchin (ihr Ochsenschwanzgericht war im Dorf beliebt) und als Kosmetikartikelverkäuferin.

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Fürs Lesenlernen fehlte ihr die Zeit. Ausserdem ein Angebot. Ein Ort, an dem sie das hätte nachholen können, was ihr als Kind verwehrt geblieben war. Und selbst wenn es das Angebot gegeben hätte, so hätte ihr wohl der Mut gefehlt, sich über das Geschwätz im Dorf hinwegzusetzen, dazu zu stehen, dass sie nicht lesen konnte. Doch vor wenigen Monaten überwand Chelo ihre Scham. 72 Jahre lang bedeuteten Buchstaben für sie nichts, ein unverständliches und geheimnisvolles Rätsel. Ein beschriebenes Blatt Papier war für sie nur ein weisses Blatt Papier. Chelo kennt das Gefühl nicht, einen Brief des

Liebsten zu lesen. Sie schwelgte nie vor Freude über ein Gedicht von

Federico García Lorca und konnte nie beim Lesen eines Liebesromans mit den Gedanken davonfliegen. Jetzt besucht sie zweimal wöchentlich zusammen mit anderen Frauen in ihrem Alter einen staatlichen

Erwachsenenlesekurs im Dorfschulhaus und übt zu Hause mit Papier und Bleistift ihre ersten Buchstaben, die irgendwann einmal Wörter bilden sollen. «‹M› und ‹A›, ‹MA›.» Etwa 700000 Analphabeten leben heute offiziell in Spanien.

Wären all diese Menschen so alt wie Chelo und ihre Klassenkameradinnen, so brauchte man nur noch ein paar Jahre zu warten – und eines

Tages wäre das Phänomen ausgestorben. Im Spanien des 21. Jahrhunderts ist Lesen und Schreiben für alle eine Selbstverständlichkeit geworden, sollte man meinen. Tatsächlich aber nimmt der Analphabetismus im Land von Cervantes nicht überall ab. Aber das wird nicht offiziell gemacht; das Image Spaniens, das nach dem Ende der Diktatur den Anschluss an die führenden Nationen dieser Welt geschafft hat, darf schliesslich keine Kratzer erhalten. Doch an den Rändern der Grossstädte, wo Arbeitslose, Arme und Ausländer leben, wird Lesen und

Schreiben zu einem vernachlässigten Kulturgut. Heute ist für Antonio Prüfungstag. Sprachtest im zweiten Trimester im Ausbildungszentrum des hauptsächlich von spanischen Roma, den Gitanos, bewohnten Industrieviertels Polígono Sur in Sevilla – im Volksmund Las Tres Mil Viviendas genannt –, einer in den siebziger Jahren angelegten Blocksiedlung, in die sich heute in gewissen Strassen weder die Polizei noch ein Fremder hineinwagt. Wo wer sich trotzdem dorthin verirrt, ständig Blicke im Nacken spürt und mit dem Schlimmsten rechnen muss. Antonio kratzt sich mit dem Bleistift am Kopf, schaut mit seinen grossen schwarzen Augen auf das Wörterbuch auf seinem Schreibtisch und atmet laut ein und aus. Nach einer Weile hebt er den Kopf, schaut die Lehrerin an, die ihm gegenübersitzt, und beginnt mit seinen braungebrannten Fingern im

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Wörterbuch scheinbar wahllos herumzublättern. Dann schliesst er es wieder, ohne etwas aufzuschreiben. Er schaut hinüber zu einer Mitschülerin im gleichen Alter, die konzentriert und ohne Pause mit ihrem Kugelschreiber über die Seiten fliegt. Er zupft sich am Pullover, rückt ihn zurecht, dreht das Blatt um, das vor ihm liegt, und kneift die Augen zusammen, so als ob er dadurch die Sätze besser lesen könnte. Endlich gibt er sich einen Ruck: «Frau Lehrerin, ich weiss nicht, was ein Adjektiv ist.» Antonio ist mit 15 von der Schule geflogen, weil er während eines Fussballspiels im Klassenzimmer einen Computer zertrümmerte. Er hatte bis dahin gerade einmal das Abc gelernt und die Zahlen. Nur wegen seines Alters schaffte er es überhaupt in die dritte Klasse. Antonio ging, wie fast alle seiner Freunde, nie gern zur Schule. In Las Tres Mil Viviendas spielt sich das Leben auf der Strasse ab. Jeden Morgen, wenn sich Antonios Eltern am Schuleingang von ihrem Sohn verabschiedeten und umdrehten, tat dieser dasselbe, liess den Unterricht sausen und ging mit Freunden Fussball spielen. Manchmal beschlichen ihn Zweifel; vielleicht war es doch nicht richtig, zu kicken, statt die Schulbank zu drücken, vielleicht hatten die Eltern doch recht, wenn sie ständig wiederholten, wie wichtig Lesen und Schreiben für die Zukunft sei. Doch dann wischte er die Bedenken wieder weg. Wer wollte schon in den Augen aller Freunde der einzige Dummkopf sein und freiwillig zur Schule gehen – und sich damit zum Feigling des Viertels stempeln lassen? In Antonios Mikrokosmos zählt das Gesetz der Strasse, des Stärkeren, und Antonio beschloss, sich darin seinen Platz zu suchen. Ohne zu ahnen, wie sehr er sich dadurch selbst einen Platz in der Welt nehmen würde. Antonio, der als funktionaler Analphabet gilt, weil er die Schule besucht hat, sagt nach der Prüfung betreten: «Ich kann lesen, aber ich weiss nichts über das, was ich gerade gelesen habe. So nützt mir das Lesen nichts, und schreiben kann ich auch kaum.» Wenn Antonio schreibt, verwendet er weniger als die Hälfte aller verfügbaren Buchstaben und platziert diese meist auch noch falsch. Akzente, Verbkonjugationen, Adjektive, Adverbien, Substantive: alles ein riesengrosses Rätsel für ihn. Mit zwanzig Jahren hat er noch nie ein Buch gelesen. Während der Schulpausen geht Antonio zu seiner Grossmutter, bei der er wohnt, um seine Eltern zu entlasten, die mit seinen drei jüngeren Geschwistern schon genügend Schwierigkeiten damit haben, alle Bäuche zu füllen. Oft hat er dann keine Lust mehr, zurück zur Schule zu gehen, und schaut bei seinem Onkel vorbei, isst etwas und

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legt sich aufs Ohr. Antonios Leben ist geprägt von Disziplinlosigkeit, Herumstreunen, Abhängen, davon Nächte zu verfeiern und Tage zu verschlafen. Ein Leben, das in seinem Viertel keine Ausnahme ist, sondern ein Normalfall. Ein Leben, das auf der Bequemlichkeit basiert, nichts tun zu müssen. «Diese Jugendlichen verdummen durch unser Wohlfahrtssystem», sagt die Lehrerin Rosa Yáñez, die in Antonios Viertel arbeitet. «Sie wissen, dass sie alles zum Leben vom Staat bekommen. Warum also sollten sie sich anstrengen? Was die Menschen in diesen Vierteln brauchen, ist Bildung und soziale Akzeptanz – nicht eine scheinbar nie versiegende Geldquelle aus Brüssel, die sie in einen Dauerzustand der Lethargie versetzt, aus dem sie nicht erwachen werden.» Nicht nur die Jugendlichen von Las Tres Mil Viviendas haben es sich bequem gemacht. Das ganze Land feierte den Tag, als Felipe

González 1985 den EU-Beitritt unterzeichnete. In den folgenden dreissig Jahren gehörte Spanien zu den grössten Nehmerländern Europas.

