Basisbildungsbotschafterinnen

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BASISBILDUNGSBOTSCHAFTERINNEN „Lernen macht glücklich“


Die Botschaften

„Betroffene sollen den Mut fassen, einen Basisbildungskurs zu besuchen. Jeder Einstieg ist schwer, aber man bekommt so viel Positives zurück, es entsteht ein wahres Glücksgefühl. Vor Kursbeginn konnte ich nur meinen Vor- und Nachnamen schreiben. Mittlerweile schreibe ich schon Texte. Durch den Kursbesuch kann man Dinge machen, die man sich vorher nie vorstellen konnte. Beim ersten Kursbesuch war ich schweißgebadet, da ich nicht wusste, was mich erwartet. Die Trainerin war so verständnisvoll und hat mir von Beginn an die Angst genommen. In der Gruppe unterstützen wir uns gegenseitig, es herrscht eine Vertrautheit und niemand lacht über den anderen, wenn man Fehler macht.“ Veronika Kleiner, Basisbildungsteilnehmerin und Botschafterin für Basisbildung in Kärnten

„Alleine einen Brief oder eine Bewerbung schreiben können, ohne dass es jemand kontrollieren muss, ist einfach herrlich.“ Kursteilnehmer, 19 Jahre

„Das gemeinsame Lernen ist wichtig. Es ist eine positive Erfahrung. Man lernt viel dazu. Mathematik und Deutsch braucht man im Leben immer, im Privaten und im Berufsleben. Es hilft mir selbstbewusst zu werden und mich zu entwickeln. Man hat auch viel Spaß dabei. „ Martina Moser, Teilnehmerin

„Ich glaube, dass das regelmäßige Besuchen eines Basisbildungskurses sehr viel bringt. Das Schreiben und Sätze bilden, die Klein- und Großschreibung sowie die Unterscheidung der Wortarten sind viel besser geworden. Unsere Trainerinnen bemühen sich sehr, uns die Rechtschreibung und das Rechnen beizubringen“. A.P., Teilnehmerin


1. Lernende und Betroffene als BotschafterInnen BotschafterInnen übermitteln eine (wichtige) Nachricht/ Information. BotschafterInnen sind VertreterInnen einer bestimmten Gruppe.

Um den Erfolg der Basisbildungsarbeit zu steigern, bedarf es dem Engagement ehemaliger Betroffener. Lernende, Betroffene und deren Umfeld sind die besten BotschafterInnen für die Basisbildungsarbeit. Zwei aktive BotschafterInnen leben in Oldenburg, Deutschland. Dies sind Brigitte van der Velde und Ernst Lorenzen, welche auch die erste Selbsthilfegruppe in Niedersachsen für Personen mit Lese- und Schreibproblemen gegründet haben. Beide engagieren sich sehr aktiv für Betroffene, betreuen eine eigene Homepage1 und schreiben für die Oldenburger ABC-Zeitung. 2 Die Botschafterin für Basisbildung in Kärnten ist Veronika Kleiner. Sie kam 2006 in einen Basisbildungskurs und engagiert sich seitdem in der Öffentlichkeit für die Enttabuisierung des Themas und vor allem, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Ihr Engagement zeigt, dass BotschafterInnen sich in herausragender Weise und vor allem durch ihre persönliche Betroffenheit für Menschen mit Basisbildungsbedarf einsetzen – auf Augenhöhe.

2. Selbsthilfegruppen in Deutschland - Good-practice-Beispiele ABC – Selbsthilfegruppe Oldenburg Eine Einrichtung für Erwachsene, die mit dem Lesen und Schreiben Probleme haben. Gegründet wurde die ABC – Selbsthilfegruppe am 04.04.2011 von den ehemaligen Betroffenen, Brigitte van der Velde und Ernst Lorenzen. Ziel dieser Gruppe ist es, anderen Betroffenen Mut zu machen und deren Selbstbewusstsein nachhaltig zu stärken. Einmal pro Monat wird ein Treffen organisiert, welches über die Homepage, die örtliche Tageszeitung und den örtlichen Radiosender angekündigt wird. Die Mitglieder unterstützen andere Betroffene bei ihrem ersten Schritt in einen Basisbildungskurs oder bei Problemen in den Kursen selbst. Zum Hauptziel haben sich die BegründerInnen der Selbsthilfegruppe gesetzt, die Möglichkeiten für andere Betroffenen zu erweitern. Dies versuchen sie in Kooperation mit anderen Gruppen und mit VertreterInnen aus Bildung und Politik. Aber auch ihr breiter öffentlicher 1 2

Vgl. www.alogos.de, 17.04.2013 Vgl. www.mein-schlüssel-zur-welt.de, 17.04.2013.


