Leseprobe Benedikt Feiten - So oder so ist das Leben

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1 Ich rauche aber natürlich auch sonst. Fast hätte mir James mit seiner überschwänglichen Begrüßung die Kippe aus der Hand geschlagen. »Der große Anton Lobmeier«, sagt er und breitet die Arme aus. Ich schafe es, die Umarmung mit einer Hand an seiner Schulter abzuwenden. Er fragt: »Wie geht’s dir denn?«, und betont dabei das »geht’s« einfühlsam. Als ich keine direkte Antwort parat habe, beginnt er zu spekulieren, es sei ja bestimmt nicht leicht für mich, jetzt, wo Doro einen neuen Freund habe. »Ja, ja, schon gut«, versuche ich, ihn zu bremsen. Wahrscheinlich hätte ich mich ja auch deshalb in der WG schon länger nicht blicken lassen. Aber das solle ich doch bald mal wieder machen, der Neue sei eh nicht oft da, er käme vor allem halt nachts. »Schon gut, James.« Er kriege da natürlich schon einiges mit, sein Bett stehe an der Wand zu ihrem Zimmer, wie ich ja selbst am besten wisse. »Schon gut.« Aber sie höre sich dabei irgendwie anders an als bei mir. »Schon gut, schon gut.« »Irgendwie … nicht so glücklich.« »Okay.« 7


Wann ist James wohl das britische Taktgefühl abhandengekommen? Ich halte ihm die Hand hin, aber er schließt die Arme um mich, greift mir in den Nacken und sagt, dass alles schon wieder werde. »Wie heißt er?«, frage ich. »Andi.« Ich kenne ihn nicht, aber als er den Namen ausspricht, fühle ich einen Stich, obwohl ich nichts mit ihm verbinde. Jeder andere Name hätte genauso einen Stich gegeben, nur weil der neue Freund dadurch ein Stück echter wird. »Es kommt schon alles in Ordnung.« Weg ist er. Aber es ist doch schon alles in Ordnung. Ich trage ein Trikot von Tasmania Berlin, weiß, mit hellblauem Kragen, ein Trikot von den Königen unter den Verlierern, dem einzigen Verein mit einer Bundesligasaison ohne Auswärtssieg, den meisten Niederlagen, der längsten erfolglosen Serie, den meisten Gegentoren, dem Spiel mit den wenigsten Zuschauern. »Das macht dann einen Euro und achtzig Cent«, sagt die Verkäuferin und steckt die Brezeln in eine knisternde Papiertüte. Ich lasse das abgezählte Geld in die Schale fallen, aber das Eurostück rollt seitlich herunter, und wir schauen der Münze nach, die wie einem unsichtbaren Ziel entgegen den Glastresen entlangfährt, Schwung verliert und mit einer letzten entschlossenen Drehung in dem feinen Spalt zwischen den Glasplatten verschwindet, um nach einem kurzen, dramatischen Fall mit Entschiedenheit die Oberläche eines Sahnetörtchens zu durchdringen. »Bitte entschuldigen Sie«, setze ich an, und sie sagt: »Das macht doch nichts, das haben wir gleich«, und ringt zwischen 8


Ungläubigkeit und professioneller Hölichkeit um Fassung. Sie hebt das Törtchen aus der Auslage und betrachtet es, unschlüssig, ob sie mit den Fingern hineingreifen soll. Ich krame nach einem weiteren Euro, aber sie sagt: »Nein, nein, das passt schon«, und schaut mich an, als wolle sie mit ihrem Problem allein gelassen werden. Ich fühle mich bestätigt. Sie hat erkannt, wer ich bin. Ich stehe auf meinem Balkon, denke zu viel nach und wünschte, Sophia wäre bei mir. Sie hätte mich vielleicht dazu gebracht, damit aufzuhören. Kopf hoch. Ich solle mehr an mich glauben, hat sie immer gesagt, aber es ist schwer, jemandem zu vertrauen, der einen schon so oft im Stich gelassen hat. Sophia würde verhindern, dass alles den Bach runtergeht. Oder zumindest, dass es sich so anfühlt. »Was willste machen«, hätte sie gesagt. So wie sie eigentlich immer nur mit drei Floskeln gesprochen hat: »Weißte Bescheid.« »Merkst’ was?« »Was willste machen?« Die ersten beiden waren endgültige Punkte, die sie hinter abgeschlossene, für sie bewiesene und unveränderliche Tatsachen setzte. Auch »merkst’ was?« war keine Frage im eigentlichen Sinn, sondern Hinweis auf eine versteckte Wahrheit, natürlich von ihr selbst erkannt, deiniert, eingeordnet. »Was willste machen?« war die einzige ihrer Phrasen, die wirklich eine Reaktion erforderte. Die erwartete Antwort, »Da kannst’ nix machen«, aber nur Vorlage für ihren bestimmten Abschluss: »Genau.« »Haste gehört? Nora macht mit Sven Schluss, und acht Monate später kriegt sie ein Kind von ’nem neuen Struppi. Merkst’ was?« 9