Natürlich hat der historische Schritt geholfen, die junge Demokratie zu festigen und das Land wirtschaftlich nach vorne zu bringen. Doch es hat seine Bürger auch dazu konditioniert, sich, geschützt durch den Brüsseler Geldschirm, hinter den Beamten-Bürotischen des Landes einzurichten. Stunden verstreichen zu lassen und dafür bezahlt zu werden, Arbeit nur zu simulieren, statt sie wirklich zu leisten. Wer je in einem spanischen Rathaus einen Termin vereinbart hat, um einen

Antrag zu stellen, weiss, was es heisst, mit der ganzen Härte spanischen Beamtentums konfrontiert zu werden: Auf das obligatorische lange Warten, um die Wichtigkeit der anzutreffenden Person zu unterstreichen, folgen beiläufig dahingeworfene Hinweise, wie beschäftigt man sei und was für ein Glück der Besucher habe, überhaupt empfangen zu werden. Der nicht mehr überschaubare Papierkram, den es für jede unbedeutende Kleinigkeit auszufüllen gilt und der Wochen der

Warterei nach sich zieht, überfordert dann sowohl den Beamten als auch den Antragssteller. Und so verwundert es nicht, dass Spanien in einer Studie des Davoser Weltwirtschaftsforums zur Produktivität der Arbeitskräfte innerhalb der EU den vorletzten Platz einnimmt, knapp vor Moldawien. Wie sollte es auch anders sein, in einem Land, in dem Talent und Fleiss eine untergeordnete Rolle spielen, weil eine grassierende Vetternwirtschaft für die Jobverteilung entscheidender ist. In dem sogar der amtierende Präsident Mariano Rajoy seinen Bürgern ernsthaft rät,

«bei auftauchenden Problemen einfach wegzuschauen». Eine Aussage, die er anlässlich einer Tagung für Jugendliche äusserte und an die

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er tatsächlich zu glauben scheint. Wie sonst ist seine viel zu langanhaltende Passivität angesichts des seit Jahren schwelenden Katalonienkonflikts zu verstehen? Wie zu begreifen, dass Rajoy und eine Vielzahl seiner Parteikader des Partido Popular, der korruptesten Regierung in der Geschichte Spaniens, angesichts der laufenden Korruptionsprozesse «einfach wegschauen»? Rajoys Äusserung sorgte für Sprengstoff in den sozialen Medien.

«Endlich ist das Leitmotiv des Partido Popular bekannt.» – «Was für eine Realsatire!» – «Das erklärt einfach alles.» So lauteten einige der

Kommentare im Netz. Denn Rajoys Aussage bedeutet auch: die Faust im Sack machen. Doch wie der Chef, so seine Untertanen. Die Mehrheit des spanischen Volkes schaut selbst ständig weg und unternimmt kaum etwas, um die wuchernde Korruption zu stoppen, die Spanien flächendeckend und parteiübergreifend im Griff hat. Und auch mit dem

Thema Analphabetismus haben viele sich abgefunden. Am nächsten Tag erhält Antonio seinen Test zurück. Ungenügend. Nach der Enttäuschung über die misslungene Prüfung hat er keine Lust, direkt nach Hause zur Grossmutter zu gehen und ihr zu eröffnen, dass es noch unbestimmte Zeit dauern dürfte, bis er seine Ausbildung zum Mechaniker antreten wird. Er zieht einen Spaziergang im Viertel vor. Es ist zwölf Uhr mittags, die Strassen sind praktisch leer, die meisten Bewohner schlafen um diese Zeit noch. Er trifft auf Paco, einen Freund, der ihm sein Smartphone entgegenhält. Der 28-Jährige kann weder lesen noch schreiben, also muss Antonio die Nachrichten von dessen Freundin vorlesen und so gut wie möglich für ihn beantworten. Oder Paco antwortet mit einer Sprachnachricht. Seine Freundin darf nicht wissen, dass er keinen Job hat, und schon gar nicht, dass er Analphabet ist. Eine Gruppe Zwanzigjähriger kreuzt den Weg der beiden Freunde. Auch sie haben kaum etwas zu tun, feiern aber ausgelassen. Einer von ihnen trägt einen Kampfhahn unter dem Arm und grinst von einem Ohr zum andern; kurz blitzen seine Zähne auf, von Karies zerfressen. Als er sieht, dass Antonio Whatsapp-Nachrichten von Paco beantwortet, lacht er und sagt: «Zum Glück haben sie mich in das Zentrum für Minderjährige gesteckt, dort hab ich wenigstens Lesen und Schreiben gelernt.» Die Gruppe zieht weiter mit ihrem Hahn, der aufgeregt vor sich hin flattert und versucht, sich aus dem Klammergriff zu befreien. Das Tier hat soeben einen Kampf gewonnen – der Tag ist gerettet. Auf dem Weg zum Mittagessen bei seiner Grossmutter trifft Antonio auf «el Murciano», einen jungen Mann, der vor wenigen Monaten der Liebe wegen in die Nachbarschaft gezogen ist. Vor dem Kiosk,

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den er mit seiner Vermählten zusammen aufgebaut hat, beginnen die beiden Männer darüber zu reden, wie Murcianos Geschäft so läuft. «Was geht ab, Murciano?» «Nichts. Halte die Stellung. Und du?» «Hänge rum. Klingelt die Kasse?» «Geht so. Kann mich nicht beschweren. Aber die neuen Nachbarn! Sie verstehen es einfach nicht. Lassen Musik in voller Lautstärke laufen, mitten am Nachmittag. Wie soll man da Siesta halten?» «Die Leute denken, wir hätten hier in unserem Viertel sowieso keine Regeln.» «Bis sich jemand aufregt.» «Dabei reichen wir uns an den nächtlichen Partys die Flaschen weiter, um keine Papierbecher rumliegen zu lassen wie die reichen Schnösel in der Innenstadt!» «Läuftʼs in der Schule, Antonio?» «Nein.» «Hast du Arbeit?» «Nein.» Antonio hat keine Lust mehr, Arbeit zu suchen. Wieso auch? In Las Tres Mil Viviendas werden den Jugendlichen sämtliche Zutaten der Arbeitslosigkeit von Anfang an auf dem Tablett serviert. Die fehlende Bildung trägt nicht dazu bei, aus der kleinen Blase, in der sie sich in ihrem Streunerleben eingerichtet haben, herauszutreten. Die damit verbundene Arbeitslosigkeit ist sicher nicht schön, aber sie ist gerade noch so angenehm, dass man sie in Kauf nimmt. Weil sie bequemer ist als die Alternativen. Und wenn Antonio und seine Kumpels doch mal auf Jobsuche gehen, verschliessen sich ihnen sämtliche Türen, sobald sie den Namen ihres Viertels aussprechen. Das Resultat: ein Leben bestehend aus kleinen Diebstählen und Gelegenheitsjobs, Perspektivlosigkeit und eine Arbeitslosenquote im Viertel von siebzig Prozent. Gebaut wurde dieses weit abgelegene und von der sevillanischen