Ansatz, beispielsweise durch Aktionen zum Weltalphabetisierungstag, Sensibilisierung von MitarbeiterInnen des Jobcenters und Vorträge vor LehramtsstudentInnen der Universität, unterstützt diese Zielsetzung. 2012 konnte die Selbsthilfegruppe die Niedersächsische Ministerin für Kultur und Wissenschaft begrüßen und mit ihr über die Notwendigkeit einer nachhaltigen Finanzierung der Basisbildungsarbeit sprechen. 3

Selbsthilfegruppe Ludwigshafen – Analphabetismus Im Jahr 2001 erfolgte, auf Initiative der Kursleiterin Elfriede Haller, durch die Selbsthilfegruppe Ludwigshafen der Anstoß zur Enttabuisierung der Themen „funktionaler Analphabetismus“ und „Alphabetisierungsarbeit in Deutschland“ auf der Frankfurter Buchmesse. Mit Schildern wurden Messebesucher von KursteilnehmerInnen darüber informiert, dass sie nicht richtig lesen und schreiben können. Diese Aktion sollte die Gesellschaft wachrütteln, Schriftlose nicht zu vergessen. Seither wurde von der Selbsthilfegruppe jedes Jahr eine neue Initiative umgesetzt, um auf die Thematik aufmerksam zu machen und deren Wichtigkeit für unsere Gesellschaft aufzuzeigen. Im Jahr 2006 erfolgte die Umsetzung des Schwerpunkts „Zukunft Bildung“ auf der Frankfurter Buchmesse. Damit zeigen die Initiatoren der größten Buch- und Medienmesse auch ihre Verantwortung darin, Basisbildungs- und Medienkompetenzen jedes/jeder Einzelnen zu fördern. Aus dieser Verantwortung heraus gelang es, gemeinsam mit der UNESCO und dem Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. die Frankfurter Book Fair Literacy Campaign zu gründen. Diese seit 2010 gemeinnützige Gesellschaft initiiert Grundbildungsprojekte. Die Frankfurter Buchmesse ist, durch die Initiative der Selbsthilfegruppe im Jahr 2001, eine Plattform für Einrichtungen, Projektträger und Betroffene geworden, die ihre Tätigkeiten im Bereich Alphabetisierung und Basisbildung präsentieren.4

Das Alpha-Team Hamburg Bei der Fachtagung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung in Frankfurt 2005 lernten Teilnehmende aus Hamburg die „Selbsthilfegruppe Ludwigshafen“ kennen. Aus dieser Begegnung erwuchs der Wunsch, in Hamburg selbst eine Initiative zu gründen. Es entstand das Alpha-Team Hamburg, eine Gruppe aus KursteilnehmerInnen, KursleiterInnen und

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Vgl. http://www.alphabetisierung.de/verband/botschafter/brigitte-van-der-velde.html, 17.04.2013 Vgl. http://www.alphabetisierung.de/aktuelles/news/news-anzeigen/article/720.html, 18.04.2013


MitarbeiterInnen des VHS-Zentrums. Die Kerngruppe des Alpha-Teams besteht aus sechs Frauen und fünf Männern zwischen 20 und 55 Jahren. Alle besuchen einen Basisbildungskurs und fühlen sich durch ihre Lese- und Schreibschwierigkeiten stark belastet. Das Alpha-Team trifft sich 14tägig, unterstützt Lernende im „Lerncafe“, leistet Pressearbeit, betreut Informationsstände und ist auf Informationsveranstaltungen aktiv, berät und unterstützt interessierte Betroffene und motiviert diese, einen Kurs zu besuchen. Für ihre Tätigkeiten erhalten die Mitglieder eine Aufwandsentschädigung. Weiters erhalten die TeilnehmerInnen Fortbildungen u.a. als LernbegleiterInnen, zur Selbstpräsentation und zum Umgang mit Medien.5