»Martin ist auch so ein Arbeitnehmer. Kugelt sich die Schulter aus und fährt mit dem Auto selber ins Krankenhaus. Und dann am nächsten Morgen geht er arbeiten. Keine Krankschreibung. Nix. Da weißte Bescheid.« »Tina, kennste, ne? Kriselt so mit Flo. Fährt sie in Urlaub, eine Woche Portugal, die ganze Zeit wird sie von Männern angesprochen, weißte? Hat alle Gelegenheit, aber reißt sich zusammen, hat Prinzipien, will treu bleiben. Gibt also nicht nach, lirtet bisschen, weißte, aber fängt nichts an. Fliegt zurück nach München, und am nächsten Tag macht Flo Schluss.« Sie seufzt. »Was willste machen.« »Da kannst’ nix machen.« »Genau.« Ich stoße mit dem Ellenbogen hinter mir etwas vom Tisch. Es zerklirrt in Tausende kleine Teile, sodass ich nicht mehr erkennen kann, aus welcher ursprünglichen Form sich die Scherben herausgelöst haben. Mein Vater ruft an, um mir zu sagen, dass er gleich kommt, um mir irgendwelche Tomaten vorbeizubringen, die von seiner Gemeinschaftsgärtnerei übrig sind. Das macht er immer so. Ich verstehe den Sinn hinter den Anrufen nicht. Wenn er sich meldet, ist er jedes Mal schon so nah, dass er sich, wenn er mich nicht erreichen würde oder ich ganz woanders unterwegs wäre, kaum Weg sparen würde. Andererseits hilft mir die Information, dass er gleich vor der Tür steht, auch nicht wirklich weiter. Vielleicht glaubt er, ich bräuchte genau zwei Minuten, um mich auf seinen Besuch einzustellen. Vielleicht denkt er auch erst zwei Straßen von 10


meiner Wohnung entfernt daran, dass es unhölich sein oder ungelegen kommen könnte, einfach aufzutauchen. Bis zum Klingeln habe ich also gerade genug Zeit, eine verrauchte Jeans aus dem Wäschekorb anzuziehen und mit der Zahnbürste dreimal quer über die Schneidezähne zu fahren. »Hey.« »Hallo. Na?« Er geht ein paar Schritte in mein Wohnzimmer. Ich setze mich an den Tisch, aber er bleibt unentschlossen in der Mitte des Raumes stehen. Das macht mich unruhig. »Willst du was trinken?«, frage ich. Er winkt ab, er müsse ohnehin gleich wieder los, sei nur zufällig in der Nähe gewesen. »Und die Tomaten hast du auch zufällig dabeigehabt?«, frage ich zurück und bereue das gleich, weil er sich angespannt rechtfertigt, er hätte ja morgens noch nicht gewusst, ob er es schafe, habe die Tomaten nur für den Fall mitgenommen, dass. Wenn er geahnt hätte, dass mich das gar nicht interessiere, hätte er sich das natürlich auch sparen können. »Tut mir leid«, sage ich und biete ihm an, sich zu setzen, wenigstens kurz, aber er schüttelt den Kopf, stellt die Tomaten auf die Anrichte, demonstrativ, als wolle er sagen: »Mehr wollte ich ja gar nicht von dir, kein Gespräch, keine Nähe, nur Tomaten vorbeibringen, hier hast du sie.« »Also dann.« Jetzt wäre es ausnahmsweise einmal gut, wenn meine Schwester da wäre; bei Lisa ist nämlich alles immer geordnet, Struktur vor allem anderen. Dieses Unausgesprochene, das würde bei ihr nicht durchgehen, die würde was sagen 11


wie: »Das klang ja jetzt aber schon ein bisschen komisch bei euch beiden, was ist denn da los?« Und dann käme vielleicht auch mal was auf den Tisch. Aber sie hat ein eigenes Leben mit Kind und Mann in Hamburg und eine abbezahlte Eigentumswohnung und einen Neuwagen, das ist immerhin schon mehr Substanz als die meisten anderen Lobmeiers zustande gebracht haben. Ihre Ratschläge gibt sie mir schlaglichtartig und unaufgefordert per Telefon, eine Einordnung meines Lebens aus der Ferne, plötzlich, wenn ich an einer Supermarktkasse stehe oder am Bankomaten Geld ziehe. »Du hattest doch einen guten Job«, sagt sie, »du hattest doch Perspektiven«, und das stimmt, und ich weiß selbst nicht, wie ich ihr erklären soll, dass mich das alles nicht mehr interessiert. Mein Vater ist wieder zur Tür raus und lässt einen vertraut undeinierten Zustand zurück, weil wir beide nichts aussprechen oder zulassen, weil er nicht sagt: »Ich fühle mich einsam«, weil er nicht sagt: »Ich brauche jemanden zum Reden«, weil er nicht sagt: »Mir war gerade danach, dich zu sehen.« Als Mama mit all ihrem überbordenden Temperament noch da war, war mein Vater derjenige, der moderiert hat, abgewiegelt, gebremst, versöhnt. Aber jetzt ist er reizbar geworden. Ich frage mich, ob das daher kommt, dass er nach einer neuen Rolle sucht. Keine Reibung mehr. Keine Impulse. Nichts, das er abfangen und in sanfte Bahnen lenken müsste. Aber es hängt sicher auch mit dem Internet zusammen, das die alte Serie Alarm für Ramersdorf 81 gerade neu entdeckt hat. Insgesamt gibt es ja überhaupt nur sechs Folgen. In den Achtzigerjahren wollte der Bayerische Rundfunk das 12