Gesellschaft verstossene Ghetto zu Beginn der siebziger Jahre. Damals begannen immer mehr Touristen durch die verwinkelten Gässchen der Altstadt zu flanieren. Die Stadtverwaltung Sevillas beschloss, das

Zentrum durch die Ansiedlung wohlhabender Familien aufzupolieren.

Die armen und die einfachen Leute, die obdachlosen Bewohner am

Guadalquivir, aber auch zwielichtige Gestalten und andere, die das

Image der Stadt bei den Touristen beschmutzen könnten, wurden allesamt nach Las Tres Mil Viviendas verfrachtet.

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Der Plan funktionierte. Die Innenstadt Sevillas ist heute bis ins kleinste Detail herausgeputzt. In der einen Strasse reihen sich sorgfältig dekorierte Boutiquen an Souvenirläden, in der anderen die Mega-Shops von Zara, Mango oder H&M. Zu praktisch jeder Jahreszeit füllen Touristen die Gässchen und stehen Schlange vor dem mittelalterlichen Königspalast Alcázar oder einer der unzähligen Tapas-Bars. Selbst der Gitano aus dem Ghetto singt nur schnell sein Lied und verschwindet wieder mit den paar Euro, die er sich damit verdient.

Doch wer die Innenstadt wirklich zum Bersten bringt, sind die Sevillaner selbst. Besonders jetzt, in den Vorbereitungen der Karwoche, scheinen die Menschen trunken von der Atmosphäre. Die Strassen riechen nach Weihrauch, in jeder Kirche putzen die Menschen unter Hochdruck ihre Heiligenstatuen auf dem tragbaren Thron heraus. Die Jesusfiguren tragen Tuniken aus teurem Samt und Dornenkronen auf dem Haupt. Die Jungfrauen – die Macarenas, Esperanzas oder Dolores – sind in farbige Spitzenkleider gehüllt, mit Broschetten und Perlenketten geschmückt, die leidenden Gesichter mit Klöppelspitzen umhüllt. Blumendekorationen erzählen die Geschichte von Jesus nach: Violette Lilien symbolisieren den Leidensweg, rote Nelken die Aufopferung, weisse Rosen und Orchideen die Reinheit Jesu. Die Costaleros – die Träger während der Osterprozession – balancieren die Throne durch die engen Gassen und an den tiefen Balkonen vorbei; Balkone, für die in der Semana Santa, der Osterwoche in Spanien, bis zu 2000 Euro bezahlt werden, um die Prozession aus nächster Nähe sehen zu können. Und aus sicherer Distanz, während die Menschenmasse unten in den Gassen schier sich selbst zerdrückt. Die Musikbands proben die Nacht hindurch, zum Ärger derjenigen, die morgens früh aufstehen müssen, und zur Freude aller anderen. Die Tavernen sind von einem Morgengrauen bis zum anderen rappelvoll, das Bier fliesst zu allen möglichen Sorten von Tapas. Sevilla verbreitet in diesen Tagen vor Ostern ein Hochgefühl, das einen beinahe die Wirtschaftskrise vergessen lässt – obwohl gerade Andalusien am stärksten davon betroffen war. Als wolle man die harte Realität des Alltags mit einem schönen Schein übertünchen. Nicht wenige trinken mit Freunden tagsüber, weil zu Hause nur die ungeheizte Wohnung wartet. Die spanische Kultur, auf der Strasse zu leben, bedeutet auch, zu zeigen, was man nicht hat – und selbst damit noch zu prahlen. Noch so ein spanischer Wesenszug. Schon Miguel de Cervantes schrieb vor vierhundert Jahren in seinem Klassiker Don Quijote de la Mancha: «Nicht überall, wo es Pfähle gibt, hat es auch Speck drauf.»

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Die schöne Fassade Sevillas – gemäss dem Reiseführer Lonely Planet 2018 die Nummer eins der «Best-in-Travel-Städte» weltweit – beginnt dann zu bröckeln, wenn ein Tourist irrtümlicherweise den Bus Richtung Las Tres Mil Viviendas besteigt. Auf seinen Fotos, die bis jetzt die phantastischen Kirchen und Monumente der Innenstadt zeigen, wird zunehmend der architektonische Verfall erkennbar. Der Fotograf bemerkt, dass die zusteigenden Quartierbewohner einfacher gekleidet sind, auch die Markenlogos auf den Einkaufstaschen verschwinden mit jeder Haltestelle mehr und mehr. Er hört, wie die Menschen hier anders sprechen als jene im Zentrum Sevillas; als hätte ihre Sprache sich vom Andalusisch der Sevillaner noch einen Schritt weiter vom Hochspanischen entfernt: noch schneller, noch undeutlicher und noch verkürzter. Je tiefer der Tourist ins Quartier hineinfährt, desto stärker wird der kulturelle Niedergang auf seinen Fotos sichtbar. Bis der Bus Las Vegas, den entlegensten und berüchtigtsten Quartierteil von Las Tres Mil Viviendas, erreicht. Und der Tourist lieber keine Bilder mehr schiesst. An eine Hausfassade hat der Künstler Repo einen der besten Sänger in der Geschichte des Flamencos gemalt: Camarón de la Isla. Er sitzt auf einem Holzstuhl und scheint in seiner unverwechselbaren Art gleichzeitig zu lächeln und zu singen. Der Sänger erinnert daran, dass Las Tres Mil Viviendas die vielversprechendsten Talente des andalusischen Flamenco hervorbringt. Im Viertel machen schon die ungeborenen Kinder ihre erste Begegnung mit dem Flamenco, wenn die schwangeren Frauen mit ihren Freundinnen auf den Plätzen spontan zu singen oder tanzen beginnen. Später fühlen sich manche Kinder von der Gitarre angezogen, andere von der Kistentrommel Cajón und wieder andere von Gesang und Tanz. Es gibt diese Momente, wenn die Bewohner von Las Vegas sich sammeln und ganz dem Flamenco verfallen. Die Probleme sind für diese Augenblicke weit weg, und die Welt hört scheinbar auf zu existieren, wenn der tiefe Gesang die Nacht zerreisst. Aber wenn Camarón de la Isla seinen Kopf drehen könnte, würde er aufhören zu lächeln angesichts des desolaten Bildes, das sich ihm offenbart. Die Brise an diesem kühlen Frühlingsmorgen bläst Plastikabfall und leere Coca-Cola-Flaschen über die vom Unkraut überwucherten Plätze. Aus den Wohnblocks starren dort, wo eigentlich Fenster sein sollten, Löcher dem Betrachter entgegen. Einige Löcher sind mit Ziegelsteinen zugemauert worden, aber nur teilweise, so dass die Bewohner noch mitbekommen, was draussen vor sich geht. Und