3. Aktive BasisbildungsbotschafterInnen – ein Auszug 3.1.

Deutschland

Brigitte van der Velde - Botschafterin für Alphabetisierung 2012 Elfriede Haller beschrieb in ihrer Laudatio die Rede von Brigitte van der Velde bei der Fachtagung des Bundesverbandes 2006. Niemand im Publikum sprach oder räusperte sich, alle lauschten dem Bericht der Rednerin, die über ihre Erfahrungen als Erwachsene mit einer Lernschwäche berichtete. Sie spiegelte nicht das gängige Bild von Menschen mit Basisbildungsproblemen wieder, welches in den Köpfen der Menschen verankert ist. Klar und deutlich wurde über die Schulzeit, die Ängste gesprochen, wie ausgeliefert und abgeschoben Frau van der Velde sich fühlte. Ihr Wunsch die Hauswirtschaftsschule abzuschließen, scheiterte an den mangelnden Basisbildungskenntnissen. Schließlich arbeitete sie 24 Jahre in einem elektrotechnischen Unternehmen. Niemand dort wusste von ihrem Problem, Beförderungen schlug sie stets aus. Als der technische Fortschritt in Form von Maschinen Einzug hielt und sie als eine von vier Frauen zur Bedienung dieser ausgewählt wurde, kündigte sie. Die Angst, erkannt zu werden, da die Bedienungsabläufe nur schriftlich festgehalten waren, war zu groß. Bei ihrem nächsten Arbeitgeber gab sie gleich zu Beginn an, dass es ihr an Schriftsprache mangelte. Dies war auch der Grund, warum sie diesen Arbeitsplatz nach 2 Jahren verlor. Die Perspektivenlosigkeit und eine Lebenskrise und die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung führten sie schließlich in die VHS Oldenburg. Achim Scholz zeigte ihr die Möglichkei-

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Vgl. http://www.grawira.de/index.php?id=11, 18.04.2013


ten der Kursteilnahme auf – somit war ihre Freude am Lernen ungebremst. Seither schreibt Brigitte van der Velde Texte, die im ALFA-Forum und der ABC-Zeitung veröffentlicht werden. 2011 gründete Brigitte van der Velde gemeinsam mit Ernst Lorenzen die ABCSelbsthilfegruppe Oldenburg. Im Jahr 2012 wurde sie als „Botschafterin für Alphabetisierung“ ausgezeichnet. 6

Ernst Lorenzen Bereits in der Grundschule zeigten sich die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. Ernst Lorenzen wurde in die letzte Bankreihe gesetzt und ersucht, einfach nur zuzuhören. Seine schulische Laufbahn setzte er in der Sonderschule fort und fand nach deren Abschluss eine Lehrstelle in einer Tischlerei. Sowohl seine Ausbildner als auch die BerufsschullehrerInnen zeigten viel Verständnis für seine Probleme mit der Schriftsprache. Ihnen verdankte er es auch, dass er die Gesellenprüfung bestand, da er vieles mündlich absolvieren durfte. Nach 39 Jahren im Beruf wurde Ernst Lorenzen erwerbsunfähig und eröffnete seiner Familie, dass er Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat. Erleichtert darüber, dass er Verständnis und Unterstützung erfuhr, meldete er sich zu einem Basisbildungskurs an. Mit 55 Jahren konnte er zum ersten Mal einen Brief an seine Tochter schreiben – ein großer Schritt war geschafft. Um auch andere Betroffene zu erreichen und kompetent zu unterstützen, gründete er gemeinsam mit Brigitte van der Velde die ABC-Selbsthilfegruppe Oldenburg.7

Uwe Boldt - Botschafter für Alphabetisierung 2012 Uwe Boldt wurde 2012 zum Botschafter für Alphabetisierung ausgezeichnet. In der Laudation wurde seine Lebensgeschichte erzählt. Er ging neun Jahre in Hamburg zur Schule und blieb niemals sitzen, obwohl er große Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben hatte. Von den LehrerInnen unbeachtet, saß er in der letzten Bankreihe und erhielt im Zeugnis folgende Beurteilung: "Versetzt aus pädagogischen Gründen". Nach Beendigung der Schulzeit arbeitete er im Hamburger Hafen als Papierbote. Mit den Jahren erwarb er sich durch zusätzliche Tätigkeiten die nötigen Qualifikationen, um seinen Abschluss als Hafenfacharbeiter zu bestehen. Diese schaffte er ohne Hauptschulabschluss, durch Zuverlässigkeit und Einsatzbereit-

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Vgl. http://www.alphabetisierung.de/verband/botschafter/brigitte-van-der-velde.html, 18.04.2013 Vgl. http://www.nwzonline.de/oldenburg/bildung/mutig-dem-leben-eine-wendegegeben_a_1,0,558880817.html, 18.04.2013 7


schaft. Mit der Zeit musste er auch immer mehr Dokumentationsarbeiten schriftlich erledigen.