Münchner Lokalkolorit von Helmut Dietls Serien wie Monaco Franze und Der ganz normale Wahnsinn mit der amerikanischen Coolness von Starsky & Hutch verbinden. Heraus kam eine unentschlossene Krimireihe um das Ermittlerduo aus dem bärbeißigen bayerischen Kommissar Raudinger mit Koteletten, Jeansanzug und 5er BMW, der gegen seinen Willen mit dem trotteligen, vergesslichen Kollegen Flopenski, genannt »Floppe«, aus Berlin ein Team bilden muss. In einem wiederkehrenden Gag spricht der zerstreute Floppe in einer hektischen Situation – ein Gangster ist im Begrif, sich davonzumachen, ein Notruf geht ein, ein Zeuge ist in Gefahr – den ungestümen Raudinger zögerlich an. Der brüllt ihm ein unbeherrschtes »Was ist denn jetzt schon wieder?« entgegen, und Floppe sagt schüchtern: »Ich müsste vorher noch mal ganz kurz auf Toilette«, worauf die Kamera ganz nah an das Gesicht des wutentbrannten Raudingers fährt und Floppe geduckt entschuldigend aus dem Raum huscht. Floppe, das ist mein Vater. Über das klassische ungleiche Ermittlerduo hinaus reizt die Serie auch einige andere Klischees des Krimigenres aus. Türen werden eingetreten. Die Münchner High Society und ihr implizites Kokaingeschnupfe werden übertrieben arrogant und ohne jede Tiefe gezeichnet. Gerade bei Raudingers Reibungen mit den Snobs und Floppe wird klar, dass der Zuschauer sich mit ihm identiizieren soll, gegen überheblichen Geldadel, gegen intellektuelle Umständlichkeit, gegen gesellschaftlichen Wandel in jeder Form. Die Dialoge sind schief. Der Jargon wechselt ständig zwischen Anbiederung an die Jugendsprache, wie in Floppes locker gemurmeltem »Geil dich mal wieder ab«, und mora13


lisierenden bis pathetischen Ansprachen Raudingers: »Das Teufelszeug hat schon so manches arme Schwein in den Abgrund gerissen.« Aber gerade wegen seiner Schwächen und Brüche ist Alarm für Ramersdorf 81 jetzt wieder aufgekommen. Gerade wegen des belehrenden Duktus, wegen der misslungenen Lockerheit, wegen dem, was die Serie will und nicht erreicht, ist sie ideal, um sie ironisch zu zitieren, um sie beim Kifen anzuschauen, um mit ihren Dialogen spontan Situationen zu kommentieren. Und zufällig vorbeilaufende Passanten rufen meinem Vater hinterher: »Hey! Hey, Floppe! Musst du nicht vielleicht noch mal ganz kurz auf Toilette?« Er hat das Pech, sich selbst auch nach all den Jahren noch ähnlich zu sehen. Anfangs hat er noch versucht, solche Kommentare wegzulächeln und abzuwinken, aber neulich wollte er eine Dose nach spottenden Jugendlichen treten. Sie war mit Sand gefüllt, um einen Zeitungsaufsteller an seinem Platz zu halten, und er hat sich den kleinen Zeh gebrochen. Der unverbesserliche Hannes Lobmeier. Auch er kann seiner Bestimmung nicht entkommen. Ich gehöre zu einer Dynastie von Verlierern, und ohne Mama haben wir kein Gegengewicht mehr. Denn Mama ist tot, an einem Hirninfarkt gestorben, von einem Moment auf den anderen in einer Kneipe umgekippt, neben der Jukebox, die he Boys are Back in Town von hin Lizzy gespielt hat. Umgeben von Stammgästen, die erst noch gelacht haben, ist sie einfach eingesackt, und es hat einige Momente gebraucht, bis alle verstanden, dass etwas ernsthaft nicht in Ordnung war. Und es hat nicht lange gedauert, bis sie eine Fußnote wurde, eine Stammtischanek14


dote, haste das gehört, hier hat’s mal eine umgehauen, direkt neben der Jukebox. Wir dachten, die wär besofen, aber die war tot. Direkt. Hirnschlag oder so. Gar nicht mal alt. Mitte fufzig. Was willste machen? Da kannst’ nix machen. Genau.

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