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Camarón sähe die Feuerstelle, um die bei nächtlichem Gesang die Schnapsflaschen gereicht werden und sich die Sänger und Tänzer in den Rausch trinken, um ihn am Tage auszuschlafen. In Las Vegas stehen bei starkem Regen ganze Strassen unter Wasser, weil die Kanalisation nicht funktioniert. Einstige Aufzugsschächte sind vollgestopft mit Abfall. Die Stromkabel werden von den Bewohnern meist illegal angezapft, weil sie die Rechnung des Elektrizitätswerkes ohnehin nicht bezahlen könnten. Ratten streunen wie andernorts Hunde durchs Quartier. In Las Vegas deponieren längst nicht alle Bewohner den Müll in die dafür vorgesehenen Container, es kann auch vorkommen, dass Säcke aus den Fenstern geschmissen werden. Der Briefträger kommt nicht mehr vorbei, weil es keine Briefkästen gibt – die wurden vor geraumer Zeit beim Altmetallhändler zu Geld gemacht. An jeder Ecke in Las Vegas steht ein «Wasserträger»: das unterste Glied in der Hierarchie der Kleinkriminellen. Schlecht angezogen und mit einer Plastiktüte in der Hand tut er so, als ob er etwas einsammeln würde. Leicht torkelnd vom Schuss der letzten Nacht gibt er das Codewort von einem zum andern weiter (in dieser Woche lautet es «Coca-Cola»), sobald eine Streife in Sichtweite ist. In Las Vegas gehen morgens Sozialarbeiter von Tür zu Tür, um die Kinder für die Schule zu wecken, weil die Mütter es längst aufgegeben haben. Die Analphabetismus-Rate beträgt 26 Prozent – eine Zahl, die dem Niveau der Demokratischen Republik Kongo entspricht, weit entfernt von den 1,6 Prozent im restlichen Spanien. Trotzdem besuchen nur wenige Erwachsene einen Lesekurs, und die, die es tun, machen es, weil sie sonst die Führerscheinprüfung nicht ablegen dürften. Den Schein brauchen sie aber, um entweder als Schrotthändler oder Marktfahrer in die umliegenden Dörfer zu fahren. Denn das sind zwei der häufigsten Berufe in Las Vegas – neben Drogenhändler, Kredithai und Waffenschmuggler. Doch es gibt auch Ansätze zur Besserung. María del Carmen

Utrera, 39, Mutter zweier Kinder und, wie sie sich selbst definiert,

«Lehrerin für Lebenserfahrung», denkt genauso wie die Lehrerin Rosa

Yáñez. Sie versteht nicht, wieso die Subventionen aus Brüssel immer und immer wieder in den Immobiliensektor fliessen, wo mit Arbeitern von andernorts gearbeitet wird, anstatt dass neue Arbeitsplätze im

Quartier geschaffen würden. «Sogar die Strassenkehrer werden aus

Sevilla extra hierhergebracht», sagt Utrera, die beim Sportklub in Las

Vegas in der Administration arbeitet und von Montag bis Mittwoch meist jüngeren Frauen Lesen und Schreiben beibringt. Angefangen

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hatte es damit, dass sie beobachtete, wie die Frauen aus dem Quartier bei der Aushändigung der Lebensmittel durch das Rote Kreuz Probleme hatten, die Antragsformulare auszufüllen, und ihren Männern sagten, sie sollten das erledigen. Utrera beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Der erste Schritt bestand darin, den Frauen ihre Lese- und Schreibschwäche überhaupt als Problem begreiflich zu machen. War das geschafft, musste sie den Frauen klarmachen, dass es ihnen nützen würde, wenn sie lesen könnten. Schliesslich ging es darum, dass sie sich aus dem Haus begeben und zu ihr in den Sportklub kommen sollten, das Gebäude liegt gleich um die Ecke. Heute macht es sie unendlich stolz, wenn eine ihrer Schülerinnen zu ihr kommt und ihr die erstmals selbst erstellte Einkaufsliste zeigt.

Auch der 36-jährige Quique kämpft gegen den Analphabetismus. Jeden Donnerstagvormittag beobachtet er die Menschenmenge, wenn der Kleidermarkt nach Las Vegas kommt. Auf Tüchern ausgebreitet liegen Herrenhemden für einen Euro, Röcke für zwei, Abendkleider für drei. Die Verkäufer verwenden nur ganze Eurobeträge, damit das Rechnen beim Herausgeben nicht zu kompliziert wird. Doch Quique ist nicht zum Einkaufen gekommen. Er ist auf der Suche nach jungen Arbeitslosen. Das Aussehen eines Roma und seine Gitarre dienen ihm als Köder. Nach ein paar Liedern gewinnt er die Sympathien der Jungen und kann sie überzeugen, bei ihrem gemeinsamen Berufsförderungsprogramm in der nahegelegenen Schule mitzumachen. Muss man sich beim Arbeitslosenamt registrieren? Wo liegen die Unterschiede bei Anstellungsverträgen? Was ist eine E-Mail? Wie bitte, mit meinem Smartphone kann ich E-Mails lesen? Was ist ein CV? Warum braucht es einen Lebenslauf für eine Anstellung? Diese und viele weitere Fragen kreisen in den Köpfen der Jugendlichen – als direkte Folge davon, die Schule geschmissen zu haben, um sich noch als Teenager zu verheiraten und von der Improvisation auf der Strasse zu leben.

Dort, wo wahrscheinlich auch Antonio leben wird. Er hat den Lesekurs geschmissen. Seine kleine Schwester aber rügt er heftig, wenn sie nicht zur Schule gehen will. Leider ist er ein schlechtes Vorbild. Er hat sogar seine Telefonnummer geändert, damit er nicht mehr von seinen Lehrern angerufen werden kann. Seine Lehrerin kennt solche Situationen zur Genüge. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben und zu hoffen, dass Antonio doch noch zur Vernunft kommt und zumindest einen regulären Schulabschluss anvisiert. Wie wenige das tun, zeigt auch die Quote derer, die es aus Antonios Viertel an die Universität schaffen: gerade einmal ein Prozent.