Da ihm das Lesen und Schreiben noch immer Probleme bereitete, beschloss er, etwas dagegen zu tun. Durch Zufall las er in der Zeitung, dass das ALFA-MOBIL anlässlich eines Theaterfestes in der Stadt Lüneburg war. Mit dem Einstiegsgespräch mit einer Alphabetisierungsexpertin begann sein Weg in die Volkshochschule. Er begann sofort mit dem Lernen, nutzte die Internet-Lernplattform www.ich-will-lernen.de und fuhr bereits im ersten Jahr mit seinem Kurs zur jährlichen Fachtagungen des Bundesverbandes. Dort traf er andere Lernende, die sich öffentlich für die Alphabetisierung stark machten. Dies wollte auch Uwe Boldt und schloss sich dem Alpha-Team Hamburg an. Kurze Zeit später, gab er ein Interview im Fernsehen, wo er ganz offen über seinen Lernweg berichtete. Er erhielt durchgehend positive Rückmeldungen aus seinem Umfeld, beruflich als auch privat. Seitdem ist er als Workshopleiter bei Fachtagungen tätig, hält Reden vor großem (Fach)Publikum, gibt Interviews und absolvierte die Qualifizierung „Lerner zu Experten“, um aktiv auf Betroffene zugehen zu können und diese auch adäquat zu unterstützen. In seinem Betrieb ist er kollegialer Berater und somit die erste Ansprechperson für Menschen mit Problemen mit dem Lesen und Schreiben. Dadurch konnte er bereits zahlreiche KollegInnen zum Besuch eines Alphabetisierungskurses bewegen. Er scheut auch nicht davor zurück, mit Personalverantwortlichen, BetriebsrätInnen und Bundestagsabgeordneten über die Thematik zu sprechen und diese entsprechend zu sensibilisieren. Durch seine Kontaktpflege zu MedienvertreterInnen erreicht er, dass das Thema in den Medien präsent bleibt. Sein unermessliches Engagement wurde mit der Auszeichnung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. zum „Botschafter für Alphabetisierung 2012“ gewürdigt. 8

Jutta Stobbe - Botschafterin für Alphabetisierung 2005 In ihrer Schulzeit war es für Jutta Stobbe eine schlimme Begebenheit, wenn sie an der Tafel etwas schreiben musste. Sie wusste, dass sie Fehler machen würde, da sie Probleme mit dem Lesen und Schreiben hatte. Nach der Schulzeit arbeitet sie als Hauswirtschafterin und besuchte einen VHS-Kurs, um Schreiben und Lesen zu lernen. Sie beschloss auch, sich an die 8

Vgl. http://www.alphabetisierung.de/verband/botschafter/uwe-boldt.html, 18.04.2013


Öffentlichkeit zu wenden, in den Medien, im Radio, lokal und überregional. Zur gleichen Zeit schloss sie auch die Meisterprüfung ab. Fernsehauftritte, Telefoninterviews und Zeitungsberichte folgten. Immer wieder erzählt sie ihre Geschichte, die Hintergründe und zeigt Möglichkeiten auf, mit der „gefürchteten“ Schrift umzugehen. Mittlerweile hat sie zwei erwachsene Söhne und wurde selbst Lehrerin. In der Laudatio zur Botschafterin 2005 wurde sie von ihrer ehemaligen Trainerin als „Anwältin“ für Analphabeten bezeichnet. Immer wieder macht sie anderen Mut.9

3.2.

