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KREUZLINGEN

ANJA SCHMITTER Kreuzlingen

Kreuzlingen, Bärenplatz. Ich steige aus. Es ist Mitte April, nasse Schneeflocken fallen vom Himmel. In dem kleinen Park neben der Bushaltestelle sind keine Kiffer, keine Kantischüler. Nur ein Junge aus Metall. Sein pinkfarben besprayter Penis ist der einzige warme Farbfleck in diesem sonst grauen Tag. Ich schlage mir dir Kapuze über den Kopf und setze mich in Bewegung. Links vom Bärenplatz ist ein Kreisel, rechts ist ein Kreisel. Sie wirken wie Zahnräder, die die Autos zur Weiterfahrt antreiben. Wie ein riesiges Getriebe dreht sich der Verkehr um die Kreisel und fliesst dann in verschiedene Richtungen davon. Als möchte niemand Halt machen in Kreuzlingen, niemand bleiben. Die Strasse, die über den Hauptzoll direkt nach Konstanz führt, heisst seit 2011 Boulevard und soll eine Begegnungszone sein. Mir begegnen zwei, drei eilige Menschen. Der Schneeregen wird zu Regen, und ich gehe ebenfalls schneller. In der geografischen Mitte der Stadt steht eine Litfasssäule. «In Kreuzlingen ist was los», verspricht sie. An 138 der Säule klebt das offizielle Kulturprogramm der Stadt, März bis Juni. Daneben das Bild einer zugelaufenen Katze. Sonst weisse, leere Flächen. Ja, in Kreuzlingen ist was los. Was macht Kreuzlingen aus? Ich gehe weiter Richtung Konstanz. Die «Traube» am Zoll hat pandemiebedingt geschlossen, der Zollposten ist schon seit Jahren unbesetzt. Ich gehe über die Grenze und erinnere mich, wie wir als Kinder an dieser Stelle hin- und hersprangen: Schweiz, Deutschland, Schweiz, Deutschland. Oder wir blieben breitbeinig stehen: in der Schweiz und in Deutschland gleichzeitig. Konstanz war meine zweite Stadt. Konstanz machte Kreuzlingen, meine erste Stadt, zur Agglo. Universitätsstadt steht auf einem dunkelgelben Schild jenseits der Grenze. Dann folgt eine Dönerbude. Ich gehe ein paar Schritte auf der Hauptstrasse, die hier Kreuzlingerstrasse heisst. Die wenigen Passanten, die unterwegs sind, sprechen Schweizer138 deutsch. Im Frühjahr 2020 wurde die Agglo von ihrer Stadt getrennt. Zum ersten Mal seit

dem Zweiten Weltkrieg waren die Grenzen geschlossen. Zäune führten durch Wohnquartiere, Paare waren getrennt, Familien, Städte. Die Altstadt von Konstanz grenzt quasi an Kreuzlingen. Es ist die Altstadt, die Kreuzlingen selbst nicht hat und selbstverständlich mitnutzt. Wenn man sich achtet, fällt auf, dass die Architektur hier eine leicht andere ist als auf der Schweizer Seite. Vor den Häusern sind mancherorts golden glänzende Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus in den Boden eingelassen, gelebte Erinnerung. Die Sonne drückt durch die Wolken, es wird wärmer, trotzdem kommen kaum Menschen heraus. Ich frage mich, ob der Grenzübertritt zurzeit überhaupt erlaubt ist, und kehre rasch in die Schweiz zurück. An der Grenzstrasse fällt mir auf, dass die Gartenzäune der Schweizer Häuser genau auf der Grenze stehen. Kreuzlingen Hauptbahnhof. Drei Snackautomaten, ein Kaffeeautomat, ein Prontophot-Automat. Einige Schliessfächer, Wartehäuschen. Wartehäuschen riechen überall gleich: nach abgestandenem Zigarettenrauch. Mit dem Zug fahre ich eine Station zum Kreuzlinger Hafen. Dort regnet es wieder. Ich stelle mich beim Avec unters Dach, bis der Regen abflaut. Mit mir warten drei Jugendliche, die etwas stoned aussehen, und zwei Bauarbeiter, die hier ihre Nachmittagspause verbringen. Keiner sagt ein Wort. Kantonsschule Kreuzlingen. Zum letzten Mal war ich hier zur Jubiläumsfeier 2019. Mitten auf dem Festgelände war ein Panzerfahrzeug der Mowag platziert. Auf meine Nachfrage teilte man mir mit, dass dies nicht problematisch sei, der Mowag Eagle habe nichts mit Krieg zu tun, sondern stehe symbolisch für das stolze Thurgauer Unternehmertum. Na, wenn das so ist. Als ich zurück zum Bärenplatz gehe, erinnere ich mich, dass Kreuzlingen oft nicht genug war. Uns Halbwüchsigen fehlten die 1.-Mai-Demos oder die Street Parade. Wir träumten von Ausbruch 139und Anonymität. Stattdessen gingen wir jedes Jahr ans Fantastical, das grenzübergreifende Seefest. Im Siebenschläferzelt kannte man alle. Ich fahre mit dem Bus zurück ins Dorf, wo ich aufgewachsen bin. Und während neuerlicher Regen an die Scheiben trommelt, kommen plötzlich andere Erinnerungen: flanieren im Kreuzlinger Seeburgpark, wehendes Gras, Lachen, erste Küsse, ewig lange blaue Tage, Eiscrème, Sonnencrème, der Bodensee in den Ohren. Und wenn die Bise kommt, toben und rauschen die Wogen. Wie am Meer. Hoffnungsvoll komme ich im Sommer wieder. Doch als ich Ende Juli am Bärenplatz aus dem Bus steige, ist der Himmel wieder grau, dicke Tropfen klatschen auf unverändert graue Strassen. Es scheint, als hätte sich nur die Vegetation in den letzten Monaten verändert: Die Statue beim Bärenplatz ist von hüfthohen Blumen umkreist, sie neigen ihre nassen Köpfe im Regen. Durch die violetten Blüten erkenne ich, dass man unterdessen wenigstens das beste Stück des metallenen Jungen gereinigt hat. Ich wiederhole meinen Spaziergang vom Frühling. Bei der noch immer geschlossenen «Traube» am Zoll stelle ich mich resigniert unters Dach und schreibe in mein Notizheft, dass es regnet und nichts los ist. «Hendo de notiot?», fragt mich plötzlich ein älterer Herr und deutet erschrocken auf sein kleines Auto, das neben mir auf einem Parkplatz steht. «Han extra zwe Franke inegloh!» Ich kläre ihn auf, dass ich keine Knöllchenverteilerin bin, sondern einen Text über Kreuzlingen schreibe. Er lacht erleichtert. «Do hendo abo viel z vozelle.» Er geht weiter. Ich bin mir nicht sicher, wie er das gemeint hat. Ich schaue ihm nach, wie er im Regen über die Grenze geht und in Deutschland verschwindet.