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Vielleicht verändert die Ankunft neuer Analphabeten etwas zum Guten.

Auch die afrikanischen Migranten können oft nicht lesen und schreiben, wenn sie hier ankommen. Doch sie unterscheiden sich von Antonio und seinesgleichen in einem: Wer in Afrika aufgebrochen ist und es nach Europa geschafft hat, will lernen und weiterkommen und hört nicht auf, von einer besseren Zukunft zu träumen. Die Antonios Spaniens könnten sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Chelo in ihrem andalusischen Dorf hat noch nicht aufgegeben. Im Gegenteil: Ihr Leben nimmt nach einer 180-Grad-Wende wieder Fahrt auf: Sie geht jetzt dreimal wöchentlich zum Unterricht. Zusammen mit ihren neuen Freundinnen plant sie Ausflüge zu Weinproben, besteigt alte Burgen oder besucht, wie kürzlich, das Musical El Rey León in Madrid. Sie geht zum Gruppenturnen, wodurch endlich ihre Arthrose besser wird. An den schulfreien Nachmittagen setzen sich die Frauen zum Stricken zusammen, abends widmet sich Chelo zu Hause ihrem Hobby, der Kalligrafie. Chelo führt ein ruhiges Leben in diesem andalusischen Dorf, das wie viele andalusische Dörfer ist, mit seinen einfachen und pfiffigen Menschen, die zwar nicht in einem Ghetto leben, wo sie sich ständig beobachtet fühlen, aber das voll von Tratsch und Klatsch ist, weil jede und jeder die Nase in die Angelegenheiten des anderen steckt, bis alle sich langweilen und ihr schlechtes Gewissen wegen der ganzen Tratscherei mit Rosenkranzgebeten in der Kirche reinzuwaschen versuchen. In diesem andalusischen Dorf, wo die Zahl der Schulabbrecher hoch ist, weil die Eltern denken: Wenn unser kleiner Engel nicht gern zur Schule geht, dann wollen wir ihn mal nicht dazu zwingen. In diesem andalusischen Dorf ist die Arbeitslosenquote zwar auf einem Rekordhoch, doch das braucht niemanden zu kümmern, denn die Einheimischen dürfen von der Hoffnung leben, eines Tages von der Verwaltung angestellt zu werden; als ob es keinen anderen Beruf gäbe als den des Beamten. Das Glück, als solcher unterzukommen, hängt wiederum nicht von der Ausbildung ab, sondern von der Familie. Ist die nämlich gross, sind den verwandten Lokalpolitikern gleich mehrere Stimmen für deren Wiederwahl garantiert. In diesem andalusischen Dorf sind die Bars nicht so voll wie in Sevilla, ausser im Sommer, wenn die Touristen aus Madrid und halb Europa kommen, sowie sonntags, wenn die Familien auswärts essen gehen, einige nur um zu zeigen, dass man es sich leisten kann – die Kinder derart herausgeputzt, dass sie dem Spielplatz fernbleiben müssen, um nicht schmutzig zu werden. In diesem andalusischen Dorf

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sind die Bänke an der Uferpromenade so aufgestellt, dass jeder, der sich setzt, dem Meer den Rücken zuwendet und auf Häuserblocks starrt, als wollten die Behörden vermeiden, dass jemand den Blick auf neue Horizonte richtet. Vielleicht repräsentieren diese Bänke auch nur das Wesen der Dorfbewohner, die sich trotz Mangelbeschäftigung lieber vor neuen Aufgaben drücken, als diese anzugehen. Wer will, kann in den verkehrt herum aufgestellten Bänken auch eine Rache am Meer erkennen. Längst spuckt es nicht mehr so viele Fische aus wie einst, stattdessen immer mehr Flüchtlinge aus der Sahara. Da tut es der lokalen Ökonomie gut, dass die Touristen, die sich für solcherlei Dinge in der Regel wenig interessieren, weiterhin rege kommen, des berühmten Nachtlebens wegen und des Windes, der hier bläst wie sonst nirgendwo in Europa. Die Einheimischen mögen den Wind nicht besonders, und die Schule ist sehr nah am Strand, wo der Wind noch stärker weht. Aber Chelo und ihre Klassenkameradinnen sind kraftvoller, als der Wind zu blasen vermag. Zwar schmerzen ihre Körper wegen des Alters, weshalb sie manchmal zu Hause bleiben. Doch dann rufen sie sich gegenseitig an, um den Schulstoff weiterzureichen. Die Zahl der Schülerinnen nimmt sogar zu, neuerdings sind auch jüngere Frauen darunter, die beschlossen haben, ihre Scham abzulegen. Sie alle wollen endlich mehr als nur die Buchstaben kennen. Sie wollen das Zeugnis verstehen, das ihre Kinder begeistert von der Schule mit nach Hause bringen. Sie wollen ihren Enkeln vor dem Schlafengehen Geschichten vorlesen. Sie wollen selber rechnen können. Und sie wollen endlich auch neue Welten erkunden, die sich in diesen bisher geheimnisvollen Büchern offenbaren. Und vor allem wollen sie in der Gesellschaft nicht mehr schweigen müssen, aus Angst, sich beim Sprechen zum Narren zu machen. Chelo hat ausserdem noch ein wichtigeres Ziel: Sie schreibt an einem Gedicht für den Geburtstag ihrer Tochter. Damit das beschriebene Blatt Papier nach über siebzig Jahren endlich aufhört, nur ein weisses Blatt Papier zu sein.

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MEHR STATT WENIGER Nach Angaben der Unesco gibt es weltweit rund 750 Millionen Analphabeten, zwei Drittel davon sind Frauen. Könnten diese Frauen lesen und schreiben, würde sich die Kindersterblichkeit um ein Sechstel, die Müttersterblichkeit um zwei Drittel und Kinderehen um ein Drittel reduzieren. In Konfliktländern wie dem Südsudan, Afghanistan, Jemen oder Syrien sind drei von zehn Jugendlichen vom Analphabetismus betroffen. Die Unesco schätzt, dass der Analphabetismus unter armen Jugendlichen weltweit erst 2072 ausgerottet sein wird. Dem gegenüber haben die entwickelten Ländern mit funktionalen Analphabeten zu kämpfen, also mit jenen Menschen, die, obwohl sie eine Pflichtschule besucht haben, nicht in der Lage sind, einfache Sätze zu lesen oder zu schreiben. In der Schweiz und in Deutschland machen sie zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus.