Österreich - Kärnten

Veronika Kleiner Veronika Kleiner wurde 1962 in Klagenfurt geboren. Aufgewachsen ist sie bei ihrer Familie in Ferlach. Sie besuchte 3 Jahre die erste Klasse Volksschule in Ferlach, ehe sie in die Sonderschule versetzt wurde. Mit 15 wurde sie ausgeschult und besuchte eineinhalb Jahre „Jugend am Werk“ zur beruflichen Integration in den Arbeitsmarkt. Dabei erlernte sie unter anderem das Kochen und die Haushaltsführung. Von 1980 bis 1981 führte sie ihr Weg in die geschützte Werkstätte ehe sie 13 Jahre zu Hause war. Sie lebte in dieser Zeit bei ihren Eltern. Anschließend arbeitete sie 1 ½ Monate durchgehend im Gastgewerbe. 1998 führte sie ihr Lebensweg nach dem Tod des Vaters zu Pro Mente. Ab diesem Zeitpunkt lebte sie zuerst in einer WG und anschließend alleine. Für Pro Mente war Veronika Kleiner von 1999 bis 2008 als Betroffenenvertreterin des Tageszentrums und schließlich für ganz Kärnten tätig. Frau Kleiner war Mitglied des Vorstandes von Pro Mente, mit der Vorstellung des Vereins bei Veranstaltungen, der Öffentlichkeitsarbeit und der Weiterentwicklung der Betroffenenvertretung betraut. Schon zu dieser Zeit waren das Lesen und das Schreiben für die Öffentlichkeitsarbeit sehr wichtig und für Frau Kleiner ein großes Problem. Sie prägte sich alles ein, was zwar sehr schwierig war. Aufgrund der Überforderung durch zunehmende schriftsprachliche Anforderungen, der Druck ist gestiegen, es war eine Qual, wenn etwas zu Lesen oder zu Schreiben war. Als sie die Tätigkeit beendete, war es wie eine Befreiung für sie.

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Vgl. http://www.alphabetisierung.de/verband/botschafter/jutta-stobbe.html, 18.04.2013


4. Interview mit Veronika Kleiner zu ihrem Weg in die Basisbildung Wann sind Sie in die Volkshochschule gekommen? Ich kam 2004/2005 in die Volkshochschule. Erfahren habe ich von euch durch die Betreuerin des Tageszentrums bei Pro Mente. Ich habe den Spot aus Deutschland gesehen und mir gedacht, warum es das bei uns nicht gibt. Ich habe gesehen, dass es den Kurs in Wien gibt. Die Fahrt wäre mir zu anstrengend und auch finanziell nicht möglich gewesen. Durch Suchen hat meine Betreuerin herausgefunden, dass die Volkshochschule auch Grundbildung in Klagenfurt anbietet. Dann bin ich mit meiner Betreuerin in die Volkshochschule gefahren, um mich vorzustellen. Es ist schwierig als Erwachsener zu sagen, dass man nicht lesen und schreiben kann. Der einzige Vorteil war, dass ich nicht alleine zu diesem Erstgespräch gehen musste. Meine Betreuerin hat mich aufgebaut, mir gesagt, dass ich das schaffe und auch können werde, nur dass ich mich selbst trauen muss. Dann bin ich halt gegangen. Das Erstgespräch war ja nicht so schlimm, die Fragen zu beantworten aus der Schulzeit. Dann wurde mir gesagt, wann der Kurs stattfindet. Dann sind wir gegangen, das erste Mal in den Kurs. Ich bin schon schweißgebadet hingekommen, in den Kurs gegangen. Die Trainerin hat mir gleich die Angst genommen, aber ich brauchte ziemlich lange um zu verstehen, dass mir nichts passieren kann. Ich habe immer Angst gehabt, es könnte jemand da sein, der mich kennt. Reden kann ich ja, nur das Reden alleine ist nicht das Ausschlaggebende. Die Angst, dass jemand weiß, dass ich nicht lesen und schreiben kann, war riesig groß. Ich habe immer darauf geschaut, dass ich nicht mit Menschen zusammenkomme, auch in den Kursen, die mich von früher gekannt haben. Mittlerweile ist mir das auch schon egal. Aber damals, als ich die Position der Betroffenenvertreterin im Tageszentrum hatte, hatte ich eine leitende Position. Das war für mich schwierig und beängstigend, dass Leute sagen könnten, wie ich das geschafft habe ohne lesen und schreiben zu können.

Was war Ihr Beweggrund, einen Grundbildungskurs zu besuchen? Meine Eltern haben nicht mehr gelebt und ich musste meine Behördenwege erledigen. Früher hat das alles mein Vater für mich gemacht. Es war für mich schwierig, ein Formular auszufüllen. Klar könnte ich zu meinen Geschwistern gehen, aber das will ich nicht. Meine Eltern haben immer gesagt, dass ich lesen und schreiben kann, ich müsste mich nur trauen. Aber ich sagte immer, wofür denn, ich bleibe eh zu Hause. Als der Vater 1998 gestorben ist, wusste ich, dass ich etwas tun muss. Zu Beginn haben mir die Betreuer im Tages-


zentrum beim Ausfüllen geholfen. Man weiß ja, wie man sich anstellen muss, dass man nicht schreiben muss. Man stellt sich einfach ein bisschen blöd an, hat ja alle Tricks drauf. Im Tageszentrum haben mir die Betreuer bald gesagt, dass ich es selbst machen soll. Wir sind dann eine Stunde beim Ausfüllen gesessen und ich habe gesehen, dass ich es wirklich kann. Aber ich nehme heute noch meine Formulare mit ins Tageszentrum um diese kontrollieren zu lassen. Ich gehe lieber einmal zu viel fragen, ob es richtig ist. Bin noch immer ein wenig unsicher.