VIEL ZU VIEL 2,6 Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt hat Spanien in diesem Jahr für Bildung vorgesehen. Nichts im Vergleich zu dem, was an Korruptionsgeldern in die Taschen einiger Spanier fliesst: Laut casos-aislados.com, einer Privatinitiative, beträgt der volkswirtschaftliche Schaden, der zwischen 1981 und heute im Land durch Korruption entstanden ist, rund 204 Milliarden Euro. Diese Zahl resultiert aus einer Auflistung von 370 Fällen – die regierende Partei Partido Popular (PP) führt mit 190 Fällen die Rangliste an, es folgt die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) mit 65 Fällen. Auch das Königshaus findet sich auf der Liste wieder. Der bisher grösste Betrug geht mit drei Milliarden Euro auf das Konto von Oleguer Pujol Ferrusola, dem Sohn des ehemaligen Präsidenten Kataloniens. In Andalusien, dem Schauplatz unserer Reportage, hat die regierende PSOE durch fiktive Ausbildungskurse knapp drei Milliarden Euro veruntreut (mehr als eine Milliarde Euro stammt von der EU).

DIE AUTORIN Rocío Puntas Bernet, Reportagen-Redaktionsmitglied der ersten Stunde, staunte über das Staunen einer Freundin, die nicht glauben konnte, wie verbreitet Analphabetismus in Spanien heute noch ist. Über die Wucherung des funktionalen Analphabetismus in den ärmeren Vierteln Sevillas wunderte sie sich dann aber selbst: «Funktionaler Analphabetismus wie im Falle Antonios ist das eine. Aber dass einige der Jugendlichen in einem Land wie Spanien überhaupt nicht lesen können, hat mich schockiert.»

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#57—Sushi aus dem Käfig

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Im Rahmen eines viermonatigen Atelierstipendiums habe ich mir vorgenommen, in der stellenweise stark heruntergekommenen West Side Chicagos zu zeichnen. Ich befinde mich in East Garfield Park, einem Stadtbezirk mit rund 21 000 Bewohnern, davon sind über 97% afro-amerikanischer Herkunft. Laut Statistik zählt diese Gegend zu jenen mit den meisten Gewaltverbrechen in Chicago. Nur etwas mehr als zehn Fahrrad-Minuten sind es von meinem Zuhause im trendigen Wicker Park bis hierher. Doch das soziale Gefälle innerhalb dieser kurzen Strecke ist markant. Eine grosse Zahl der Passanten wirkt gesundheitlich angeschlagen. Löcher klaffen in den Strassen, viele Häuser haben mit Brettern verrammelte Fenster und Türen.

Mit dem Zeichenblock in der Hand stehe ich auf der Kedzie Avenue und zeichne die Station der Hochbahn. Auf der niedrigen Mauer hinter einer Brachfläche sitzen einige Junkies. Ihre Zähne sind vom Crack-Rauchen beschädigt, bei manchen verschwunden bis aufs Zahnfleisch. Möwen wühlen in herumliegenden Plastiksäcken.

Vor mir hält ein Autofahrer aus dem weissen Mittelstand. Sein kahlgeschorener Kopf glänzt vor Schweiss. Auf dem Beifahrersitz liegt ein Springseil. Er möchte, dass ich ihm die Skyline von Chicago male, fürs Büro seiner Freundin. Dann fragt er: «Und was zeichnest du eigentlich hier? Tote Leute, huh?»

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Auch viele Bewohner verstehen nicht, wieso ich hier in der West Side zeichne. Jemand bietet sich an, mir stattdessen die Hochhäuser in Downtown zu zeigen. Er will mir dort als «Agent» Passanten zum Porträtieren anwerben, um dann den Gewinn aufzuteilen. Ein junger Einzelzigaretten-Verkäufer in schäbiger Kleidung blättert meine Zeichnungen durch und sagt verdutzt: «Look at that! He’a real nigga’!» (In etwa: «Schau dir das an! Er ist echt einer von hier!»)

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Die Figur eines hellhäutigen, bärtigen Mannes wirbt für eine Autowerkstatt an der Grand Avenue. Als ich Monate später zurückkehre, stehen nur noch die Beine der Werbefigur auf dem Dach. Ein Orkan hat im Sommer den Körper heruntergefegt. Ein Mann schaut auf meine Zeichnungen und stellt für sich fest: «God gave him talent!» Ich antworte: «Ja, vielleicht – doch vieles ist natürlich auch Übung.» Verärgert wiederholt er: «Nein, nicht vielleicht. Gott gab ihm Talent!»

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Goldie, der schon einmal an mir vorbeigefahren ist, hat mich wiedererkannt und parkiert seinen Wagen. Wir kommen ins Gespräch, und als ich frage, wie er denn als Hobby-DJ über die Runden komme, meint er, das sei ganz einfach. Man komme ohne Probleme zu Unterstützung, Lebensmittelmarken und einer Krankenkarte. Vorausgesetzt, man lebe hier in der West Side. Dann müsse man nicht einmal den Nachweis erbringen, dass man staatliche Hilfe benötige.

Goldie nimmt mich mit zum Haus, das seinen Eltern gehört. Er ist meistens hier und passt auf, dass niemand illegal darin wohnt.

Anderntags wartet Goldie in der Seitenstrasse auf mich und möchte, dass ich ihn auf dem Schutthaufen eines eingestürzten Hauses zeichne. Einer der herumstehenden Anwohner kommt zu uns: «Das ist keine gute Idee, hier zu zeichnen», sagt er nachdrücklich, aber freundlich. Als ich Goldie frage, wieso das nicht gehe, meint er, dass in der Strasse im Moment Drogen verkauft würden. Eine vorbeifahrende Polizeistreife würde bei der Anwesenheit eines Weissen sofort Verdacht schöpfen. Denn Weisse kämen höchstens hierher, um Drogen zu kaufen.

Goldie schlägt mir vor, dass ich ihn vor der bemalten Wand der Schule an der Ecke Chicago Avenue & Pulaski Road zeichne. Er möchte vieles erfahren über die Schweiz. Zum Beispiel, ob wir auch solche Stadtteile haben in der Schweiz. Und ob es auch eine Müllabfuhr gibt, Lkw mit hydraulischen Pressen, als gerade einer vorbeifährt. Goldie sagt, er gehe kurz für zwei Minuten seine Zigaretten aus seinem Auto holen. Er kommt nicht mehr zurück.

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Ich zeichne einen roten Chevy 69 auf 26-InchRädern, der vor einer Waschstrasse steht. Darauf zeige ich den Arbeitern der gedeckten «Touch Hand Car Wash» meine Zeichnungen, sie staunen und bitten mich in das finstere Gebäude hinein. «Absolutely no drugs!» steht neben den handgemalten Preisen an der Wand, in gelben, grünen und blauen Buchstaben. Waschen, wachsen und polieren. Autos oder Schuhe. Kunden sind an diesem Abend keine da, und die Arbeiter vertreiben sich die Zeit mit Fernsehen. Denis, der Besitzer, musste die Belegschaft wegen der Krise innerhalb eines Jahres von 22 auf 9 Mitarbeiter reduzieren.