Was hat sich für Sie verändert, seit Sie im Kurs sind? Es ist viel leichter durchs Leben zu gehen. Ich konnte zwar vorher auch mit dem Zug oder dem Bus fahren. Aber nur, wenn ich wusste, wo ich einsteigen und aussteigen muss. Dann ist aus und ich steige nicht um. Wenn ich weiter fahre, muss ich wissen, wo ich aussteige. Die Lebensqualität hat sich gesteigert. Man sieht wieder einen Sinn im Leben.

Welche Bedeutung hat es für Sie Grundbildungsbotschafterin zu sein? Dass ich den anderen, die es noch nicht richtig können die Angst nehme, dass sie sehen, dass jemand, der nicht richtig lesen und schreiben kann, auch etwas bewegen kann. Den Mut zu zeigen, dass man nicht alleine ist, dass es mehrere sind und dass es weiter geht.

Welchen Auftrag hat Ihrer Meinung nach eine Grundbildungsbotschafterin? Ich sehe es auf jeden Fall als meinen Auftrag den anderen den Mut zu machen, dass alle im selben Boot sitzen, wir uns selbst aus dieser Situation herausholen können, gemeinsam mit den TrainerInnen und dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Welche Botschaft wollen Sie anderen Betroffenen übermitteln? Den Mut zu haben, dazu zu stehen, dass man es nicht kann. Das ist der schwierigste Weg sich selbst einzugestehen, dass man nicht richtig lesen und schreiben kann. Den Mut zu haben uns zu sagen, ich kann es nicht, aber ich tue etwas dagegen. Dann kann man darauf stolz sein.


Sie sind eine gestandene Persönlichkeit, die sich auch traut, im Fernsehen und mit Medienleuten oder vor Publikum zu sprechen. Was glauben Sie, welche Unterstützung brauchen BotschafterInnen, ehe sie vor Publikum sprechen können? So ohne Probleme ist es nicht, weil man immer aufgeregt ist. Aber das Reden, das liegt mir irgendwie. Beim Reden hat es mir nie gefehlt, das habe ich immer können. In meiner Gruppe ist Ronald noch ein Basisbildungsbotschafter. Die anderen TeilnehmerInnen stehen alle noch in der Arbeitswelt und haben große Angst davor, dass jemand aus ihrem Umfeld weiß, dass sie nicht richtig lesen und schreiben können. Das verstehe ich auch. Unterstützung von TrainerInnen oder vom Grundbildungsbüro ist notwendig, bei den Vorgesprächen zu Interviews etc. um zu wissen, was verlangt wird, was man sagen soll, was das Thema ist. Wichtig ist, dass man vorbereitet ist. Im Gespräch selbst geht es dann meistens von selbst und meist in eine ganz andere Richtung. Die Angst muss weg sein. Man muss in Stichworten wissen, was man sagen möchte.

Welche Unterstützung brauchen zukünftige BasisbildungsbotschafterInnen? Stimmtraining und die Reflexion, wie man selbst redet. Es hängt auch sehr davon ab, ob man sein Gegenüber schon kennt. Dann redet man leichter. Persönlichkeitsstärkung und Selbstbewusstsein stärken passiert im Basisbildungskurs selbst. SozialpädagogInnen und TrainerInnen helfen sehr viel weiter, aber auch durch die Unterstützung durch andere KursteilnehmerInnen. Man muss lernen, sich auf sich selbst zu verlassen. Die eigene Einstellung ist das Wichtigste. Man wächst im Kurs.

Was halten Sie von der Idee, einen Grundbildungsstammtisch bzw. eine ABCGruppe Kärnten zu gründen? Eine sehr gute Idee. Wir brauchen allerdings die Unterstützung von einem Profi, einer Mitarbeiterin des Grundbildungsbüros oder einer Trainerin, weil wir TeilnehmerInnen das alleine nicht schaffen. Es sollte jemand sein, den die Gruppe schon kennt. Mit einer neuen Bezugsperson ist es schwierig. Wichtig ist, dass Geld dafür zur Verfügung steht, weil wir auch die passenden Räumlichkeiten brauchen.