Ein Stör-Coiffeur kommt vorbei und schneidet den Männern mitten auf der leeren Waschstrasse die Haare. Zwei Arbeiter schauen fern, während ich sie zeichne. Über den Ton des Apparates und die Mimik der Betrachter versuche ich herauszufinden, was gerade zu sehen ist. Zuerst wird ein Bericht über die Amerikanerin Donna Simpson gezeigt, welche die dickste Frau der Welt werden möchte und nur noch Essen in sich hineinstopft. Darauf folgt eine Soap, in der ein Afro-Amerikaner nach Afrika auswandert, in sein wirkliches «motherland», wie der Protagonist verheissungsvoll und schwülstig erklärt. Die beiden müden, leicht betrunkenen Autowäscher kommentieren fortlaufend, was sie sehen. Zu einer Werbung meint der eine: «Die haben nicht eine Lizenz zum Töten, sondern eine für Bla-Bla-Bla.»

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Ich vergewissere mich bei verschiedenen Personen, ob dies wirklich der Treppenabstieg in die Untergrund-Mall ist, von der man mir erzählte. Der Eingang gleicht eher einem Notausgang. Doch unten erstreckt sich eine hell beleuchtete Halle. Im Kunstlicht sitzen in rund einem Dutzend Abteilen Kleiderverkäufer und warten gelangweilt auf Kundschaft. Neben sehr trendigen, teuren Kleidern gibt es hier auch allerhand Läden mit Hip-Hop-Schmuck und Accessoires. «Outfit – Outfit!», ruft Verkäufer Freeman.

Spontan porträtiert er mich mit dem Kugelschreiber auf einem Stück Karton. «Leben auch so viele Schwarze in der Schweiz?», möchte Freeman wissen. Es gibt nicht viel Beschäftigung für ihn hier in der Mall. Nur ab und zu, wenn jemand durch die fast leere Halle schlendert, versucht er, diese Person auf die Kleider aufmerksam zu machen. Und auf sich selbst. Zumindest die Frauen, welchen er jeweils einen neckischen Kommentar zu ihrem Hinterteil nachruft.

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Jimmie’s Tattoo-Shop in der Untergrund-Mall ist von der Decke bis zum Boden mit sehr bunt ausgemalten Tattoo-Vorlagen ausgehängt. Im Angebot sind zähnefletschende Pitbulls, unzählige Schädelvariationen, heulende Wölfe, farbige Delphine, Schwäne, Schmetterlinge mit Totenkopfmustern, Menschensilhouetten mit Schusslöchern und Stacheldrahtherzen.

Ein junger Kunde, der mit frisch verbundenem Arm die Stechkabine verlässt, fragt mich, ob ich für ihn einen Körper mit abgehackten Armen und Beinen entwerfen könne. Ich denke spontan an eine Zeichnung von Goya aus der Serie «The Disasters of War». Tracey vom Tattoo-Shop posiert mit aufgestütztem Arm zwischen Mankrey und dem Ladenbesitzer Jimmie. Er erzählt mir später, er habe die Kopie der Zeichnung im Kopiergeschäft vergrössert, sie hängt nun als Bild zu Hause über dem Sofa.

Die komplette Untergrund-Mall wird von Koreanern geführt. Auch die junge Hot-DogVerkäuferin ist aus Südkorea. In ihrer kleinen Kabine zwischen der Treppe verkauft sie die vermutlich billigsten Mahlzeiten in Chicago. Eine Portion Pommes frites kostet einen Dollar, eine Büchse Cola 50 Cents. Wenn keine Kunden da sind – was meistens der Fall ist – übersetzt sie eine Art «Bibel des positiven Denkens» eines religiös motivierten Gurus ins Koreanische. Sie findet, dass die Leute auf meinen Zeichnungen alle so ernst, traurig oder gar zornig aussehen. Sie schüttelt den Kopf und meint: «Vielleicht hast du ein hartes Herz?» Sie nimmt einen farbigen Kalender von der Wand und zeigt mir ein kitschiges Gemälde, das Frauen in üppigen Kleidern bei der Kornernte in der Provence zeigt, und rät mir, ich solle doch besser so etwas malen. Meine Zeichnungen aus dem Tattoo-Shop kommentiert sie mit: «Gott hat Tattoos nicht gerne.»

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Auf der staubigen Parkfläche vor dem «Food & Liquor Store 111» sitzen im Innern eines alten Chevy-Vans zwei korpulente Brüder, beide Anfang dreissig. Sie warten, bis es Zeit wird, um ihre Kinder von der Schule abzuholen. Während ich Moose-Man zeichne, bleibt auf einer Parallelstrasse weiter hinten der Auflieger eines Sattelschleppers krachend mit dem Dach in der Trägerkonstruktion der Hochbahn hängen. Die beiden Brüder laden mich ein, die Zeichnung bei ihnen zu Hause an der Walnut Street vorbeizubringen. Moose-Man möchte am folgenden Abend für alle Spaghetti kochen. «Wir bleiben für immer Freunde, weil du mich zeichnest!», sagt er.

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Am folgenden Tag bringe ich die Kopien zur Walnut Street. Hier wohnt Moose-Man mit seiner 28-jährigen Frau Rabbit, die im Sommer ihr dreizehntes Kind erwartet. Die temperamentvolle Grossmutter Rosie empfängt mich überschwänglich und leicht angeheitert. Sie posiert für ein Porträt vor ihren drei Wellensittichen. Sie sagt, ich sei wie «Leonardo di Caprio in Titanic», als er im Film an Bord seine Geliebte zeichnet. Irgendwann reibt sich Rosie am Kopf und fragt: «Und wie heisst doch der andere Leonardo schon wieder?» «Da Vinci», sage ich. Sie lacht bestätigend und schlägt mit der flachen Hand in meine ein.

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Moose-Man zeigt mir sein Haus und führt mich in den oberen Stock. Wir betreten ein möbellosen Zimmer. Auf zwei aufeinandergeschichteten Matratzen liegen fünf schlafende Kinder. «Meine Kinder», sagt er und meint, es sei kein Problem, ich könne hier zeichnen, und verlässt den Raum.

Umgeben vom leisen Heben und Senken des Atems der Kinder und den schwachen Pfiffen beim Ausatmen, stehe ich völlig unverhofft in diesem Zimmer. Die Situation wirkt so berührend auf mich, dass mir die Zeichnung nicht auf Anhieb gelingen will.

Einmal wacht der vierjährige Michael auf, starrt mich mit grossen Augen an und fragt mich: «Bist du ein Weisser?» Und schläft weiter.

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Tante Angel flicht farbige Plasticblumen in Derenikas Haar. Wenn sich das Kind bewegt, blinken Leuchtdioden in seinen Gummisandalen. «Weisse Menschen sind schon in Ordnung», höre ich sie einmal zu Derenika sagen. Im Wohnzimmer herumliegende Gegenstände wie Kleider, Schuhe oder Bierdosen werden täglich mit Schneeschaufeln und Gartenrechen zusammengetragen.