Was stellen Sie sich unter einer ABC-Gruppe Kärnten vor? Ich glaube, dass ich nicht ewig im Grundbildungskurs bleiben kann. Ich brauche aber nach dem Kurs weiterhin Unterstützung und die Möglichkeit zu üben. Deshalb wäre es gut, wenn wir eine ABC-Gruppe Kärnten hätten, wo es die Möglichkeit gibt, weiter zu lernen und zu üben. Ich bin noch nicht so gefestigt, dass ich zu 100% sagen kann, dass ich alles beherrsche. Wenn wir uns einmal pro Woche treffen und es die Möglichkeit gäbe, eine halbe Stunde zu üben, wäre das schon super. Damit man im Lernen drinnen bleibt.

Wie sollten die Räumlichkeiten dafür aussehen? Ein Raum mit WC, kleiner Teeküche. Es muss abgelegen sein, nicht in einem Lokal, da wir nicht am Präsentierteller sitzen möchten sondern auch unsere Privatsphäre brauchen. Ein PC-Arbeitsplatz sollte vorhanden sein, Unterrichtsmaterialien.

5. Veronika Kleiner als Basisbildungsbotschafterin im Einsatz Barbara Karlich Show, Sommer 2013


Kleine 07.09.2013

Zeitung,


Radiosendung „Panoptikum Bildung“, März 2013

Pressekonferenz Weltalphabetisierungstag 2009


6. Tätigkeitsfelder von BasisbildungsbotschafterInnen Aktive Öffentlichkeitsarbeit – Pressekonferenzen, Interviews für Printmedien, Radio und Fernsehen Mitarbeit bei Informationsveranstaltungen in Schulen, Betrieben, Institutionen Beratungsgespräche mit Betroffenen Unterstützung von Betroffenen Durchführung von Workshops bei Tagungen und Konferenzen Mitarbeit bei der Entwicklung von Werbematerialien, Filmen etc. Mitarbeit bei der Entwicklung von Unterrichtsmaterialien für den Basisbildungsunterricht Gründung und Führung einer „Selbsthilfe-Organisation“ bzw. abc-Gruppe

7. Selbsthilfe-Organisation von BasisbildungsteilnehmerInnen für Betroffene Selbsthilfe steht dafür, mit einem Problem oder einer schwierigen physischen, psychischen oder sozialen Situation selbst umzugehen. Eigeninitiative, Selbstorganisation und Selbstbestimmung sind die Prinzipien der Selbsthilfe. Eine Selbsthilfegruppe entsteht also aus eigenem Antrieb und einer Freiwilligkeit, die Treffen werden selbst organisiert und Entscheidungen werden selbst getroffen. Professionelle Unterstützung durch ExpertInnen ist zusätzlichen begleitend möglich. Die Leitung der Organisation erfolgt durch Betroffene selbst. Selbsthilfe-Organisationen funktionieren nicht professionell, d.h. Dienstleistungen wie Beratung und Therapie werden nicht angeboten sondern ergänzende Angebote geleistet.10 Hilfe zur Selbsthilfe ist auch in der Basisbildung ein Thema, wie man am Beispiel der abcSelbsthilfegruppe Oldenburg sieht. Diese wurde von zwei Betroffenen gegründet, deren vorrangiges Ziel es ist, das Thema Basisbildungsbedarf in den Vordergrund zu rücken, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, zu enttabuisieren und auch anderen Betroffenen durch Öffentlichkeitsarbeit und persönliche Beratung Mut zu machen, den Weg in die Basisbildung zu schaffen. In Österreich gibt es bislang keine Selbsthilfe-Organisation für Menschen mit Basisbildungsbedarf. Veronika Kleiner, Basisbildungsbotschafterin aus Kärnten, sieht darin eine große

10

Vgl. http://www.selbsthilfe.at/ (01.08.2013)


Chance, mehr Betroffene zu erreichen, ihnen Perspektiven aufzuzeigen und sie zu ermutigen. Seit der Einführung der Länder-Bund-Initiative steht Menschen mit Basisbildungsbedarf ein geregeltes Angebot zur Verfügung. Allerdings hat dieses Angebot auch seine Grenzen. Nach einer gewissen Anzahl an Teilnahmestunden, zwischen 100 und 400 Unterrichtseinheiten welche bundesländerspezifisch geregelt sind, bzw. wenn die persönlichen Lernziele erreicht sind, scheiden die TeilnehmerInnen aus den Kursen aus. Nach dem Ausscheiden gibt es für die TeilnehmerInnen kein adäquates Angebot, sofern diese nicht befähigt sind, eine weitere Maßnahme wie bspw. den Pflichtschulabschluss zu besuchen. Eine SelbsthilfeOrganisation ist sicherlich eine Möglichkeit, jenen TeilnehmerInnen eine Perspektive zu geben, die auch nach dem Abschluss des Basisbildungskurses gemeinsam in der Gruppe weiterlernen möchten. Veronika Kleiner hat in ihrem Interview beschrieben, dass auch sie sich in ihrer Schriftsprache noch nicht so sicher fühlt. Sie wünscht sich eine Selbsthilfe-Organisation, in der die TeilnehmerInnen einmal pro Woche die Möglichkeit haben, mit Unterstützung eines Trainers bzw. einer Trainerin weiter zu lernen, um das Lernen nicht wieder zu verlernen. Weiters zeigt Veronika Kleiner auf, wie wichtig es ist, die Öffentlichkeit aus Sicht der Betroffenen zu informieren. Allerdings müssen für die Umsetzung einer solchen Initiative auch finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Zusätzlich werden geeignete Räumlichkeiten mit einem Lern- und einen Sozialraum sowie einem Computerarbeitsplatz benötigt. Für eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit sollten auch der Aufbau und die Wartung einer eigenen Homepage möglich sein.

8. Kompetenzerweiterung durch Weiterbildung - die Motivation, aktiv zu werden Aus dem Interview mit Veronika Kleiner zeigte sich, dass für die Gründung einer SelbsthilfeOrganisation und den Umgang mit den Medien eine Kompetenzerweiterung in diesen Bereichen gewünscht und erforderlich ist. Themen und Fragen rund um Persönlichkeitstraining, Kommunikation, Präsentationstechnik, Konfliktlösung, Umgangsformen, das äußere Erscheinungsbild, Gruppendynamik und Teamfähigkeit sollen bearbeitet werden. Ziel ist es, die Selbstreflexion und das Selbstbewusstsein der TeilnehmerInnen zu stärken und ihre Kompetenzen zu erweitern. Somit wird ein Bewusstsein über die Wirkung des eigenen Handelns vermittelt. Kostenlose Weiterbildungs-


möglichkeiten im persönlichkeitsbildenden Bereich sollen auch ein Anreiz für BasisbildungsteilnehmerInnen sein, selbst als BotschafterInnen aktiv zu werden.

Mögliche Inhalte PERSÖNLICHKEITSTRAINING Sich selbst kennenlernen und vorstellen können. Wie wirke ich auf andere? Analyse von Selbst- und Fremdbild. THEATERWORKSHOP Spielerisch kreative Wege der Fremdwahrnehmung. Vermittlungstechniken, Präsentationstechniken, Vorbereitung einer Rede bzw. Ansprache, Stimmtraining. KONFLIKTMANAGEMENT Konflikte sind meist unangenehm, allerdings sind sie für die persönliche Weiterentwicklung zwingend notwendig. Erforschen Sie die Geheimnisse, die sich hinter den Ursachen, Auswirkungen und Lösungsmöglichkeiten von Konflikten verbergen. NOTWEHRTRAINING FÜR DAMEN UND HERREN Abwehr der gängigsten Angriffsmuster, dazu Tricks und Kniffe für mehr Sicherheit im Alltag. OUTDOOR TRAINING Durch Methoden der Erlebnispädagogik Handlungskompetenzen erweitern, Solidarität zeigen, die Zielerreichung steigern, Verantwortung zeigen. SELBSTMARKETING Vorbereitung auf die Selbstpräsentation im Rahmen von Pressekonferenzen, Reden, Interviews, in der Beratung etc.

9. Finanzielle Abgeltung der ProfessionistInnen BasisbildungsbotschafterInnen sind ExpertInnen. Werden diese zu Vorträgen, Interviews oder öffentlichen Veranstaltungen eingeladen, stehen ihnen als ExpertInnen ein Honorar sowie Reisekosten zu.


Erstellt im Rahmen des Projekts In.Bewegung 4, Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich, 2013

Blog:

www.zukunft-basisbildung.at www.basisbildung-alphabetisierung.at

Für den Inhalt verantwortlich: Mag.a Beate Gfrerer, Die Kärntner Volkshochschulen Mag.a (FH) Gloria Sagmeister, Die Kärntner Volkshochschulen Christian Wretschitsch, ÖGB Oberösterreich

Gefördert aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und aus Mitteln des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.


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