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Mike-Mike, Moose-Mans Bruder, mag diese Zeichnung, weil ein grosser Teil seines beachtlichen Körperumfangs in den Kissen des Sofas verschwindet. Während die Kinder in der Schule sind, spielt Familienvater Moose-Man im oberen Stock oft mit seinen Kollegen oder seiner Frau eine hyperrealistische Basketball-Simulation am Flachbildschirm. Es ist dort manchmal ziemlich neblig. Marihuana-Rauch liegt in der Luft, besonders wenn Freunde zu Besuch sind.

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Bei der Familie gehen viele Verwandte, Freunde und Nachbarn ein und aus. Es ist schwer zu sagen, wer von ihnen dauernd hier wohnt und in welcher Beziehung sie zur Familie stehen. Auch ich werde fast zu einem Familienmitglied. Über einen Zeitraum von fast zwei Wochen komme ich täglich zum Zeichnen vorbei. Möchte jemand eine Zigarette rauchen, so wird zuerst das einzige Handy im Haushalt gesucht. Danach ruft man den Einzelzigaretten-Verkäufer an, der die Strasse auf und ab geht, und wartet, bis es an der Haustüre klingelt.

Heute ist Fat Mack zu Besuch. Ich werde ihm scherzhaft als ihr persönlicher Hauskünstler vorgestellt. Fat Mack möchte, dass ich ihm anstelle des Nachahmer-Produkts das exklusivere «Olde English»-Bier in die Hand zeichne. In die Front seiner Kappe ist eine Uhr eingenäht, und unten durch verläuft der Schriftzug seines Rufnamens – «Fat Mack» – die Buchstaben sind bestückt mit Kunstdiamanten. Seine Zähne hat er mit einem vergoldeten Grill überzogen, einer herausnehmbaren Zahnschmuckplatte.

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Grossmuter Rosie schläft, während der hyperaktive Michael kaum ruhig sein kann und Derenika mit einer Spaghettizange und ihrer einjährigen Schwester Francis spielt. Wenn Rosie wach ist, ist sie es, die für Ruhe und Ordnung sorgt. Sie lärmt in den oberen Stock, wenn die Kinder ihr nicht mehr gehorchen, ruft fluchend nach Moose-Man, dem Vater. Meistens bleibt er aber oben, ist vielleicht gerade mit einem Videospiel beschäftigt, und die Drohungen verhallen ins Leere.

Bei einem Besuch zwei Monate später zeigt mir Rosie das Einschussloch einer Revolverkugel oberhalb des mittleren Fensters. Das Geschoss drang von aussen durch den Fensterrahmen und blieb darin stecken, während im Sessel darunter jemand schlief. Bei Nachbarn war ein Streit ausgebrochen. Es gebe jedes Jahr eine Schiesserei irgendwo in dieser Strasse, doch danach sei es lange wieder ruhig, sagt Rosie. Sie träumt von einer eigenen Wohnung in einer Sozialbausiedlung im ruhigeren Norden der Stadt, die sie für sich beantragt hat.

An ausgewählten Orten in der West Side sind Aufkleber angebracht, die ein Kindergesicht zeigen. «Schiess nicht, ich will hier aufwachsen!», steht darauf. Bei meinen Ausflügen in die West Side fühle ich mich selber nie ernsthaft bedroht. Doch die Frage, ob ich hier sicher bin, ist meine ständige Begleiterin. Einmal kam ein Jugendlicher aus Übermut mit einem Revolver auf mich zugehüpft, mit einem Lachen im Gesicht. Ich hörte zuerst das mehrfache Klicken, was mich merkwürdigerweise beruhigte, weil ich annahm, dass die Waffe deshalb nicht geladen sei. Zweimal gab ich zu meiner Sicherheit eine Originalzeichnung weg, konnte sie aber vorher noch abfotografieren. Wenn es zu Misstrauen mir gegenüber kam, dann wegen des Verdachts, dass ich ein verdeckter Ermittler der Polizei sein könnte. Einer tastete meinen Pullover nach einer Polizeidienstmarke ab.

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DT wohnt bei seinen Eltern, ein paar Häuser weiter als die Familie, bei der ich zeichne. Er ist zweifacher Vater. Den Namen seiner Tochter hat er sich auf seinen Handrücken tätowieren lassen. Vom Balkon seiner Wohnung aus ist die Spitze des Willis Tower (vormals Sears Tower) zu sehen, dem höchsten Gebäude von Chicago. Am Holzgeländer zerrt ein Baby-Pitbull, wenige Wochen alt. DT ist bis nach Iowa gefahren, um diesen Hund aus spezieller Rassenzucht abzuholen. Am Spiegelschrank seines Zimmers kleben Kopien meiner Zeichnungen, welche ihn abbilden oder aus seiner nächsten Umgebung sind. Ich habe sie eingetauscht gegen eine CD mit seiner Musik, der Gruppe Paperwork. Auf meinen Velorouten durch die West Side finde ich überall weggeworfene CDs auf der Fahrbahn, entweder mit Hip-Hop oder mexikanischer Heimweh-Musik bespielt.

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Moose-Man lädt mich ein zum Barbecue auf der Holztreppe des Hinterhofs. In riesigen Aluminiumschalen steht das aufgeschichtete Fleisch bereit. Als Mike-Mike die halbe Flasche Anzündflüssigkeit direkt in den brennenden Grill hineinspritzt, trete ich ein paar Schritte zurück.

Gegessen wird nicht gemeinsam, auch nicht an einem Tisch. Es sind im ganzen Haus keine Tische vorhanden, abgesehen von einer niedrigen, gläsernen Ablage. Die zwei riesigen Sofas im Wohnzimmer und die geschichteten Matratzen im oberen Stock sind die einzigen Möbel im Haus. Auch Spielsachen sehe ich keine. Ein zersplitterter Flachbildschirm dient als Stereoanlage.

Zum Essen sitzen die Kinder auf dem Küchenboden. Keshari versucht eine kleine Schabe mit der Hand zu einzufangen. Sie verschwindet unter einem der beiden riesigen Kühlschränke. Die Kleinsten kippen nach Beenden der Mahlzeit den Inhalt ihrer halbleeren Teller auf den Boden. Nach jeder Kindermahlzeit werden die Kacheln mit dem Wischmop gesäubert.

Mit einem Kaffeelöffel schlürfe ich aus der Schale meine Spaghetti Bolognese, auf denen ein gebratener Pouletflügel und Fisch liegt. Beim Verlassen des Hauses sehe ich eine Kopie meiner Zeichnung an der Haustür kleben. Sie zeigt die vielen Kinder von Moose-Man. Grandma Rosie ruft mir noch schallend lachend zu, dass ich sehr vorsichtig nach Hause fahren soll, schliesslich fahre sie im Zeichenblock mit.

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